AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2020:L526.1306208.3.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Türkei, vertreten durch ARGE Rechtsberatung und Herr RA Dr. Bernhard Rosenkranz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West, vom 18.06.2020, Zl. XXXX zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
I.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge auch kurz als „BF“ bezeichnet) stellte nach nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 11.09.2006 beim Bundesasylamt (nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung führte der BF aus, dass er in der Türkei den Militärdienst nicht ableisten wolle und deshalb ausgereist sei. Zu den persönlichen Verhältnissen führte er aus, dass er aus XXXX stamme, wo nach wie vor Eltern und ein Bruder leben würden. In Österreich seien zwei Schwestern aufhältig, die ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten.
Am 12.09.2006 sowie am 18.09.2006 und am 26.09.2006 wurde der BF vor dem Bundesasylamt niederschriftlich befragt. Im Rahmen dieser Befragung wiederholte er die bisherigen Angaben und führte ergänzend aus, dass die kurdischen Soldaten mit großer Wahrscheinlichkeit in der Osttürkei eingesetzt würden. Wenn er einrücken müsste, müsste er gegen das eigene Volk kämpfen. Er wolle niemanden töten und auch nicht selbst getötet werden. Weiters wurde ausgeführt, dass der BF anlässlich des Newroz-Festes im Jahr 2003 von den türkischen Sicherheitsbehörden für ein oder zwei Stunden festgehalten und befragt worden sei. Danach sei das Haus der Familie mehrmals von Behördenvertretern aufgesucht worden. Dies deshalb, da bereits zwei ältere Brüder nicht zur Ableistung des Wehrdienstes eingerückt seien. Der BF sei in dieser Zeit auch sehr verzweifelt gewesen, weshalb er sich selbst verletzt habe. Aufgrund dieser psychischen Probleme habe er sich jedoch nicht behandeln lassen.
Dieser erste Antrag wurde mit Bescheid vom 27.09.2006 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG abgewiesen. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Gemäß § 10 Abs 1 AsylG wurde die BF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen.
Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.
I.2. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 25.11.2015, Zahl L514 XXXX , wurde die Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid vom 27.09.2006 gemäß §§ 3, 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 75 Abs 20 AsylG 2005 wurde das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
I.2.1. Neben Feststellungen zur Person des BF wurden nachstehende Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei getroffen:
Zusammenfassung
Politik, Gesellschaft und Rechtsordnung in der Türkei waren in den vergangenen über zehn Jahren von einem tiefgreifenden Transformations- und Reformprozess geprägt, für den die Annäherung an EU-Standards eine wesentliche Triebfeder war. In letzter Zeit ist dieser Prozess aufgrund einer zunehmend polarisierten politischen Auseinandersetzung und einer Art „Kulturkampf“ innerhalb des religiös-konservativen Lagers allerdings weitgehend zum Erliegen gekommen. Zuletzt gab es sogar deutliche Rückschritte in rechtsstaatlich-demokratischen Kernbereichen wie der Presse- und Meinungsfreiheit sowie der Unabhängigkeit der Justiz. Im Angesicht der drei richtungweisenden Wahlen für die Neuordnung des politischen Machtgefüges (Kommunalwahlen am 30. März 2014, Präsidentschaftswahlen am 10. August 2014, Parlamentswahlen am 7. Juni 2015) suchte die Regierung der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) von Ministerpräsident Davutoglu seit 2013, ihre dominante politische Stellung auf Kosten der Opposition weiter auszubauen. Gleichzeitig führt sie seit Ende 2013 einen Kampf gegen die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, mit denen sie lange Jahre als Verbündete die Ablösung der alten kemalistischen Eliten betrieb. Neben dem Vorwurf einer Unterwanderung von v.a. Polizei, Justiz und Verwaltung in „parallelen Strukturen“ wurden Gülen-Anhänger zuletzt sogar mit nicht nachvollziehbaren Terrorismus-Vorwürfen konfrontiert.
Durch ein 5. Justizpaket vom Februar 2014 und im Rahmen eines sog. „Demokratisierungspaketes“ im März 2014 wurden Reformen zur Reduzierung der maximalen Untersuchungshaftzeiten auf fünf Jahre, zur Abschaffung der Gerichte mit Sonderbefugnissen und zur härteren Bestrafung von „Hate Crimes“ gegen Minderheiten sowie zur Ausweitung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit umgesetzt.
Beeinträchtigungen der Meinungs- und der Pressefreiheit resultieren nach wie vor aus verschiedenen teils unklaren Rechtsbestimmungen z.B. im Anti-Terrorgesetz, werden aber auch durch zuletzt verabschiedete Gesetzesinitiativen der Regierung (z.B. Anfang 2014 eingeführte Änderungen des Internetgesetzes) und Einschränkung der Nutzung sozialer Medien (Sperrung von Twitter und YouTube) verstärkt. Die vielfältige Presse berichtet immer noch wenig regierungskritisch. Auch während der letzten 12 Monate kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Journalisten.
Ehemalige Tabu-Themen (Kurden, Armenierfrage, Militär) können inzwischen offener diskutiert werden, wurden jedoch durch neue ersetzt (u.a. Person und Familie des Ministerpräsidenten, islamische Ordensgemeinschaften). Die Versammlungsfreiheit wurde landesweit im Zuge des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die weitestgehend friedlichen „Gezi-Proteste“ seit Sommer 2013 wiederholt verletzt.
Homosexuelle, Transvestiten und Transsexuelle sind Diskriminierungen aufgrund von Homophobie sowie Gewalt durch Sicherheitskräfte und Privatpersonen ausgesetzt. Die jährlich in Istanbul stattfindende Pride Parade wurde 2015 erstmalig kurzfristig verboten, Demonstranten wurde mit Wasserwerfern begegnet.
Nach über drei Jahrzehnten blutigen Konflikts zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Nationalisten begann die Regierung Ende 2012 einen Dialogprozess mit dem inhaftierten PKK-Chef Öcalan und der bislang v.a. auf kurdische Anliegen fokussierten Partei HDP. Der seitdem andauernde „Lösungsprozess“ führte Ende März 2013 zur Ausrufung einer von beiden Seiten respektierten Waffenruhe. Öcalan hatte zuletzt Ende Februar 2015 die Niederlegung der Waffen durch die PKK in der TUR in Aussicht gestellt, abhängig von weiterer Bewegung der Regierung im Lösungsprozess. Im Anschluss an das mutmaßlich durch die Terrormiliz ISIS verübte Attentat von Suruç mit 32 Toten am 20.7.2015 ist es zu einer neuen Eskalationsdynamik gekommen, die zu nahezu täglichen Anschlägen und Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK geführt hat. Mit Stand 14.08.2015 führt das türkische Militär Luftschläge gegen PKK-Stellungen im Nordirak und in der Südosttürkei, der Friedensprozess gilt derzeit als gestoppt.
Bei Demonstrationen in mehreren Städten der TUR in Solidarität zur vom sog. „IS“ belagerten SYR-kurdischen Stadt Kobane war es Anfang Oktober 2014 zu gewalttätigen Ausschreitungen mit über 40 Todesopfern, v.a. im kurdischen Südosten der TUR gekommen. Die Regierung nahm diese Situation zum Anlass, im April 2015 verschärfte Gesetze zur inneren Sicherheit zu verabschieden. Die 2009 begonnenen Strafverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der politischen PKK-Dachorganisation KCK wurden fortgesetzt, allerdings gab es zuletzt keine neuen Verhaftungswellen und wiederholte Entlassungen aus der Untersuchungshaft. Die politische Bedeutung des in der Vergangenheit sehr mächtigen Militärs ist deutlich zurückgegangen.
Staatliche Repressionen
Es gibt grundsätzlich keine Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder allein wegen ihrer politischen Überzeugung. Allerdings hat sich im Zuge der zunehmenden politischen Polarisierung und insbesondere wegen des Konflikts zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung und der erneuten Eskalation des Konflikts mit der PKK der Druck auf regierungskritische Kreise deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen.
Minderheiten
Die Türkei erkennt Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags von 1923 an, der „türkischen Staatsangehörigen, die nichtmuslimischen Minderheiten angehören, (...) die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen" (Art. 39) garantiert. Weiterhin sichert er den nichtmuslimischen Minderheiten das Recht zur „Gründung, Verwaltung und Kontrolle (...) karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung“ zu (Art. 40). Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der Schutz allerdings auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe (ca. 3.000), die armenisch-apostolische Kirche (ca. 60.000) und die jüdische Gemeinschaft (ca. 27.000 Mitglieder). Nicht umfasst sind z.B. Syrisch-Orthodoxe, Katholiken und Protestanten. Allerdings entschied mit dem 13. Verwaltungsgericht Ankara am 18.06.2013 nun erstmals ein türkisches Gericht, dass auch aramäische (hier: syrisch-orthodoxe) Türken und ihre Zusammenschlüsse von den Rechten des Lausanner Vertrages profitieren können. Konkret ging es um das Recht, eigene Schulen und Kindergärten zu betreiben, die auch Aramäisch unterrichten.
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 5 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner).
Türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeiten sind aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Aus den Ausweispapieren, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Neugeborenen dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben werden).
Der private Gebrauch des Kurdischen (Kurmanci) und der weniger verbreiteten Sprache Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt. Die türkische Regierung hat im Schuljahr 2012/2013 jedoch begonnen, bei ausreichender örtlicher Nachfrage Unterricht in Kurmanci und Zaza als Wahlpflichtfach „Lebendige Sprachen und Mundarten“ an staatlichen und religiösen Schulen anzubieten. Viele Familien boykottieren das Wahlpflichtfach jedoch, weil sie Unterricht in Kurdisch gleichberechtigt als Muttersprache mit Türkisch fordern. Zudem steht das Fach in Konkurrenz zu den religiösen Wahlpflichtfächern.
Das am 02.03.2014 vom Parlament verabschiedete „Demokratisierungs-Paket“ ermöglicht in einem darüber hinausgehenden Schritt muttersprachlichen Unterricht und damit auch Unterricht in kurdischer Sprache an Privatschulen. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass Dörfer im Südosten ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist. Seit 2009 sendet der staatliche TV-Sender TRT 6 ein 24-Stunden-Programm in den Sprachen Kurmanci (Kurdisch) und Zaza. Zudem wurden alle bisher geltenden zeitlichen Beschränkungen für Privatfernsehen in „Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gesprochen werden“ aufgehoben.
Der gewalttätige Konflikt zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdisch-nationalistischen Kämpfern der PKK, dem seit 1984 über 35.500 Personen zum Opfer fielen und aufgrund dessen fast 400.000 Menschen ihre Heimatprovinzen im Südosten verließen, ist einem seit Anfang 2013 andauernden Waffenstillstand gewichen. Am 21.03.2013 rief der inhaftierte PKK Chef Öcalan in einer auf der zentralen kurdischen Neujahrskundgebung in Diyarbakir verlesenen Grußbotschaft zu einem Waffenstillstand und Abzug der PKK-Kämpfer aus der Türkei auf. Während der Waffenstillstand bis dato grundsätzlich andauert, stoppte die PKK den Abzug Anfang September 2013 mit der Begründung, die Regierung habe anders als zugesichert keinerlei substantielle rechtliche Zugeständnisse an die Kurden gemacht. Abgesehen von Kritik nationalistischer Kreise stößt der Lösungsprozess trotzdem weiterhin auf grundsätzliche Zustimmung in der türkischen Öffentlichkeit. Offen waren noch die Frage der Waffenniederlegung durch die PKK sowie die Frage, ob die Regierung zu weitergehenden Zugeständnissen bereit ist. Im Anschluss an das mutmaßlich durch die Terrormiliz ISIS verübte Attentat von Suruç am 20.7.2015 mit 32 Toten kam es allerdings zu einer neuen Eskalationsdynamik, die zu nahezu täglichen Anschlägen und Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK führte. Mit Stand 14.08.2015 führt das türkische Militär Luftschläge gegen PKK-Stellungen im Nordirak und in der Südosttürkei.
Militärdienst
Der Wehrpflicht unterliegt jeder männliche türkische Staatsangehörige ab dem 20. Lebensjahr. Derzeit leisten rund 400.000 Wehrpflichtige ihren Dienst. Gesetzesgrundlage für den Wehrdienst in der Türkei bietet das türkische Wehrdienstgesetz Nr. 1111 (tWDG) von 1927. Das Wehrdienstalter beginnt am 1. Januar des Jahres, in dem der Betreffende das 19. Lebensjahr vollendet und endet am 1. Januar im Jahr des 41. Geburtstags. Diejenigen, die innerhalb dieser Zeit den Wehrdienst nicht abgeleistet haben, werden von der Wehrpflicht nicht befreit (Artikel 5, letzter Absatz tWDG). Der Wehrdienst wird in den Streitkräften einschließlich der Jandarma abgeleistet. Ein in der Türkei abgeschlossenes Hochschulstudium verkürzt die Wehrpflicht auf sechs Monate für einfache Soldaten oder auf zwölf Monate für einen Unterleutnant. Im Januar 2011 wurde eine Gesetzesänderung verabschiedet, wonach Polizisten, sofern sie mehr als zehn Jahre Dienst leisten, von der Wehrpflicht befreit sind. Der Wehrdienst wurde mit Wirkung vom 01.01.2014 von 15 auf 12 Monate reduziert. Söhne und Brüder von gefallenen Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden. Auslandstürken können sich gegen Entgelt (ca. 6.500 Euro) von der Wehrpflicht freikaufen.
Ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder der Ableistung eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Das Urteil des EGMR Ülke./.Türkei ist trotz deutlicher Mahnungen des Ministerkomitees des Europarats noch nicht umgesetzt. Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich.
Die Verjährungsfrist richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen. Es kommt regelmäßig, zuletzt 2010, zu Verhaftungen von Kriegsdienstverweigerern; diese Praxis wird jedoch nicht einheitlich umgesetzt.
Transsexuelle, Transvestiten und Homosexuelle können unter der Bezeichnung „psychosexuelle Störungen“ nach Vorsprache bei der Wehrdienstbehörde und Untersuchungen vom Militärdienst befreit werden. Methoden zur Feststellung einer möglichen Homosexualität wie eine Untersuchung der Genitalien und die Vorlage von Fotos während des Geschlechtsverkehrs wurden nach Presseberichten vor einigen Jahren eingestellt. Betroffene beschweren sich weiterhin über Persönlichkeitstests, Gespräche mit mehreren Psychologen und Hinzuziehung von Familienangehörigen. Ferner wird auch von mehrtägigen Aufenthalten zur „Diagnose“ in der psychiatrischen Klinik berichtet.
Bis 2009 kam es bei Wehrdienstentziehung auch zur Aberkennung der türkischen Staatsangehörigkeit (Art. 25çtStAG a.F.). Die gesetzliche Bestimmung wurde durch Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 29.05.2009 - in Kraft seit Veröffentlichung im türkischen Gesetzesblatt am 12.06.2009 abgeschafft. Seit dem können Personen, die u. a. wegen Art. 25 ç tStAG a.F. die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben, unabhängig von ihrem Wohnsitz erneut die türkische Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 43 tStAG n.F. erhalten.
Exilpolitische Aktivitäten
Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen.
Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können.
Repressionen Dritter
Es existieren zahlreiche militante religiöse Gruppierungen wie die „Front der Vorkämpfer des Großen Ostens“ (IBDA-C) und linksradikale, terroristische Gruppierungen wie die DHKP-C (Devrimci Halk Kurtuluş Partisi – Cephesi – „Revolutionäre Volksbefreiungspartei – Front“) bzw. die TKP-ML (Türkiye Komünist Partisi / Marksist Leninist) oder die linksterroristische MLKP (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei).
Trotz der andauernden Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Teile dieser Gruppierungen kann davon ausgegangen werden, dass sie keine Repressionen gegenüber einer bestimmten Personengruppe wegen ihrer Rasse, Nationalität oder Religion ausüben. Dies gilt in der Regel auch für die umstrittene Einrichtung der Dorfschützer, vom Staat angestellte, bewaffnete Einheimische, die vor den Übergriffen der PKK im Südosten des Landes schützen sollen (über 80.000 in 22 Provinzen). Die türkische Hizbullah hat seit 2000 keine Gewaltaktionen mehr verübt. Anderes gilt für die PKK (vgl. Ziff. 1.3) und die DHKP-C.
Grundversorgung
In der Türkei gibt es keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können.
Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben.
Nach dem im April 2014 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 6453 über Ausländer und internationalen Schutz haben auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf.
Medizinische Versorgung
Das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet.
Landesweit gab es 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden.
Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach soll das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Sağlık Ocaği) ablösen und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung führen. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig. War 2013 nach Angaben des Gesundheitsministeriums ein Hausarzt für durchschnittlich 3.621 Personen zuständig, soll dieses Verhältnis bis 2017 auf knapp unter 3.000 pro Arzt gesenkt werden.
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Die landesweite Anzahl von Psychiatern liegt dennoch 2014 bei unter 5 pro 100.000 Einwohnern. (OECD 2014). Insgesamt standen 2011 türkeiweit zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern. Dem im Oktober 2011 vorgestellten „Aktionsplan für Mentale Gesundheit“ zufolge sollen die bestehenden Fachkliniken jedoch zugunsten von regionalen, verstärkt ambulant arbeitenden Einrichtungen bis 2023 geschlossen werden.
Insgesamt 32 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in Adana, Ankara (4), Antalya, Bursa (2), Denizli, Diyabakir, Edirne, Elazig, Eskisehir, Gaziantep, Istanbul (5), Izmir (3), Kayseri, Konya, Manisa, Mersin, Sakarya, Samsun, Tokat und Van (2).
Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben.
2011 bestanden landesweit 29 staatliche Krebszentren (Onkologiestationen in Krankenhäusern), die gegenwärtig mit Palliativstationen versorgt werden. 134 Untersuchungszentren (KETEM) bieten u.a. eine Früherkennung von Krebs an.
Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Landesteilen staatliche mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen.. Etwa 13% der Bevölkerung profitiert von diesen Angeboten.
Eine AIDS-Behandlung kann in allen Provinzen mit Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung.
Zum 01.01.2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Grundlage für das neue Krankenversicherungssystem ist das Gesetz Nr. 5510 über Sozialversicherungen und die Allgemeine Krankenversicherung vom 01.10.2008. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterfallen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei, Ausnahmen gelten lediglich für das Parlament, das Verfassungsgericht, Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Für nicht über eine Erwerbstätigkeit in der Türkei sozialversicherte Ausländer ist die Krankenversicherung freiwillig, ein Krankenversicherungsnachweis ist jedoch für die Aufenthaltserlaubnis notwendig.
Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u.a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich.
Die Beitragshöhe von in der Türkei sozialversicherungspflichtig beschäftigten Personen liegt bei 12,5 % des Bruttolohns, wovon 5 % von Arbeitnehmer- und 7,5 % von Arbeitgeberseite beglichen werden. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Die Berechnung des Einkommens erfolgt durch die Stiftungen für Sozialhilfe und Solidarität unter Berücksichtigung der sonstigen Vermögenssituation des Antragstellers und der in seinem Haushalt lebenden Angehörigen. Bis Mitte 2014 haben sich rund 12 Millionen Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rd. 8 Millionen von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen. Bei in der Türkei lebenden Ausländern ist eine Vermögensprüfung nicht möglich, sie zahlen auch bei Arbeitslosigkeit und Bedürftigkeit den Beitrag von zurzeit rund 250 TL/Monat. Lediglich Personen, die unter internationalem Schutz stehen oder einen entsprechenden Antrag gestellt haben, können bei Bedürftigkeit seit dem im April 2014 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 6453 kostenlos krankenversichert werden.
Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden "Grünen Karten" (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten.
Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern
Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist. Zu demselben Ergebnis kommen andere EU-Staaten und die USA.
Aufgrund eines Runderlasses des Innenministeriums vom 18.12.2004 dürfen keine Suchvermerke mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden. Sie kennzeichneten bis dahin Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen. Angaben türkischer Behörden zufolge wurden Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregistern gelöscht. Somit besteht für das Auswärtige Amt keine Möglichkeit mehr, das Bestehen von Suchvermerken zu verifizieren, auch nicht über die bisher damit befassten Vertrauensanwälte.
I.2.2. Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde ua. festgehalten:
2.3.1.1. Der Beschwerdeführer gründete seinen Antrag auf internationalen Schutz hauptsächlich darauf, dass er seinen bevorstehenden Militärdienst nicht ableisten wolle. Dies deshalb, da er nicht auf Kurden schießen und auch nicht selbst getötet werden wolle.
Dem Beschwerdeführer ist es mit diesem Vorbingen jedoch nicht gelungen, in Bezug auf seine Wehrdienstpflicht, eine gezielt gegen ihn gerichtete, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende, asylrelevante Verfolgung etwa in Form von Misshandlungen oder Verwendungen im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes oder des Strafvollzuges darzutun. Auch von Amts wegen existieren keine aufzugreifenden Anhaltspunkte dafür, dass gerade der Beschwerdeführer bei der Ableistung seines Militärdienstes oder der Abbüßung einer Haftstrafe wegen Wehrdienstverweigerung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit solchen Situationen ausgesetzt wäre.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Slg Nr. 14.089/A; VwGH vom 21.08.2001, 98/01/0600). Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrunde liegenden Sachverhaltes kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf dem Boden der bestehenden Rechtslage insbesondere in dem Erkenntnis eines verstärkten Senates zur Zl. 93/01/0377 niedergelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom UNHCR (Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft) vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, 95/01/0104). Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes entspricht der Entscheidungspraxis in Deutschland, welche aufgrund der notorisch bekannten Vergemeinschaftung nicht als gänzlich unbeachtlich angesehen werden kann (vgl. Übersicht zur deutschen und schweizerischen Rechtsprechung im Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12.04.2010, E3 319.230).
Eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes bzw. wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung wird in diesem Sinne grundsätzlich nicht als Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention angesehen (VwGH vom 30. November 1992, Zl. 92/01/0718; 21. April 1993, Zlen. 92/01/1121, 1122). Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Auffassung auch in Fällen vertreten, in denen in den betroffenen Heimatstaaten Bürgerkrieg, Revolten oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen stattgefunden haben (vgl. VwGH 30. November 1992, Zl. 92/01/0789, betreffend Somalia, und Zl. 92/01/0718, betreffend Äthiopien, vom 8. April 1992, Zl. 92/01/0243, vom 16. Dezember 1992, Zl. 92/01/0734, und vom 17. Februar 1993, Zl. 92/01/0784, alle betreffend die frühere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien).
Diesbezüglich ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer auch nicht darzulegen vermochte, inwieweit er eine Gesinnung vertrete, die ihm eine Ableistung des Wehrdienstes unzumutbar mache. Das Vertreten einer allgemeinen pazifistischen Gesinnung und das Ablehnen von Gewalt im Allgemeinen ist zu wenig, weil dies letztlich nichts anderes besagt, als dass der Beschwerdeführer dem Grunde nach den Frieden bzw. friedliche Konfliktbereinigung dem Krieg vorzieht, wie dies die überwiegende Mehrzahl von Menschen und wohl auch ein überwiegender Teil von Grundwehrdienern vertritt (dazu bereits AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde bereits mit Beschluss abgelehnt, VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3).
Der Beschwerdeführer selbst hat weder in seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt noch in den mündlichen Beschwerdeverhandlungen vor dem Asylgerichtshof bzw dem Bundesverwaltungsgericht eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen erwähnt, sondern lediglich angegeben, dass er nicht töten und getötet werden wolle, zumal kurdische Wehrdienstleistende nur im Osten der Türkei eingesetzt werden würden.
Darüber hinaus hat die Relevierung des Themas der "Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen" an sich schon keinerlei Einfluss auf gegenständliche Entscheidung, da der türkische Staat den Tatbestand "Wehrdienstentziehung" einheitlich nach dem Militärstrafgesetz ahndet und damit grundsätzlich zwischen der Gruppe "Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, welche den Militärdienst noch nicht angetreten haben" und jener der bloß "Wehrdienstflüchtigen" (Wehrpflichtige, die sich dem zukünftigen Antritt des Wehrdienstes in irgendeiner Weise entzogen haben) nicht unterscheidet (vgl. auch AsylGH vom 14.01.2010, E7 241.551-0/2008-18E). Dass es in der Türkei keinen Wehrersatzdienst gibt, stellt per se noch kein asylrelevantes Vorbringen im Sinne der GFK dar. So ist in Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK lediglich festgehalten, dass jede Dienstleistung militärischen Charakters, – oder im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen in Ländern, wo diese als berechtigt anerkannt ist, eine sonstige anstelle der militärischen Dienstpflicht tretende Dienstleistung – nicht als "Zwangs- oder Pflichtarbeit" gilt. Eine Verpflichtung zur Erlassung von Regelungen betreffend einem Ersatzdienst (Zivildienst) bzw. eine "Verpflichtung zur Anerkennung einer Verweigerung aus Gewissensgründen" gibt es somit grundsätzlich nicht für die Mitgliedstaaten (vgl. aber Wehrpflicht iZm Art. 9 EMRK).
Die Verurteilung der Türkei durch den Europäischen Gerichthof (Ülke vs. Türkei vom 24.01.2006, BeschwerdeNr. 39437/98, NL 2006, 23) wurde von diesem nicht im Zusammenhang mit Verfolgungs- oder Asylgründen getroffen. In diesem Fall hat vielmehr der damalige Präsident der Izmirer Vereinigung von Kriegsgegnern, Ülke, öffentlich auf einer Pressekonferenz seinen Einberufungsbefehl verbrannt und sich damit aufgrund seiner pazifistischen Einstellung geweigert, den Militärdienst abzuleisten. Nach seiner Verurteilung zu einer sechsmonatigen Haftstrafe im Jänner 1997 trat Ülke den Militärdienst an, verweigerte aber regelmäßig die Ausführung von Befehlen sowie das Tragen einer Uniform. Aufgrund dessen (Befehlsverweigerung) wurde er zwischen März 1997 und November 1998 achtmal verurteilt.
Dazu hat der EGMR ausgeführt, dass "zahlreichen Strafverfolgungen, der damit zusammenhängende kumulative Effekt der verhängten strafrechtlichen Sanktionen und der beständige Wechsel von Anklage und Haftstrafe, zusammen mit der Möglichkeit, für den Rest seines Lebens strafrechtlich verfolgt zu werden, als Sanktionen wegen der Verweigerung des Wehrdienstes unverhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel der Gewährleistung der Ableistung des Wehrdienstes sind."
Weiters wurde festgestellt, dass Ülke durch den türkischen Staat im Rahmen seiner Behandlung im Zuge von mehreren Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung schwere Schmerzen und Leiden zugefügt wurden, welche über das übliche Maß an Demütigungen, welche einer Verurteilung und Haft innewohnen, hinausgegangen sind. In Summe haben diese Handlungen des Staates zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK geführt, und wurde weiters ausgeführt, dass das derzeitige Sanktionssystem in der Türkei im Falle der Wehrdienstverweigerung ungeeignet ist, um Situationen wie denen im Fall Ülke gerecht zu werden. Keinesfalls wurde mit dieser Entscheidung der Türkei auferlegt, damit etwas am grundsätzlich verpflichtenden Wehrdienstwesen zu ändern bzw. wurde auch die Möglichkeit, den Zivildienst abzulegen, nicht als verpflichtend einzurichtendes Institut angesehen. Damit hält der EGMR im Urteil Ülke vs. Türkei nur fest, dass eine übermäßig strenge Strafe eine erniedrigende Behandlung darstellen und zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen kann und stellt damit fest, dass der gesetzliche Rahmen in der Situation des Ülke nicht tauglich war und keine angemessenen Mittel zur Verfügung stellte.
Allein die Furcht vor Ableistung des Militärdienstes stellt somit grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar; ebenso wenig wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes oder wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung.
Der Vollständigkeit halber muss in diesem Zusammenhang auch Folgendes explizit festgehalten werden: Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vor dem Asylgerichtshof vom 29.07.2011 führte der Beschwerdeführer auf Nachfrage aus, dass sein jüngerer Bruder, der nach wie vor in der Türkei lebe, seinen Wehrdienst ohne Probleme ableisten habe können (OZ 21 S 5 und OZ 39 S 3f). Vor diesem Hintergrund ist es für das Bundesverwaltungsgericht nicht ersichtlich, weshalb ausgerechnet den Beschwerdeführer Schwierigkeiten im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes erwarten sollten.
Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten, dass in Bezug auf eine mögliche Verfolgung des Beschwerdeführers im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes auf Basis der getroffenen Länderfeststellungen eine solche nicht festgestellt werden kann.
2.3.1.2. Der rechtsfreundliche Vertreter des Beschwerdeführers beantragte in diesem Zusammenhang ein Gutachten zur Frage der militärstrafrechtlichen Konsequenzen für Wehrdienstverweigerer die in die Türkei zurückkehren vor dem Hintergrund des Syrienkonfliktes.
Aus diesem Grund wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eine Staatendokumentationsanfrage veranlasst. Diese ergab, dass sich aus den herangezogenen Berichten keine Hinweise auf diesbezüglich geänderte Verhältnisse entnehmen lassen würden. Auch im Büro des österreichischen Verteidigungsattachés sei zu diesem Thema nichts bekannt.
Das Ergebnis der Anfrage an die Staatendokumentation wurde dem rechtsfreundlichen Vertreter schriftlich zur Kenntnis gebracht. In einer diesbezüglichen Stellungnahme wurde eingangs ausgeführt, dass die eingeholte Stellungnahme ausdrücklich darauf hinweise, dass sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben würde und sich keine Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Asylverfahrens ableiten lassen würden. Die Einholung eines derart unspezifischen und allgemein gehaltenen Berichtes/Stellungnahme zeige somit auf, dass eine noch genauere inhaltliche Auseinandersetzung mit der genannten Rückkehrproblematik stattzufinden habe.
Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: Der rechtsfreundliche Vertreter hat es verabsäumt, die letzte Seite des Berichtes der Staatendokumentation genau zu studieren, zumal er in seiner Stellungnahme verkürzt ausführte, dass sich keine Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Asylverfahrens ableiten lassen würden. Tatsächlich wurde in dem Bericht wie folgt festgehalten: „Aus dem vorliegenden Produkt ergeben sich keine Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung eines konkreten Asylverfahrens.“ Dies deshalb, da die Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung dem Bundesverwaltungsgericht zufällt und nicht der Staatendokumentation. Aus diesem Grund gehen die diesbezüglichen Ausführungen des rechtsfreundlichen Vertreters ins Leere.
Auch die Kritik in der Stellungnahme des rechtsfreundlichen Vertreters, dass das Bundesverwaltungsgericht eine unspezifische und allgemein gehaltene Stellungnahme der Staatendokumentation eingeholt habe, ist insofern nicht nachvollziehbar, zumal die Fragestellung exakt dem vom rechtsfreundlichen Vertreter in der Beschwerdeverhandlung vom 10.06.2015 formulierten Beweisantrag entspricht. Der rechtsfreundliche Vertreter des Beschwerdeführers moniert weiters, dass aus diesem Grund eine genauere Auseinandersetzung mit der Rückkehrproblematik im Zusammenhang mit einer Werhdienstverweigerung und dem Syrienkonflikt notwendig sei. Dies erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht jedoch insofern nicht, zumal auch der rechtsfreundliche Vertreter selbst nicht in der Lage war, aktuelle Quellen zu benennen, die in diese Richtung Hinweise enthalten würden. Vielmehr zog er sich in seiner Stellungnahme darauf zurück, dass er apodiktisch allgemeine Ausführungen zum Wehrdienst bzw zur politischen Situation in der Türkei im Allgemeinen in der Türkei traf. Die weiteren diesbezüglichen Ausführungen sind rein spekulativer Natur ohne fundierte Substanz.
Vor diesem Hintergrund ist es dem rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers nicht gelungen, fundierte Berichte in Vorlage zu bringen, die Zweifel an der bisherigen Judikatur des VwGH zum Wehrdienst, an den herangezogenen Länderberichten bzw an der Stellungnahme der Staatendokumentation zu erwecken vermochten. Auch wurde in diesem Zusammenhang nichts dargetan, was auf eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen hindeuten würde.
2.3.2. Der Beschwerdeführer gab weiters in der Beschwerdeverhandlung an, dass er, als er sich im achten Schuljahr befunden habe, einmal seinem Vater auf das Feld Brot gebracht habe. Dabei sei er von der Jandarma angehalten und für ein paar Stunden in Gewahrsam genommen worden. Er sei nach einem Verwandten gefragt worden, der sich in den Bergen aufgehalten habe. Danach sei er wieder freigelassen worden. Abgesehen von dem Umstand, dass dieser Vorfall lange vor der Ausreise des Beschwerdeführers passiert sei, habe er auch keinerlei Konsequenzen für diesen gehabt.
Auch die behauptete Anhaltung des Beschwerdeführers anlässlich der Teilnahme an einer Newroz Feier zog keinerlei Konsequenzen nach sich. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass sich der Beschwerdeführer diesbezüglich in Widersprüche hinsichtlich des Zeitpunktes verstickt hat. Gab er noch vor dem Bundesasylamt an, dass dies im Jahr 2003 gewesen sei, so führte er dazu im Widerspruch in der Beschwerdeverhandlung aus, dass es das Jahr 2004 gewesen sei. Dessen ungeachtet vermeinte er auch, dass dies der Grund für seine Kündigung in der Schuhfabrik gewesen sei. Auf Vorhalt, dass er zu Beginn der Verhandlung noch angegeben habe, dass er im Jahr 2001 oder 2002 ein Jahr lang in dieser Fabrik gearbeitet habe und somit die behauptete Anhaltung anlässlich der Teilnahme am Newroz Fest im Jahr 2004 in keinem Zusammenhang stehen könne, meinte der Beschwerdeführer lapidar, dass er durcheinander und seit er in Österreich aufhältig sei, vergesslich geworden sei. Diese Aussage kann lediglich als Schutzbehauptung gewertet werden, um Widersprüche zu verschleiern.
Weiters ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass kurzfristige Anhaltungen, Verhöre und Hausdurchsuchungen für sich allein nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes – ohne Hinzutreten weiterer Umstände, die asylrechtliche Relevanz aufweisen – nicht geeignet sind, die Flüchtlingseigenschaft zu indizieren (VwGH vom 05.06.1996, 96/20/0323, VwGH vom 18.12.1996, 95/20/0651, VwGH vom 11.12.1997, 95/20/0610). Dass weitere Umstände hinzugetreten wären, wurden vom Beschwerdeführer nicht behauptet, zumal er selbst ausführte, dass die Nachfragen nach seiner Personen bei seinen Eltern der Wehrdienstverweigerung geschuldet seien.
2.3.3. Auch aus den allgemeinen Ausführungen, dass ein Verwandter des Beschwerdeführers die PKK unterstützt haben sollte, ist für den Beschwerdeführer nichts zu gewinnen, zumal er nur eine einzige Befragung in diesem Zusammenhang ins Treffen zu führen vermochte, die lange vor seiner Ausreise lag und zum anderen lässt sich aus den herangezogenen Länderberichten keine Sippenhaft entnehmen. Dem wurde vom rechtsfreundlichen Vertreter auch nichts Qualifiziertes entgegengesetzt.
2.3.4. Hinsichtlich der kurdischen Abstammung des Beschwerdeführers ist weiters auszuführen, dass sich entsprechend der Länderberichte die Situation für Kurden derart gestaltet, dass keine aktuellen Berichte über die Lage der Kurden in der Türkei und damit keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer asylrelevanten – sohin auch einer maßgeblichen Intensität erreichenden – Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden von diesem nicht glaubwürdig vorgebracht.
2.3.5. Zum Besuch des Beschwerdeführers eines kurdischen Vereines in Salzburg, ohne ein Mitglied zu sein, ist grundsätzlich auszuführen, dass nur türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, Gefahr laufen, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Es ist davon auszugehen, dass sich eine mögliche strafrechtliche Verfolgung durch den türkischen Staat insbesondere auf Personen bezieht, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nach türkischem Recht nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen gemäß der gültigen Fassung des türkischen Strafgesetzbuches gewertet werden können. Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts haben die türkischen Strafverfolgungsbehörden in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung.
Aus den Angaben des Beschwerdeführers vermag das Bundesverwaltungsgericht keine hervorgehoben Stellung innerhalb dieses Vereines erkennen, die den Beschwerdeführer für die türkischen Sicherheitsbehörden interessant machen könnte und vermag das Bundesverwaltungsgericht in diesem Engagement des Beschwerdeführers in Österreich keine asylrelevante exilpolitische Tätigkeit zu sehen.
2.3.6. Zur Wiedereinreise in die Türkei verbleibt noch anzumerken, dass, wenn der türkischen Grenzpolizei bekannt ist, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen wird, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Dem Auswärtigen Amt ist in jüngster Zeit kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde. Auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen haben explizit erklärt, dass aus ihrer Sicht diesem Personenkreis keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen. Für Misshandlung oder Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, liegen keine Anhaltspunkte vor.
Im Hinblick auf die Person des Beschwerdeführers vermag das Bundesverwaltungsgericht daher ein aktuelle und individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers aus einem in der GFK taxativ aufgezählten Grund nicht zu erkennen, weshalb von keiner Verfolgung im Heimatstaat ausgegangen werden kann.
I.3. Am 06.04.2016 wurde die BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Mit Bescheid vom 14.07.2016 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt I.).
Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.).
Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
I.4. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 56 AsylG wurde mit Bescheid der bB vom 27.09.2016 als unzulässig zurückgewiesen.
I.5. Am 02.03.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht, Gerichtsabteilung L510 in Anwesenheit der BF sowie im Beisein ihres bevollmächtigten Vertreters eine mündliche Verhandlung im Verfahren betreffend die Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot anlässlich des Bescheides vom 14.07.2016 durch.
Die Vertretung des BF legte im Verfahren vor dem BVwG einen Arbeitsvorvertrag vom 25.02.2020, ein ÖSD Zertifikat A2, ein Unterstützungsschreiben von der Caritas vom 26.02.2020, ein Schreiben von Frau XXXX vom 26.02.2020 und eine Unterschriftenliste von verschiedenen Personen zugunsten der BF vor.
Der BF gab in der Verhandlung an, er sei psychisch und physisch in der Lage, der Verhandlung zu Folgen. Zudem führte er auf die Frage nach einer aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigung aus, nicht beeinträchtigt zu sein.
Nachgefragt, wie es dem in der Türkei lebenden Bruder geht, führte die BF aus, dass dieser laut Erzählungen der Schwestern inhaftiert worden sei, da er am Nevroz Fest teilgenommen habe. Der Bruder sei derzeit in Haft; wo wisse der BF nicht. Weiter nachgefragt konnte der BF lediglich angeben, dass der Bruder wegen der Teilnahme am Fest festgenommen worden sei und man ihn lediglich deshalb mitgenommen habe und tätigte der BF keinerlei weitere Ausführungen in diesem Zusammenhang.
Auf die Frage nach dem Kontakt mit den Eltern gab der BF an, dass er mit diesen nicht mehr telefoniere, da die türkische Polizei glaube, er sei zur PKK gegangen. Man erkundige sich immer bei den Eltern. Sie hätte die Eltern nicht anrufen können, weil die Telefone abgehört werden würden.
Konkret führte die BF in der Verhandlung aus:
VR: Was spricht dagegen, dass Sie aktuell wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren?
P: Bei meiner Rückkehr wird man mich sofort einsperren. Dann wird man mich fragen, was ich gegen die Türkei in Österreich ausgesagt habe. Dann muss ich dort meinen Militärdienst ableisten. Da ich ein Kurde bin, wird man mich zu den Kriegsgebieten schicken. Wenn ich in der Türkei meinen Militärdienst ableiste, nachdem ich diesen abgeleistet habe, wird die PKK mich nicht in Ruhe lassen. Sie werden mir vorwerfen, dass ich gegen das eigene Volk gekämpft habe. Ich werde von beiden Seiten unter Druck gesetzt und werde Probleme mit ihnen haben.
VR: Über Ihre Asylgründe wurde bereits rechtskräftig negativ entschieden und wurde rechtskräftig festgestellt, dass eine Rückkehr in die Türkei möglich ist. Aus dem Länderinformationsblatt zur Türkei ergibt sich nicht, dass sich die Situation in der Türkei seit der letzten Entscheidung derart geändert hätte, dass nunmehr eine Rückkehr Ihrerseits nicht möglich wäre, was sagen Sie dazu?
P: Glauben sie mir, wenn ich in der Türkei keine Probleme gehabt hätte, hätte ich keine 14 Jahre hierbleiben wollen. Denn meine Mutter ist krank, ich hätte sie zumindest besuchen können.
Erst über Nachfrage durch den rechtsfreundlichen Vertreter traf der BF in der Verhandlung Ausführungen zu den Befürchtungen im Hinblick auf die Ableistung des Militärdienstes in der Türkei.
Er führte hierzu aus:
RV: Würden Sie überhaupt Ihren Militärdienst ableisten, wenn Sie zurück in die Türkei müssten?
P: Ich möchte dort meinen Militärdienst nicht ableisten, weil ich niemanden umbringen möchte und selbst nicht sterben möchte.
I.6. In der Verhandlung wurde der Vertretung das Länderinformationsblatt der Türkei vom 29.11.2019 ausgefolgt und die Möglichkeit zur Stellungnahme zu den Länderfeststellungen binnen einer Woche gegeben.
Mit Schriftsatz vom 09.03.2020 wurde eine Stellungnahme eingebracht. Zusätzlich zu den Ausführungen zur Integration wurde vorgebracht, dass der BF mit der Weigerung, den Militärdienst zu verrichten, seine politische Meinung manifestiert habe. Alleine wegen der Asylantragstellung könnte der BF einer Verfolgung durch die türkischen Behörden ausgesetzt sein, da dadurch der türkische Staat in Misskredit gebracht werden könnte. Deshalb würde er auch bei einer Einreise am Flughafen verhaftet werden und würde sich die Lage in den türkischen Gefängnissen als katastrophal darstellen. Vorgelegt wurde ein Arbeitsvorvertrag vom 02.03.2020 der XXXX .
I.6.1. Mit Erkenntnis des BVwG vom 23.03.2020, Zl. L510 XXXX wurde die Beschwerde gegen den Bescheid vom 14.07.2016 als unbegründet abgewiesen.
I.6.2. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung hielt das BVwG auszugsweise fest:
In Österreich leben zwei Schwestern der BF sowie mehrere Cousins. Die BF wird zwar gelegentlich durch ihre Verwandten unterstützt und hat mit diesen Kontakt, sie wohnt jedoch mit keiner dieser Personen in einem gemeinsamen Haushalt. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen liegt nicht vor. Die BF hat keine Lebensgefährtin und lebt von der Grundversorgung. Die Rückkehrentscheidung bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht Familienleben.
Die BF lebt seit dem Jahr 2006 in Österreich und möchte auch zukünftig ihr Leben in Österreich gestalten.
Da die Rückkehrentscheidung somit einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellt, bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen mit den öffentlichen Interessen, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist
Im vorliegenden Fall ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Art 8 Abs 2 EMRK legitime Ziele, nämlich
- die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist;
- das wirtschaftliche Wohl des Landes;
- zur Verhinderung von strafbaren Handlungen;
Öffentliche Ordnung / Verhinderung von strafbaren Handlungen (insb. im Bereich des Aufenthaltsrechtes)
…
Im Einzelnen ergibt sich unter zentraler Beachtung der in § 9 Abs. 1 Z 1-9 BFA-VG genannten Determinanten Folgendes:
- Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war:
Die beschwerdeführende Partei reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein.
Erst ab Stellung des Antrages auf internationalen Schutz hatte die beschwerdeführende Partei eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG.
Nach Abweisung dieses Antrages und Verfügung einer asylrechtlichen Ausweisung durch das Bundesasylamt wurde die vorläufige Aufenthaltsberechtigung durch Einbringung der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht für die Dauer des Beschwerdeverfahrens verlängert.
Abgesehen von der aus der bloßen Asylantragstellung resultierenden vorläufigen Aufenthaltsberechtigung für die Dauer des Verfahrens kam nicht hervor, dass die beschwerdeführende Partei zu irgendeinem Zeitpunkt über einen anderen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt hätte.
Es kam nicht hervor, dass die beschwerdeführende Partei zu irgendeiner Zeit versucht hätte unter Einhaltung des geltenden Einreise- bzw. Aufenthaltsrechtes nach Österreich zu gelangen.
- das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens
Die BF führt in Österreich kein Familienleben
- Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstaates bewusst waren
Während des bisherigen Aufenthaltes im Bundesgebiet hat die BF private Anknüpfungspunkte in Österreich erlangt. Die BF kann sich auf Deutsch verständigen. Sie verfügt über ein ÖSD Zertifikat A2. Vorgelegt wurde ein Arbeitsvorvertrag als Pizzakoch, für den Fall, dass der BF eine Aufenthaltsberechtigung erteilt werden würde. Vorgelegt wurde ein Schreiben von der Caritas vom 26.02.2020, wonach die BF kurdische Asylwerber unterstützt und ehrenamtlich dolmetscht. Vorgelegt wurde ein Schreiben von Frau XXXX vom 26.02.2020, wonach die BF im Quartier gut integriert ist. Weiter wurde eine Unterschriftenliste von Personen vorgelegt, welche die BF kennen würden und als hilfsbereit bezeichnen. Es handelt sich dabei um Kurden und Österreicher.
Die privaten Anknüpfungspunkte in Österreich wurden zur Gänze in einer Zeit erlangt, in der der Aufenthalt durch die bloß vorläufige Aufenthaltsberechtigung für die Dauer des Asylverfahrens stets prekär war.
Einem Asylwerber muss (spätestens) nach der erstinstanzlichen Abweisung seines Asylantrages - auch wenn er subjektiv Hoffnungen auf ein positives Verfahrensende haben sollte - im Hinblick auf die negative behördliche Beurteilung des Antrages von einem nicht gesicherten weiteren Aufenthalt ausgehen [Hinweis E 25. März 2010, 2010/21/0064 bis 0068] (VwGH 29.4.2010, 2010/21/0085). Weiters kommt hinzu, dass davon auszugehen ist, dass dieser als unbegründet zu erachtende Asylantrag zudem hinsichtlich der Fluchtgründe auf falsche Gegebenheiten gestützt und damit versucht wurde die Asylinstanzen zu täuschen.
Nach der erstinstanzlichen Entscheidung war der weitere Aufenthalt lediglich durch Ergreifung eines Rechtsmittels gegen diese Entscheidung und der dadurch bedingten Verlängerung der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung möglich.
- Grad der Integration
Der BF wird wie bereits oben dargestellt eine weitgehende Teilnahme am sozialen Leben und an gemeinnützigen Tätigkeiten bescheinigt. Die BF ist seit etwa 14 Jahren in Österreich aufhältig und kann sich auf Deutsch verständigen.
Die BF lebte jedoch seit ihrer Einreise in Österreich fast ausschließlich von der Grundversorgung bis 01.07.2019, letzte Anweisung am 12.09.2019, leidglich 2012 für 6 Monate und von 01.07.2019 bis 18.08.2019 war sie als Pizzakoch und Küchengehilfe tätig. Danach bekam sie Unterstützung durch die Caritas. Seit 15.02.2020 wurde sie wieder in der Grundversorgung aufgenommen.
Es liegt keine Selbsterhaltungsfähigkeit vor.
Zudem wurde die BF mehrmals rechtskräftig strafrechtlich verurteilt, was einer Integration abträglich ist.
- Bindungen zum Herkunftsstaat
Die beschwerdeführende Partei ist in der Türkei geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, wurde dort sozialisiert, kann sich im Herkunftsstaat verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Ihr Vater ist Landwirt. Die BF arbeitete in der Türkei vorerst mit ihrem Vater in der Landwirtschaft. Danach arbeitete sie 4 bis 5 Monate lang in einer Fabrik in der Stadt XXXX . Dies war vor ihrer Ausreise aus der Türkei. In der Fabrik wurde ihr gekündigt, danach reiste sie aus der Türkei aus. In der Türkei war die BF in der Lage für ihre Existenz aufzukommen. Die Eltern besitzen immer noch ihre Landwirtschaft. Dem Vater geht es gut, ihre Mutter hat Tumore im Kopf. Ein Bruder der BF ist zur Zeit in der Türkei in Haft. Ansonsten lebt er bei den Eltern und hilft in der Landwirtschaft. Weitere Onkel und Tanten der BF leben ebenfalls noch in der Türkei. Die BF ist gesund.
Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von entwurzelt zu betrachten wäre.
- strafrechtliche Unbescholtenheit
In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen folgende Vormerkungen wegen gerichtlicher Verurteilungen auf.
1) LG XXXX 2007
PAR 83/1 107/2 StGB
Freiheitsstrafe 5 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Vollzugsdatum 13.09.2007 zu LG XXXX Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre LG F.STRAFS. XXXX vom XXXX (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig Vollzugsdatum XXXX 2007 LG XXXX 2013
2) LG F.STRAFS. XXXX 2008
PAR 15 201/1 StGB
Freiheitsstrafe 12 Monate, davon Freiheitsstrafe 8 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Vollzugsdatum 15.04.2008 zu LG XXXX 2008. Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 15.04.2008, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Anordnung der Bewährungshilfe LG F.STRAFS. XXXX 2008, Aufhebung der Bewährungshilfe LG F.STRAFS. XXXX 2008 zu LG F.STRAFS. XXXX 2008 (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig LG F.STRAFS. XXXX 2011 zu LG F.STRAFS. XXXX 2008. Aus der Freiheitsstrafe entlassen, endgültig Vollzugsdatum XXXX 2008 LG F.STRAFS. XXXX 2011
3) LG XXXX 2012
§ 83 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 01.06.2011 Freiheitsstrafe 4 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Anordnung der Bewährungshilfe Vollzugsdatum XXXX 2012 zu LG XXXX 2012 (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig Vollzugsdatum XXXX 2012 LG XXXX 2015.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-. Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts
Die beschwerdeführende Partei reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein was grundsätzlich als relevanter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht in die Interessensabwägung einzubeziehen ist (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0165; 25.02.2010, 2009/21/0070).
Sie legalisierte ihren Aufenthalt erst durch die Stellung des Antrages auf internationalen Schutz.
Die beschwerdeführende Partei verletzte durch die nichtwahrheitsgemäße Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz ihre Mitwirkungsverpflichtung im Asylverfahren. - Mögliches Organisationsverschulden durch die handelnden Behörden in Bezug auf die Verfahrensdauer
Es kann vertretbar davon ausgegangen werden, dass das Verfahren, wenn die beschwerdeführende Partei schon anfänglich wahrheitsgemäß ihre tatsächlichen Ausreisegründe dargelegt hätte, in kürzerer Zeit abgeschlossen hätte werden können.
3.3. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Anknüpfungspunkte zu bzw. in Österreich während eines Zeitraumes erlangt wurden, in dem der Aufenthaltsstatus stets ungewiss war, was der beschwerdeführenden Partei auch bewusst sein musste.
Hinzu kommt erschwerend, dass der Asylantrag von vornherein unbegründet war, sie die Asylbehörden offensichtlich durch Behauptung falscher Tatsachen versuchte in die Irre zu führen, um unberechtigt einen Aufenthaltstitel über das Asylverfahren zu erlangen. Erst durch Missachtung der österreichischen Rechtsordnung konnte sich die Partei diese Vorteile verschaffen.
Hinsichtlich der Verfahrensdauer ist anzumerken, dass die beschwerdeführende Partei insbesondere durch ihre nicht gehörige Mitwirkung am Asylverfahren und Täuschung über wahre Tatsachen nicht unwesentlich zur Verlängerung des Verfahrens beitrug und gerade dieses Verhalten im Verfahren eine tatsächliche Integration in Österreich kontraindiziert.
Die BF ist zwar schon relativ lange in Österreich aufhältig, jedoch war sie in diesem Zeitraum im Wesentlichen fast gänzlich nicht selbsterhaltungsfähig und lebt sie auch derzeit von staatlichen Zuwendungen. Die BF führt in Österreich kein Familienleben und war mehrmals straffällig. Es kann nicht gesagt werden, dass außergewöhnliche Integrationserfolge bei der BF vorliegen.
Einer Arbeitsplatzzusage kann in einem Verfahren betreffend Aufenthaltsbeendigung mangels Aufenthaltsberechtigung und Arbeitserlaubnis des Fremden keine wesentliche Bedeutung zukommen (vgl. zB VwGH 21.1.2010, 2009/18/0523; 29.6.2010, 2010/18/0195; 17.12.2010, 2010/18/0385; 22.02.2011, 2010/18/0323).
Die Umstände, dass der Fremde einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat und er der deutschen Sprache mächtig ist, können seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht maßgeblich verstärken (vgl. VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.6.2010, 2010/18/0226).
Die BF ist nach wie vor wirtschaftlich von staatlichen Zuwendungen abhängig. Konkrete Aktivitäten zur wirtschaftlichen Selbsterhaltung durch legal mögliche Beschäftigung, wie etwa konkret durch selbständige Erwerbstätigkeit oder Saisonarbeit (vgl. http://www.ams.at/_docs/400_Asyl-Folder_DEUTSCH.pdf ) kamen nicht hervor.
Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der oa. Judikatur der Höchstgerichte ist gegenständlich ein überwiegendes öffentliches Interesse – nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, konkret das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung und Stärkung der Einwanderungskontrolle, das wirtschaftliche Wohl des Landes sowie zur Verhinderung von strafbaren Handlungen insbesondere in Bezug auf den verwaltungsstrafrechtlich pönalisierten, nicht rechtmäßigen Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet, an der Aufenthaltsbeendigung der beschwerdeführenden Partei festzustellen, das ihre Interessen an einem Verbleib in Österreich überwiegt. Die Rückkehrentscheidung ist daher als notwendig und nicht unverhältnismäßig zu erachten.
Die persönlichen Bindungen in Österreich lassen keine besonderen Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK erkennen, die es der beschwerdeführenden Partei schlichtweg unzumutbar machen würde, auch nur für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Aufenthalts- bzw. Niederlassungsverfahrens in ihr Heimatland zurückzukehren (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2008/18/0332; 25.02.2010, 2008/18/0411; 25.02.2010, 2010/18/0016; 21.01.2010, 2009/18/0258; 21.01.2010, 2009/18/0503; 13.04.2010, 2010/18/0087; 30.04.2010, 2010/18/0111; 30.08.2011, 2009/21/0015), wobei bei der Rückkehrentscheidung mangels gesetzlicher Anordnung hier nicht auf das mögliche Ergebnis eines nach einem anderen Gesetz durchzuführenden (Einreise- bzw. Aufenthalts)Verfahrens Bedacht zu nehmen ist (vgl. VwGH 18.9.1995, 94/18/0376).
Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privatleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass einwanderungswillige Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung, allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet, in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrages unterlassen und in rechtskonformer Art und Weise vom Ausland aus ihren Antrag auf Erteilung eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels stellen, sowie die Entscheidung auch dort abwarten, letztlich schlechter gestellt wären, als jene Fremde, welche, einer geordneten Zuwanderung widersprechend, genau zu diesen verpönten Mitteln greifen, um ohne jeden sonstigen anerkannten Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich zu erzwingen bzw. zu legalisieren. Dies würde in letzter Konsequenz wohl zu einer unsachlichen Differenzierung der einwanderungswilligen Fremden untereinander führen (vgl. Estoppel-Prinzip bzw. auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007) und würde angesichts der Publizitätswirksamkeit der Asylentscheidungen wohl den Nachzieheffekt für andere einwanderungswillige Fremde in Richtung nicht rechtmäßiger Zuwanderung in Verbindung mit rechtsmissbräuchlicher, unbegründeter Asylantragstellung verstärken.
Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs 2 Z 2 FPG.
I.6.3. Die gegen dieses Erkenntnis des BVwG eingebrachten Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof wurde nicht in Behandlung genommen. Die anhängige Rechtssache ist bereits eingestellt, worüber am 7.12.2020 ein Aktenvermerk angelegt wurde.
I.7. Am 06.05.2020 brachte die BF den gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz ein und wurde am selben Tag einer Erstbefragung unterzogen.
Die BF gab an, dass sie zwischenzeitlich im Jahre 2009 oder 2010 für ca. 6 bis 8 Monate in England gewesen wäre. Sie möchte nicht in die Türkei zurück, da sie im Jahre 2004 ihren Wehrdienst in der Türkei antreten hätte müssen. Im Jahre 2003 hätte sie an einem kurdischen Frühlingsfest teilgenommen, weshalb man sie in Untersuchungshaft genommen hätte, wo sie von Polizisten geschlagen worden wäre. Zudem hätte sie einmal ihrem Vater sein Mittagsessen zu seinem Weingarten gebracht, Beamte eines Gendarmeriepostens hätten angenommen, dass sie das Essen zu PKK-Kämpfern bringen wollte und hätten sie 3 bis 4 Tage in Untersuchungshaft genommen. Einer der weitschichtigen Verwandten wäre PKK-Kämpfer gewesen. Sie hätte diesen Umstand deshalb nicht in ihrem ersten Asylverfahren angeführt, da sie Angst vor diesem Verwandten hätte. Ein Bruder von ihr wäre seit einem Jahr im Gefängnis, da er auf Facebook Bilder von so einem kurdischen Frühlingsfest veröffentlicht hätte. Am meisten fürchte sich die BF vor dem Wehrdienst und einer Inhaftierung. Ein Onkel und ein Nachbar wären nach dem Wehrdienst psychisch beeinträchtigt und befänden sich in der Psychiatrie. Sie sei in der „Zwickmühle“ zwischen dem Militär und der Pflicht gegenüber dem Verwandten bei der PKK. Zwei Brüder seien ebenfalls vor dem Wehrdienst geflohen und hätten in England bzw. Holland Asyl erhalten.
I.8. Da beabsichtigt war, den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs.1 AVG zurückzuweisen, wurden der BF am 29.05.2020 eine Verfahrensanordnung gem. § 29 Abs 3 AsylG und § 52a Abs. 2 BFA-VG sowie die aktuellen Länderfeststellungen zur Türkei gemeinsam mit der Ladung zur Einvernahme zugestellt.
I.9. Am 02.06.2020 wurde die BF durch das BFA, Erstaufnahmestelle Ost, einvernommen. Die wesentlichen Passagen dieser Einvernahme gestalten sich dabei wie folgt:
LA: Fühlen Sie sich geistig und körperlich in der Lage, die Einvernahme durchzuführen?
VP: Ja.
LA: Halten Sie noch alle Angaben, die Sie in ihrem Vorverfahren zu ihrer Person gemacht haben aufrecht?
VP: Ja.
LA: Sie wurden bereits im Zuge der Erstbefragung befragt. Entsprechen diese Angaben den Tatsachen oder haben Sie etwas zu berichtigen?
VP: Die Angaben, die ich dort gemacht habe, sind richtig.
LA: Sie stellten bereits im September 2006 in Österreich einen Asylantrag (VZ: 2995615). Dieser Antrag wurde rechtskräftig abgewiesen. Dann wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und es wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Türkei zulässig ist. Warum stellen Sie jetzt wieder neuerlich einen Asylantrag?
VP: Ich habe Probleme in meiner Heimat und wenn das nicht so wäre, dann würde ich nicht 14 Jahre hierbleiben.
LA: Sie wurden bereits zu Ihrem ersten Asylantrag niederschriftlich einvernommen. Können Sie sich noch an diese Einvernahmen erinnern?
VP: Ja. Aber nicht so detailliert.
LA: Stimmen die damals von Ihnen gemachten Angaben und halten Sie diese auch weiterhin aufrecht?
VP: Ja.
LA: Gibt es noch weitere Gründe, die eine neuerliche Asylantragstellung rechtfertigen würden?
VP: Wann ich in die Türkei zurückkehren, dann würde ich in das Gefängnis eingesperrt werden, ansonsten müsste ich den Militärdienst leisten müssen. Wen man den Militärdienst nicht leistet, dann müsste man immer wieder Strafe zahlen. Wie soll ich in die Türkei zurückkehren, ich bin ein Kurde und vor 3 Tagen wurde ein junger Mann in der Türkei getötet, weil er nur kurdisch gesungen hat. Ich habe ein Empfehlungsschreiben von der Caritas und von meinem Betreuer. Ich habe auch eine Jobzusage.
LA: gibt es sonst noch eine Neuerung, was noch nicht vorgebracht wurde?
VP: Ich will auf keinen Fall zurückkehren, lieber sterbe ich in Österreich. Bevor ich in die Türkei zurückgeschoben werde, sterbe ich hier.
Vorhalt: Bei der Erstbefragung führen Sie Gründe an, die schon vor ihrer Ausreise bekannt waren, Sie aber nie erhält haben?
VP: Ich habe Angst vor den Türken gehabt und die machen uns überall Probleme.
Wenn die Türken meine Unterlagen in die Hand bekommen und lesen was ich gesagt habe, dann würden diese mir Probleme verursachen. Mann soll eben erleben, welche Probleme die Kurden haben, dann weiß man es erst.
LA: Was ist mit der Geschichte, die Sie im ersten Asylverfahren nicht angeführt haben, aber bei der Erstbefragung behaupteten?
VP: Am Anfang habe ich es nicht erzählt, ich hatte einen türkischen Dolmetscher gehabt und einer davon hat mir gesagt, dass die Türkei gut ist. Dann habe ich sie gefragt, wann es so gut wären, was machen sie dann hier in Österreich.
LA,. Die Frage war, sie gaben bei der Erstbefragung an, dass Sie man Sie auch beschuldigte, den PKK Kämpfern Essen zu bringen und Sie deshalb von der Gendarmerie in Untersuchungshaft genommen wurden?
VP: Ja, das ist tatsächlich so passiert, ich wurde 3 bis 4 Tage eingesperrt gewesen, weil die Behörden behaupten, dass ich Essen für die PKK brachte. Das Essen habe ich für meinen Vater gebracht.
LA: Haben Sie sämtliche Gründe, die Sie veranlasst haben, neuerlich einen Asylantrag zu stellen, vollständig geschildert?
VP: Ja. Ich will ganz normal in Österreich leben und möchte auch seit ein paar Jahren hier arbeiten.
LA: Haben sich mittlerweile ihre privaten Interessen bzw. ihre familiäre Situation geändert?
VP: Im Jahr 2010 habe ich mal geheiratet und bin mittlerweile geschieden, jetzt habe ich eine österreichische Freundin.
LA: Seit wann?
VP: Seit ca. einem Monat.
LA: Leben Sie mit ihr an einem Wohnsitz?
VP: Nein. Noch nicht.
Das Bundesamt beabsichtigt, Ihren Asylantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Anmerkung: Dazu wird ihnen mitgeteilt, dass Sie eine Verfahrensanordnung gem. § 29 Asylgesetz 2005 und § 52a (2) BFA-VG erhalten haben.
F: Wollen Sie konkrete Gründe nennen, die dem entgegenstehen?
A: : Ich habe eben einmal im Jahr 2009 einen negativen Bescheid erhalten, ich hatte Angst gehabt, dass ich in die Türkei zurückgeschickt wurde. Dann bin ich nach England. Österreich war einverstanden, dass ich wieder nach Österreich zurückkehrte.
LA: Sie hatten die Möglichkeit, Einsicht in die Quellen der Berichte zu ihrem Heimatland Türkei nehmen zu können, möchten Sie Stellung dazu nehmen?
VP: Ich bin selber informiert über die Lage der Kurden in der Türkei. Die Türkei gibt keine wahren Angaben an.
Vorhalt: Aus der Aktenlage ergibt sich, dass Sie seit ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet fast ausschließlich aus Mitteln der Öffentlichen Hand lebten und wiederholt straffällig wurden. Sie sind auch ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen. Aus diesem Grund ist beabsichtigt, gegen Sie ein Einreiseverbot zu erlassen. Es wird Ihnen die Möglichkeit gegeben, dazu binnen 8 Tagen schriftlich Stellung zu nehmen.
VP: Dann soll Österreich mich hier umbringen.
I.10. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens hat die belangte Behörde (idF auch kurz „bB“ genannt) entschieden:
I. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 06.05.2020 wird hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
II. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 06.05.2020 wird hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.
IV. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.
V. Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Türkei zulässig ist.
VI. Gemäß § 55 Absatz 1a FPG besteht keine Frist für die freiwillige Ausreise.
VII. Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 2 Ziffer 6 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wird gegen Sie ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
I.10.1. Die bB legte der Entscheidung die vorgelegten Unterlagen (Zertifikat über das Sprachniveau A2, Lohn-Gehaltsabrechnungen aus den Jahren 2012, 2018 und 2019, Arbeitsvorvertrag von XXXX , Einstellungszusage und Arbeitsvorvertrag von XXXX , Unterstützungsschreiben der Leiterin der Quartiere für Asylwerber sowie der Caritas, Unterschriftenliste, Schreiben eines Rechtsanwalts betreffend das Honorar) sowie die Akteninhalte des gegenständlichen sowie der Vorverfahren zugrunde. Sie erstellte Auszüge aus den zugänglichen Informationssystemen und legte der Entscheidung aktuelle Länderfeststellungen zugrunde.
I.10.2. Die bB stellte fest, dass die BF im gegenständlichen Verfahren keine neuen entscheidungsrelevanten Fluchtgründe vorbrachte und kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt werden konnte.
Neben Feststellungen zum Privat- und Familienleben, welche zu keinem unverhältnismäßigen Eingriff im Falle der Rückkehr führen könnten stellte die bB fest, dass der BF die in ihrem Vorverfahren gewährte Frist zur Ausreise von 14 Tagen nicht eingehalten hat. Er hätte demnach einer behördliche Anordnung nicht Folge geleistet und diese gröblich missachtet.
Zudem hielt die bB fest, dass der BF seit seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet vorwiegend aus Mitteln der öffentlichen Hand lebte. Eine auf gesetzliche Bestimmungen basierende Bewilligung zur Aufnahme einer Beschäftigung, wie sie regelmäßig der Lebenssicherung (Nahrung und Obdach) dient, habe der BF derzeit nicht. Er könne daher den Besitz von Mitteln zu ihrem Unterhalt nicht nachweisen.
Schließlich wurden die rechtskräftigen Verurteilungen der BF angeführt und aktuelle Länderfeststellungen getroffen.
I.10.3. Beweiswürdigend hielt die bB fest:
Die von der Behörde getroffenen Feststellungen beruhen auf folgender Beweiswürdigung: Der vom Asylwerber geltend gemachte Sachverhalt muss neu entstandene Tatsachen aufweisen, wobei der Prüfungsmaßstab die Sachverhaltsfeststellung des in Rechtskraft erwachsenen Bescheides ist. Diese neu entstandenen Tatsachen müssen asylrelevant sein und einen glaubhaften Kern aufweisen.
Die Behörde gelangt zu obigen Feststellungen aufgrund folgender Erwägungen:
- betreffend die Feststellungen zu Ihrer Person:
Hinsichtlich der behaupteten Staatsangehörigkeit und Volljährigkeit wird Ihren Angaben deswegen Glauben geschenkt, weil diese nachvollziehbar und widerspruchsfrei sind.
Ihre Identität steht aufgrund der Aktenlage fest.
Dass Sie an schweren, lebensbedrohenden Krankheiten leiden würde oder immungeschwächt wären, haben Sie weder behauptet noch ist dies aus der Aktenlage ersichtlich.
- betreffend die Feststellungen zu Ihrem Vorverfahren:
Die Feststellungen betreffend den Ausgang Ihres Vorverfahrens sowie des damals maßgeblichen Grundes für ihren Antrag auf internationalen Schutz gründen sich auf den Akteninhalt zu der oa. Zahl VZ 2995615
- betreffend die Feststellungen zu den Gründen für Ihren neuen Antrag auf internationalen Schutz:
Der festgestellte Sachverhalt hinsichtlich des chronologischen Verfahrensherganges steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest.
Im ersten Asylverfahren brachten Sie im Wesentlichen vor, dass Sie deshalb ausgereist wären, da Sie ihren Militärdienst nicht leisten wollten, da kurdische Soldaten mit großer Wahrscheinlichkeit in der Osttürkei eingesetzt werden und Sie dann gegen das eigene Volk kämpfen müssten. Sie wären auch anlässlich des Newroz-Festes von türkischen Sicherheitsbehörden für ein oder zwei Stunden festgehalten und befragt worden. Zudem hätten Sie einmal ihrem Vater Brot auf das Feld gebracht und wären von der Gendarmerie angehalten und für ein paar Stunden in Gewahrsam genommen worden. Es wird hier auf das Erkenntnis des AGH vom 25.11.2015, Zl.: XXXX verwiesen, wo ausgeführt wurde, dass alleine die Furcht vor Ableistung des Militärdienstes keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft darstellt, ebenso wenig wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes oder wegen Desertation drohende, auch strenge Bestrafung. Zudem hätten ihre Anhaltungen durch die türkischen Sicherheitsbehörden, bzw. Gendarmerie keine Konsequenzen nach sich gezogen und sind auch nicht geeignet, die Flüchtlingseigenschaft zu indizieren.
Im gegenständlichen Verfahren wiederholt Sie ihre Angaben aus dem ersten Asylverfahren und stützen damit Ihr Vorbringen auf ein bereits rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren, daher kann kein neuer Sachverhalt vorliegen.
Soweit Sie jetzt erstmals behaupten, dass einer ihrer weitschichtigen Verwandten PKK-Kämpfer gewesen wäre und Sie deshalb Angst vor diesem Verwandten hätten - ist unabhängig von der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens - schon vor ihrer Ausreise aus dem Heimatland im Jahre 2006 und somit vor Rechtskraft ihres Vorverfahrens bekannt gewesen und Sie hätten die Möglichkeit und Verpflichtung gehabt, diese Umstände im Zuge ihres Vorverfahrens vorzubringen.
Dass ein Bruder von Ihnen seit einem Jahr im Gefängnis wäre, da er auf Facebook Bilder von einem kurdischen Frühlingsfest veröffentlicht hätte, mag nichts über ihre persönliche Fluchtgeschichte auszusagen und ist daher nicht von Relevanz.
- betreffend die Feststellungen über Ihr Privat- und Familienleben:
Diese wurde aufgrund Ihrer nicht anzuzweifelnden Angaben in Übereinstimmung mit der Aktenlage getroffen.
- betreffend die Feststellungen zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbots:
Dass Sie die in ihrem Vorverfahren gewährte Frist zur Ausreise in Ihr Heimatland von 14 Tagen nicht eingehalten haben, und somit einer behördlichen Anordnung nicht Folge geleistet und diese gröblich missachtet haben, fundiert auf dem unbestreitbaren Akteninhalt. Ihr Verhalten zeigt, dass Sie offensichtlich nicht gewillt sind, sind an die österreichischen Gesetze zu halten, weshalb damit eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anzunehmen ist.
Wie bereits weiter oben dargetan, wurde sind Sie offenkundig völlig mittellos und sind auch nicht in der Lage Mittel für Ihren Lebensunterhalt zu erwerben (z.B. durch eine gemäß einschlägigen arbeitsmarktrechtlichen Bestimmungen erteilte Beschäftigungsbewilligung). Damit ist eine auf legale Möglichkeiten der Lebenssicherung fußende Erwerbstätigkeit nicht möglich, weshalb damit ebenso eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anzunehmen ist.
Ihre strafrechtlichen Verurteilungen und ihr Waffenverbot ergeben sich aus den fremdenpolizeilichen Datenauskünften.
Eine Stellungnahme zur beabsichtigten Erlassung eines Einreiseverbotes haben Sie keine eingebracht.
Die Erlassung eines dreijährigen Einreiseverbotes ist somit gerechtfertigt.
- betreffend die Feststellungen zur Lage in Ihrem Herkunftsland:
Die Feststellungen zum Herkunftsstaat basieren auf einer Zusammenstellung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Diese ist gemäß § 5 Abs. 2 BFA-G zur Objektivität verpflichtet und unterliegt der Beobachtung eines Beirates. Es ist daher davon auszugehen, dass alle zitierten Unterlagen von angesehenen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen stammen, ausgewogen zusammengestellt wurden und somit keine Bedenken bestehen, sich darauf zu stützen.
Die Länderfeststellungen ergeben sich aus den zitierten, unbedenklichen Quellen. Bezüglich der von der erkennenden Behörde getätigten Feststellungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat ist festzuhalten, dass diese Kenntnisse als notorisch vorauszusetzen sind. Gemäß § 45 Absatz 1 AVG bedürfen nämlich Tatsachen, die bei der Behörde offenkundig sind (so genannte „notorische“ Tatsachen; vergleiche Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze 13-MSA1998-89) keines Beweises. „Offenkundig“ ist eine Tatsache dann, wenn sie entweder „allgemein bekannt“ (notorisch) oder der Behörde im Zuge ihrer Amtstätigkeit bekannt und dadurch „bei der Behörde notorisch“ (amtsbekannt) geworden ist; „allgemein bekannt“ sind Tatsachen, die aus der alltäglichen Erfahrung eines Durchschnittsmenschen – ohne besondere Fachkenntnisse – hergeleitet werden können (VwGH 23.01.1986, 85/02/0210; vergleiche auch Fasching; Lehrbuch 2 Rz 853). Zu den notorischen Tatsachen zählen auch Tatsachen, die in einer Vielzahl von Massenmedien in einer der Allgemeinheit zugänglichen Form über Wochen hin im Wesentlichen gleichlautend und oftmals wiederholt auch für einen Durchschnittsmenschen leicht überprüfbar publiziert wurden, wobei sich die Allgemeinnotorietät nicht auf die bloße Verlautbarung beschränkt, sondern allgemein bekannt ist, dass die in den Massenmedien verbreiteten Tatsachen auch der Wahrheit entsprechen.
Zur Aktualität der Quellen, die für die Feststellungen herangezogen wurden, wird angeführt, dass diese, soweit sich die erkennende Behörde auf Quellen älteren Datums bezieht, aufgrund der sich nicht geänderten Verhältnisse nach wie vor als aktuell bezeichnet werden können.
Bei Einsicht in die aktuellen Länderfeststellungen bei Folgeantragsstellung, zu jenen aus der Entscheidung im Erstverfahren (Rechtskraft mit 25.11.2015 bzw. mit 24.03.2020) brachten keine objektive Änderung in Ihrem Herkunftsstaat von einer Relevanz, womit eine Neuentscheidung in Ihrem gegenständlichen Folgeantrag zwingend anzusehen wäre.
Die von Amts wegen berücksichtigte Ländersituation brachte keinen entscheidungsrelevanten neuen Sachverhalt hervor. Eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen haben Sie keine eingebracht. Im Ergebnis konnten Sie sohin keinen Sachverhalt glaubhaft dartun, auf Grund dessen die erkennende Behörde Zweifel an den vorliegenden Informationen, welche auf verschiedene und objektive Quellen basieren, hegen müsste.
Die Feststellungen zur Pandemie ergeben sich aus dem Amtswissen sowie die konkreten Daten aus den Angaben der John Hopkins University in Baltimore, USA, die ausführlich Daten rund um die Pandemie sammelt, auswertet und zur Verfügung stellt.
Die Feststellungen zum Virus SARS-CoV-2 ergeben sich aus den vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz als oberste Gesundheitsbehörde veröffentlichte Informationen.
I.10.4. Die bB traf nachstehende Länderfeststellungen zur Türkei:
1. Politische Lage
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).
Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). İmamoğlu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).
Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).
[siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 4.10.2019
Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613 , Zugriff 4.10.2019
AM – Al Monitor (4.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowded-prisons-face-serious-problems.html , Zugriff 4.10.2019
bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (9.7.2018): Das "neue" politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/das-neue-politische-system-der-tuerkei , Zugriff 3.10.2019
CoE-VC – council of europe - european commission for democracy through law (venice commission) (13.7.2017): Turkey - Opinion - The Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a National Referendumon 16 April 2017 [Opinion No. 875/2017], S.29, Abs.130, https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=cdl-ad (2017)005-e, Zugriff 3.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 3.10.2019
FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html , Zugriff 4.10.2019
HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338 , Zugriff 4.10.2019
HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018 , Zugriff 4.10.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273 , Zugriff 4.10.2019
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981 , Zugriff 4.10.2019
OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true , Zugriff 4.10.2019
OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true , Zugriff 4.10.2019
OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/397046?download=true , 3.10.2019
Der Standard (1.4.2019): Erdoğans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte , Zugriff 4.10.2019
Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul , Zugriff 4.10.2019
ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 4.10.2019
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung am 29.11.2019
Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen Ağrı, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakır, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, Şanlıurfa, Siirt, Şırnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 8.10.2019
AA – Auswärtiges Amt (8.11.2019a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1 , Zugriff 8.10.2019
BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.11.2019): Türkei – Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/ , Zugriff 8.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 3.10.2019
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.10.2019): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html , Zugriff 4.10.2019ICG – Internal Crisis Group (4.10.2019): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 7.10.2019
IHD – Human Rights Association - İnsan Hakları Derneği (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/ , Zugriff 4.10.2019
IHD – Human Rights Association - İnsan Hakları Derneği (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf , Zugriff 4.10.2019
IHD – Human Rights Association - İnsan Hakları Derneği (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf , Zugriff 4.10.2019
2.1. Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung am 29.11.2019
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).
Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019)
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).
Quellen:
BMIBH-D - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (6.2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2018.pdf , Zugriff 9.10.2019
BMI-D - Bundesministerium des Innern [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2015.pdf , Zugriff 25.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 25.10.2019
2.2. Terroristische Gruppierungen: TAK - Teyrêbazên Azadiya Kurdistan – (Freiheitsfalken Kurdistans)
Letzte Änderung am 29.11.2019
TAK ist eine mit der PKK verbundene terroristische Vereinigung. Die TAK wurde Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigte die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spaltete sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK soll aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 hat sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK sei ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysten zufolge ist die TAK mit der PKK durch ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordiniert und führt sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurde von den USA, der Türkei und der EU als terroristische Organisation eingestuft (CEP 15.10.2018).
Die TAK gilt als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operiert die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).
Quellen:
CEP – Counter Extremism Project (15.10.2018): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/country_pdf/TR-10152018.pdf , Zugriff 9.10.2019
AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html , Zugriff 9.10.2019
2.4. Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die „Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Sie bekennt sich ideologisch zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Sie strebt in der Türkei die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung und die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems an. Nach eigenen Angaben versteht sich die MLKP als politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten (BMIBH 6.2019).
Die türkischen Behörden nehmen vereinzelt vermeintliche Mitglieder der MLKP fest (DS 30.4.2019, FR 20.4.2018). Die MLKP verfügt über einen bewaffneten Arm, die „bewaffneten Kräfte der Armen und Unterdrückten“ (FESK), die unter dem Kommando der syrisch-kurdischen YPG in Syrien von Kobane bis Deir az-Zour gemeinsam mit US-Truppen in Syrien gegen den sog. Islamischen Staat kämpften (TNA 17.5.2019), was bei der türkischen Regierung zu Irritationen führte (Anadolu 20.8.2019). Die bewaffneten Einheiten der MLKP/FESK bekämpfen auch die türkischen Besatzungssoldaten in Syrien (MLKP 18.8.2018). In der Türkei selbst kämpfen die Mitglieder der MLKP zumal in den Reihen des bewaffneten Arms der PKK, der HPG (TNA 17.5.2019), wovon Berichte der MLKP über ihre Gefallenen zeugen (MLKP 20.7.2019, 1.9.2018). Die MLKP/FESK reklamierte im September 2019 auch ein Bombenattentat auf eine Polizeistation in Adana für sich (27.9.2019).
Quellen:
Anadolu Agency (20.8.2019): US meets with far-left terror group in Syria: minister, https://www.aa.com.tr/en/turkey/us-meets-with-far-left-terror-group-in-syria-minister/1560965 , Zugriff 9.10.2019
BMIBH - Bundesministers des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (6.2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2018.pdf , Zugriff 9.10.2019
DS – Daily Sabah (30.4.2019): Far-left terrorist sought with $250K bounty captured in northwestern Turkey, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2019/04/30/far-left-terrorist-sought-with-250k-bounty-captured-in-northwestern-turkey , Zugriff 9.10.2019
FR – Frankfurter Rundschau (20.4.2018): „Das ist unerträglich“, http://www.fr.de/politik/u-haft-in-der-tuerkei-das-ist-unertraeglich-a-1490872 , Zugriff 9.10.2019
MLKP (18.8.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Takes Part in the Defense of Southern Kurdistan Against Turkish State's Attacks, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=10663&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Takes_Part_in_the_Defense_of_Southern_Kurdistan_Against_Turkish_States_Attacks , Zugriff 9.10.2019
MLKP (1.9.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Fighter İrfan Çelik fell martyr, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=10678&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Fighter_İrfan_Çelik_fell_martyr , Zugriff 9.10.2019
MLKP (20.7.2019): MLKP/FESK Guerrillas Martyred In Turkish Airstrike In Dersim, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11277&MLKP/FESK_Guerrillas_Martyred_In_Turkish_Airstrike_In_Dersim_ , Zugriff 9.10.2019
MLKP (27.9.2019): Bomb Attack By FESK in Adana, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11372&Bomb_Attack_By_FESK_in_Adana , Zugriff 9.10.2019
TNA – The New Arab (17.5.2019): 'Communist militants' among US partners in Syria, https://www.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/5/17/communist-militants-among-us-partners-in-syria , Zugriff 9.10.2019.
2.5. Terroristische Gruppierungen: DHKP-C - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die marxistisch-leninistische „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) spricht sich für eine revolutionäre Zerschlagung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung in der Türkei aus. Als Hauptfeinde betrachtet die DHKP-C die als „faschistisch“ und „oligarchisch“ bezeichnete Türkei und den „US-Imperialismus“, der die Türkei in politischer, wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht dominiere. Ihr Ziel, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in der Türkei, ist laut Parteiprogramm der DHKP-C nicht durch Wahlen zu erreichen, sondern ausschließlich durch den „bewaffneten Volkskampf“ unter der Führung der DHKP-C beziehungsweise ihres militärischen Arms, der „Revolutionären Volksbefreiungsfront“ (DHKC). Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 7.2018; vgl. CEP 15.10.2018).
Die DHKP-C hat ihre terroristischen Aktivitäten in der Türkei im Jahr 2017 zwar fortgesetzt, jedoch ging das Ausmaß im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Die seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 weiterhin verschärfte Sicherheitslage in der Türkei und die damit verbundenen umfangreichen staatlichen Maßnahmen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die DHKP-C, etwa durch die Festnahme von Mitgliedern (BMIBH 7.2018). So wurden im Jänner 2018 sieben mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C in Istanbul (Anadolu 9.1.2018) bzw. im Mai 2019 zwei mit ihr in Verbindung stehende Personen beim versuchten Eindringen in das türkische Parlament in Ankara festgenommen (DS 15.5.2019). Eine im Frühjahr 2019 durchgeführte Operation gegen die DHKP-C warf die Frage auf, ob die Gruppe noch im Land aktiv ist. Zu den Verhafteten der Operation am 26.2.2019 gehörten Ümit Ilter, der Generalsekretär der DHKP-C, und Caferi Sadik Eroğlu, der Anführer der DHKP-C in der Türkei. Nach den Verhaftungen sah Innenminister Süleyman Soylu die Präsenz der DHKP-C in den ländlichen Gebieten der Türkei als ausgelöscht (Anadolu 2.3.2019).
Quellen:
Anadolu (9.1.2018): Turkish police arrest 7 far-left terror suspects, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkish-police-arrest-7-far-left-terror-suspects/1025925 , Zugriff 9.10.2019
Anadolu (2.3.2019): DHKP-C facing extinction in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/top-headline/dhkp-c-facing-extinction-in-turkey/1407073 , Zugriff 9.10.2019
BMIBH - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2018): Verfassungsschutzbericht 2017, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf , Zugriff 9.10.2019
CEP – Counter Extremism Project (15.10.2018): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/country_pdf/TR-10152018.pdf , Zugriff 9.10.2019
DS – Daily Sabah (15.5.2019): Zwei Personen mit Verbindungen zur DHKP-C im türkischen Parlament festgenommen, https://www.dailysabah.com/deutsch/kampf-gegen-terror/2019/05/15/zwei-personen-mit-verbindungen-zur-dhkp-c-im-tuerkischen-parlament-festgenommen , Zugriff 9.10.2019
3. Rechtsschutz/Justizwesen
Letzte Änderung am 6.4.2020
Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 29.5.2019, USDOS 11.3.2020). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme wie der Missbrauch der Untersuchungshaft verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Neben der Aushöhlung der verfassungsrechtlichen und strukturellen Garantien zur Wahrung der Unabhängigkeit der Richter und Maßnahmen, die sich direkt auf diese Unabhängigkeit ausgewirkt haben, wie z.B. fristlose Entlassungen und Einstellungen, gibt es Hinweise auf eine zunehmende Parteilichkeit der Justiz gegenüber politischen Interessen, was durch die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt wurde (CoE-CommDH 19.2.2020). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019). Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen im Jahr 2019 manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020).
Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimliği), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019).
Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen, betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).
Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).
Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.4.2020). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).
Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).
Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).
Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).
Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018; vgl. ÖB 10.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 4.11.2019
AI – Amnesty International (25.10.2018): Purged beyond return? No remedy for Turkey's dismissed public sector workers [EUR 44/9210/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1448005/1226_1540802893_eur4492102018english.PDF , Zugriff 4.11.2019
AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkish court defies higher ruling to uphold verdict in Cumhuriyet retrial, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-court-uphold-convictions-newspaper-cumhuriyet.html , Zugriff 22.11.2019
bianet (24.2.2020): Bar Associatons: Turkey Experiencing Most Severe Judicial Crisis in History, https://bianet.org/english/law/220510-bar-associatons-turkey-experiencing-most-severe-judicial-crisis-in-history , Zugriff 27.2.2020
CCBE - Council of Bars and Law Societies of Europe (1.9.2019) Situation in Turkey While 2019 Judicial Year Begins, https://arrestedlawyers.org/2019/09/01/situation-in-turkey-while-2019-judicial-year-begins/ , Zugriff 6.11.2019
CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH(2020)1 - Report on Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 27.2.2020
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 31.10.2019
EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML TA P8-TA-2019-0200 0 DOC PDF V0//EN , Zugriff 4.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
HRW – Human Rights Watch (10.4.2019): Türkei: Massenverfolgung von Rechtsanwälten - Willkürliche Terrorvorwürfe untergraben Recht auf faire Verfahren, https://www.hrw.org/de/news/2019/04/10/tuerkei-massenverfolgung-von-rechtsanwaelten , Zugriff 7.11.2019
IPI - International Press Institute (Hg.) (18.11.2019): Turkey’s Journalistsin the Dock: Judicial Silencing of the Fourth Estate - Joint International Press Freedom Mission To Turkey (September 11–13, 2019), https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2019/11/Turkey-Mission-Report-IPI-FINAL4PRINT.pdf , Zugriff 20.11.2019
PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en , Zugriff 7.11.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 6.11.2019
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4. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 14.6.2019; vgl. USDOS 11.4.2020). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 14.6.2019; vgl. USDOS 11.4.2020, ÖB 10.2019), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 11.4.2020). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2019). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.4.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sog. "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die PKK (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Geheimdienst MİT haben unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (über 33.000 Bedienstete betroffen von massenhaften Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst, Entlassungen und Strafverfahren). Die Jandarma rekrutiert sich teils aus Wehrpflichtigen (AA 14.6.2019).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei („Emniyet Genel Müdürlüğü“ - TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı“ - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der nationale Nachrichtendienst („Millî İstihbarat Teşkilâtı“- MİT), der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Es existiert nach wie vor der militärische Nachrichtendienst, der dem Generalstabschef untersteht. Dieser musste nach dem Putsch einige Aufgaben an den MİT abgeben. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MİT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle aus 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten (ÖB 10.2019).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Den Militär-, Polizei- und Nachrichtendiensten fehlt es an ausreichender Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament. Das Sicherheitspersonal verfügt über einen umfassenden Rechtsschutz. Trotz glaubhafter Berichterstattung über schwerwiegende Anschuldigungen wegen Menschenrechtsverletzungen und den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte im Südosten ist die Erfolgsbilanz der gerichtlichen und administrativen Prüfung solcher Anschuldigungen nach wie vor schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung blieb wirkungslos (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 31.10.2019
Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package , Zugriff 31.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 31.10.2019
FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 31.10.2019
HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 31.10.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 , Zugriff 31.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 31.10.2019
USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 31.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
5. Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung am 13.2.2020
Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert (ÖB 10.2019).
Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten vier Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen. Zu den Zielpersonen gehören Kurden, Linke und angebliche Anhänger von Fethullah Gülen. Die Staatsanwaltschaft führt keine adäquaten Untersuchungen zu solchen Anschuldigungen durch. Zudem herrscht eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit für Mitglieder der Sicherheitskräfte und betroffene Beamte (HRW 14.1.2020). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UN-Sonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur PKK zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018; vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Laut Menschenrechtsinstitutionen seien Fälle von Folterungen und rechtswidrigen Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden. Zudem mehrten sich Berichte über Entführungen von Personen und die Existenz informeller Anhaltezentren, in denen es auch zu Fällen von Folter komme. Vertreter des Europarates in Ankara konnten die Existenz solcher Anhaltezentren jedoch nicht bestätigen. Folter bleibt, insbesondere wegen der Abschaffung von Garantien im Zuge des Ausnahmezustands sowie wegen der Nichtdurchführung von effektiven Untersuchungen, in vielen Fällen straflos, wenngleich es vereinzelt Anklagen und Verurteilungen gibt. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach Wissensstand der Österreichischen Botschaft Ankara dennoch nicht die Rede sein (ÖB 10.2019).
Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm, bei dem der Geheimdienst MİT nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha’aretz 11.12.2018). Laut einem Bericht der Tageszeitung Cumhuriyet soll eine Frau wegen Terrorismus inhaftiert worden sein. Die Frau behauptete bei einer Anhörung am 5.2.2019, dass sie sechs Monate lang in einem geheimen Zentrum in Ankara gefoltert wurde, welches vom türkischen Geheimdienst MİT betrieben wird (IPA 14.6.2019). Der Vorfall führte im März 2019 zu einer diesbezüglichen parlamentarischen Anfrage im Europaparlament an die Europäische Kommission (EP 11.3.2019).
Während nach Angaben des türkischen Menschenrechtsverbandes (İHD) 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlungen laut Meldungen ausgesetzt waren (İHD 6.4.2018), stieg diese Zahl 2018 auf insgesamt 2.719 Personen. Hiervon gaben 1.149 Personen an, dass sie in Gefängnissen gefoltert und misshandelt wurden (İHD 16.4.2019).
Berichte über Folter und Misshandlungen hielten auch 2019 an. So wurden infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa beispielsweise 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Rechtsbeistände und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der erwachsenen Inhaftierten in der Gendarmerie-Wache von Bozova Yaylak in der Provinz Urfa von Angehörigen der Polizei gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen im Zuge einer Razzia verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete auf der Basis von Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden. Statt auf Beschwerden gegen das Wachpersonal Untersuchungen vorzunehmen, wurden gegen 40 Häftlinge Untersuchungen wegen Disziplinarverstöße eingeleitet (SCF 19.8.2019).
Quellen:
ABA - Ankara Bar Association Center For Attorney Rights, Penal Institution Board And Center For Human Rights (26.5.2019): Report Regarding Claims Of Torture In Ankara Provincial Police Headquarters Investigation Department Of Financial Crimes, in: HRD – Human Rights Defenders (29.5.2019): Bar Association Report: Former diplomats sexually abused with batons and tortured, https://humanrights-ev.com/bar-association-report-former-diplomats-sexually-abused-with-batons-and-tortured/ , Zugriff 30.10.2019
AI – Amnesty International (13.6.2019): Nicht mehr in Foltergefahr; UA-Nr: UA-074/2019-1 [EUR 44/0525/2019], https://www.amnesty.de/sites/default/files/2019-06/074-1_2019_DE_Türkei.pdf , Zugriff 30.10.2019
Corrective – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/ , Zugriff 31.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 30.10.2019
EP – European Parliament (11.3.2019): Parliamentary questions - Question for written answer E-001287-19 to the Commission Rule 130 Costas Mavrides (S&D), http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-8-2019-001287_EN.html , Zugriff 31.10.2019
Ha’aretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331 , Zugriff 31.10.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
İHD - İnsan Hakları Derneği/ Human Rights Association (6.4.2018): 2017 BALANCE - SHEET OF HUMAN RIGHTS VIOLATIONS IN TURKEY - The year that Passed under State of Emergency, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_report-2.pdf , Zugriff 30.10.2019
İHD - İnsan Hakları Derneği/ Human Rights Association (19.4.2019): 2018 REPORT ON HUMAN RIGHTS VIOLATIONS IN TURKEY, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-IHD-Violations-Report.pdf , Zugriff 30.10.2019
IPA News (14.6.2019): Detained Turkish woman alleges horrific torture by state agents, https://ipa.news/2019/06/14/detained-turkish-woman-alleges-horrific-torture-by-state-agents/ , Zugriff 31.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 30.10.2019
OHCHR – Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf , Zugriff 30.10.2019
OHCHR – Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=Berichten 22718&LangID=E , Zugriff 30.10.2019
SCF – Stockholm Center for Freedom (19.8.2019): Tortured inmates investigated instead of prison guards: bar association, https://stockholmcf.org/tortured-inmates-investigated-instead-of-officers-bar-association/ , Zugriff 30.10.2019
WE – Washington Examiner (3.6.2019): A new phase in Turkey's crackdown: Torturing diplomats, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/op-eds/a-new-phase-in-turkeys-crackdown-as-recep-tayyip-erdogan-tortures-diplomats , Zugriff 30.10.2019
ZDF – Zweiten Deutsches Fernsehen (11.12.2019): Kidnapping im Auftrag Erdogans, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/die-verschleppten-kidnapping-im-auftrag-erdogans-100.html , Zugriff 31.10.2019
6. Korruption
Letzte Änderung am 6.4.2020
Korruption ist im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet. Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2018; vgl. DFAT 9.10.2018, FH 4.3.2020). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).
Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 4.3.2020; vgl. BACP 6.2018, USDOS 11.3.2020). Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 11.3.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfinden Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko. Unternehmen geben an, dass sie die Polizei als nicht ausreichend zuverlässig empfinden (BACP 6.2018).
Es kam zu einem Rückfall in der Korruptionsbekämpfung, da die aufgelösten Präventionseinrichtungen nicht durch ein unabhängiges Organ ersetzt wurden, wie es dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption entspricht, dem die Türkei beigetreten ist. Bei der Schließung einer Reihe von Gesetzeslücken wurden keine Fortschritte erzielt. Sowohl der Rechtsrahmen als auch das institutionelle Gefüge erlauben weiterhin einen unangemessenen Einfluss der Exekutive auf die Ermittlung und Verfolgung hochkarätiger Korruptionsfälle. Die eingeschränkte Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Einrichtungen geben nach wie vor Anlass zur Sorge. Das Fehlen einer soliden Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans ist ein Zeichen für den fehlenden politischen Willen, die Korruption entschlossen zu bekämpfen. Die Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt. Die Erfolgsbilanz der Türkei bei der Ermittlung, Verfolgung und Verurteilung von Korruptionsfällen ist nach wie vor schlecht, insbesondere in Bezug auf Korruptionsfälle auf hoher Ebene, an denen Politiker und Beamte beteiligt sind. Urteile haben keine abschreckende Wirkung. Die Erfolgsbilanz der Zusammenarbeit von Audit- und Inspektions-Organen bei der Strafverfolgung blieb weiterhin schlecht. Gemeindeverwaltungen, Raumplanung, öffentliche Beschaffungsprozesse sowie die Bau- und Verkehrsindustrie, auch wenn sie im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften umgesetzt werden, sind nach wie vor besonders anfällig für Korruption (EC 29.5.2019)
Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten für Korruption angesichts der massiven Enteignung von betroffenen Unternehmen und NGOs stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter stärkt (FH 4.3.2020).
Die Regierung sanktioniert Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass die Angeklagten dies auf Veranlassung von der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Im März 2019 verurteilte ein Gericht 15 Personen, die 2013 an einer Korruptionsuntersuchung gegen hochrangige Regierungsfunktionäre beteiligt waren, zu lebenslanger Haft. Es gab keine Berichte darüber, wonach hohe Regierungsbeamte mit offiziellen Untersuchungen wegen angeblicher Korruption konfrontiert waren (USDOS 11.3.2020).
Transparency International reiht die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 20198 mit einem Punktewert von 39 von 100 (bester Wert) auf Platz 91 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 23.1.2020). 2018 belegte die Türkei noch mit 41 von 100 Punkten Rang 78 von 180 untersuchten Ländern und Territorien (TI 29.1.2019).
Quellen:
BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2018): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/ , Zugriff 28.10.2019
DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (9.10.2018): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
TI – Transparency International (23.1.2020): Corruption Perceptions Index 2019, https://www.transparency.org/country/TUR , Zugriff 14.2.2020
USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 28.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
7. Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung am 6.4.2020
Zivil-gesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Juli 2019 gab es rund 117.290 Vereine und 4.915 neue Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen. Schon vor dem Putschversuch und den späteren Folgen des Ausnahmezustands im Jahr 2016 war der schrumpfende zivil-gesellschaftliche Raum ein Thema. Trotz verbesserter Rechtsvorschriften für Vereine und Stiftungen, die während des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union entstanden, bestehen weiterhin Herausforderungen, insbesondere hinsichtlich des Sekundärrechts und seiner Umsetzung. Seit den großen Reformpaketen von 2004 und 2008 wurden keine umfassenden Reformen durchgeführt. Seit 2018 ist das rechtlich-politische Umfeld für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Türkei nicht förderlich. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Redefreiheit werden weiterhin beschränkt. Es gibt noch keine konkrete Definition der Zivilgesellschaft und der zivil-gesellschaftlichen Organisationen in den entsprechenden Rechtsvorschriften und politischen Dokumenten. Es fehlt ein eigener, übergreifender und verbindlicher Rechtsrahmen für die Beziehungen zwischen NGOs und öffentlichen Institutionen. Die Verordnung über die Organisation und die Aufgaben der neu errichteten Generaldirektion für Beziehungen zur Zivilgesellschaft trat am 10.10.2018 in Kraft. In der Verordnung werden Ziele zur Verbesserung des zivil-gesellschaftlichen Umfelds vorgeschlagen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Festlegung und Entwicklung von Strategien für die Beziehungen zur Zivilgesellschaft, die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und nicht-staatlichen Organisationen, die Verbesserung der Wirksamkeit von zivil-gesellschaftlichen Organisationen und die Verbesserung der Servicequalität. Das Mandat und die Prioritäten dieser Institution bleiben unklar (ICNL 12.7.2019).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-) Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 14.6.2019). Eine Verordnung vom Oktober 2018 verpflichtet alle Vereine, alle ihre Mitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese Anforderung ist insbesondere für NGOs mit vielen Mitgliedern mühsam (ICNL 12.7.2019). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivil-gesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Regierung ist seit dem Putschversuch gegen NGOs vorgegangen und hat mindestens 1.500 Stiftungen und Vereine geschlossen und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 4.3.2020).
Es herrscht zunehmend ein negativer politischer Diskurs, der Menschenrechtsverteidiger als Terroristen bezeichnet, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt. Insbesondere im Hinblick auf letztere besteht ein weit verbreitetes Muster von gerichtlichen Maßnahmen, die sich gegen Menschenrechtsverteidiger richten und auf einen Missbrauch von Strafverfahren hinauslaufen, um sie zum Schweigen zu bringen und die Zivilgesellschaft zu entmutigen (CoE-CommDH 19.2.2020). In Bezug auf die Zivilgesellschaft gab es ernsthafte Rückschläge, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten, die zu einer raschen Einengung des Raums für Grundrechte und -freiheiten führten. Jenen Vereinen, die infolge des Ausnahmezustands geschlossen wurden, wurde kein Rechtsmittel gegen die durchgeführten Beschlagnahmungen gewährt. Trotzdem blieb die Zivilgesellschaft so weit es ging aktiv und am öffentlichen Leben beteiligt. Das Spektrum der NGOs hat sich erheblich verändert; regierungsfreundlichen Organisationen kommt eine deutlichere Rolle zu. Verwaltungsaufwand, auch für internationale NGOs, behindert weiterhin die Aktivitäten der Zivilgesellschaft (EC 17.4.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 28.10.2019
CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH(2020)1 - Report on Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 27.2.2020
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (12.7.2019): Civic Freedom Monitor: Turkey, http://www.icnl.org/research/monitor/turkey.html , Zugriff 28.10.2019
8. Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung am 11.3.2019
Seit 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt einer Ombudsperson mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden (AA 14.6.2019). Die Institution arbeitet unter dem Parlament, aber als unabhängiger Beschwerdemechanismus für Bürger, um Untersuchungen zu Regierungspraktiken und -maßnahmen, insbesondere in Bezug auf Menschenrechtsprobleme und Personalfragen, zu beantragen, obwohl Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 11.3.2020). Dem Büro der Ombudsperson fehlen die Befugnisse von Amts wegen, Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen einzugreifen, was dessen Wirksamkeit einschränkt (EC 29.5.2019).
Die 2012 gegründete Menschenrechts-Institution der Türkei (MRI, Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch das Institut für Menschenrechte und Gleichstellung (IMRI, Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Ministerrat (8) und Staatspräsidenten (3) bestimmt werden. Dem IMRI-Institut kommt die Rolle des „Nationalen Präventionsmechanismus“ gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 14.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 28.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
9. Wehrdienst
Letzte Änderung am 6.4.2020
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Januar des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird weiter durch das Los bestimmt (ÖB 10.2019).
Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von Lira 31.000 (ca. € 4.755) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind, sich frei zu kaufen. Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von Lira 2.000 verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, Şırnak und Hakkâri ab, erhalten sie zusätzlich monatlich Lira 1.000. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019; vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019). Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteure sind von der neuen Regelung ausgeschlossen (Connection e.V. 11.7.2019).
Die Freikaufsregelung bzw. Ableistung eines stark verkürzten Militärdienstes gegen die Zahlung eines Geldbetrages wird im neuen Rekrutierungsgesetz (Kanun 7179) für zwei Gruppen neu gefasst: Artikel 9 definiert unter der Bezeichnung "Bezahlter Militärdienst" die Regelungen für türkische wehrpflichtige Staatsbürger, die in der Türkei leben; Artikel 39 definiert unter der Bezeichnung „Militärdienst mit Devisenzahlung“ (Dövizle Askerlik) Regelungen für türkische wehrpflichtige Staatsbürger, die auf Dauer im Ausland leben bzw. die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben (Connection e.V. 11.07.2019). Für Doppelstaatsbürger bedeutet die neue Gesetzeslage sogar eine Verschärfung zur vorhergehenden Rechtslage (NZZ 23.1.2020). Mit dem neuen Gesetz ist die Freikaufsumme nach dem jeweiligen Devisenkurs vom 1.1. des Jahres zu zahlen, und zwar auf einmal (Connection e.V. 11.07.2019). Die periodisch festgelegte Freikaufsumme betrug für das erste Halbjahr 2020 Lira 35.054, rund € 5.335 (NZZ 23.1.2020). Es gibt keine Altersbegrenzung für die Zahlung. Es ist auch kein Militärdienst in der Türkei abzuleisten. (Connection e.V. 11.7.2019; vgl. MFA-NL 11.7.2019). Jedoch müssen im Ausland lebende Wehrpflichtige einen Online-Kurs beim türkischen Verteidigungsministerium absolvieren, bevor sie sich freikaufen können (MFA-NL 11.7.2019; vgl. ÖB 10.2019).
Es wurden keine Änderungen am militärischen Disziplinarsystem oder an den medizinischen Vorschriften vorgenommen, die Homosexualität als "psychosexuelle Störung / Krankheit" definieren. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (EC 29.5.2019). Transsexuelle, Transvestiten und Homosexuelle konnten unter der Bezeichnung „psycho-sexuelle Störungen“ nach Vorsprache bei der Wehrdienstbehörde und Untersuchungen vom Militärdienst befreit werden. Im Gesundheitsgesetz der türkischen Streitkräfte vom 12.11.2015 wird Homosexualität wie folgt beschrieben: „Sexuelle Verhaltensweisen und Einstellungen, die im militärischen Umfeld die Harmonie und Funktionalität beeinträchtigen könnten.“ Homosexualität führte daher im Grundsatz zur Wehrdienstuntauglichkeit, die jedoch bis zum gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 durch ärztliches Gutachten in Militärkrankenhäusern festgestellt werden musste. In Folge des gescheiterten Putschversuchs wurden alle militärischen Krankenhäuser geschlossen; das Personal wurde entweder verhaftet, entlassen oder in zivile Einrichtungen überführt. Die medizinische Versorgung der türkischen Streitkräfte obliegt seitdem dem türkischen Gesundheitsministerium, sodass die Untersuchungen seither durch den Familienarzt am Wohnort oder durch die nächstgelegene Gesundheitseinrichtung durchgeführt werden (AA 3.8.2018).
Neu hinzugekommen ist die Regelung, dass für türkische Doppelstaatsangehörige die Ableistung eines Grundwehrdienstes oder Wehrersatzdienstes außerhalb der Türkei nicht mehr anerkannt wird und damit die Dienstpflicht durch die Türkei als nicht erfüllt angesehen wird (ÖB 10.2019).
Medienberichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Türkische Menschenrechtsorganisationen berichteten von mindestens 17 fragwürdigen Todesfällen im Jahr 2019 (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 17.10.2019
Connection e.V. (27.7.2018): Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl, https://de.connection-ev.org/article-1609 , Zugriff 17.10.2019
DS – Daily Sabah (25.6.2019): New military service law approved, https://www.dailysabah.com/turkey/2019/06/25/parliament-adopts-bill-reducing-conscription-making-paid-military-service-exemption-permanent , Zugriff 17.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
HDN - Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475 , Zugriff 17.10.2019
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN Tab Turkije dienstplicht 4 juli 2019 zonder vertrouwelijke bronnen.pdf , Zugriff 17.10.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.1.2020): Schweizerisch-türkische Doppelbürger werden in den Türkei-Ferien wegen der Wehrpflicht gebüsst – der Bund verschärft die Reisehinweise, https://www.nzz.ch/schweiz/tuerkei-buesst-doppelbuerger-aus-der-schweiz-wegen-wehrpflicht-ld.1535515 , Zugriff 13.2.2020
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
9.1. Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Letzte Änderung am 29.11.2019
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen. Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder die kurdische, noch die alevitische Minderheit betreffend. Es existieren aber Einzelfälle (ÖB 10.2019). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer missbraucht, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. In einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto auf seinem Smartphone von Selahattin Demirtaş hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen HDP (MFA-NL 11.7.2019). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019, K24 10.5.2018).
Quellen:
K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army 'lynched' for singing in Kurdish, MPs say, https://www.kurdistan24.net/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4-20f41eea9bb5 , Zugriff 17.10.2019
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN Tab Turkije dienstplicht 4 juli 2019 zonder vertrouwelijke bronnen.pdf , Zugriff 17.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.10.2019
VB des BM.I für die Türkei (4.6.2019): Auskunft des VB per Mail
9.2. Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung am 29.11.2019
Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor. Eine Person, die sich nicht zur Wehrpflicht meldet, gilt als Wehrdienstverweigerer und kann auf dieser Grundlage bestraft werden. Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019).
Wehrdienstverweigerung bleibt strafbar und Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nach wie vor nicht möglich. Derzeit besteht für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nur die Möglichkeit, eine Haftstrafe abzusitzen; danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden. Im März 2012 wurde erstmals ein Urteil des Militärgerichts von dem Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom Europäischen Gericht für Menschenrechte beeinflusst. Der angeklagte Wehrdienstleistende war nach fünf Monaten im Militärdienst geflohen und teilte seine Dienstverweigerung aus Gewissensgründen mit. Dieser wurde vom Militärgericht angeklagt, aber nicht wegen Wehrdienstverweigerung, sondern wegen Desertion zu zehn Monaten Haft verurteilt. Das Militärgericht nahm in seinem Urteil das erste Mal auf die Entscheidung des EGMR Bezug, welches die Rechte von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen schützt (Art. 9 EMRK). Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Verweigerung der Anerkennung von Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt (ÖB 10.2019).
Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (AA 14.6.2019).
Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert; wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (im Falle eines Krieges) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Das im Rahmen des Ausnahmezustands erlassene Dekret 691 vom 2.6.2017 hält unter anderem fest, dass Soldaten, die sich mehr als drei Tage ohne offizielle Erlaubnis im Ausland aufhalten, als Deserteure betrachtet und entsprechend bestraft werden. Ein ins Ausland geflohener Deserteur muss mit einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren rechnen. Eine Strafe von zehn Jahren ist jedoch auch möglich (SFH 22.3.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 17.10.2019
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN Tab Turkije dienstplicht 4 juli 2019 zonder vertrouwelijke bronnen.pdf , Zugriff 17.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.10.2019
SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (22.3.2018): Türkei: Desertion und Sicherheits-operationen im Südosten (August 2015 bis Mai 2016); Auskunft der SFH-Länderanalyse, https://www.ecoi.net/en/file/local/1438152/1226_1531473548_180322-tur-desertion-anonym.pdf , Zugriff am 23.10.2019
10. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung am 13.2.2020
Nach zwei Jahren der rapiden Verschlechterung der Menschenrechtslage endete der Ausnahmezustand am 18.7.2018. Dies ging jedoch nicht mit konkreten Schritten zur Verbesserung der Menschenrechte im Land einher. Stattdessen bleiben viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen bis heute in Kraft. Diese haben nach wie vor tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die türkischen Bürger (EC 29.5.2019). Die Behörden haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf der Grundlage unterschiedlicher rechtlicher Bestimmungen im Visier, um gegen abweichende Meinungen vorzugehen und ein Klima der Angst aufrechtzuerhalten. So wurde gegen Menschenrechtsanwälte und Gewerkschaftsvertreter in aufeinander folgenden Verhaftungswellen vorgegangen (AI 1.2.2019).
Zwar umfasst der Rechtsrahmen allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, dieser muss aber noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bzgl. Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte in Einklang gebracht werden. In den Bereichen Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit sowie Verfahrens- und Eigentumsrechten gab es weiterhin schwere Rückschritte (EC 29.5.2019; vgl. EP 13.3.2019). Einschränkungen der Tätigkeit von Journalisten, Akademikern, Menschenrechtsverteidigern und kritischen Stimmen auf breiter Ebene wirken sich negativ auf die Ausübung dieser Freiheiten aus und führen zu Selbstzensur. Die Durchsetzung der Rechte wird durch die Zersplitterung und eingeschränkte Unabhängigkeit der öffentlichen Einrichtungen, die für den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zuständig sind, und das Fehlen einer unabhängigen Justiz behindert (EC 29.5.2019).
Gemäß der Verfassung besitzt jede Person mit seiner Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können gemäß Art. 13 der Verfassung nur durch Gesetz und mit der Maßgabe eingeschränkt werden, dass ihr Wesenskern unberührt bleibt. Die Beschränkungen dürfen nicht gegen Wortlaut und Geist der Verfassung, die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung und der laizistischen Republik sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Diesen Grundsätzen steht der Kampf gegen den Terrorismus als zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte gegenüber (ÖB 10.2019).
Die Türkei hat eine weit gefasste Definition von Terrorismus, die auch Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und die innere und äußere Sicherheit des Staates umfasst, die die Regierung regelmäßig einsetzt, um die legitime Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu kriminalisieren (USDOS 1.11.2019; vgl. ÖB 10.2019). Dieser Terrorismusbegriff ist mit dem Grundrechtsschutz unvereinbar (ÖB 10.2019). Das Europaparlament sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019).
Die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen in großem Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen (siehe Kapitel 2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung) befinden sich schätzungsweise 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK/KCK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft. Gegen viele weitere läuft der Prozess. Sie befinden sich jedoch auf freiem Fuß (HRW 14.1.2020).
Der EGMR spielt im Land eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Im Zuge des massenhaften strafrechtlichen Vorgehens gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung kam es zu einer deutlichen Zunahme der Individualbeschwerden beim EGMR, die jedoch in der Regel am Erfordernis der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung scheitern (AA 14.6.2019). Im Jahr 2018 stellte der EGMR Verstöße gegen die EMRK in 142 Fällen (von 146) fest, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren (41), die Meinungsfreiheit (40), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (29), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (11), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (11) und das Verbot von Folter (10) bezogen (EC 29.5.2019; vgl. ECHR 1.2019a). Im Berichtszeitraum 2018 wurden vom EGMR 6.717 neue Anträge registriert (ECHR 1.2019b; vgl. EC 29.5.2019). Auf dem Höhepunkt 2017 waren es 25.978 (ECHR 1.2019b). Im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens gibt es derzeit 410 Verfahren gegen die Türkei (EC 29.5.2019). Mit Stand 31.10.2019 waren 8.700 Verfahren aus der Türkei, das waren 14,5% aller Fälle, am EGMR anhängig (ECHR 12.11.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 6.11.2019
AI – Amnesty International: Turkey (1.2.2019): Amnesty International’s brief on the human rights situation: Turkey’s state of emergency ended but the crackdown on human rights continues [EUR 44/9747/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/1457405/1226_1549275543_eur4497472019english.PDF , Zugriff 7.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 6.11.2019
ECHR - European Court of Human Rights (1.2019a): Statistics by year 2018: Violations by Article and by State, https://echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2018_ENG.pdf , Zugriff 6.11.2019
ECHR - European Court of Human Rights (1.2019b): Analysis of statistics 2018, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2018_ENG.pdf , Zugriff 15.11.2019
ECHR - European Court of Human Rights (12.11.2019): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 31/10/2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2019_BIL.pdf , Zugriff 15.11.2019
EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML TA P8-TA-2019-0200 0 DOC PDF V0//EN , Zugriff 7.11.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
USDOS – US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2019168.html , Zugriff 7.11.2019
11. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung am 7.4.2020
Schwere Rückschritte hinsichtlich der Meinungsfreiheit setzten sich fort. Die restriktiven Maßnahmen, die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffen wurden, waren in ihrer Umsetzung unverhältnismäßig und haben viele Stimmen der Opposition in den Medien, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft negativ beeinflusst. Die Ausübung der Meinungsfreiheit wird erheblich behindert (EC 29.5.2019). Die türkische Rechtsordnung schränkt die Presse- und Meinungsfreiheit durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Anti-Terrorgesetze ein. Die Situation hinsichtlich der Pressefreiheit ist geprägt von einer systematischen, organisierten Kampagne zur Schikanierung von Journalisten und Medien unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus (PACE 3.1.2020).
Kritisch bleiben nach wie vor die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte (AA 14.6.2019). Die Rechtsvorschriften, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und dem Kampf gegen den Terrorismus sowie deren Umsetzung, weichen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ab. Das Land ist hierbei bei weitem der häufigste Täter bei Urteilen des EGMR gegen den türkischen Staat in Fällen von Vergehen gegen die Meinungsfreiheit (PACE 3.1.2020).
Strafverfahren gegen Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Anwälte, Schriftsteller und Social-Media-Nutzer halten an. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Schaden zu beheben, der durch die Schließung zahlreicher Medien oder die Ernennung von Treuhändern durch die Regierung zu deren Verwaltung entstanden ist. Über 160 Journalisten befinden sich weiterhin im Gefängnis (EC 29.5.2019; vgl. Article 19 et al. 2.2019).
Trotz Aufhebung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 wurde ein Großteil der Bestimmungen der Notstandsverordnungen in den später verabschiedeten neuen Gesetzen beibehalten. Durch diese Gesetzesänderungen erhielt die türkische Exekutive einen nahezu unbegrenzten Ermessensspielraum, der es ihr ermöglichte, radikale Maßnahmen, insbesondere gegen die Medien, zu ergreifen (PACE 3.1.2020).
Die Sperrung und Löschung von Online-Inhalten ohne Gerichtsbeschluss aus unterschiedlichen Gründen, basierend auf dem Internetgesetz und den allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen, halten an. Die gerichtliche Kontrolle von Anträgen im Zusammenhang mit Content-Verweigerungen oder der Blockierung von Inhalten aufgrund von Einzelentscheidungen von Friedensrichtern ist aufgrund der Struktur dieser Gerichte bedenklich. Schätzungsweise 170.000 Webseiten sind angeblich verboten (EC 29.5.2019).
Beträchtliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind sowohl im Verfassungsrecht als auch in gesetzlichen Bestimmungen zu finden und betreffen u.a. das Andenken an den Staatsgründer Atatürk, das Ansehen der staatlichen Institutionen, einschließlich des Militärs, und die Einheit des Staates. Der im umstrittenen Art. 301 des türkischen Strafgesetzbuchs (Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik sowie der Institutionen und Organe des Staates) normierte Tatbestand führt zu zahlreichen Verurteilungen vor allem von Personen, die in friedlicher Weise ihre Meinung insbesondere zur armenischen und zur kurdischen Frage oder zur Rolle des Militärs äußern. Nach der Novellierung dieser Bestimmung im Frühjahr 2008 waren Verfahren wegen „Beleidigung des Türkentums“ seltener geworden, erleben aber seit dem Putschversuch von 2016 eine Renaissance, als in verstärktem Maße ein breites Spektrum an Meinungen als Terrorpropaganda kategorisiert und unter Strafe gestellt wird (ÖB 10.2019).
Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen und Social Media-Posts (IPI 18.11.2019).
Die Meinungsfreiheit steht laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 (Beleidigung des Präsidenten der Republik) und 301 des Strafgesetzbuches (PACE 24.1.2019). Einerseits kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Andererseits ist die „Beleidigung des Türkentums“ gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält (AA 14.6.2019). Im Laufe des Jahres 2019 leitete die Regierung Ermittlungen gegen Tausende von Personen, darunter Politiker, Journalisten und Minderjährige, ein, weil sie den Staatspräsidenten, den Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, oder staatliche Institutionen beleidigt hatten (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB 10.2019). Laut Statistiken von türkischen Menschenrechtsorganisationen leitete die Regierung in den ersten elf Monaten des Jahres 2019 gegen mehr als 36.000 Personen Untersuchungen und gegen mehr als 6.000 Personen Strafverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten oder des Staates ein (USDOS 11.3.2020).
Betroffenen Politikern bietet auch deren allfällige parlamentarische Immunität keinen wirksamen Schutz mehr. Die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit wird durch Bestimmungen zum Schutz der nationalen Sicherheit und zum Schutz gegen den Terrorismus sowie deren Implementierung erheblich erschwert. Ebenso haben Anklagen und Verurteilungen wegen Art. 299 stark zugenommen (ÖB 10.2019).
Am 10. Oktober 2019 veröffentlichte die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul eine Erklärung, die kritische Nachrichten und Kommentare zu den militärischen Operationen der Türkei in Nordsyrien verbietet. In der Erklärung heißt es, dass Personen, die "den sozialen Frieden der Republik Türkei, den inneren Frieden, die Einheit und die Sicherheit" durch "jegliche Art von suggestiver Nachricht, schriftlicher oder bildlicher Veröffentlichung bzw. Ausstrahlung" neben "operativen sozialen Medienberichten" ins Visier nehmen, nach dem türkischen Strafgesetz und dem Antiterrorismusgesetz strafrechtlich verfolgt werden. In diesem Zusammenhang hat die Polizei zwei Journalisten verhaftet. Beide Journalisten wurden auf Bewährung freigelassen, erhielten aber ein Ausreiseverbot (PACE 3.1.2020).
Nach Angaben des türkischen Innenministeriums übermittelten die Behörden 2018 mehr als 7.000 Social-Media-Konten an die Justizbehörden wegen angeblicher terroristischer Propaganda (USDOS 1.11.2019). Nach Angaben der Generaldirektion Sicherheit (Polizei) wurden im Jahr 2018 110.000 Social Media Accounts untersucht, 7.109 der Nutzer wurden festgenommen und 2.754 ins Gefängnis gesteckt. Rund 2.828 wurden mit Einschränkungen, d.h. unter gerichtlicher Aufsicht, entlassen (IOHR 2019).
Einzelpersonen können den Staat oder die Regierung in vielen Fällen nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren oder Ermittlungen einzugehen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Einzelpersonen ein, die für bestimmte religiöse, politische oder kulturelle Standpunkte Sympathien haben. Manchmal riskieren Personen, die zu sensiblen Themen oder in einer gegenüber der Regierung kritischen Weise schreiben oder sprechen, eine behördliche Untersuchung (USDOS 11.3.2020).
Nach der Eliminierung von Dutzenden von Medien und der Übernahme der größten Mediengruppe der Türkei (Doğan-Gruppe) durch ein regierungsfreundliches Konglomerat (Demirören-Holding) gehen die Behörden gegen das vor, was vom Pluralismus noch übrig ist - eine Handvoll kritischer Medien (RSF 2019; vgl. Presse 22.3.2018). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 11.3.2020). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung bzw. des Präsidenten wider (FH 4.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin bestehen, stehen sie unter enormem politischen Druck und werden häufig strafrechtlich verfolgt (FH 4.3.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 11.3.2020).
Journalisten sitzen mitunter mehr als ein Jahr bis zum Prozessbeginn im Gefängnis. Lange Gefängnisstrafen werden zur neuen Norm. In einigen Fällen werden Journalisten zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung verurteilt. Inhaftierten Journalisten und geschlossenen Medien wird jeder wirksame Rechtsweg verwehrt. Die Türkei verblieb im World Press Freedom Index 2019 [1. Rang = bester Rang] auf Platz 157 von 180 Ländern (RSF 2019). Rund 120 Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen wegen z.B. "Verbreitung terroristischer Propaganda" oder "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation". Hunderte weitere stehen, ohne sich in Untersuchungshaft zu befinden, vor Gericht. Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020).
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (Al Monitor 24.3.2020). Laut Innenminister Süleyman Soylu sind fast 2.000 Social-Media-Konten identifiziert worden (Stand 25.3.2020), die provokante Beiträge über den Ausbruch gemacht hätten, was zur Festnahme von 410 Personen geführt hat, die versucht hätten, Unruhe zu stiften (Reuters 25.3.2020). Zuvor hat die Oberstaatsanwaltschaft Istanbul Untersuchungen und Gerichtsverfahren gegen 29 Personen eingeleitet, die in den sozialen Medien Zweifel an den Maßnahmen der Regierung äußerten und somit laut der Staatsanwaltschaft „Angst und Panik“ verbreiteten (FNS 16.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 7.11.2019
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HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
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12. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung am 7.4.2020
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere Rückschläge, wo die Gesetzgebung und ihre Umsetzung nicht im Einklang mit europäischen Normen stehen und sich nicht an die türkische Verfassung halten. Mit der Umsetzung der aus dem Ausnahmezustand resultierenden Gesetze wurden die Befugnisse der Verwaltung erweitert, um das Recht auf friedliche Versammlung zu beschränken (EC 29.5.2019).
Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte aber weitgehend ausgehebelt (AA 14.6.2019). Aufgrund des Auslaufens des Ausnahmezustandes (19.7.2018) konnte eine gewisse Lockerung auf dem Gebiet der Versammlungsfreiheit erwartet werden. Tatsächlich aber wurde der breite Entscheidungsspielraum der zuständigen Gouverneure von diesen im Sinne einer weiteren Verschärfung genutzt (ÖB 10.2019). Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind. In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 14.6.2019). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, wurden Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, LGBT-Veranstaltungen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition oder Demonstrationen mit Bezug auf die Kurden-Thematik verboten. Die Polizei setzt Gewalt ein, um nicht genehmigte Proteste zu beenden (EC 29.5.2019; vgl. FH 4.3.2020).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen „Propagandamarsch“ für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, gefärbtes Wasser in Wasserkanonen zu verwenden, um Demonstranten für eine spätere Identifizierung und Verfolgung zu markieren. Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in Haft zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen. Überdies gibt das Antiterrorgesetz den Gouverneuren verstärkte Befugnisse zum Verbot von Demonstrationen, ein Verbot, das einige Gouverneure im Laufe des Jahres 2019 im breiten Umfang erlassen haben (USDOS 11.3.2020).
Mit Beendigung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 trat ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft. Demnach können Gouverneure die Bewegungsfreiheit von Personen, die im Verdacht stehen, die öffentliche Ordnung an bestimmten Orten zu stören, für einen Zeitraum von 15 Tagen einschränken. Die Gouverneure können das Zusammentreffen von Personen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten einschränken sowie Einzelpersonen verbieten, ihre auch lizenzierten Waffen oder Munition zu tragen oder zu transportieren. Sie sind befugt, außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen auszurufen (TM 25.7.2018). Grundsätzlich darf es, wie im Ausnahmezustand, nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können Gouverneure Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen" (ZO 25.7.2018).
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Antiterrorgesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte. Im Juli 2019 gab die Untersuchungskommission für Notstandsmaßnahmen bekannt, dass die Regierung 1.750 nicht-staatliche Vereinigungen und Stiftungen im Rahmen von Notstandsmaßnahmen geschlossen hatte. 208 von diesen erlaubte die Regierung die Wiedereröffnung. Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 11.3.2020).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 11.3.2020).
Eine im Oktober 2018 verabschiedete Verordnung, die Vereine zur Offenlegung aller ihrer Mitglieder gegenüber Behörden verpflichtet, ist problematisch und verstößt gegen verfassungsmäßige Garantien wie Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 7.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 7.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
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TM – Turkish Minute (25.7.2018): First post-OHAL anti-terrorism law approved by Turkish Parliament, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/first-post-ohal-anti-terrorism-law-approved-by-turkish-parliament/ , Zugriff 18.9.2018
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 7.4.2020
ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 20.9.2018
12.1. Opposition
Letzte Änderung am 7.4.2020
Ein Teil der politischen Opposition kann sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Zehn ehemalige Abgeordnete der links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich in Untersuchungshaft oder sind rechtskräftig zu Haftstrafen verurteilt, darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Den HDP-Abgeordneten wird meistens Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (PKK) vorgeworfen. Damit droht ihnen im Falle von Verurteilungen neben den langen Haftstrafen auch ein fünfjähriges Politikverbot. Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP bzw. ihrer Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) zu verringern. Im Zuge der Notstandsdekrete sind bis Ende 2017 insgesamt über 90 gewählte Gemeindeverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, vereinzelt Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 14.6.2019; vgl. PACE 24.1.2019, TM 3.9.2019, DS 4.9.2019). Dies verstößt gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung und beeinträchtigt ernsthaft das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei (PACE 24.1.2019). Zusätzlich zur Verfolgung von HDP-Politikern wegen Terrorismus hat die Regierung Strafverfolgungsbehörden eingesetzt, um gegen die größte Oppositionspartei des Landes, die Republikanische Volkspartei (CHP), vorzugehen (FH 4.3.2020). So wurde Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, im September 2019 zu einer Gefängnisstrafe von fast zehn Jahren verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten und Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt worden war. Das Berufungsverfahren steht noch aus (FH 4.3.2020).
Bei den Lokalwahlen am 31.3.2019 sind einige abgesetzte Bürgermeister wiedergewählt worden. Allerdings verweigerten die lokalen Wahlräte einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten (meist: AKP). Begründet wurde die Maßnahme damit, dass die betroffenen HDP-Politiker zuvor per Dekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren. Dennoch hatte sie der Wahlrat zur Wahl zuvor zugelassen (AA 14.6.2019; vgl. HDP 18.11.2019). Nebst den sechs siegreichen HDP-Bürgermeisterkandidaten wurde 88 gewählten Gemeinderatsmitgliedern der HDP vom Innenministerium die Akkreditierung verweigert, angeblich wegen anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen (HDP 18.11.2019).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Der Führung der HDP/DBP wird regierungsseitig vorgeworfen, enge Verbindungen zur PKK zu pflegen. Nach Einschätzung der HDP befinden sich aktuell rund 6.000 Parteifunktionäre und -mitglieder (inklusive DBP) in Haft (AA 14.6.2019). Das harte Vorgehen der letzten Jahre hat die HDP gelähmt, zumal sich die restriktiven Maßnahmen auf lokale HDP-Niederlassungen, kommunale Behörden, Medien sowie NGOs, die mit ihnen sympathisieren, ausgeweitet haben (ICG 13.6.2018).
Während des polarisierenden Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 bezeichnete der amtierende Staatspräsident Erdoğan immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die Republikanische Volkspartei (CHP), Saadet-Partei und die İYİ-Partei, alles Oppositionsparteien (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Die HDP-Bürgermeister von Diyarbakır, Mardin und Van im Südosten der Türkei, die bei den Lokalwahlen im März 2019 gewählt worden sind, wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wird wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Innenminister Süleyman Soylu beschuldigte die Bürgermeister, die Gemeinden in eine vom Rest des Landes getrennte Verwaltungsstruktur umwandeln zu wollen und ehemalige Gemeindeangestellte wieder zu beschäftigen, die aufgrund ihres Engagements, ihrer Zugehörigkeit und ihrer Beziehung zu einer terroristischen Vereinigung vormals bereits aus ihren Ämtern entfernt worden waren (HDN 20.8.2019). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Die Entlassung der Bürgermeister hat Kritik seitens der EU und des Europarates ausgelöst, da ihre Entlassung die Ergebnisse der Wahlen vom 31. März infrage stellt (Ahval 20.8.2019; vgl. CoE 20.8.2019, EU 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer großangelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Seit den Wahlen im März 2019 sind über ein Dutzend Bürgermeister der HDP wegen Unterstützung der verbotenen PKK verhaftet und durch Regierungstreuhänder ersetzt worden, mehrfach in Zusammenhang mit der Kritik der HDP-Amtsinhaber an der Invasion türkischer Truppen im Norden Syriens (AM 24.10.2019; vgl. Bianet 8.11.2019). Im März 2020 haben die türkischen Behörden acht weitere Bürgermeister der Oppositionspartei HDP in der Südosttürkei wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir. Nach Angaben der HDP sind seit den Kommunalwahlen im März 2019 somit 32 HDP-Bürgermeister ihres Amtes enthoben worden (ZO 24.3.2020). Somit sind nur noch in 22 von ursprünglich 65 Gemeinden gewählte HDP-Bürgermeister im Amt (FNS 31.3.2020). Das anhaltende Vorgehen gegen gewählte Vertreter der HDP hat zu Diskussionen innerhalb der Partei und Anhängerschaft geführt, ob man sich sowohl aus dem Parlament als auch aus den lokalen Vertretungsorganen zurückziehen sollte (AM 24.11.2019; vgl. Duvar 20.11.2019, Reuters 20.11.2019).
Quellen:
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Ahval (20.8.2019): Police intervene in protests in Kurdish-majority provinces, Istanbul over dismissed mayors, https://ahvalnews.com/dismissed-kurdish-mayors/police-intervene-protests-kurdish-majority-provinces-istanbul-over , Zugriff 8.11.2019
AM – Al Monitor (24.10.2019): Crackdown on Kurdish mayors raises pressure on Turkish opposition, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/turkey-replaces-seven-more-kurdish-hdp-mayors.html , Zugriff 8.11.2019
AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkey’s HDP will not cede political ground, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-pro-kurdish-party-stuck-between-government-its-bas.html , Zugriff 27.11.2019
Bianet (8.11.2019): HDP Mayors, HDK Co-Spokesperson Detained, http://bianet.org/english/print/215523-hdp-mayors-hdk-co-spokesperson-detained , Zugriff 8.11.2019
CoE – Council of Europe (20.8.2019): Statement by the President of the Congress on the recent suspension of mayors in Turkey, https://www.coe.int/en/web/congress/-/statement-by-the-president-of-the-congress-on-the-recent-suspension-of-mayors-in-turkey , Zugriff 8.11.2019
DS – Daily Sabah (4.9.2019): 41 dismissed mayors receive over 237 years on terrorism charges, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2019/09/04/41-dismissed-mayors-receive-over-237-years-on-terrorism-charges , Zugriff 8.11.2019
Duvar (20.11.2019): HDP calls for early elections, won’t leave parliament https://www.duvarenglish.com/politics/2019/11/20/hdp-calls-for-early-elections-wont-leave-parliament/ , Zugriff 27.11.2019
DW – Deutsche Welle (20.8.2019): Türkei unterbindet Proteste gegen Bürgermeister-Entlassung, https://www.dw.com/de/türkei-unterbindet-proteste-gegen-bürgermeister-entlassung/a-50102492 , Zugriff 8.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
FNS – Friedrich Naumann Stiftung (31.3.2020): Türkei Bulletin 06/20 - Berichtszeitraum: 17. – 31. März 2020, http://shop.freiheit.org/download/P2@880/249231/Türkei Bulletin 06-2020.pdf , Zugriff 7.4.2020
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SCF - Stockholm Centre for Freedom (1.2018): Kurdish political movement under crackdown in Turkey The case of the HDP, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2018/01/Kurdish-political-movement-under-crackdown-in-Turkey-The-case-of-the-HDP_Jan-28-2018.pdf , Zugriff 8.11.2019
TM – Turkish Minute (3.9.2019): Turkey sentences 41 ex-mayors from Kurdish party to nearly 260 years in prison, https://www.turkishminute.com/2019/09/03/turkey-sentences-41-ex-mayors-from-kurdish-party-to-nearly-260-years-in-prison/ , Zugriff 8.11.2019
ZO - Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition , Zugriff 8.11.2019
ZO - Zeit Online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkei-buergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien , Zugriff 6.4.2020
13. Haftbedingungen
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Kritik an den Haftbedingungen gibt es vor allem hinsichtlich der Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Zu den unbestreitbaren Problemen in den Haftanstalten zählen, insbesondere bedingt durch eine große Zahl an Verhaftungen nach dem Putschversuch 2016, die Überbelegung und die damit zusammenhängenden Probleme: unzulängliche Umsetzung der Bestimmungen über Gemeinschaftsaktivitäten, Beschränkungen des Briefverkehrs, nicht durchwegs ausreichende Gesundheitsversorgung etc. Die 353 Gefängnisse in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 218.950 Plätzen. Die Zahl der Insassen betrug im Dezember 2018 260.000, dürfte aber seither noch mehr angestiegen sein (ÖB 10.2019). Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt (Nov. 2018: 118%; Nov. 2016: 104%). Diese landesweiten Durchschnittszahlen täuschen darüber hinweg, dass einzelne Gefängnisse deutlich stärker, bis zu 200%, überbelegt sind (AA 14.6.2019). Beispielsweise befanden sich in der Haftanstalt in Izmir laut Justizministerium durchschnittlich 18 Personen in einer Zelle, wobei einige auf dem Boden schlafen mussten, und sich 23 Häftlinge eine Toilette teilen mussten (Duvar 25.10.2019). Die Regierung bemüht sich jedoch mit ersten Erfolgen um Entlastung, indem die Kapazität der Haftanstalten gesteigert und Häftlinge in weniger belegte Gefängnisse verlegt werden (AA 14.6.2019).
Mit Stand Dezember 2018 befanden sich 57.000 Personen ohne Anklageerhebung in Haft bzw. in Untersuchungshaft, d.h. über 20% der Gesamtzahl der Gefängnisbevölkerung. Ebenfalls mehr als ein Fünftel aller Gefängnisinsassen, das sind rund 45.000 von mehr als einer viertel Million, befindet sich wegen terroristischer Anschuldigungen in Haft (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Bestimmungen über die Einzelhaft für Personen, die zu einer lebenslänglichen Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurden, sind nach wie vor in Kraft. Derartige Haftbedingungen dürfen nur über einen möglichst kurzen Zeitraum hinweg angeordnet werden, wobei eine individuelle Risikobewertung in Bezug auf den jeweiligen Häftling vorzunehmen ist (ÖB 10.2019).
Gegenwärtig befinden sich über 740 Kinder im Alter von sechs oder weniger Jahren mit ihren Müttern in Haft (DW 23.6.2019; vgl. EC 29.5.2019). Das türkische Strafgesetzbuch sieht unterdessen vor, dass Haftstrafen für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden. Diese Regel gilt jedoch nicht, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).
In den Gefängnissen gibt es zahlreiche Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter, Misshandlung und Einzelhaft als Disziplinarmaßnahmen (EC 29.5.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Laut der Statistik des Justizministeriums aus dem Jahr 2018 leitete die Regierung 2.196 Untersuchungen im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen ein. Davon führten 1.035 zu keiner Verfolgung, 766 zu Strafverfahren und 395 zu anderen Entscheidungen. Die Regierung gab keine Daten über ihre Untersuchungen zu angeblichen Folterungen heraus (USDOS 11.3.2020). In Gesuchen, die 2018 aus Gefängnissen an die türkische Menschenrechtsvereinigung İHD geschickt wurden, gaben 1.149 Personen an, dass sie in verschiedenen Gefängnissen Folter und Misshandlung ausgesetzt waren (İHD 19.4.2019).
Laut Berichten wird kranken Insassen regelmäßig der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt. Im Jahr 2018 gingen bei der Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten 877 Beschwerden über Folter und Misshandlung ein. Bis Dezember 2018 wurden rechtliche und administrative Maßnahmen gegen 543 Mitarbeiter ergriffen. Die Gefängnisaufsichtsbehörden bleiben jedoch weitgehend ineffizient. Besorgniserregend ist auch der mangelnde Zugang zivil-gesellschaftlicher Organisationen zu den Gefängnissen. Da der nationale Präventionsmechanismus nicht voll funktionsfähig ist, gibt es keine Kontrollaufsicht hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 28.10.2019
Duvar (25.10.2019): Justice Ministry: 23 people can share the same toilet in prison cell, https://www.duvarenglish.com/human-rights/2019/10/25/justice-ministry-23-people-can-share-the-same-toilet-in-prison-cell/ , Zugriff 28.10.2019
DW – Deutsche Welle (23.6.2019): Turkey: Babies behind bars, https://www.dw.com/en/turkey-babies-behind-bars/a-49320769 , Zugriff 28.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 14.2.2020
IHD- İnsan Haklari Derneğİ/ Human Rights Association (19.4.2019): İHD 2018 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-IHD-Violations-Report.pdf , Zugriff 28.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 28.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
14. Todesstrafe
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die Türkei schaffte 2004 die Todesstrafe für alle Straftaten ab. Die letzte Hinrichtung erfolgte 1984 (AI 7.2018).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019).
Quellen:
AI – Amnesty International (7.2018): Abolitionist and Retentionist Countries as of July 2018, https://www.amnesty.org/download/Documents/ACT5066652017ENGLISH.pdf , Zugriff 17.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 17.10.2019
15. Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten - nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 11.3.2020).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 11.3.2020).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch die Hasskommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten. Auch die antisemitische Rhetorik in den Medien und von Vertretern des Staates hat sich aufgrund des Konflikts in Palästina verstärkt (EC 29.5.2019). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung über Hassreden gab es zwischen Jänner und April 2018 in annähernd 2.400 Artikeln und Kolumnen 427 Fälle antisemitischer Rhetorik. Konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale wurden den Minderheiten unterstellt, insbesondere den Armeniern, Juden und Griechen, gefolgt von den Syrern (HDF 7.2019).
Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind deutlich gesunken. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert (EC 29.5.2019). Gleichwohl wurde mit dem 4. Justizreformpaket 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2019). Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zaza (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 12.11.2019
bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12 , Zugriff 12.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 12.11.2019
HDF - Hrant Dink Foundation (7.2018): Media Watch on Hate Speech Report January - April 2018, https://hrantdink.org/attachments/article/1429/Media-Watch-on-Hate-Speech-January-April-2018.pdf , Zugriff 12.11.2019
MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 12.11.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 12.11.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
15.1. Kurden
Letzte Änderung am 6.4.2020
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südostanatolien, wo sie die Mehrheit bilden, und auf Nordostanatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die Westtürkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südosttürkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst eine kurdische Mittelschicht in städtischen Zentren, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 9.10.2018).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 11.3.2020). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte 2018 ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 29.5.2019).
[für weiterführende Informationen siehe Kapitel 3 „Sicherheitslage“]
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 11.3.2020).
Der Druck auf kurdische Medien und die Berichterstattung über kurdische Themen hält durch Gerichtsverfahren und Verhaftungen von Journalisten an (EC 29.5.2019). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über die Entlassung kurdischer Wissenschaftler und Dozenten, die teilweise unter Terrorismus-Verdacht stehen, und gegen die entsprechende Untersuchungen laufen. Weiters kam es zur Schließung kurdischsprachiger NGOs und Institutionen. Der Druck auf kurdische Medien besteht weiterhin und kurdische Bücher wurden verboten. Im Südosten wurden mehrere Gedenk- und Literaturdenkmäler kurdischer Persönlichkeiten sowie Veranstaltungen und zweisprachige Straßenschilder von durch die Regierung ernannte Treuhändern und Behörden entfernt. Andere Vereine, kurdischsprachige Medien und Kulturinstitutionen blieben geschlossen (EC 29.5.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 14.6.2019).
Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert, identifizieren sich mit der türkischen Nation und leben ihr Leben auf normale Weise. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen (DFAT 9.10.2018).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 14.6.2019). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Zwei Universitäten hatten Kurdisch-Institute. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten (USDOS 11.3.2020).
Die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache, dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP drangsaliert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen Erdoğan den HDP-Kandidaten Demirtaş bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018).
[siehe auch Kapitel 13.1. Opposition]
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 13.11.2019
AI – Amnesty International: Weathering the storm (26.4.2019): Defending human rights in Turkey's climate of fear [EUR 44/8200/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1430738/1226_1524726749_eur4482002018english.PDF , Zugriff 15.11.2019
DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (9.10.2018): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 13.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 13.11.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
MEE - Middle East Eye ( 25.6.2018) Turkey election: Erdogan wins, the opposition crashes – but don’t write off the HDP, http://www.middleeasteye.net/columns/turkey-election-erdogan-wins-akp-chp-opposition-crashes-dont-write-off-hdp-776290051 , Zugriff 13.11.2019
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey – Early Presidential and Parliamentary Elections – 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true , Zugriff 13.11.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
16. Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung am 7.4.2020
Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung sind verfassungsrechtlich garantiert; die Regierung schränkt diese Rechte allerdings ein. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die PKK verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein. Die Regierung erklärte die Provinz Hakkâri zu einer "besonderen Sicherheitszone" und beschränkte die Bewegungsfreiheit in und aus mehreren Bezirken der Provinz wochenlang mit der Begründung, dass die Bürger vor -Angriffen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geschützt werden müssten (USDOS 11.3.2020).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 11.3.2020), obwohl unklar blieb, wie viele weitere nicht mehr reisen konnten (USDOS 11.3.2020).
Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen (AA 14.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 16.10.2019
HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 16.10.2019
TM - Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/ , Zugriff 16.10.2019
TM - Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 16.10.2019
TM - Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects’ spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019
USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 7.4.2020
17. Grundversorgung/ Wirtschaft
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die türkische Wirtschaft hat in den letzten zwölf Monaten erhebliche außenwirtschaftliche Veränderungen erlebt, darunter rückläufige Leistungsbilanz-Ungleichgewichte und eine geringere Auslandsverschuldung der Banken. Dies hat die außenwirtschaftlichen Schwächen verringert, die sich im Vorfeld des Währungsschocks vom August 2018 gehäuft hatten. Investitionen sind zurückgegangen, die Preise hoch geblieben und die Arbeitslosigkeit gestiegen. Diese Anpassungen haben den Fremdfinanzierungsbedarf des Landes reduziert und zu einer stabileren Lira beigetragen, ungeachtet der Währungsschwankungen im Verlaufe des Jahres 2019. Die Anpassungen wurden durch ein aktiveres Agieren der Politik und günstigere globale monetäre Bedingungen unterstützt. Dennoch sind die Devisenreserven in den letzten zwei Jahren abgebaut worden und haben die Türkei einem außenwirtschaftlichen Druck ausgesetzt. Die Realwirtschaft ist nach wie vor stark von beharrlichen makro-finanziellen Schwächen betroffen. Die Investitionen gingen deutlich zurück (bis zum zweiten Quartal 2019), während die Industrieproduktion auf eine schwache Trendwende hinweist. Die allmähliche Erholung von der Rezession im Jahr 2018 wurde durch einen Anstieg des privaten Konsums und einer Nettoauslandsnachfrage betrieben. Der Rückgang der Inflation hat begonnen, nachdem die Wechselkursentwicklung und der Vertrauensverlust in die Lira die Verbraucherpreise stark anstiegen ließen. Die Inflation betrug in den ersten drei Quartalen 2019 durchschnittlich 17% (WB 2.11.2019).
Stagnierendes Produktionsniveau, steigende Produktionskosten und hohe Verbraucherpreise haben zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten und sinkenden Reallöhnen geführt. Die türkische Wirtschaft hat von Mai 2018 bis Mai 2019 rund 840.000 Arbeitsplätze verloren, was 2,9% der Gesamtbeschäftigung entspricht. Die Arbeitslosenquote stieg zwischen Mai 2018 und Mai 2019 von 10,6% auf 14%, wobei die Jugendarbeitslosigkeit einen Anstieg von 19,6% auf 25,6% verzeichnete. Die durchschnittlichen Reallöhne sanken zwischen 2017 und 2018 um 2,6%. Am stärksten betroffen sind ärmere Haushalte, da viele einkommensschwache Arbeitskräfte im Baugewerbe und in der Landwirtschaft beschäftigt sind - den Sektoren, in denen der größte Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen war (WB 2.11.2019).
Weitere Tendenzen: chronisch hohes Leistungsbilanzdefizit; starke Abhängigkeit von Energieimporten (mehr als 50% des Defizits); fehlende Leistungsfähigkeit in höherwertigen Wirtschaftssektoren, in Teilen beschränkte globale Wettbewerbsfähigkeit, niedrige lokale Wertschöpfung in der Produktion; Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen (auch durch die geringe Sparquote: 13% BIP) hoher Anteil an Schwarzarbeit und geringer Anteil von Frauen in der Erwerbsarbeit. Stark entwickelt ist die Westtürkei mit dem Marmara-Raum und der Ägäis. Dabei erwirtschaftet die Region Istanbul mit ca. 20% der Bevölkerung 40% der gesamten Wertschöpfung. Unterentwickelt ist der Südosten und Osten des Landes, gekennzeichnet oft durch bittere Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit (GIZ 9.2019a).
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
Quellen:
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2019a): Länderinformationsportal: Türkei: Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/tuerkei/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 11.10.2019
OECD (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 15.11.2019
WB – World Bank (2.11.2019): Turkey Economic Monitor, October 2019: Charting A New Course, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/32634/Turkey-Economic-Monitor-Charting-a-New-Course.pdf?cid=ECA_EM_Turkey_EN_EXT&deliveryName=DM48511 , Zugriff 15.11.2019
17.1. Sozialbeihilfen/-versicherung
Letzte Änderung am 29.11.2019
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber verschiedene Programme für mittellose Familien, wie z.B. Sachspenden (Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien, etc.); Kindergeld (eine einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und Lira 300 für das erste, Lira 400 für das zweite und Lira 600 für das dritte Kind beträgt); finanzielle Unterstützung für Schwangere in einmaliger Höhe von Lira 149 unter bestimmten Bedingungen, wie geleistete Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst; Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache (dreimonatlich zwischen Lira 1.527 und 2.589 je nach Grad der Behinderung). All diese Hilfeleistungen des Staates sind an bestimmte Bedingungen gekoppelt, die von den Einzelnen nicht immer erfüllt werden können. Es gibt zwei unterschiedliche Arten von „Witwenunterstützung“. Jede Witwe (ohne Einkommen) hat im Jahr 2019 den Anspruch auf Lira 550 (alle zwei Monate). Diese Leistung wird vom Familienministerium bereitgestellt. Dann gibt es zum zweiten die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (max. 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch max. Lira 4.263) (ÖB 10.2019).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankheitsversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Betrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; SSA 9.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 10.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 10.10.2019
SGK - Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische , Zugriff 10.10.2019
SGK - Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 10.10.2019
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 10.10.2019
17.2. Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung am 29.11.2019
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle ArbeiterInnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Im Jahr 2017 sah eine Novelle des Arbeitslosenversicherungsgesetzes die Ausweitung des Versicherungsschutzes auf Selbständige zum 1. Januar 2020 vor. Der Betroffene muss in den letzten 120 Arbeitstagen Beiträge gezahlt haben und in den drei Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens für 600 Arbeitstage eingezahlt haben. Der Anspruch auf das Arbeitslosengeld muss innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf des Arbeitsvertrages geltend gemacht werden oder er erlischt. Der Arbeitslose muss registriert sein und für eine geeignete Beschäftigung zur Verfügung stehen (SSA 9.2018). Bei 600 Tagen Beitragszahlung erhält man 180 Tage Arbeitslosenhilfe, bei 900 Tagen Beitragszahlung erhält man 240 Tage Arbeitslosenhilfe, und bei 1080 Tagen Beitragszahlung erhält man 300 Tage Arbeitslosenunterstützung (IOM 2019; vgl. SSA 9.2018, ÖB 10.2019). Das minimale Taggeld beträgt 40% des durchschnittlichen Tagesverdienstes des Versicherten in den letzten vier Monaten. Das maximale monatliche Arbeitslosengeld beträgt 80% des gesetzlichen monatlichen Bruttomindestentgelts (SSA 9.2018; vgl. ÖB 10.2019). Nach der Erhöhung des Mindestlohnes (Jänner 2019) hat sich auch die Höhe des Arbeitslosengeldes geändert. Der Mindestarbeitslosenbetrag liegt nun bei Lira 1.015 (rund € 159), der Maximalbetrag bei Lira 2.030 (rund € 317) (ÖB 10.2019).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 10.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 10.10.2019
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 10.10.2019
17.3. Pension
Letzte Änderung am 29.11.2019
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Sofern regelmäßige Einzahlungen getätigt wurden, wird die entsprechende Pension monatlich ausgezahlt.
Berechtigung:
Staatsbürger über 18 Jahre
Exilanten, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit möglich)
Im Ausland gezahlte Beiträge können in die Türkei transferiert und in Türkische Lira nach dem derzeitigen Kurs ausgezahlt werden
Ehegattinnen können von der Pension profitieren, sofern sie ihre ausländischen Beiträge an die Pensionskassen SSK, Bağ-kur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] überwiesen haben
Voraussetzungen:
Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
Hausfrauen müssen sich bei Bağ-kur anmelden
Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gearbeitet hat, haben Zugang zu Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gedient, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25, Waisenhilfe (IOM 2019).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1. Oktober 2008 erfolgt. Die monatliche Mindestpension beträgt Lira 1.402 [rund € 221] (2017); Lira 1.871 [rund € 295] für Beamte (2017). Leistungsanpassung: Die Anpassung der Leistungen erfolgt im Jänner und Juli eines jeden Jahres aufgrund von Änderungen des Verbraucherpreisindex (SSA 9.2018).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 10.10.2019
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 10.10.2019
18. Medizinische Versorgung
Letzte Änderung am 2.3.2020
Die vorhandenen Systeme sind nicht ausreichend, um eine medizinische Versorgung auf angemessenem Niveau für alle Bürger zu gewährleisten. Derzeit wird um eine Reform der Krankenversicherung gerungen, das heißt die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung auf einer beitragsfinanzierten Grundlage. Dies erscheint angesichts der großen Anzahl der in der Schattenwirtschaft tätigen Arbeiter zumindest herausfordernd. Das staatliche Gesundheitswesen besteht aus Krankenhäusern (Träger: SSK, Gesundheitsministerium, Universitäten), Polikliniken, Gesundheitsstationen (Variante 1: mit Pflegekraft, Variante 2: mit Arzt), niedergelassenen Ärzten und weiteren ambulanten Einrichtungen. Für die Versicherten ist die Behandlung kostenlos. Allerdings sind materielle und personelle Ausstattung oft mangelhaft, sodass mehr als eine ausreichende Basisversorgung nicht möglich ist. Selbst in Krankenhäusern sind die Patienten auf die Pflege durch Verwandte angewiesen. Medikamentenengpässe sind nicht selten. Auf 1.100 Einwohner kommt ein Arzt. Das liegt weit unter dem OECD-Durchschnitt (350 Einwohner pro Arzt). Nicht-Sozialversicherte haben keinen Anspruch auf Leistungen. Für sie und Kinder unter 18 Jahren gibt es die Grüne Karte (yeşil kart), mit der ärztliche Hilfe von den Ärmsten beansprucht werden kann. Daneben gibt es ein privates ärztliches Versorgungssystem, das gehobenen internationalen Standards genügt. Auch die Krisenmedizin ist auf einem guten Stand (GIZ 12.2019).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit wächst die Zahl der Krankenhäuser (2017: 1.518), davon ca. 60% in staatlicher Hand mit einer Kapazität von knapp 226.000 Betten. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ gratis (AA 14.6.2019).
Die Gesundheitsreform ist als Erfolg zu werten, da mittlerweile 90% der Bevölkerung eine Krankenversicherung haben, und die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, und die Kindersterblichkeit um 2/3 gesunken ist. Die Welt-Bank warnt jedoch vor explodierenden Kosten. Zahlreiche Ärzte kritisieren die sinkende Qualität der Behandlungen aufgrund der reduzierten Konsultationsdauer und der geringeren Ressourcen pro Patient (ÖB 10.2019).
Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. Im Fall von Krebsbehandlungen kann nach aktuellen Medienberichten aufgrund des gesunkenen Wertes der türkischen Währung keine ausreichende Versorgung mit bestimmten Medikamenten aus dem Ausland gewährleistet werden; es handelt sich aber nicht um ein flächendeckendes Problem (AA 14.6.2019).
Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach hat das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Sağlık Ocağı) abgelöst und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung geführt. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig (AA 14.6.2019).
NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Guvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei Lira 76,75 an (IOM 2019).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner/-in automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SKG-Behörde registrieren (IOM 2019).
Der freiwillige Mindestbetrag für die Grundversorgung – sofern keine Versicherung durch den Arbeitgeber bereits besteht – beträgt zwischen 6 bis 12% des monatlichen Einkommens. Personen ohne ein reguläres Einkommen müssen ca. 13 EUR/Monat in die Krankenkasse einzahlen. Bei Nachweis über ein sehr geringes Einkommen (weniger als 150,- EUR/Monat) werden die Grundversorgungsbeiträge vom Staat übernommen (ÖB 10.2019).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insgesamt standen 2017 elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern. Insgesamt 36 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in 33 Provinzen. Zusätzlich werden in 50 ambulanten und 44 stationären Gesundheitszentren Behandlungsmöglichkeiten angeboten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologie-Krankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologie-Stationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. 166 Untersuchungszentren (sog. KETEM) bieten u. a. eine Früherkennung von Krebs an. Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Provinzen mit 765 Gesundheitsbussen mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen. Diese Betreuung wird vom Gesundheitsministerium gebührenfrei angeboten. Etwa 15% der Bevölkerung profitieren von diesen Angeboten. Eine AIDS-Behandlung kann in allen Provinzen mit staatlichen (93 Krankenhäusern) wie auch Universitätskrankenhäusern (68 Krankenhäuser) durchgeführt werden. In Istanbul stehen drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 14.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 11.10.2019
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2019): Länderinformationsportal: Türkei: Gesundheitswesen, https://www.liportal.de/tuerkei/gesellschaft/#c26139 , Zugriff 2.3.2020
IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 11.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 11.10.2019
19. Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung am 29.11.2019
Türkische Staatsangehörige, die im Ausland für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, drohen polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Gülen-Anhänger, im Ausland ausspähen (AA 14.6.2019). Personen, die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida). Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2019). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (MFA o.D.).
Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. „Gülen-Netzwerkes“ gebeten. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 14.6.2019).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter, dieser entscheidet dann. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den geltenden Amnestiebestimmungen profitieren kann, oder ob Verjährung eingetreten ist. Sollte das Verfahren aufgrund der vorgenannten Bestimmungen ausgesetzt oder eingestellt sein, wird der Festgenommene freigelassen. Andernfalls fordert der Staatsanwalt beim Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, einen Haftbefehl an. Der Verhaftete wird verhört und mit einem richterlichen Haftbefehl dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, überstellt. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 14.6.2019).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019).
Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).
Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl:
• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail. almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Türkei_(Stand_Mai_2019),_14.06.2019.pdf , Zugriff 23.10.2019
MFA - Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 23.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_ÖB Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 23.10.2019
UKHO - United Kindom Home Office (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf , Zugriff 23.10.2019
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Die Lage in Ihrem Herkunftsstaat ist seit der Entscheidung über Ihren vorherigen Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen unverändert.
Bei einer Überstellung in die Türkei sind Sie keiner dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt.
Zur COVID-19 Pandemie
Derzeit herrscht weltweit die als COVID-19 bezeichnete Pandemie. COVID-19 wird durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte. In Ihrem Herkunftsstaat Türkei wurden bisher 182.727 Fälle von mit diesem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei bisher 4.861 bestätigt wurden (https://coronavirus.jhu.edu/map.html , abgerufen am 18.06.2020.
Wie gefährlich der Erreger SARS-CoV-2 ist, kann derzeit noch nicht genau beurteilt werden. Man geht aber von einer Sterblichkeitsrate von bis zu drei Prozent aus, wobei v.a. alte Menschen und immungeschwächte Personen betroffen sind (https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Coronavirus---Haeufig-gestellte-Fragen.html , abgerufen am 18.06.2020).
Die Begründung des neuerlichen Asylantrages reiche nicht aus, um einen neuen, gegenüber dem früheren Asylantrag wesentlich geänderten, entscheidungsrelevanten Sachverhalt entstehen zu lassen.
I.11. Mit Schreiben vom 28.05.2020 gab der Vertreter, Herr RA Dr. Reichenvater bekannt, dass kein aufrechtes Vollmachtsverhältnis besteht.
I.12. Dem BF wurde mit Verfahrensanordnung ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
I.13. Der BF hat innerhalb offener Frist Beschwerde gegen den Bescheid vom 19.06.2020 erhoben und angeregt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Im Wesentlichen wird darin vorgebracht, dass die bB ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe und insbesondere die Länderberichte mangelhaft wären. Es wurde ein Zeitungsartikel vom 12.04.2018 zur Situation der Kurden in der Türkei angeführt, in welchem exemplarische Schicksale von Oppositionsmitgliedern und zivilen Bürgern geschildert werden würden, zitiert wurde lediglich eine Passage hinsichtlich einer Person, welche sich seit den 1980er Jahren in verschiedenen NGO´s betätigte. Hinsichtlich der Lage der Kurden wurde aus zwei Berichten der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 19.05.2017 und 12.08.2016, einem PHR Bericht aus August 2016 und aus einem USDOS Bericht aus 2016 zitiert. Zu den Haftbedingungen in der Türkei wurde aus dem englischen Bericht der europäischen Kommission vom 29.05.2019 zur Türkei sowie aus einem Standardartikel vom 25.06.2016 zitiert. Zusätzlich zu diesen Berichten, die zeigen würden, wie die Ausrufung des Notstandes in der Türkei wichtige Rechte, die Gefangene vor Folter und Misshandlung schützen, beschnitten hätte, wären dem Bericht von Human Rights Watch auf Aussagen von in Haft gefolterten Personen zu entnehmen und wurde aus dem Bericht A Blank Check: Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture (lt. Internet vom 25.10.2016) zitiert.
Hätte die belangte Behörde diese Länderberichte herangezogen und ihre eigens vorgebrachten Länderberichte entsprechend gewürdigt, so hätte sie zu der Feststellung kommen müssen, dass der BF in der Türkei wohlbegründete Furcht vor Verfolgung droht, sie sich bei einer Abschiebung in einer aussichtslosen Lage wiederfinden würde und sie sich keinen effektiven Schutz von staatlichen Behörden erwarten könne.
Die bB sei auch nicht entsprechend auf das Vorbringen der BF in Bezug auf einen Verwandten, der PKK Anhänger sei sowie auf die seit ca. 1 Jahr bestehende Inhaftierung des Bruders der BF eingegangen.
Die Festnahme des Bruders zeige, dass die BF auch aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie in der Türkei begründeter Furcht vor Verfolgung ausgesetzt sei.
Die bB gehe davon aus, dass die BF den neuen Sachverhalt, dass einer der Verwandten bei der PKK war, bereits im ersten Asylverfahren vorbringen hätte müssen. Bei näheren Ermittlungen hätte die bB erfahren, dass die BF diesen Umstand erst jetzt vorbringt, da der Onkel vor drei bis vier Jahren fliehen musste und ihm nunmehr in Frankreich der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde. Auch in Bezug auf die Festnahme des Bruders handle es sich um einen neuen Sachverhalt. Der Bruder wurde vor ca. einem Jahr festgenommen, da er auf einem kurdischen Frühlingsfest Fotos machte. Die Familie weiß bis dato noch nicht in welches Gefängnis der Bruder des BF gebracht wurde.
Gleichzeitig ginge die bB nicht näher auf das Familienleben ein. Die BF sei in einer Beziehung mit Frau XXXX seit Mai 2020 und lebe in einem gemeinsamen Haushalt mit ihr. Sie möchten sobald wie möglich heiraten. Es wurde beantragt, die Lebensgefährtin zum aufrechten Familienleben zeugenschaftlich einzuvernehmen.
Der BF habe mehrere Einstellungszusagen und könne sobald ein Zugang zum Arbeitsmarkt besteht, für sich selbst sorgen. Der Lebensmittelpunkt liege in Österreich. Er lebe bereits seit über 13 Jahren in Österreich und sei Teil der Gesellschaft. Er habe sich auch durch das freiwillige Engagement bereits gut integriert. Das würden auch die vorgelegten Unterstützungsmitteilungen belegen. Zwei Schwestern in Österreich treffe die BF regelmäßig.
Der BF sei auch psychisch stark belastet, was auch in der Einvernahme vom 02.06.2020 hervorgekommen sei. Trotzdem seien keinerlei Feststellungen dazu getroffen worden und die Relevanz in Bezug auf eine Rückkehrentscheidung auch nicht weiter gewürdigt. Eine Abschiebung würde den BF psychisch massiv belasten. Bei einer Rückkehr wäre er auch aufgrund der psychischen Belastung in der Türkei in einer aussichtslosen Lage. Er habe sich an den Armen selbst geschnitten. Aufgrund des sich verschlechternden psychischen Zustands habe sie am XXXX 2020 die XXXX aufgesucht. Dort wurde in einem Ambulanzbericht eine Anpassungsstörung diagnostiziert.
Hinsichtlich des Einreiseverbots habe die bB keine nachvollziehbare Gefährdungsprognose durchgeführt. So gehe die bB dabei weder darauf ein, dass die letzte Verurteilung von 2012 auf eine Tat von 2011 zurückzuführen ist und sie seitdem keine weiteren Straftaten begangen habe. Die BF spreche gut Deutsch, sei integriert und habe den Lebensmittelpunkt in Österreich. Es wurde aus Entscheidungen des BVwG betreffend der Erlassung eines Einreiseverbotes im Zusammenhang mit Mittellosigkeit sowie im Zusammenhang mit der direkten Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie zitiert.
Die bB gehe irrtümlicherweise von einer entschiedenen Sache aus. Es sei das Vorbringen auch inhaltlich zu prüfen gewesen und hätte die bB feststellen müssen, dass dem BF asylrelevante Verfolgung droht.
Die bB habe eine unrichtige Beweiswürdigung durchgeführt und sei zu Unrecht vom Vorliegen eines Sachverhaltes gemäß § 68 AVG ausgegangen.
Dem BF drohe auch aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden, zur sozialen Gruppe der Familie und aufgrund seiner (unterstellten) politischen Einstellung begründete Furcht vor Verfolgung. Weiters leide er an psychischen Problemen, die sie bei einer Abschiebung in die Türkei in eine aussichtslose Lage bringen würden. Dem BF stünde entgegen der Ansicht des BFA keine innerstaatliche Fluchtalternative offen aufgrund der Reichweite der Bedrohung und der fehlenden Schutzfähigkeit sowie Schutzwilligkeit der Sicherheitsbehörden.
Vorgelegt wurde mit der Beschwerde:
- Ambulanzbericht der XXXX -Klinik vom XXXX 2020
- Apothekenrechnung, Medikament Quetiapin +PH F1BL 25MG 10ST A, 23.06.2020
- Arbeitsvorvertrag der XXXX , 25.02.2020
- Einstellungszusage und Arbeitsvorvertrag mit XXXX , 21.02.2020
- Unterstützungsschreiben von Frau XXXX MAS 26.02.2020
- Unterschriftenliste zur Unterstützung des BF
Angeregt wurde die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Es sei die Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens aufgezeigt und der entscheidungswesentliche Sachverhalt nicht vollständig erhoben worden, wesentliche Aspekte des Parteienvorbringens wären nicht berücksichtigt worden und fehle eine Plausibilitätskontrolle des Vorbringens der BF vor dem Hintergrund aktueller und ausgewogener Länderberichte.
I.11. Am 6.07.2020 langte die Aktenvorlage beim Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Linz ein. Das Bundesverwaltungsgericht hat der Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zuerkannt.
I.12. Am 8.10.2020 wurde dem Gericht eine Nachricht übermittelt, wonach der BF Frau XXXX heiraten möchte. Es wurden auch ein Dokument betreffend die Ehefähigkeit und Ausweise des BF und der zuvor Genannten übermittelt.
I.13. Am 27.11.2020 wurde ein ausführlicher Bericht der Landespolizeidirektion Salzburg übermittelt, aus welchem hervorgeht, dass eine Unterredung mit dem BF und Frau XXXX stattfand und der BF verdächtigt wird, eine Scheinehe mit dieser Frau eingehen zu wollen. Abschließend wurde mitgeteilt, dass keine weiteren Erhebungen getätigt würden, zumal noch keine Ehe eingegangen worden sei und der Tatbestand der Aufenthaltsehe daher noch nicht bestehe. Im Falle einer Hochzeit würde dies vom Standesamt gemeldet und würde das Gericht hiervon verständigt werden.
I.14. Mit Schreiben vom 2.12.2020 gab Herr Rechtsanwalt Dr. Rosenkranz die Vertretung des BF bekannt und legte unter einem vor:
Bestätigung der Meldung des BF und ein Meldezettel der „Lebensgefährtin“ des BF
Mietvertrag der „Lebensgefährtin“
Verdienstnachweis der „Lebensgefährtin“ für September bis Oktober 2020 inklusive Mitteilung, dass diese wegen der Pandemie nicht arbeite
Eidesstattliche Erklärung der „Lebensgefährtin“ und Darstellung der familiären Verhältnisse und der Beziehung zum BF
Schreiben der Schwestern des BF
Lohnzettel des BF aus Februar und April 2018 ( XXXX ), Juli 2019 ( XXXX )
In dieser Eingabe wurde auch dargestellt, dass die Lebensgefährtin nach wie vor gewillt ist, den BF zu heiraten, wiewohl eine Verehelichung sei durch die Polizei verhindert worden wäre.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
II.1.1. Zur Person
Die Identität der BF steht fest. Er führt den im Spruch genannten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum. Der BF ist Staatsangehöriger der Türkei und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Er reiste am 10.09.2006 illegal in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher am 25.11.2015 vom BVwG als unbegründet abgewiesen wurde und damit in Rechtskraft erwuchs.
Die gegen den Bescheid der bB vom 14.07.2016 eingebrachte Beschwerde (Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot) wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 23.03.2020, GZ XXXX abgewiesen.
Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 56 AsylG wurde mit Bescheid des BFA vom 27.09.2016 als unzulässig zurückgewiesen und erwuchs in Rechtskraft.
Mit Bescheid der BPD- XXXX 2008 Zahl XXXX wurde gegen die BF ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Rückkehrverbot erlassen.
Mit Bescheid des BFA, RD Salzburg vom 15.12.2014, GZ XXXX wurde der Antrag vom 07.02.2014 auf Aufhebung des gegen den BF erlassenen Einreiseverbotes abgewiesen. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 09.12.2015, GZ: L514 XXXX abgewiesen.
In Österreich leben zwei Schwestern des BF sowie mehrere Cousins. Der BF wird zwar gelegentlich durch die Verwandten unterstützt und hat mit diesen Kontakt, er wohnt jedoch mit keiner dieser Personen in einem gemeinsamen Haushalt. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen liegt nicht vor.
Der BF heiratete am XXXX 2010 in Österreich eine britische Staatsbürgerin und wurde diese Ehe am XXXX 2014 wieder geschieden. Der BF ist seit XXXX 2020 an einer Meldeadresse gemeinsam mit der Frau XXXX gemeldet, mit welcher er seit dem Frühjahr 2020 eine Beziehung unterhält.
Die BF lebte seit ihrer Einreise in Österreich regelmäßig von der Grundversorgung. Lediglich im Jahr 2012 ist er für etwa sechs Monate, im Jahr 2019 für einen Monat und im Jahr 2018 für 3 Monate einer regulären Beschäftigung nachgegangen. Er war in der Gastronomie tätig. Er bekam zeitweise Unterstützung durch die Caritas. Am 15.02.2020 wurde er wieder in die Grundversorgung aufgenommen und wird bis dato betreut.
Er betreibt Sport und liest Bücher. Der BF kann sich auf Deutsch verständigen. Er verfügt über ein ÖSD Zertifikat für das Sprachniveau A2. Der BF verfügt über zwei Arbeitsvorverträge für die Tätigkeit als Pizzakoch für den Fall, dass ihm eine Aufenthaltsberechtigung erteilt wird.
Der BF hat kurdische Asylwerber unterstützt und ehrenamtlich gedolmetscht. Er war im Quartier, wo er vor der Unterkunftnahme bei seiner Freundin lebte, integriert und setzt sich sein Freundeskreis aus Personen der Asylwerberunterkunft und seiner näheren Umgebung zusammen; dabei handelt es sich um Österreicher, Türken und Kurden. Besonders herausragende soziale Kontakte bestehen nicht.
Der Vater des BF ist Landwirt. Der BF arbeitete in der Türkei vorerst mit seinem Vater in der elterlichen Landwirtschaft. Danach arbeitete er 4 bis 5 Monate lang in einer Fabrik in der Stadt XXXX . Dies war vor der Ausreise aus der Türkei. In der Fabrik wurde ihm gekündigt. Danach reiste er aus der Türkei aus. In der Türkei war der BF in der Lage für seine Existenz aufzukommen. Die Eltern besitzen immer noch ihre Landwirtschaft in der Türkei. Dem Vater geht es gut, die Mutter hat Tumore im Kopf. Ein Bruder des BF ist zur Zeit in der Türkei in Haft. Weitere Onkel und Tanten des BF leben ebenfalls noch in der Türkei.
Der BF ist gesund und wurde mit 23.06.2020 eine Anpassungsstörung diagnostiziert. Dem BF wurde für den Bedarfsfall bzw. bei psychischer Anspannung und/oder Schlaflosigkeit die Einnahme von Quetiapin verordnet. Der BF leidet an keiner schweren, lebensbedrohlichen Erkrankung, welche in der Türkei nicht behandelbar wäre.
Gegen den BF liegen folgende rechtskräftige Verurteilungen vor:
1) LG XXXX 2007
PAR 83/1 107/2 StGB
Freiheitsstrafe 5 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Vollzugsdatum 13.09.2007 zu LG XXXX Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre LG F.STRAFS. XXXX vom XXXX (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig Vollzugsdatum XXXX 2007 LG XXXX 2013
2) LG F.STRAFS. XXXX 2008
PAR 15 201/1 StGB
Freiheitsstrafe 12 Monate, davon Freiheitsstrafe 8 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Vollzugsdatum 15.04.2008 zu LG XXXX 2008. Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 15.04.2008, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Anordnung der Bewährungshilfe LG F.STRAFS. XXXX 2008, Aufhebung der Bewährungshilfe LG F.STRAFS. XXXX 2008 zu LG F.STRAFS. XXXX 2008 (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig LG F.STRAFS. XXXX 2011 zu LG F.STRAFS. XXXX 2008. Aus der Freiheitsstrafe entlassen, endgültig Vollzugsdatum XXXX 2008 LG F.STRAFS. XXXX 2011
3) LG XXXX 2012
§ 83 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 01.06.2011 Freiheitsstrafe 4 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Anordnung der Bewährungshilfe Vollzugsdatum XXXX 2012 zu LG XXXX 2012 (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig Vollzugsdatum XXXX 2012 LG XXXX 2015.
II.1.2. Im gegenständlichen Fall ergab sich im Rahmen des zweiten Asylverfahrens weder eine maßgebliche Änderung in Bezug auf die den BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat, noch in sonstigen in der Person des BF gelegenen Umständen in Bezug auf die rechtskräftige Abweisung des ersten Antrages auf internationalen Schutz. Im gegenständlichen Verfahren bezieht sich der BF auf Gründe, die bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses des ersten Asylverfahrens bestanden haben. Neue Sachverhaltselemente, die eine umfassende inhaltliche Prüfung zulässig erscheinen lassen würden, kamen nicht hervor.
Nicht festgestellt werden kann insbesondere, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage ohne Hinzutreten individueller Faktoren (mit glaubwürdigem Kern) in der Türkei aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder dass ihm im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
Eine entscheidungswesentliche Änderung der Ländersituation ist nicht eingetreten und wurden die er rechtskräftigen Entscheidung des BVwG aus dem Jahr 2015 zugrunde gelegten Länderinformationen sowie die aktuellen Länderfeststellungen der bB im Verfahrensgang wiedergegeben (VwGH vom 26.03.2019, Zl. Ra 2018/19/0684-8; vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2016/20/0291, 19.9.2017, Ra 2017/20/0059).
Es ist nicht ersichtlich, dass eine Abschiebung der BF eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für sie als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringt. Es liegen keine Umstände vor, welche einer Außerlandesbringung aus dem Bundesgebiet entgegenstünden.
Im gegenständlichen Fall ergab sich weder eine maßgebliche Änderung in Bezug auf die den BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat noch in sonstigen in der Person der BF gelegenen Umstände.
In Bezug auf die individuelle Lage des BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat kann keine, sich in Bezug auf jenen Zeitpunkt, in dem letztmalig über den Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich entschieden wurde, maßgeblich andere Situation festgestellt werden.
Eine relevante Änderung der Rechtslage konnte ebenfalls nicht festgestellt werden.
In Bezug auf den BF besteht weiterhin kein schützenswertes Privat- und Familienleben im Bundesgebiet. Der BF hielt sich lediglich aufgrund der Bestimmungen des Asylgesetzes vorübergehend legal in Österreich auf und es besteht kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bestimmungen. Der fast 14jährige Aufenthalt der BF stützt sich lediglich auf die Stellung zweier unberechtigter Anträge auf internationalen Schutz.
Eine nachhaltige, umfassende und fortgeschrittene Integration der BF hat während des Aufenthaltes im Bundesgebiet hat nicht stattgefunden. Eine relevante integrative Vertiefung seit Rechtskraft der letzten inhaltlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts liegt nicht vor. Der BF ist mittellos und lebte die überwiegende Zeit von der staatlichen Grundversorgung. Der BF erhält gelegentlich Zuwendungen von Verwandten und seiner Freundin, in deren Wohnung er auch gemeldet ist. Die finanziellen Mittel der Freundin sind jedoch begrenzt – aufgrund der Corona-Pandemie geht sie zur Zeit auch keine Arbeit nach – und lebt sie auch in einer sehr kleinen Wohnung.
II.1.3. Der oben wiedergegebene Verfahrensgang steht fest.
Das Bundesverwaltungsgericht nimmt den im Rahmen des Verfahrensherganges unter Punkt I. geschilderten Sachverhalt als erwiesen an.
II.1.4 Zur aktuellen Lage in der Türkei schließt sich das ho. Gericht den Ausführungen der bB an.
II.2. Beweiswürdigung
II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch Einsicht in die Akte der bB sowie des Bundesverwaltungsgerichtes Beweis erhoben. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.
Im gegenständlichen Fall ist anzuführen, dass die belangte Behörde ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchführte und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung in der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenfasste. Die Erstbehörde hat sich mit dem individuellen Vorbringen und auch mit der von der BF in ihrem Herkunftsstaat vorzufindenden allgemeinen Lage auseinandergesetzt. Eine besondere Gefährdung war für die Erstbehörde daraus nicht ableitbar.
Die Feststellungen zur Person und der Herkunft der BF ergeben sich aus den diesbezüglichen Angaben in den Verfahren, insbesondere aus dem mit Entscheidung des BVwG nach Durchführung einer Verhandlung abgeschlossenen Verfahren betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot vom 23.03.2020.
Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verfahrensakte der bB und des Bundesverwaltungsgerichtes.
II.2.2. Die Feststellungen zu den vom BF geltend gemachten Fluchtgründen stützen sich auf die Angaben des BF in den jeweiligen Asylverfahren.
II.2.2.1. Bereits im ersten Asylverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner in Entscheidung vom 25.11.2015 ausgesprochen, dass der BF eine wohlbegründete Furcht im Hinblick auf seine kurdische Abstammung und den behaupteten Unwillen, den türkischen Wehrdienst nicht ableisten zu wollen, eine gezielt gegen ihn gerichtete, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende, asylrelevante Verfolgung, etwa in Form von Misshandlungen oder Verwendungen im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes oder des Strafvollzuges, vor dem Hintergrund der damals aktuellen Länderfeststellungen nicht darlegen konnte. Eine relevante Verfolgung von Kurden in der Türkei allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit wurde ebenfalls verneint und ergibt sich eine solche auch nicht aus den aktuell herangezogenen Berichten. Die vom BF zusammen mit der Beschwerde vorgelegten Berichte zur Lage der Kurden erweisen sich als nicht aktuell und sind daher nicht geeignet, die wesentlich aktuelleren Feststellungen der bB zur Türkei in Zweifel zu ziehen (zur den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348). Hervorzugeben ist in diesem Zusammenhang auch, dass durch die vorgelegten Berichte bzw. die Ausführungen in der Beschwerde in keiner Weise substantiiert dargetan wird, inwieweit sich die Berichte auf den BF beziehen und sich daraus konkret für seine Person ableiten lassen soll, dass eine asylrelevante Verfolgung oder die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz vorliegen.
Darüber hinaus ist anzuführen, dass die in der Beschwerde angeführten Quellen über erhebliche Strecken Sachverhalte erörtern, welche mit der individuellen Situation des BF nicht im Zusammenhang stehen und daher für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht maßgeblich sind. Über deren Zulässigkeit muss daher in diesem Umfang nicht entscheiden werden (§ 40 Abs. 2 AsylG).
Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat im Bescheid der bB herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen – sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges – handelt, welche es ermöglichen, sich ein umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Die getroffenen Feststellungen ergeben sich durch eine ausgewogene Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen ausreichende Aktualität zu.
Soweit in der Beschwerde auszugsweise verschiedene, nicht mehr aktuelle Berichte zur Lage der Kurden in der Türkei wiedergegeben wurden, ergibt sich auch daraus keine systematische staatliche Verfolgung von Kurden aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit. Hinweise auf die Verfolgung türkischer Kurden als Gruppe lassen sich weder den vorliegenden Berichten noch der höchstgerichtlichen Judikatur entnehmen.
Sofern in den aktuellen Länderberichten, die von der Behörde zu Feststellungen erhoben wurden, sinngemäß ausgeführt wird, dass im Zusammenhang mit dem Putschversuch und dem daraus resultierenden Ausnahmezustand eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in der Türkei zu beobachten ist, so wird dem auch nicht entgegengetreten. Dennoch ist festzuhalten, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei auch nach den im ersten Verfahren herangezogenen Berichten als verbesserungsfähig darstellte und sich damals wie heute vor allem die Einschränkung der Grundrechte unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus als problematisch darstellt.
Zur Menschenrechtslage wurde bereits in den der Entscheidung aus dem Jahr 2015 zugrunde gelegten Länderfeststellungen ausgeführt, dass es einerseits keine Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder allein wegen ihrer politischen Überzeugung gibt. Andererseits wurde auch festgehalten, dass die Ausbildung in Bezug auf Menschenrechte für Beamte, Richter, Staatsanwälte und Polizisten weitergeführt wurde, jedoch strafrechtliche Verfolgungen gegen Menschenrechtsverteidiger stiegen, wobei hierbei insbesondere Gesetzesstellen zur Terrorismus angewandt wurden. Die breite Definition von Terrorismus im Anti-Terrorismus Gesetz blieb demgemäß weiterhin Anlass zur Sorge.
Dies entspricht auch der nunmehr vorliegenden Lage. Eine systematische Verfolgung von Kurden lässt sich auch aus den aktuellen Berichten und Feststellungen nicht ableiten. Zwar gibt es nach wie vor Berichte über Fälle von Folter und Missbrauch durch Sicherheitskräfte, vor allem wenn sich Opfer in Polizeigewahrsam befinden, jedoch lassen die Berichte über diese Vorfälle insgesamt kein Ausmaß erkennen, welches eine Schutzgewährung aller Kurden und Kurdinnen, welche über kein besonderes Risikoprofil verfügten, im Rahmen von Art. 3 EMRK in Betracht zu ziehen wäre.
Diese Ausführungen gelten sinngemäß auch hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit, welche zwar gesetzlich garantiert wird, die jedoch trotzdem teilweise – damals wie heute (Ergenekon – Putschversuch) – eingeschränkt wird.
Inwiefern der BF von den genannten Einschränkungen betroffen sein sollte, legte er im Verfahren nicht dar.
Hinsichtlich des Putschversuches und der Reaktion der Regierung darauf an sich wird auf die Entscheidung des VwGH vom 17.11.2016, Zl. Ra 2016/21/0316 verwiesen, aus welcher sich ergibt, dass grundsätzlich – wie auch nunmehr zum aktuellen Zeitpunkt – nicht festzustellen ist, dass gleichsam jeder, der in die Türkei zurückkehrt, allein aus diesem Grund einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt ist. Der VwGH hat auf die Entscheidung des BVwG verwiesen, welches tragend die Auffassung vertrat, dass in Bezug auf den Revisionswerber keine maßgebliche Lageänderung im Verhältnis zur Beurteilung im Erkenntnis vom 2. April 2014 eingetreten sei. Auch unter Einbeziehung der aktuellen notorisch bekannten Lage in der Türkei, insbesondere des allgemein bekannten Putschversuchs und der hierauf erfolgten Reaktion der Regierung, sei nicht festzustellen, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre. Auch unter Berücksichtigung eines in der Beschwerde zitierten Berichts von Amnesty International ergebe sich nicht, dass gegenwärtig Kurden generell allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt oder staatlichen Repressionen unterworfen wären.
In Bezug auf die behauptete Wehrdienstverweigerung erging bereits eine rechtskräftig negative Entscheidung des BVwG 2015 erging und wird auf die im Verfahrensgang wiedergegebene Begründung diesbezüglich verwiesen. Dass diesbezüglich eine Änderung der Sach- und Rechtlage eingetreten wäre, wurde nicht substantiiert vorgebracht.
Betrachtet man nun die Situation des BF vor dem Hintergrund seiner Darlegungen in Bezug auf den Militärdienst in der Türkei unter Zugrundelegung der aktuellen Länderfeststellungen, so ist ersichtlich, dass sich diese für ihn seit der rechtskräftigen negativen Asylentscheidung nicht nachteilig verändert hat.
Vielmehr trat am 25.06.2019 ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wurde von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Es besteht die Möglichkeit sich vom Wehrdienst frei zu kaufen. Der Einsatzort für den Wehrdienst wird weiter durch das Los bestimmt (ÖB 10.2019).
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen. Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019). Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder die kurdische, noch die alevitische Minderheit betreffend. Es existieren aber Einzelfälle (ÖB 10.2019).
Diesen Feststellungen wurde auch seitens des BF mit seinen Angaben in der Beschwerde nicht substantiiert entgegen getreten und ist daher von einer entschiedenen Sache in diesen Punkten (Militärdienst, kurdische Abstammung) auszugehen.
II.2.2.2. Auch zeigen die der Entscheidung zugrundeliegenden Länderfeststellungen keine Anhaltspunkte dafür, dass der BF bei einer Abschiebung Gefahr laufe, aufgrund der allgemeinen Lage in der Türkei bzw. der vorherrschenden Sicherheitslage in ihren durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten verletzt zu werden. Eine aktuelle Verschlechterung der Sicherheits- oder Versorgungslage oder der allgemeinen Situation in der Türkei ist nicht evident. Derartiges wurde vom BF in der gegenständlichen Beschwerde auch nicht substantiiert dargelegt.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), hat er doch selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Diesbezüglich ist auch darauf hinzuweisen, dass der BF nach wie vor familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei hat und auch die Landwirtschaft der Familie noch besteht. Der BF ist jung und arbeitsfähig. Es wäre ihm auch zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, etwa druch Verwandte, Hilfsorganisationen oder religiös-karitativ tätige Organisationen – erforderlichenfalls unter Anbietung seiner gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung – dazu beizutragen, um das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können.
Ergänzend ist anzuführen, dass auch eine Rückkehrhilfe (über diese wird im erstinstanzlichen Verfahren schon informiert) als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens gewährt werden kann. Im Rahmen der Rückkehrhilfe wird dabei der Neubeginn zu Hause unterstützt, Kontakt zu Hilfsorganisationen im Heimatland vermittelt, finanzielle Unterstützung geleistet und beim Zugang zu Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten geholfen.
Es sind auch keine Umstände hervorgekommen oder behauptet worden, wonach anzunehmen wäre, dass der BF alleine schon aufgrund seiner bloßen Anwesenheit in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch Anschlagskriminalität oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen ausgesetzt wäre.
Hinsichtlich der nunmehr vorgelegten ärztlichen Bestätigung, wonach der BF an einer Anpassungsstörung leidet und bei Bedarf ein Medikament einnehmen soll ist festzustellen, dass psychische Erkrankungen in der Türkei behandelt werden können. Zudem hat der BF in der Verhandlung am 02.03.2020 noch angeführt, nicht beeinträchtigt zu sein und befand sich offensichtlich in den letzten Jahren in keiner Behandlung.
Zur gesundheitlichen Situation der BF wurde bereits in der Entscheidung des BVwG im Jahr 2015 festgehalten, dass sich keine Hinweise auf eine behandlungsbedürftige Krankheit ergeben haben, die einer Rückkehr in die Türkei entgegenstehen würden, dies unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die BF schon damals vorgebracht hat, dass er sich wegen der Probleme die Arme geritzt hätte. Sofern dies nun neuerlich vorgebracht wird, ist auf die bereits in Rechtskraft erwachsene Entscheidung zu verweisen. Dass sich die Lage in einem für dieses Verfahren relevanten Ausmaß (siehe dazu auch die Ausführungen in der Rechtlichen Beurteilung) verschlechtert hätte, kann den Aussagen und Belegen des BF nicht entnommen werden.
Grundsätzlich können den getroffenen Länderfeststellungen zufolge sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern der Türkei angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insgesamt standen 2017 elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern. Insgesamt 36 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in 33 Provinzen. Zusätzlich werden in 50 ambulanten und 44 stationären Gesundheitszentren Behandlungsmöglichkeiten angeboten. Es wird auf die rechtliche Beurteilung unten verwiesen, wonach die BF an keiner iSd Art. 3 EMRK relevanten Erkrankung leidet, selbst wenn man annimmt, dass sie einer Behandlung wegen der psychischen Probleme bedarf.
II.2.2.3. Auch hinsichtlich des schon im ersten Asylverfahren erstatteten Vorbringens, der BF sei von der Gendarmerie angehalten worden, als er dem Vater Essen auf das Feld gebracht habe, wurde in der Entscheidung des BVwG im Jahr 2015 festgehalten, dass abgesehen von der mangelnden Aktualität dieses Vorfalles im Jahr 2003 aufgrund der fehlenden Konsequenzen dieses Vorfalles keine Schutzgewährung erfolgen konnte. Die damals ebenfalls vorgebrachte Anhaltung der BF anlässlich der Teilnahme an einer Newroz Feier entfaltete gemäß der Entscheidung des BVwG ebenfalls keine Konsequenzen, konnte keine asylrechtliche Relevanz entfalten und hat sich der BF zudem in Widersprüche diesbezüglich verwickelt, weshalb diesem Vorbringen zudem die Glaubwürdigkeit abgesprochen wurde.
II.2.2.4. Weiters wurde vom BVwG festgehalten, dass auch aus den allgemeinen Ausführungen, dass ein Verwandter der BF die PKK unterstützt haben sollte, für den BF nichts zu gewinnen war, zumal er nur eine einzige Befragung in diesem Zusammenhang ins Treffen zu führen vermochte, welche lange vor der Ausreise lag und sich aus den herangezogenen Länderberichten nicht entnehmen ließ, dass Sippenhaft bestehen würde. Auch wenn der BF nunmehr vermeinte, dieses Vorbringen im ersten Asylverfahren nicht erstattet zu haben, so ergibt sich dennoch aus dem Akteninhalt, dass sie diese Umstände erwähnte und das BVwG bereits rechtskräftig darüber abgesprochen hat. Auch diesbezüglich stützte sich der BF daher auf ein bereits erstattetes und rechtskräftig beurteiltes Vorbringen. Dass der Onkel den Angaben des BF zufolge vor einigen Jahren in der EU Asyl erhalten hätte, vermag an der Einschätzung nichts zu ändern, dass sich daraus keine individuelle Verfolgung der BF ableiten ließe, ebensowenig lässt der Umstand, dass den Brüdern der BF in Europa Schutz gewährt worden wäre, Schlüsse auf die Situation der BF zu.
II.2.2.5. Schließlich wurde vom BVwG in der Entscheidung des Jahres 2015 eine Gefährdung wegen einer etwaigen exilpolitischen Betätigung in Österreich durch die Türkei verneint und zur behaupteten Gefährdung aufgrund der Asylantragstellung in Österreich bei Wiedereinreise ausgeführt, dass kein Fall bekannt ist, dass abgeschobene Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten, insbesondere einer Asylantragstellung gefoltert oder misshandelt werden würden.
Auch dieses Ergebnis deckt sich mit den nunmehrigen Länderfeststellungen (Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 14.6.2019)…. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt.) und trat diesbezüglich keine Änderung ein. Es kann daher nicht erkannt werden, dass der BF im Zusammenhang mit dem Umstand der Antragstellung in Österreich bei Bekanntwerden der Angaben der BF in Österreich eine relevante Verfolgung drohen sollte und kann schon nicht erkannt werden, wie die türkischen Behörden von den Angaben der BF erfahren sollten. Es liegt auch diesbezüglich entschiedene Sache vor.
II.2.2.6. Festgestellt wurde im Erkenntnis des BVwG aus 2015, dass im Hinblick auf die Person der BF eine aktuelle und individuelle Verfolgung aus einem in der GFK taxativ aufgezählten Grund nicht erkannt werden konnte, weshalb von keiner Verfolgung im Heimatstaat ausgegangen wurde.
Einzig neu hat der BF im gegenständlichen Verfahren, nämlich im Rahmen der Erstbefragung, ein Bruder sei seit etwa einem Jahr in der Türkei inhaftiert, da er an einem Nevroz-Fest teilgenommen habe bzw. hierzu auf Facebook Bilder veröffentlicht habe.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang bereits, dass der BF dieses Vorbringen vor der bB trotz deren mehrfacher Nachfragen nach neuen Gründen bzw. ob der BF alle Gründe genannt hat, nicht mehr erwähnte. Insbesondere lässt sich diesem Vorbringen auch nichts für den BF gewinnen, da einerseits bereits ausgesprochen wurde, dass es keine Sippenhaftung in der Türkei gibt und zudem vom BF nicht einmal im Kern glaubhaft gemacht wurde, dass er persönlich von diesem Vorfall betroffen wäre. Es kann vom BVwG nicht erkannt werden, dass der BF im Zusammenhang mit der – an sich schon nicht belegten – angeblichen Inhaftierung des Bruders wegen dessen Teilnahme an einer Demonstration eine Gefährdung in der Türkei drohen würde. Damit gehen auch die in der Beschwerde getroffenen Ausführungen zu den Haftbedingungen in der Türkei ins Leere, da nicht festgestellt werden konnte, dass der BF in diesem Zusammenhang eine Gefährdung drohen würde. Soweit in der Beschwerde Bezug auf die soziale Gruppe der Familie genommen wird ist festzuhalten, dass der VwGH (VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479) in Erörterung des Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie (RL 20004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes) ausführte, dass insbesondere dann von einer bestimmten sozialen Gruppe gesprochen werden kann, "wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird."
Aus Art. 10 Abs. 1 lit d Qualifikationsrichtlinie ergibt sich für das Vorliegen einer sozialen Gruppe:
"Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
--die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
--die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird."
Dem Verwaltungsgerichtshof folgend ist die Geschlechtszugehörigkeit (VwGH 31.01.2002, 99/20/0497 - 03.07.2003, 2000/20/0071) vom Begriff der "bestimmten sozialen Gruppe" umfasst, wobei der Verwaltungsgerichtshof darauf verwiesen hat, dass dieses Merkmal schon durch die Statusrichtlinie geschützt ist. In der jüngeren Rechtsprechung (VwGH 24.03.2011, Zl. 2008/23/0176; VwGH 28.08.2009, 2008/19/1027) wurde als soziale Gruppe auch die "Zugehörigkeit zur Familie des Gefährders" herangezogen. Die Familie an sich stellt jedoch jedenfalls ein an sich unveränderliches, angeborenes Merkmal dar. Ausgehend davon kommt es entscheidungswesentlich darauf an, ob effektiver staatlicher Schutz gewährt werden würde.
Aus diesen Interpretationsansätzen sowie der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und auch vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Definition der sozialen Gruppe lässt sich erkennen, dass nur im engen Rahmen von diesem Konstrukt Gebrauch gemacht werden soll, insbesondere um Härtefälle zu verhindern. Vor allem ist an die Merkmale des Personenkreises sowie die Identifizierbarkeit der Gruppe ein hoher Maßstab anzulegen. Letztlich hat auch der Verwaltungsgerichtshof lediglich im Zusammenhang mit den unabänderbaren und einfach identifizierbaren Merkmalen der Familie und des Geschlechtes eine soziale Gruppe angenommen.
Es kann im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden, dass die vom BF behauptete Verfolgung den Tatbestand der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllen würde.
Nur am Rande erwähnt sei, dass der BF der Polizei anlässlich der im Bericht vom 27.11.2020 dargestellten Unterredung einen neuen türkischen Personalausweis aushändigte (Ablichtungen davon wurden dem Bericht beigeschlossen) und weist auch der Umstand einer zwangsläufig davor erfolgten Antragstellung beim türkischen Konsulat darauf hin, dass der BF in seiner Heimat nicht verfolgt wird.
II.2.2.7. Dass die Behörde eine neue Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot als geboten erachtete, ist wohl vor dem Hintergrund zu sehen, dass der BF nunmehr behauptete, seit Mai 2020 eine Lebensgefährtin zu haben, welche er beabsichtige, zu heiraten.
Als Kriterien für die Beurteilung, ob Beziehungen zu Verwandten im Aufnahmestaat im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entsprechen, müssen neben der bloßen Verwandtschaft noch weitere Umstände hinzutreten, etwa besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgehen (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff). Ist der Fremde bereits volljährig, so liegt - anders als bei Beziehungen zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern - nicht ipso iure ein Familienleben iSd Art. 8 MRK vor, sondern ist anhand der konkreten Umstände zu prüfen, ob eine hinreichend stark ausgeprägte persönliche Nahebeziehung zwischen den rechtmäßig in Österreich aufhältigen Angehörigen (vgl in diesem Fall Eltern und Schwester – VwGH vom 16.11.2012, Zl 2012/21/0065) des Fremden und dem Fremden vorhanden ist.
Hinsichtlich der in Österreich lebenden Lebensgefährtin bzw. Freundin war in Anbetracht des diesbezüglichen Vorbringens von einer besonderen Beziehungsintensität zu dieser nicht auszugehen. Zwar ist der BF seit Juli 2020 an der Adresse der Freundin bzw. Lebensgefährtin gemeldet und ist davon auszugehen, dass er mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt lebt, jedoch besteht nicht nur der gemeinsame Haushalt erst seit Kurzem, sondern wurde die Beziehung an sich erst seit Mai 2020 eingegangen, wie sich aus der eidesstattlichen Erklärung der Freundin bzw. Lebensgefährtin ergibt. Besonders auffällig ist dabei, dass die Beziehung kurz nach der letzten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes im März 2020 begründet wurde. Ob der BF und seine Freundin tatsächlich eine Scheinehe eingehen wollten bzw. ob der BF seine Freundin über seine wahren Absichten täuscht, um seinen weiteren Aufenthalt in Österreich zu sichern und ob der BF vor dem ersten lockdown in Österreich eine amerikanische Staatsbürgerin ehelichen wollte, wie dies aus dem Polizeibericht vom 23.11.2020 abgeleitet werden kann, kann vom Gericht nicht festgestellt werden, zumal die zuvor genannten Umstände bislang lediglich in einem Bericht formuliert wurden; eine Anzeige wegen der von der Polizei vermuteten Scheinehe sei noch nicht gelegt worden, zumal die Ehe noch nicht eingegangen wurde.
Auch, wenn die Freundin bzw. die Lebensgefährtin dem Gericht mitteilt, dass sie zu ihrem Wort stehe und der Vertreter des BF ausführt, dass die geplante Verehelichung lediglich durch das Einschreiten der Polizei „verhindert“ worden sei, so vermag die Beziehung und die geplante Verehelichung des BF mit einer österreichischen Staatsbürgerin die von der Behörde getätigte Interessensabwägung nicht zugunsten des BF zu verändern. Von Bedeutung ist dabei vor allem, dass er die Beziehung zu Frau XXXX zu einer Zeit einging, in welcher ihm die Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus jedenfalls bewusst gewesen sein muss, zumal bereits zwei Mal eine abschlägige Entscheidungen erging, welche jeweils durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde. Daran vermögen auch die Ausführungen der Freundin bzw. Lebensgefährtin des BF zu ihrer Beziehung und ihre Versicherung, wie sehr sie den BF schätzt und dieser ihr Leben bereichert, nichts zu ändern.
Ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis besteht offenkundig ebenfalls nicht, zumal die Lebensgefährtin bzw. Freundin zwar angibt, diesen zu unterstützen, jedoch bezieht der BF weiterhin Mittel aus der Grundversorgung und ist der eidesstattlichen Erklärung von Frau XXXX bzw. der Eingabe des Vertreters des BF auch zu entnehmen, dass sie in bescheidenen Verhältnissen lebt und wegen der Pandemie auch keine Arbeit mehr hat.
Ein außergewöhnliches Abhängigkeitsverhältnis sonstiger Art wurde ebenfalls nicht dargetan.
In Bezug auf den in der Beschwerdeschrift gestellten Beweisantrag, die Freundin bzw. Lebensgefährtin einzuvernehmen wird festgehalten, dass hier kein tauglicher Beweisantrag vorliegt. Ein tauglicher Beweisantrag liegt nach der Rsp des VwGH nur dann vor, wenn darin sowohl das Beweisthema wie auch das Beweismittel genannt sind und wenn das Beweisthema sachverhaltserheblich ist (VwGH 24.1.1996, 94/13/0152; Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Auflage, S 174).
Die Angaben des BF zur Beziehung zur Freundin sowie deren Darstellung in ihrer eidesstattlichen Erklärung wurden der Entscheidung auch zugrunde gelegt.
Auch die Beziehungen zu den beiden in Österreich lebenden Schwestern, mit welchen die BF regelmäßigen Kontakt hat, erreichen keine Relevanz iSd Art. 8 EMRK, da der BF mit ihnen in keinem gemeinsamen Haushalt lebt und auch keinerlei Ausführungen dazu getroffen wurden, dass ein sonstiges besonderes Abhängigkeitsverhältnis vorhanden wäre.
Aus den Erklärungen der Schwestern des BF, welche zusammen mit der Eingabe vom 2.12.2020 vorgelegt wurden, ist lediglich abzuleiten, dass der BF von diesen fallweise unterstützt wird. Zudem ist zu den Erklärungen der Schwestern auch noch zu bemerken, dass sich beide an einen Herrn Vorsitzenden wenden und sich die Briefe auch sonst in ihrer Gestaltung sehr ähnlich sind, sodass sich das Gericht des Eindruckes nicht erwehren kann, dass die Schwestern einen vorgefertigten Text unterzeichneten.
Auch hinsichtlich dieser Bindungen musste sich die BF bewusst sein, dass diese in Österreich bei einer Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz beendet sein würden.
Es wurde somit kein spezielles Nahe- bzw. Abhängigkeitsverhältnis des BF zu seinen Verwandten sowie der Freundin bzw. Lebensgefährtin in Österreich vorgebracht, welches – im Lichte der Rechtsprechung des EGMR – zur Feststellung eines schützenswerten Familienlebens des BF iSd EMRK gelangen hätten lassen.
II.2.2.8. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde wurde das Einreiseverbot auch nicht nur auf die Straffälligkeit des BF gestützt, sondern vorwiegend zu Recht auf die Umstände, dass der BF mittellos ist. Zu den hierzu zitierten Entscheidungen des BVwG ist festzuhalten, dass diesbezüglich keine Bindungswirkung vorliegt und jede Entscheidung des BVwG eine Einzelfallbeurteilung darstellt.
Wenn die bB die Straffälligkeit im Rahmen der Dauer des Einreiseverbotes und der Integration berücksichtigte, kann dies vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Judikatur des VwGH nicht bemängelt werden. Auch hat der BF tatsächlich durch die rechtsmissbräuchliche Stellung mehrerer Anträge versucht, das Verfahren in die Länge zu ziehen und unglaubwürdige Angaben gemacht, weshalb von keinem gravierenden Organisationsverschulden ausgegangen werden kann (vgl. diesbezüglich die im Verfahrensgang zitierten Ausführungen in der Entscheidung des BVwG vom März 2020). Auch lag gegen den BF ein bis 2018 geltendes rechtskräftiges Rückkehrverbot sowie ein Waffenverbot vor, was zu Lasten der BF ins Treffen zu führen war.
II.2.2.9. Da sich die bB auch weder auf eine innerstaatliche Fluchtalternative, noch auf eine Schutzwürdigkeit und Schutzfähigkeit im Rahmen einer Alternativbegründung stützte, gingen auch diese Ausführungen ins Leere.
II.2.2.10. Die bB hat in ihrem Bescheid weiters festgehalten: Die aktuelle COVID-19-Pandemie erfordert auch nicht die Zuerkennung von subsidiärem Schutz. Eine Epidemie im Herkunftsstaat eines Fremden ist zwar grundsätzlich unter dem Aspekt des Art. 3 EMRK beachtlich. Da es sich aber eben nicht nur um eine Epidemie in Ihrem Herkunftsstaat, sondern um eine Pandemie handelt, ist das allgemeine Lebensrisiko am Erreger SARS-CoV-2 zu erkranken, weltweit, d.h. sowohl in Ihrem Herkunftsstaat, als auch in Österreich, erhöht. Dazu kommt noch, dass Ihr individuelles Risiko an SARS-CoV-2 schwer oder gar tödlich zu erkranken sehr niedrig ist. Das Risiko eines derartig schweren Verlaufs der Erkrankung ist nämlich bei jungen nicht immungeschwächten Menschen viel geringer, als bei Menschen aus Risikogruppen (alte und immungeschwächte Menschen). Auch wenn daher nicht ausgeschlossen werden kann, dass Sie sich mit dem Erreger SARS-CoV-2 in Ihrem Herkunftsstaat infizieren – was aber auch für den Fall Ihres Verbleibs in Österreich gelten würde – ist das Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs der Erkrankung äußerst gering. Ein „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK droht Ihnen in Ihrem Herkunftsstaat aufgrund der COVID-19-Pandemie daher nicht (vgl. idS BVwG 25.03.2020, W273 2188533-1/24E).
Auch diesen Ausführungen der bB schließt sich das BVwG an und vermag das Auftreten des Virus COVID-19 auch nach Ansicht des BVwG für sich alleine betrachtet noch nicht die Schlussfolgerung zu tragen, dass die Ausweisung in einen von diesem Virus betroffenen Staat automatisch gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde bzw. Subsidiärer Schutz zu gewähren wäre. Vor allem ist der BF auch ein junger und gesunder Mensch und gehört keiner Risikogruppe iS der Risikogruppen-Verordnung an.
Auch der VwGH hat jüngst ua. in seiner Entscheidung vom 23.06.2020 zu Zl. Ra 2020/20/0188-3 ausgeführt, dass pauschale, auf die allgemeine Situation in Afghanistan bezogene Ausführungen zu COVID-19 nicht ausreichen, um eine reale Gefahr (real risk) einer drohenden Verletzung der durch Art 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers in seinem Heimatstaat darzulegen. Konkret hielt der VwGH fest:
Das Bundesverwaltungsgericht traf im Rahmen dieser Prüfung auch Feststellungen zur Situation in Bezug auf Covid-19 mit Stand 30. März 2020 (dem Datum des Erkenntnisses) zu den bestätigten Krankheitsfällen in Österreich (8.958) und Afghanistan (ca. 40) und beschrieb den Verlauf einer solchen Viruserkrankung, vor allem im Hinblick auf Risiokogruppen. Weiters führte es aus, dass der Revisionswerber nicht Angehöriger einer Risikogruppe sei.
17 Abgesehen davon, dass die Revision den dazu getroffenen Feststellungen nicht entgegentritt, beruft sie sich zur wirtschaftlichen Situation in Afghanistan auf einen „aktuellen Situationsbericht in Bezug auf Covid-19“ von F. S. vom 27. März 2020 hinsichtlich der Auswirkungen der Pandemie auf die Situation der Menschen vor Ort und von Rückkehrern.
18 Es mag - abgesehen davon, dass ein Ermittlungsmangel nicht erkennbar ist - zutreffen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan aufgrund der Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 verschlechtert haben. Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es aber nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist (vgl. VwGH 28.4.2020, Ra 2020/14/0158 bis 0161, mwN). Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (VwGH 22.4.2020, Ra 2020/18/0098, mwN).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht zudem für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 MRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
II.2.2.11. Wie die bB aufzeigt, hat der BF im gegenständlichen Asylverfahren mit seinem Vorbringen keinen entscheidungsrelevanten neuen Sachverhalt dargelegt und erschöpfen sich die Angaben im Wesentlichen in denselben Beweggründen wie den im rechtskräftig abgeschlossenen Vorverfahren, über welches bereits rechtskräftig entschiedenen wurde.
Das erkennende Gericht tritt dieser Ansicht bei und war die Begründung der bB auch als tragfähig anzusehen. Die bB hat im gegenständlichen Verfahren kein Vorbringen erstattet, welches erkennen ließe, dass sie aufgrund neu hervorgekommener Umstände mit glaubhaften Kern persönlich bedroht oder verfolgt würde.
II.2.3. Die seitens der bB zur Beurteilung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogenen Quellen stellen sich als schlüssig und aktuell dar.
Der BF hat auch weder anlässlich seiner Einvernahme vor der bB noch in der Beschwerde konkret dargelegt, inwieweit sich die allgemeine Lage im Herkunftsstaat im Vergleich zum Zeitpunkt der Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts aus dem 2015 derart verändert haben soll, sodass nunmehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgung oder Gefährdung des BF auszugehen wäre. Auch in Bezug auf die allgemeine Situation im Herkunftsstaat, wie sie im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgericht vom 23.3.2020, in welchem die Situation im Falle der Abschiebung zuletzt ausführlich erörtert wurde, dargelegt ist, sind keine Änderungen eingetreten.
Sowohl aus den eingesehenen Länderberichten als auch der aktuellen Medienberichterstattung sind keine Hinweise auf einen aktuell vorliegenden oder unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Konflikt zu entnehmen oder auf eine im Land vorherrschende Situation, die von einem dermaßen hohem Niveau an willkürlicher Gewalt gekennzeichnet wäre, sodass alleine die Anwesenheit des BF ein reales Risiko für seine Unversehrtheit oder sein Leben wäre.
1. Rechtliche Beurteilung
II.3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.
II.3.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
II.3.3. Prüfungsumfang
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das ho. primär in der Sache selbst entscheiden. Hierzu zählt auch die Beurteilung der Frage, ob die bB zu Recht von entschiedener Sache ausging.
II.3.4. Entschiedene Sache
II.3.4.1. Prüfungsumfang der „Entschiedenen Sache“
Das erkennende Gericht hat vorerst zu prüfen, ob in Bezug auf jene Entscheidung, in welcher die Anträge der BF letztmalig inhaltlich geprüft wurde, entschiedene Sache vorliegt:
Im gegenständlichen Fall behauptet die BF, es liege nunmehr ein Sachverhalt vor, welcher die Rückverbringung nach Georgien nicht zulässig erscheinen ließe. Hierzu wird im Lichte des Erk. d. VwGH vom 19.2.2009, Zl. 2008/01/0344 (vgl. aber auch VfGH U 1533/10-12, U 1534/10-12; VfGH U 1518/11-15) Folgendes erwogen:
Der BF stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Antrag auf internationalen Schutz ist das – auf welche Weise auch immer artikulierte – Ersuchen eines Fremden in Österreich, sich dem Schutz Österreichs unterstellen zu dürfen; der Antrag gilt als Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bei Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 2 Z. 13 AsylG). Im gegenständlichen Fall ist daher neben dem asylrelevanten Sachverhalt gem. Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK (Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Gesinnung) als auch im Hinblick auf die subsidiären Schutzgründe gem. Art. 15 RL 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen („wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde“) zu prüfen, ob entschiedene Sache im Sinne des § 68 Abs. 1 AVG vorliegt.
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn die Behörde nicht Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet. Diesem ausdrücklichen Begehren auf Abänderung steht ein Ansuchen gleich, das bezweckt, eine Sache erneut inhaltlich zu behandeln, die bereits rechtskräftig entschieden ist (VwGH 30.9.1994, 94/08/0183; 30.5.1995, 93/08/0207; 9.9.1999, 97/21/0913; 7.6.2000, 99/01/0321).
„Entschiedene Sache“ iSd § 68 Abs. 1 AVG liegt vor, wenn sich gegenüber dem Vorbescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 9.9.1999, 97/21/0913; 27.9.2000, 98/12/0057; 25.4.2002, 2000/07/0235).
Einem zweiten Asylantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag verwirklichten Sachverhalt stützt, steht die Rechtskraft des Vorbescheides entgegen (VwGH 10.6.1998, 96/20/0266). Selbiges gilt, wenn sich das neue Parteibegehren mit dem früheren deckt (etwa das Begehren der Gewährung von internationalem Schutz), die Partei dieses Begehren bei gleich gebliebener Sach- und Rechtslage jedoch anders begründet (vgl. ho. Erk. v. 6.10.2011, Zl. E10 417.640-2/2011/3E, E10 417.639-2/2011/3E, Zl. E10 417.641-2/2011/3E).
Ob der nunmehr vorgetragene Sachverhalt, der sich vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag zugetragen haben soll, im Erstverfahren auch vorgetragen wurde oder nicht ist im Folgeverfahren bei der Prüfung der Rechtskraft ohne Belang. Auch ein Sachverhalt, der nicht vorgetragen wurde, ist von der Rechtskraftwirkung des Vorbescheides mitumfasst (vgl. auch Erk. d. VwGH vom 17.9.2008, 2008/23/0684, ho. Erk. vom 17.4.2009, GZ. E10 316.192-2/2009-8E).
„Sache" des Rechtsmittelverfahrens ist nur die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung, die Rechtsmittelbehörde darf demnach nur darüber entscheiden, ob die Vorinstanz den Antrag zu Recht zurückgewiesen hat oder nicht. Sie hat daher entweder – falls entschiedene Sache vorliegt – das Rechtsmittel abzuweisen oder – falls dies nicht zutrifft – den bekämpften Bescheid ersatzlos zu beheben, dies mit der Konsequenz, dass die belangte Behörde, gebunden an die Auffassung der Rechtsmittelbehörde, den Antrag nicht neuerlich wegen entschiedener Sache zurückweisen darf. Die Rechtsmittelbehörde [das Rechtsmittelgericht] darf aber über den Antrag nicht selbst meritorisch entscheiden (VwGH 30.5.1995, 93/08/0207). Sache des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist somit nur die Frage, ob die bB zu Recht den neuerlichen Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat.
Wird die seinerzeitige Verfolgungsbehauptung aufrechterhalten und bezieht sich der Asylwerber auf sie, so liegt nicht ein wesentlich geänderter Sachverhalt vor, sondern es wird der Sachverhalt bekräftigt, über den bereits rechtskräftig abgesprochen worden ist. Mit dem zweiten Asylantrag wird daher im Ergebnis die erneute sachliche Behandlung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache bezweckt (vgl. VwGH 7.6.2000, 99/01/0321). Dies gilt auch dann, wenn das Fortbestehen und Weiterwirken jenes Sachverhalts behauptet wird, über den bereits rechtskräftig entschieden wurde (vgl. VwGH 20.3.2003, 99/20/0480).
Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen relevanten „glaubhaften Kern“ enthalten und hat sich die Behörde mit diesem „beweiswürdigend“ auseinanderzusetzen (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 68 Rz 27).
Ob ein neuerlicher Antrag wegen geänderten Sachverhaltes zulässig ist, darf nur anhand jener Gründe geprüft werden, welche die Partei in erster Instanz [nunmehr „vor der belangten Behörde] zur Begründung ihres Begehrens geltend gemacht hat (bzw. welche als allgemein bekannt anzusehen sind, vgl. z.B. VwGH 07.06.2000, 99/01/0321); in der Berufung [Beschwerde] gegen den Zurückweisungsbescheid dürfen derartige Gründe nicht neu vorgetragen werden (vgl. zB VwSlg. 5642 A/1961; 23.05.1995, 94/04/0081; 15.10.1999, 96/21/0097; 04.04.2001, 98/09/0041; 25.04.2002, 2000/07/0235), wobei für die Prüfung der Zulässigkeit des Zweitantrages von der Rechtsanschauung auszugehen ist, auf die sich die rechtskräftige Erledigung des Erstantrages gründete (VwGH 16.7.2003, 2000/01/0237, mwN).
Bei der Prüfung der Identität der Sache ist von dem rechtskräftigen Vorbescheid auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit desselben - nochmals - zu überprüfen (Hinweis EB E 26.4.1995, 92/07/0197, VwSlg 14248 A/1995); die Rechtskraftwirkung besteht gerade darin, dass die von der Behörde einmal untersuchte und entschiedene Sache nicht neuerlich untersucht und entschieden werden darf. Entschiedene Sache liegt dann vor, wenn sich gegenüber dem früheren Bescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt. Eine neue Sachentscheidung ist nicht nur bei identem Begehren auf Grund desselben Sachverhaltes, sondern, wie sich aus § 69 Abs 1 Z 2 AVG bzw. 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ergibt, auch im Fall desselben Begehrens auf Grund von Tatsachen und Beweismitteln, die schon vor Abschluss des Vorverfahrens bestanden haben, ausgeschlossen.
Der Begriff "Identität der Sache" muss in erster Linie aus einer rechtlichen Betrachtungsweise heraus beurteilt werden, was bedeutet, dass den behaupteten geänderten Umständen Entscheidungsrelevanz zukommen muss. Erk. d. VwGH v.26.2.2004, 2004/07/0014; 12.12.2002, 2002/07/0016; 15.10.1999; 9621/9997).
Identität der Sache i.S.d. § 68 Abs. 1 AVG liegt selbst dann vor, wenn die Behörde in einem bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren etwa eine Rechtsfrage auf Grund eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens oder einer unvollständigen oder unrichtigen rechtlichen Beurteilung entschieden hätte (vgl. etwa das Erkenntnis des VwGH vom 08.04.1992, Zl. 88/12/0169, ebenso Erk. d. VwGH v. 15.11.2000, 2000/01/0184).
II.3.4.1.1. Entschiede Sache in Bezug auf den asylrelevanten Sachverhalt
Im gegenständlichen Fall ergab sich, wie unter II.2. begründet, weder eine maßgebliche Änderung in Bezug auf die die BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat noch in den sonstigen in der Person der BF gelegenen Umstände.
Ebenso ergab sich kein sonstiger unter die Tatbestandsmerkmale des Art. 1 Abschnitt A Ziffer der der GFK zu subsumierender Sachverhalt.
Die erkennende Richterin sieht dem zu Folge keinen Grund, von der Einschätzung im rechtskräftigen, inhaltlichen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.11.2015, abzuweichen, dass nämlich der BF seinen Herkunftsstaat nicht aus wohlbegründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen hat.
Bei genauer Betrachtung ergibt sich (siehe Beweiswürdigung oben), dass sich der entscheidungsrelevante Sachverhalt nicht wesentlich geändert hat, bzw. sich das neue Parteibegehren mit dem früheren deckt bzw. ebenfalls nicht glaubhaft ist. Von einer relevanten, wesentlichen Änderung des Sachverhaltes seit der rechtskräftigen Entscheidung über den ersten Asylantrag kann daher nicht gesprochen werden.
Der BF hat auch weder vor der bB noch in der Beschwerde konkret dargelegt, inwieweit sich die Lage in der Türkei im Vergleich zum Zeitpunkt der Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.11.2015 derart verändert haben soll, sodass nunmehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgung oder Gefährdung der BF ausgegangen werden müsste. Auch im letzten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.3.2020 wurde im Zuge der Prüfung der abschiebungsrelevanten Lage unter Heranziehung aktueller Länderberichte auch auf das Vorbringen des BF, insbesondere im Hinblick auf Wehrdienstverweigerung und kurdisch-stämmigen Rekruten Bezug genommen und festgestellt, dass am 25.6.2019 ein neues Wehrdienstgesetz in Kraft tritt und die Lage sich daher nicht zum Nachteil des BF veränderte. Die getroffenen Länderfeststellungen sind aktuell.
Das Bundesamt ist demnach zu Recht davon ausgegangen, dass das Vorbringen nicht geeignet ist, eine neue inhaltliche Entscheidung zu bewirken und kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt werden könne.
Eine Änderung der Rechtslage konnte ebenfalls nicht festgestellt werden.
Weitere Hinweise auf das Bestehen eines Sachverhaltes, welcher die inhaltliche Prüfung des vorliegenden Antrages gebieten würde, kamen bei Berücksichtigung sämtlicher Tatsachen nicht hervor.
II.3.4.1.2. Entschiedene Sache in Bezug auf den zur Prüfung der Voraussetzung der Zuerkennung des Statuts des subsidiär Schutzberechtigten relevanten Sachverhalt
Ein Antrag auf internationalen Schutz richtet sich auch auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, weshalb auch Sachverhaltsänderungen, die ausschließlich subsidiäre Schutzgründe betreffen, von den Asylbehörden im Rahmen von Folgeanträgen einer Prüfung zu unterziehen sind (vgl. VwGH 19.02.2009, Zl. 2008/01/0344).
„§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. | der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder |
2. | … |
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 … zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.…“
Bereits § 8 AsylG 1997 beschränkte den Prüfungsrahmen auf den „Herkunftsstaat“ des Asylwerbers. Dies war dahin gehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen war, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.4.1999, 98/20/0561; 20.5.1999, 98/20/0300). Diese Grundsätze sind auf die hier anzuwendende Rechtsmaterie insoweit zu übertragen, als dass auch hier der Prüfungsmaßstab hinsichtlich des Bestehens der Voraussetzungen, welche allenfalls zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führen, sich auf den Herkunftsstaat beschränkt.
Art. 2 EMRK lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.
(2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:
a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;
b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;
c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“
Während durch das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Art. 3 EMRK lautet:„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.
Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle ihrer Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des BF zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.
Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).
Nach der Judikatur des EGMR muss der BF die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. Vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in stRsp aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt -so weit als möglich- Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (z. B. EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005)
Auch nach Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, VwGH 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre (VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua), gesundheitliche (VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601) oder finanzielle (vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099) Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).
Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch in diesem Fall, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).
Der VwGH geht davon aus, dass der Beschwerdeführer vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) damit rechnen muss, in dessen Herkunftsstaat (Abschiebestaat) mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit von einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr betroffen zu sein. Wird dieses Wahrscheinlichkeitskalkül nicht erreicht, scheidet die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten somit aus.
Weder aus dem Vorbringen der BF noch aus dem sonstigen Ermittlungsergebnis ergaben sich Hinweise, dass sich neue subsidiäre Schutzgründe ergeben hätten.
Soweit die BF ihre bisherigen behaupteten subsidiären Schutzgründe wiederholt bzw. bekräftigt, wird auf die entsprechenden rechtlichen Ausführungen in dem in Rechtskraft erwachsenen Erkenntnis verwiesen.
Der aktuellen Länderdokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur Türkei lässt sich entnehmen, dass kein Grund besteht, davon auszugehen, dass jeder zurückgekehrte Staatsbürger einer reellen Gefahr einer Gefährdung gem. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, sodass nicht von einem Rückführungshindernis im Lichte der Art. 2 und 3 EMRK auszugehen ist. Diese Situation im Herkunftsstaat hat sich seit rechtskräftigem Abschluss des Vorverfahrens im November 2017 (auch im Zuge der Rückkehrentscheidung erfolgte eine Prüfung von Art. 3 EMRK) nicht entscheidungswesentlich verändert.
Dass sich die Lage im Vergleich zum inhaltlichen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.11.2015 derart verschlechtert hat, sodass eine umfassende inhaltliche Prüfung angezeigt wäre, wird weder durch die herangezogenen Quellen bestätigt noch erstattet die BF ein substantiiertes Vorbringen diesbezüglich. Auch im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.3.2020 wurde im Zuge der Prüfung der abschiebungsrelevanten Lage unter Heranziehung aktueller Länderberichte die Sicherheits- und Versorgungslage in der Türkei geprüft. Die Länderfeststellungen erweisen sich als nach wie vor aktuell.
Auch das Vorbringen im Hinblick auf den Putschversuch und die damit verbundenen Beschränkungen durch die türkische Regierung ist nicht geeignet, eine Gefahrenlage zu beschreiben, die auf einen wesentlich geänderten Sachverhalt hindeuten würde. Zudem hat der BF auch keine Ausführungen getätigt, die erkennen ließen, inwiefern gerade er einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde.
Auch aus dem Gesundheitszustand der BF ergibt sich kein neuer relevanter Sachverhalt und es wird darauf hingewiesen, dass auch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit der letztmaligen rechtskräftigen inhaltlichen Entscheidung rechtlich nicht relevant ist, wenn es sich nicht um eine solche Verschlechterung handelt, welche über der Schwelle des Art. 3 EMRK liegt (vgl. Erk. d. VwGH vom 19.2.2009, Zl. 2008/01/0344) und es ist nach wie vor davon auszugehen, dass die Republik Österreich im Bedarfsfalle in der Lage wäre im Rahmen einer Abschiebung entsprechende medizinische Begleitmaßnahmen zu setzen ((VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723, VfGH v. 12.6.2010, Gz. U 613/10-10 und die bereits zitierte Judikatur; ebenso Erk. des AsylGH vom 12.3.2010, B7 232.141-3/2009/3E). Sofern auch vorgebracht wird, die BF habe Suizidgedanken, ist darauf zu verweisen, dass auch dies gemäß Judikatur einer Abschiebung nicht entgegensteht.
Zudem sei auch auf folgende höchstgerichtliche Judikatur verwiesen:
Nach der std. Rsp. des VwGH hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder suizidgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland (einer Abschiebung oder Überstellung) nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind (Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff).
Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (EGMR vom 13. Dezember 2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 183).
In der Entscheidung des VwGH vom 21.2.2017, Zl. Ro 2016/18/0005, wurde festgehalten, dass soweit der Revisionswerber eine Verschlechterung seines psychischen Zustandes durch die Abschiebung befürchtet, grundsätzlich zwar eine Abschiebung aufgrund der Gefahr eines Suizids eine Verletzung nach Art. 3 EMRK begründen kann. Allerdings hindern psychische Probleme des Fremden bis hin zu diesbezüglichen Absichten eine Abschiebung nicht, sofern dabei Sorge getragen wird, den Fremden mit konkreten Maßnahmen zu betreuen (vgl. VwGH vom 26. Februar 2015, Ra 2014/22/0198, mwN).
Es sind im gegenständlichen Asylverfahren jedenfalls keine Umstände hervorgekommen, welche den Schluss zuließen, die BF würde bei einer Abschiebung in eine "unmenschliche Lage" versetzt werden. Es ist ihm nicht gelungen, darzulegen, dass sich an ihrer Situation bei einer allfälligen Rückkehr in die Türkei seit rechtskräftigem Abschluss des ersten inhaltlichen Asylverfahrens so Maßgebliches geändert haben sollte, dass eine anderslautende Entscheidung geboten wäre.
Wie im rechtskräftig abgeschlossenen Erstverfahren ist der BF unverändert darauf zu verweisen, dass ihr für den Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Bestreitung seines lebensnotwendigen Unterhalts zumutbar ist und wird in dem von der BF vorgelegten medizinischen Bericht auch nicht festgestellt, dass der BF nicht arbeitsfähig wäre.
II.3.4.1.3. Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Die BF hält sich seit September 2006 durchgehend im Bundesgebiet auf. Ihr Aufenthalt ist jedoch nicht im Sinne der soeben dargelegten Bestimmung geduldet gewesen und sie ist auch nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt geworden. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde auch nur behauptet wurde.
Im vorliegenden Verfahren erfolgten die Abweisungen des Antrages auf internationalen Schutz im Hinblick auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten auch nicht gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 und ist auch keine Aberkennung gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 ergangen, wie aus dem Verfahrensgang ersichtlich ist.
Es liegen folglich keine Umstände vor, die einen allenfalls von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) begründet hätten und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargetan.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
(...)
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
(...)
kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Diese Bestimmungen sind auch bei der Zurückweisung eines Folgeantrags nach § 68 Abs. 1 AVG anzuwenden, da weiterhin eine rechtskräftige abweisende Entscheidung gemäß §§ 3 und 8 AsylG vorliegt (vgl. VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0082).
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:
"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre."
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer "Familie" voraussetzt.
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig und in diesem Sinne auch verhältnismäßig ist.
Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens der BF im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd. Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff).
Allerdings ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH vom 17.12.2007, 2006/01/0126, mit weiterem Nachweis).
Umgelegt auf den gegenständlichen Fall ergibt sich Folgendes:
Der BF reiste illegal in Österreich ein und hielt sich seit September 2006 ohne Aufenthaltstitel in Österreich auf. Er war alleine auf der Grundlage der Asylbestimmungen in Österreich vorübergehend aufenthaltsberechtigt und liegen ein Rückkehrverbot für den Zeitraum zwischen 2008 und 2018 sowie ein Waffenverbot und drei strafrechtliche Verurteilungen vor. Hätte er die zwei unbegründeten Asylanträge nicht gestellt, wäre er rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig bzw. wäre davon auszugehen, dass der rechtswidrige Aufenthalt bereits durch entsprechende aufenthaltsbeendende Maßnahmen in der Vergangenheit beendet worden wäre und sie sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten würde.
Der BF hat in Österreich keine Verwandten bzw. ihm sonst nahe stehenden Personen, mit denen ein schützenswertes Familienleben vorliegt (vgl. Beweiswürdigung oben hinsichtlich der Schwestern und der Lebensgefährtin).
Der BF begründete sein Privatleben zu einem Zeitpunkt, als der Aufenthalt lediglich durch die Stellung von zwei unbegründeten Asylanträgen vorübergehend legalisiert war. Auch war der Aufenthalt des BF zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Privatlebens ungewiss und nicht dauerhaft, sondern auf die Dauer der Asylverfahren beschränkt.
Letztlich ist auch festzuhalten, dass der BF nicht gezwungen ist, nach einer Ausreise allenfalls bestehende Bindungen zur Gänze abzubrechen. So stünde es ihm frei, diese durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten (vgl. Peter Chvosta: „Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK“, ÖJZ 2007/74 mwN).
Der BF war in Österreich lediglich für wenige Monate erwerbstätig und hat die überwiegende Zeit von Leistungen der staatlichen Grundversorgung gelebt. In Österreich hat er sich einen Freundeskreis aufgebaut, eine außergewöhnliche Integration liegt jedoch nicht vor. Der BF verfügt auch über gute Deutschkenntnisse. Bei der Verhandlung im März 2020 war aber die Beiziehung eines Dolmetschers erforderlich. Auch die Tatsache, dass der BF als ehrenamtlicher Helfer gedolmetscht hat und Einstellungszusagen vorliegen, vermag keinen Sachverhalt zu begründen, der zu einem anderen Spruch führen würde.
Einstellungszusagen zu seinen Gunsten pro futuro waren nicht so zu gewichten, dass aus diesen bereits auf einen unzulässigen Eingriff in sein Privatleben durch eine Aufenthaltsbeendigung zu schließen wäre (vgl. dazu: VwGH 14.12.2010, 2010/22/0186). Dazu hat auch der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, dass einer etwaigen Einstellungs- oder Arbeitsplatzzusage zugunsten eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, per se keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612, VwGH 29.06.2010, 2010/18/0195 mit weiteren Nachweisen).
Der VwGH hat bereits mehrmals festgestellt, dass Arbeitsvorverträge oder auch Einstellungszusagen keine Aussage über die tatsächliche Selbsterhaltungsfähigkeit eines Antragstellers treffen können.
Durch die Vorlage einer Einstellungszusage oder eines Arbeitsvorvertrages wird keine dieser Voraussetzungen erfüllt, weil mit einem Arbeitsvorvertrag weder die Stellung eines Arbeitnehmers in Österreich noch ausreichende Existenzmittel nachgewiesen werden (vgl. VwGH, Ra 2016/22/0035 vom 17.10.2016).
Zu den Unterstützungsschreiben ist generell festzustellen, dass diese der BF allgemeine Charaktereigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Fleiß, Höflichkeit etc. bescheinigen. Es entspricht aber nicht dem Willen des österreichischen Gesetzgebers, dass sich ein Fremder nach Abschluss des Asylverfahrens weigert, seiner Ausreiseverpflichtung nachzukommen und werden Werte wie Hilfsbereitschaft vom Gericht vorausgesetzt bei einer Person, die sich in Österreich aufhält.
Der BF wurde wegen der festgestellten Straftaten rechtskräftig verurteilt. Die Feststellung, wonach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht vorliegen, stellt eine gewichtige Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen dar (z. B. Erk. d. VwGH vom 27.2.2007, 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).
Zur Klarstellung sei an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass sich im Falle des durch den BF verwirklichten Sachverhalts hier nicht die strafrechtliche, sondern ausschließlich die fremdenrechtliche Betrachtungsweise zum Tragen kommt, welche schon ihrem Wesen nach von der ersteren abweicht. So ist für die Beurteilung nicht das Vorliegen der rechtskräftigen Bestrafung oder Verurteilung, sondern das diesen zu Grunde liegende Verhalten des Fremden maßgeblich ist, demzufolge ist auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH vom 22.3.2011, 2008/21/0246 mwN, auch Erk. vom 16.11.2012, 2012/21/0080) und zeigen im gegenständlichen Fall die erfolgten Verurteilungen doch klar, dass der BF die österreichische Rechtsordnung nicht respektiert.
Im Hinblick auf sein Privatleben sind im gegenständlichen Verfahren keine Umstände hervorgekommen, die in Bezug auf jenen Zeitpunkt, in welchem letztmalig über eine Rückkehrentscheidung inhaltlich entschieden wurde (BVwG vom 03.03.2020, vgl. Verfahrensgang) auf eine maßgeblich andere Situation hindeuten würden.
In diesem Zusammenhang sei auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen Umständen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).
Der BF verfügt darüber hinaus nach wie vor über starke Bindungen zum Herkunftsstaat, wo er den Großteil seines Lebens verbracht hat, die Landessprache spricht und eine Schulausbildung genossen hat. Auch Angehörige der BF leben nach wie vor in der Türkei in gesicherten Verhältnissen.
Der BF verbrachte den überwiegenden Teil ihres Lebens in der Türkei, wurde dort sozialisiert und spricht die dortige Mehrheitssprache auf muttersprachlichem Niveau. Ebenso ist davon auszugehen, dass in der Türkei weitere Bezugspersonen, etwa im Sinne eines gewissen Freundes- und/oder Bekanntenkreises der BF, existieren, da nichts darauf hindeutet, dass der BF vor seiner Ausreise im Herkunftsstaat in völliger sozialer Isolation gelebt hätte. Der BF ist mit den Traditionen und den Gebräuchen in der Türkei vertraut. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es dem BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Im Hinblick auf die Frage eines möglichen Organisationsverschuldens hinsichtlich der Verfahrensdauer ist auf die diesbezüglichen Prüfungsergebnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.03.2015 zu verweisen. In diesem Zusammenhang sei auch hier angemerkt, dass es sich dabei um eines von mehreren Kriterien innerhalb der vorzunehmenden Interessensabwägung handelt und das Ergebnis der Prüfung eines möglichen Organisationsverschuldens nicht für sich alleine und isoliert, sondern in einer Gesamtschau innerhalb sämtlicher abgewogener Kriterien zu sehen ist.
Es trifft zwar zu, dass im Rahmen einer Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden in der Regel von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (vgl. VwGH 1.2.2019, Ra 2019/01/0027, mwN). Diese Rechtsprechung betraf allerdings nur Konstellationen, in denen sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab. Die „Zehn-Jahres-Grenze“ spielte in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (VwGH vom 28.02.2019, Zl. Ra 2018/01/0409-7, vgl. VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001, mwN).
Der Verfassungsgerichtshof trat der Ansicht des Asylgerichtshofes nicht entgegen, wonach einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus wesentliche Bedeutung zugemessen worden war (VfGH 12.06.2010, U614/10-U613/10). In einer weiteren Entscheidung verweist der VfGH darauf, dass ein allein durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken könne. Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenen führen (VfSlg. 19.086/2010 mwH).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können. Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung (vgl. etwa die Erkenntnisse vom 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165, und vom 10. November 2015, Ro 2015/19/0001, sowie die Beschlüsse vom 3. September 2015, Ra 2015/21/0121, und vom 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften (wie etwa das Ausländerbeschäftigungsgesetz; siehe das Erkenntnis vom 16. Oktober 2012, 2012/18/0062, sowie den Beschluss vom 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), eine zweifache Asylantragstellung (vgl. den Beschluss vom 20. Juli 2016, Ra 2016/22/0039, sowie das zitierte Erkenntnis Ra 2014/22/0078 bis 0082), unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (vgl. die zitierten Erkenntnisse Ra 2015/21/0249 bis 0253 sowie Ra 2016/21/0165), sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. das Erkenntnis vom 31. Jänner 2013, 2012/23/0006).
Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem zum Ausdruck gebracht, dass der Vorlage eines Sprachzertifikates dann keine entscheidungswesentliche Bedeutung beizumessen ist, wenn das Verwaltungsgericht - etwa im Rahmen einer mündlichen Verhandlung - feststellt, dass eine Verständigung nicht möglich ist (vgl. wiederum den zitierten Beschluss Ra 2016/22/0039 sowie das zitierte Erkenntnis Ra 2016/21/0165).
Dem Umstand, dass der Aufenthaltsstatus des Fremden ein unsicherer war, kommt zwar Bedeutung zu, er hat aber nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist (siehe das zitierte Erkenntnis Ra 2015/21/0249 bis 0253). Allerdings ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Inlandsaufenthalt überwiegend unrechtmäßig war (siehe die hg. Erkenntnisse vom 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165, sowie vom 11. November 2013, 2013/22/0072).
Im Ergebnis bedeutet das, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer.
Im Besonderen ist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 10.03.2017, Ra 2016/18/0268 (über 15 Jahre Aufenthalt; Berücksichtigung der Sprachkenntnisse, der gelegentlichen Arbeit bei der Caritas und der Herz-Kreislauf-Erkrankung; strafgerichtliche Verurteilungen, bestehende Bindungen zum Herkunftsstaat und seiner dortigen Familie, Fehlen nennenswerter Integration, unsicherer Aufenthaltsstatus, unbegründete zweite Asylantragstellung), sowie die Entscheidung vom 23.02.2017, Ra 2016/21/0340 (über 10 Jahre Aufenthalt, 2 negative Vorentscheidungen, jahrelanges Außerachtlassen der daraus resultierenden Ausreiseverpflichtung) zu verweisen, in denen selbst nach langjährigem Aufenthalt und erfolgten Integrationsschritten seitens des Höchstgerichts die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bejaht wurde.
Der VwGH verwies in seinem Erkenntnis vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0183, darauf, dass eine Abwägung nach § 9 BFA-VG 2014 zulasten des Fremden bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt sowie dem dabei erreichten Maß an sprachlicher (ÖSD-Zertifikat B1) und beruflicher Integration (Tätigkeit als Zusteller auf Werkvertragsbasis) im Ergebnis nicht unvertretbar ist, wenn dies fallbezogen nur auf Grund der festgestellten Täuschungshandlung des Fremden durch absichtlichen Gebrauch einer - die Ausstellung eines Heimreisezertifikates vereitelnden - Aliasidentität ermöglicht worden war (Hinweis Beschluss 17.10.2016, Ro 2016/22/0009).
Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die Dauer des Aufenthaltes des BF durch die Nichtbeachtung der ersten negativen Asylentscheidung sowie durch die Stellung von mehrfachen Anträgen zustande kam , der BF drei strafrechtliche Verurteilungen aufweist und damit trotz des langjährigen Aufenthaltes von einem beträchtlichen Zurücktreten der privaten gegenüber der öffentlichen Interessen auszugehen ist (in Folgenden beispielhaft angeführten höchstgerichtlichen Erkenntnissen wurde die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen nach langjährigem Aufenthalt bei Delinquenz bejaht: VwGH Ra 2017/21/0174-3 vom 05.10.2017 [23 Jahre]; VwGH Ra 2017/21/0075 vom 29.06.2017 [17 Jahre]; VwGH Ra 2017/19/0028 vom 22.03.2017 [17 Jahre]; VwGH Ra 2017/21/0033 vom 05. 10. 2017 [16 Jahre]; vgl. Auber auch VwGH Ra 2016/21/0340 vom 23.2.2017 [10 Jahre und 2 negative Vorentscheidungen und daraus resultierende Ausreiseverpflichtung über Jahre unbeachtet gelassen).
In Relation zu dem langen Aufenthalt von rund vierzehn Jahren ist beim BF keine außergewöhnliche Integration feststellbar und liegen 3 strafgerichtliche Verurteilungen vor, selbst wenn die BF in den letzten Jahren nicht mehr straffällig wurde. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes der BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse der BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm. Art. 8 EMRK dar.
II.3.5. Abschiebung
Mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, dass die Abschiebung gemäß § 46 leg.cit. in einen bestimmten Staat zulässig ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Das entspricht dem Tatbestand des § 8 Abs. 1 AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wurde mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7.11.2017 rechtskräftig verneint, wobei nach der oa. Beurteilung unverändert von diesem Ergebnis auszugehen ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 2 FPG unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das entspricht dem Tatbestand des § 3 AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wurde mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes rechtskräftig verneint, wobei nach der oa. Beurteilung unverändert von diesem Ergebnis auszugehen ist.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für die Türkei nicht.
Aus der sich aufgrund der Präsenz des Coronavirus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 in der Türkei kann aufgrund der Zahl der Infektionen, sowie des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation des BF (insbesondere deren Alter und Gesundheitszustand), sowie des Umstandes, dass die Türkei allgemein zugänglichen Berichten zufolge auf die Situation angemessen reagierte nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Art. 2 bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls kann dies nicht aus der Verpflichtung, sich einer allfälligen Untersuchung zu unterziehen bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden.
Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in die Türkei ist gegeben, da nach den die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde, was auch im angefochtenen Bescheid erneut überprüft wurde.
Das Bundesamt ist sohin zu Recht davon ausgegangen, dass eine Abschiebung der BF in die Türkei zulässig ist.
II.3.5. Von der Erteilung einer Frist zur freiwilligen Ausreise wurde aufgrund der Zurückweisung des ggst. Antrages auf internationalen Schutz zu Recht abgesehen. Gemäß § 55 Abs 1a FPG besteht keine Frist für eine freiwillige Ausreise in Fällen einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG und waren keine Gründe zu sehen, dem Antrag in der Beschwerde dahingehend zu folgen, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
II.3.6. Einreiseverbot
II.3.6.1.
§ 53 FPG lautet:
„Einreiseverbot
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
(Anm.: Abs. 1a aufgehoben durch BGBl. I Nr. 68/2013)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
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1. | wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 20 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, iVm § 26 Abs. 3 des Führerscheingesetzes (FSG), BGBl. I Nr. 120/1997, gemäß § 99 Abs. 1, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß § 37 Abs. 3 oder 4 FSG, gemäß § 366 Abs. 1 Z 1 der Gewerbeordnung 1994 (GewO), BGBl. Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den §§ 81 oder 82 des SPG, gemäß den §§ 9 oder 14 iVm § 19 des Versammlungsgesetzes 1953, BGBl. Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
2. | wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde; | |||||||||
3. | wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Abs. 3 genannte Übertretung handelt; | |||||||||
4. | wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
5. | wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
6. | den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag; | |||||||||
7. | bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen; | |||||||||
8. | eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht geführt hat oder | |||||||||
9. | an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat. | |||||||||
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
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1. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
2. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
3. | ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
4. | ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist; | |||||||||
5. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
6. | auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB); | |||||||||
7. | auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet; | |||||||||
8. | ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder | |||||||||
9. | der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt. | |||||||||
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Abs. 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Abs. 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.“
II.3.6.2. Der VwGH hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237 zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (vgl. ErläutRV, 1078 BlgNR 24. GP 29 ff und Art 11 Abs. 2 Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Z 1 bis 9 des § 53 Abs. 2 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 anzunehmen. In den Fällen des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Z 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum früher geltenden § 63 FPG (IdF vor dem FrÄG 2011), der die Festlegung der Gültigkeitsdauer eines Aufenthaltsverbotes regelte, war ein Aufenthaltsverbot für jenen Zeitraum zu erlassen, nach dessen Ablauf vorhersehbarerweise der Grund für seine Verhängung weggefallen sein wird, und auf unbestimmte Zeit (unbefristet), wenn ein Wegfall des Grundes für seine Verhängung nicht vorhergesehen werden kann.
§ 53 Abs. 3 FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Gericht diese auch nach wie vor als anwendbar.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde initiativ, untermauert durch Vorlage entsprechender Bescheinigungsmittel, nachzuweisen, dass er nicht bloß über Mittel zur kurzfristigen Bestreitung seines Unterhalts verfügt, sondern sein Unterhalt für die beabsichtigte Dauer seines Aufenthalts gesichert erscheint. Die Verpflichtung, die Herkunft der für den Unterhalt zur Verfügung stehenden Mittel nachzuweisen, besteht insoweit, als für die Behörde ersichtlich sein muss, dass der Fremde einen Rechtsanspruch darauf hat und die Mittel nicht aus illegalen Quellen stammen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 21. Juni 2012, Zl. 2011/23/0305, mwN).
Der BF hat in keiner Weise dargelegt, dass er über ausreichende Mittel verfügen würde, um seinen Unterhalt zu sichern. Es ist somit nicht als rechtswidrig zu erkennen, dass die belangte Behörde im Ergebnis davon ausging, dass die BF den Besitz der erforderlichen Mittel für ihren Unterhalt nicht nachgewiesen hat, zumal sich aus dem festgestellten Sachverhalt zweifelsfrei ergibt, dass der BF ausschließlich auf die Leistungen Dritter (gelegentliche Zuwendungen der Schwestern und der Freundin bzw. Lebensgefährtin, welche jedoch in bescheidenen Verhältnissen lebt und wegen der Pandemie zur Zeit auch keine Arbeitsstelle hat) bzw. der öffentlichen Hand angewiesen ist.
Eine entsprechende Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK wurde bereits durchgeführt, ebenso wurden die wurde bereits dargelegt, welchen öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 abs. 2 EMRK der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet widerspricht.
Im gegenständlichen Fall ist auch zu bedenken, dass aus der sich aus dem rechtskräftig negativen Abschluss des Asylverfahrens ergebenen Mittellosigkeit des BF die Gefahr einer illegalen Mittelbeschaffung bzw. einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft resultiert und daher auch aus diesem Aspekt eine Gefährdungsannahme nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist (vgl. das Erkenntnis vom 11. Mai 2009, Zl. 2009/18/0152).
Die Mittel aus der Grundversorgung sind nicht geeignet, die in § 53 Abs. 2 Z. 6 FPG vorzuhaltende Mittellosigkeit, betreffend Begründung eines Einreiseverbots, zu entkräften.
Im Falle der Mittellosigkeit eines Fremden bedarf es nicht der Feststellung weiterer Umstände, um eine negative Prognose für den weiteren Aufenthalt des Fremden im Bundesgebiet zu begründen (VwGH 13.12.2001, 2001/21/0158; 13.12.2002, 2000/21/0029).
Die Mittellosigkeit des Fremden ist im Hinblick auf die daraus resultierende Gefahr der illegalen Beschaffung der Mittel zum Unterhalt eine ausreichende Grundlage für das Gerchtfertigtsein der Annahme, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet (vgl. zB VwGH 14.04.1994, 94/18/0133). Dafür, dass die umschriebene Annahme gerechtfertigt ist, ist nicht erforderlich, dass der Fremde tatsächlich bereits strafbare Handlungen begangen hat; bereits die Gefahr der finanziellen Belastung der öffentlichen Hand rechtfertigt die besagte Annahme (zB VwGH 13.10.2000, 2000/18/0147; 17.12.2001, 99/18/0182; 13.09.2006, 2006/18/0215).
Rührt daher der Unterhalt des Fremden bisher ausschließlich aus Mitteln der Grundversorgung her, darf die Behörde vom Fehlen einer Selbsterhaltungsfähigkeit ausgehen. Daran ändert auch eine für den Fremden abgegebene Unterstützungserklärung nichts (VwGH 21.03.2013, 2011/23/0360).
Die vom BVwG vertretene Auffassung, gegen den Asylwerber dürfe schon deswegen kein auf § 53 Abs. 2 Z 6 FrPolG 2005 gestütztes Einreiseverbot erlassen werden, weil er als Asylwerber einen Anspruch auf Leistungen aus der Grundversorgung (gehabt) habe, entspricht nicht der hier maßgeblichen Rechtslage (siehe dazu ausführlich das Erkenntnis VwGH 20.9.2018, Ra 2018/20/0349; VwGH vom 27.06.2019, Zl. Ra 2019/14/0030).
Es trifft nicht zu, dass dem in § 53 Abs. 2 Z 6 FrPolG 2005 enthaltenen Tatbestand kein eigenständiger Bedeutungsgehalt beizumessen wäre. So hat der VwGH im Erkenntnis vom 20. September 2018, Ra 2018/20/0349, ausgeführt, dass aus der Mittellosigkeit eines Fremden die Gefahr der Beschaffung der Unterhaltsmittel aus illegalen Quellen bzw. einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft resultiert, weshalb im Fall des Fehlens ausreichender Unterhaltsmittel auch die Annahme einer Gefährdung iSd § 53 Abs. 2 FrPolG 2005 gerechtfertigt ist. Dies gilt auch für ein in einem Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz erlassenes Einreiseverbot (VwGH vom 12.07.2019, Zl. Ra 2018/14/0282).
Der Umstand, dass einem Fremden Grundversorgung gewährt wird, bestätigt geradezu die Beurteilung, dass der auf die Mittellosigkeit abstellende Tatbestand des (nunmehr) § 53 Abs. 2 Z 6 FrPolG 2005 erfüllt ist (VwGH vom 27.06.2019, Zl. Ra 2019/14/0030; vgl. etwa VwGH 21.6.2012, 2011/23/0305; 23.10.2008, 2007/21/0245, jeweils mwN).
Aus der Formulierung des § 53 Abs. 2 FPG ergibt sich, dass die dortige Aufzählung nicht als taxativ, sondern als demonstrativ bzw. enumerativ zu sehen ist ("Dies ist insbesondere dann anzunehmen, "), weshalb die bB in mit den in Z 1 – 9 leg. cit expressis verbis nicht genannten Fällen, welche jedoch in ihrer Interessenslage mit diesen vergleichbar sind, ebenso ein Einreisverbot zu erlassen.
Da die aktuelle Formulierung des § 53 FPG auch der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie, RL 2008/115/EG vom 18.12.2008 dient (vgl. RV 1078 XXIV GP : "Mit dem vorgeschlagenen § 53 wird Art. 11 der RückführungsRL Rechnung getragen") und europarechtlichen Grundsätzen folgend nationale Rechtvorschriften richtlinienkonform in dem Sinne zu interpretieren sind, "das zur Umsetzung einer Richtlinie erlassene nationale Recht in deren Licht und Zielsetzung auszulegen" ist, (VfSlg. 14.391/1995; zur richtlinienkonformen Interpretation siehe weiters VfSlg. 15.354/1998, 16.737/2002, 18.362/2008; VfGH 5.10.2011, B 1100/09 ua.) sowie dem europarechtlichen Grundsatz des effet utile und des Wortlautes des Art. 11 der Rückführungsrichtlinie (vgl. Art. 11 leg. cit., RL 2008/115/EG vom 18.12.2008: "Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen."), ist davon auszugehen, dass schon aufgrund des Umstandes, dass im gegenständlichen Fall keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht, ein unter §§ 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG zu subsumierender Sachverhalt vorliegt, auch wenn dieser in Abs. 2 leg. cit. nicht expressis verbis aufgezählt wird. Die bB war im gegenständlichen Fall schon aufgrund des § 53 Abs. 1 und 2 FPG im Lichte einer Art. 11 der Rückführungsrichtlinie berücksichtigenden Interpretation berechtigt, die Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot zu verbinden. Ob sie hierzu gemäß dem Wortlaut des Art. 11 der RückführungsRL verpflichtet war oder ob sie gem. § 53 FPG Ermessen üben konnte, kann an dieser Stelle offen bleiben, zumal sich im Ergebnis nichts ändert.
Das von der BF gesetzte Verhalten ist in seinem Schweregrad bzw. dem daraus resultierenden Gefährdungspotential jedenfalls auch dem Grunde nach mit den in § 53 Abs. 2 Z 1 bis 9 FPG demonstrativ angeführten Konstellationen vergleichbar bzw. über diese hinausgehend, und ist die BF zudem auch mittellos, weshalb die Behörde das Einreiseverbot zu Recht auf § 53 Abs. 2 Z 6 FPG gestützt hat.
Im gegenständlichen Fall kommt aber eben hinzu, dass sich der BF nach Ablauf der sich aus § 18 Abs. 5 BFA-VG ergebenden Frist für eine freiwillige Ausreise, wie sie in der Entscheidung des BVwG vom 03.03.2020 festgehalten wurde, weiterhin im Bundesgebiet aufhielt, obwohl er nach dem Verstreichen dieser Frist zur unverzüglichen (freiwilligen) Ausreise verpflichtet gewesen wäre und zeigt dieses Verhalten, dass er in qualifizierter Weise nicht gewillt ist, die österreichische Rechtsordnung, insbesondere das Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht zu beachten. Er konnte zur freiwilligen Ausreise – und somit zum rechtskonformen Verhalten –
nicht bewogen werden und hat zudem gegenständlichen zweiten Asylantrag gestellt. Der hohe fremdenpolizeiliche und soziale Unwert des Verhaltens des BF zeigt sich in diesem Punkt auch in der hohen Strafdrohung des § 120 Abs 1b FPG, welche jene der in § 53 Abs. 2 Z 1 FPG genannten Verwaltungsübertretungen erheblich bzw. teils sogar um ein Vielfaches übersteigt und geht das ho. Gericht daher davon aus, dass das in diesem Absatz beschriebene Verhalten im Lichte der im § 53 Abs. 2 FPG enthaltenen Generalklausel relevant ist.
Zusätzlich kommt zur Mittellosigkeit hinzu, dass eine erhebliche Motivation der BF, ihren Herkunftsstaat zu verlassen und nach Österreich einzureisen, im Wesentlichen davon getragen war, das österreichische Sozialsystem dem türksichen vorzuziehen –obwohl dies aus dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK nicht erforderlich war, und hierdurch nicht unerhebliche Kosten für die Allgemeinheit in Österreich verursachte. Im Falle einer neuerlichen Einreise ist daher davon auszugehen, dass die BF auch dieses Verhalten fortsetzt, der öffentlichen Hand neuerlich erhebliche Kosten verursacht und würde daher eine neuerliche Einreise auch aus dem in § 53 Abs. 2 FPG genannten Verweis auf Art. 8 Abs. EMRK und dem dort genannten öffentlichen Interesse des finanziellen Wohles des Landes widersprechen.
Letztlich wurde der BF auch wegen der festgestellten Straftaten rechtskräftig verurteilt und es wurde gegen sie ein Rückkehrverbot sowie ein Waffenverbot erlassen.
II.3.6.3. Der BF zeigt auch keine Gründe auf, wonach die Ermessensübung durch die belangte Behörde nicht im Sinn des Gesetzes erfolgt wäre. Die Beschwerde wendet sich zwar (unsubstantiiert) gegen die Dauer des Einreiseverbots, sie legt aber nicht dar, auf Grund welcher Umstände von einem früheren Wegfall der für die Erlassung des Einreiseverbots maßgeblichen Gründe auszugehen gewesen wäre.
Dies gilt insbesondere für den Umstand, dass die bB das Einreiseverbot nicht auf die Straffälligkeit, welche jedoch ebenfalls zu berücksichtigen ist, gestützt hat, sondern auf die Mittellosigkeit in Zusammenschau mit der nicht erfolgten Ausreise.
Die Länge des Einreiseverbots kann daher nicht als rechtswidrig erachtet werden (vgl. hierzu etwa Erk. d. VwGH vom 13.9.2012, 2011/23/0156, wo dieser bei vorliegender Mittellosigkeit ein Aufenthaltsverbot von 5 Jahren als nicht unangemessen ansah). Aufgrund der nunmehrigen Rechtslage erscheint bei Berücksichtigung sämtlicher im gegenständlichen Erkenntnis ausgeführter Tatsachen die Länge von 3 Jahren nicht unangemessen.
Bei einer Gesamtbetrachtung aller aufgezeigten Umstände, des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes und in Ansehung der auf Grund des persönlichen Fehlverhaltens getroffenen Gefährdungsprognose muss eine Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt regelnden Vorschriften zum Schutz eines geordneten Fremdenwesens, als gegeben angenommen werden (vgl. VwGH 19.05.2004, Zl. 2001/18/0074).
II.3.6.4. Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände und in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere zur Wahrung des wirtschaftlichen Wohls Österreichs, an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt regelnden Vorschriften sowie an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, als gegeben angenommen werden (vgl VwGH 19.05.2004, 2001/18/0074). Angesichts der vorliegenden Schwere der Verstöße gegen österreichische Rechtsnormen und des zum Ausdruck gekommen Fehlverhaltens des Beschwerdeführers ist daher die Verhängung des Einreiseverbotes in der von der belangten Behörde ausgesprochenen Dauer als angemessen, erforderlich und darüber hinaus auch als verhältnismäßig zu erachten. Den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich steht das öffentliche Interesse an der Wahrung der öffentlichen Ordnung sowie das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber; diesen gewichtigen öffentlichen Interessen kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art 8 Abs 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl VwGH 07.07.2009, AW 2009/18/0219; 20.03.1996, 95/21/0643; 03.03.1994; 94/18/0021; 12.03.2002, 98/18/0260; 18.01.2005, 2004/18/0365).
II.3.7. Entfall der mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Gemäß § 24 Abs. 1 des VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Nach § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.
Gemäß Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2010/C 83/02) - folgend: GRC - hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Zufolge Abs. 2 leg.cit. hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
Nach Art. 52 Abs. 1 GRC muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
Zur Frage der Verhandlungspflicht brachte der Verfassungsgerichtshof etwa in seinem Erkenntnis vom 14.03.2012, Zl. U 466/11 ua. zum Ausdruck, er hege vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR (zur Zulässigkeit des Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung) weder Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 41 Abs. 7 AsylG 2005 noch könne er finden, dass der Asylgerichtshof der Bestimmung durch das Absehen von der Verhandlung einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt habe. Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergebe, dass das Vorbringen tatsachenwidrig sei, stehe im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 GRC, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden habe, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt worden sei.
Der VwGH hat sich mit Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017, mit der Frage des Entfalls einer mündlichen Verhandlung unter Auslegung des § 21 Abs. 7 BFA-VG befasst, wobei dem Grunde nach die zuvor zitierte Judikaturlinie der Höchstgerichte beibehalten wird. Daraus resultierend ergeben sich für die Auslegung des § 21 Abs. 7 BFA-VG folgende maßgeblichen Kriterien: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht bleibt wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.
Projiziert auf den vorliegenden Beschwerdefall bedeutet dies, dass aus dem Inhalt der Verwaltungsakte die Grundlage des bekämpften Bescheides unzweifelhaft nachvollziehbar ist. Es hat sich auch in der Beschwerde kein zusätzlicher Hinweis auf die Notwendigkeit ergeben, den maßgeblichen Sachverhalt mit dem Beschwerdeführer zu erörtern.
In der Beschwerde finden sich auch keine Hinweise, wonach eine weitere mündliche Verhandlung notwendig ist, zumal sich dort keine substantiierten Ausführungen finden, die dies erforderlich machen würden. Es findet sich dort insbesondere kein über das Vorbringen vor der bB hinausgehendes Vorbringen. In diesem Zusammenhang sei auf die diesbezüglichen Ausführungen unter II.2. verwiesen.
Der maßgebliche Sachverhalt war demnach aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen. Es haben sich – wie dargelegt – keine entscheidungswesentlichen Änderungen der Lage im Herkunftsstaat ergeben, was von der bB durch die Einführung aktueller Länderinformationen zum Herkunftsstaat in das Verfahren überprüft wurde. Bereits in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgeriches aus 2015 wurden umfangreiche Länderfeststellungen wiedergegeben, die in Bezug auf den entscheidungsrelevanten Sachverhalt im Wesentlichen nicht von den von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid verwendeten abweichen.
Dem Bundesverwaltungsgericht liegt kein Beschwerdevorbringen vor, dessen mündliche Erörterung zielführend erscheint, sodass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht unterbleiben konnte.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlichen Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A) wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
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