VwGH Ra 2016/21/0165

VwGHRa 2016/21/016530.6.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Revision des F I, vertreten durch Mag. Irene Oberschlick, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Weyrgasse 8/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. März 2016, Zl. L508 1304273-4/3E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und Rückkehrentscheidung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2;
AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
FrPolG 2005 §61 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 Abs2 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 Abs3 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §66 Abs1 idF 2009/I/029;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 idF 2009/I/029;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3 idF 2009/I/029;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2;
AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
FrPolG 2005 §61 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 Abs2 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §61 Abs3 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §66 Abs1 idF 2009/I/029;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 idF 2009/I/029;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3 idF 2009/I/029;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird - mit Ausnahme des unbekämpft gebliebenen Abspruchs nach § 57 AsylG 2005 - wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am 16. September 2014 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen gemäß § 56 AsylG 2005. Mit Schreiben vom 2. Juni 2015 änderte er diesen Antrag dahin, dass nunmehr ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 begehrt werde. Er sei am 29. März 2005 in das Bundesgebiet eingereist und befinde sich somit seit mehr als zehn Jahren in Österreich. Er sei strafrechtlich unbescholten und verfüge über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache sowie eine Einstellungszusage.

2 Dieser Antrag wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 14. Dezember 2015 abgewiesen. Unter einem wurde ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 von Amts wegen nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er unter anderem die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte.

4 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Es stellte fest, dass der Revisionswerber am 29. März 2005 einen Asylantrag gestellt habe. Dieser Antrag sei mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25. Juli 2006 abgewiesen worden, gleichzeitig sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Pakistan für zulässig erklärt und der Revisionswerber nach Pakistan ausgewiesen worden. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde habe der unabhängige Bundesasylsenat mit Bescheid vom 16. April 2008 abgewiesen. Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sei von diesem mit Beschluss vom 9. September 2008 abgelehnt worden.

6 Am 12. März 2009 habe der Revisionswerber einen Antrag auf Wiederaufnahme des Asylverfahrens gestellt, der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 18. September 2009 abgewiesen worden sei.

7 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 1. August 2012 sei der Revisionswerber wegen §§ 223 Abs. 2, 224 und 224a StGB (Vergehen der Fälschung besonders geschützter Urkunden und Vergehen des Besitzes falscher besonders geschützter Urkunden) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Mit Strafverfügung vom 10. August 2012 sei über ihn wegen Übertretung des § 22 Abs. 1 Z 2 MeldeG eine Verwaltungsstrafe (Geldstrafe von EUR 100,--, Ersatzfreiheitsstrafe 16 Stunden) verhängt worden.

8 Die Eltern und Geschwister des Revisionswerbers lebten weiterhin in Pakistan, wo er den Großteil seines Lebens verbracht und sechs Jahre lang als Hotelmanager gearbeitet habe. Er sei ledig. Eine Schwester des Revisionswerbers lebe mit ihrer Familie auf Grund eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" in Österreich.

9 Er habe auf Grund seines mehrjährigen Aufenthalts in Österreich "gewisse Deutschkenntnisse". Er habe einen Deutschkurs auf Niveau A2 absolviert und erklärt, derzeit einen Kurs auf Niveau B2 zu besuchen. Er sei in Österreich als Zeitungszusteller tätig und verfüge für den Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels über eine Einstellungszusage bzw. einen Arbeitsvorvertrag. Er leiste ehrenamtliche Tätigkeit in einem pakistanischen Kulturzentrum. Er verfüge über einen "gewissen Freundes- und Bekanntenkreis im Inland" und lebe zu viert in einer Wohngemeinschaft. Darüber hinaus hätten keine weiteren maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des Revisionswerbers in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden können, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden. Zudem habe der Revisionswerber die oben genannten Integrationsbemühungen zu einem Zeitpunkt gesetzt, als er nicht mehr darauf vertrauen habe können, sein derart begründetes Privatleben in Österreich dauerhaft fortsetzen zu können.

10 Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber in Pakistan in eine seine Existenz gefährdende Notlage geraten würde. Es könnten auch keine Umstände festgestellt werden, wonach die Abschiebung des Revisionswerbers nach Pakistan gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.

11 Der Sachverhalt sei als geklärt anzusehen, weshalb weder die beantragte Einvernahme des Revisionswerbers zur Feststellung seiner Integration noch die Durchführung der ebenfalls beantragten Verhandlung erforderlich gewesen sei.

12 In seiner rechtlichen Beurteilung stellte das Bundesverwaltungsgericht den Umstand in den Vordergrund, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers sich ausschließlich auf einen letztlich unberechtigten Asylantrag gestützt habe; in einer solchen Konstellation sei nach der Rechtsprechung des EGMR auch bei einer Aufenthaltsdauer von zehn Jahren eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zulässig. Zudem hätten während seines Aufenthalts laut Versicherungsdatenauszug die Zeiten überwogen, während deren er keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Der Umstand, dass er für den Zeitraum 1. Juli 2007 bis 30. November 2009 Sozialversicherungsbeitragsrückstände habe, zeige, dass seine Selbsterhaltungsfähigkeit "nicht ständig gegeben" sei. Insofern falle seine vorübergehende Tätigkeit bei der Abwägungsentscheidung "nicht besonders stark" ins Gewicht. Auf die Einstellungszusage bzw. den Arbeitsvorvertrag komme es in diesem Zusammenhang nicht an.

13 Was die Deutschkenntnisse des Revisionswerbers betreffe, so befänden sie sich laut den vom Revisionswerber vorgelegten Unterlagen auf A2-Niveau. Die dokumentierten Deutschkenntnisse des Revisionswerbers lägen somit deutlich unter dem Durchschnitt von Asylwerbern mit ähnlicher Aufenthaltsdauer.

14 Schließlich sei die Dauer des bisherigen Aufenthalts nicht in den Behörden zuzurechnenden überlangen Verzögerungen begründet. Der Revisionswerber habe keine Schritte gesetzt, die zur Beschleunigung des Verfahrens bzw. zur Rückkehr in seinen Herkunftsstaat beigetragen hätten. Vielmehr habe er durch die Fälschung und den Besitz gefälschter Urkunden versucht, seinen Aufenthalt in Österreich unrechtmäßig bis zu Stellung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK zu verlängern.

15 Im Sinne der Interessenabwägung seien überdies auch die strafgerichtliche Verurteilung und die verwaltungsbehördliche Bestrafung des Revisionswerbers zu berücksichtigen gewesen.

16 Von einer nachhaltigen und außergewöhnlichen Integration, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise überwiegen würde, könne im Fall des Revisionswerbers keinesfalls gesprochen werden. Das BFA habe daher zu Recht den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Auch die Feststellung gemäß § 52 Abs. 9 FPG sei zu Recht getroffen worden.

17 Gegen dieses Erkenntnis - erkennbar jedoch nicht gegen den Abspruch nach § 57 AsylG 2005 - richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Aktenvorlage durch das Bundesverwaltungsgericht und Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

18 Unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG macht die Revision geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei. Zum einen habe es entgegen dieser Rechtsprechung trotz eines mehr als zehnjährigen Aufenthalts des Revisionswerbers das Überwiegen seiner privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich verneint. Zum anderen habe es zu Unrecht von der beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen.

19 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

20 Der Revisionswerber begehrte die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 (in der seit 1. Jänner 2014 geltenden Fassung des FNG) "aus Gründen des Art. 8 EMRK". Die genannte Norm lautet samt Überschrift:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

Maßgebliche Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach § 55 AsylG 2005 ist also, dass im Sinne des Abs. 1 Z 1 "dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist". Erfüllt der Fremde überdies die Voraussetzung des Abs. 1 Z 2, erhält er eine "Aufenthaltsberechtigung plus".

21 § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet samt Überschrift:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

  1. 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
  2. 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
  3. 4. der Grad der Integration,
  4. 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
  5. 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
  6. 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

    8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

    9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre."

22 Die Vorgängerbestimmungen des zitierten § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG waren - betreffend fremdenpolizeiliche Ausweisungen bzw. Rückkehrentscheidungen - § 61 Abs. 1 bis 3 FPG in der Fassung des am 1. Juli 2011 in Kraft getretenen FrÄG 2011 und davor § 66 Abs. 1 bis 3 FPG in der am 1. April 2009 in Kraft getretenen Fassung BGBl. I Nr. 29/2009 (die nachfolgenden Änderungen im Abs. 3 durch das FrÄG 2009 waren nur marginal) sowie - betreffend asylrechtliche Ausweisungen - § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 (in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung vor dem FNG); alle genannten Normen sind im Wesentlichen inhaltsgleich, weshalb die zu den erwähnten Vorgängerregelungen ergangene Judikatur weiterhin ihre Gültigkeit hat. Nach wie vor ist somit unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der (nunmehr) im § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich (nunmehr) aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, sowie den hg. Beschluss vom 28. Jänner 2016, Ra 2016/21/0006).

23 Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zuletzt etwa das Erkenntnis vom 14. April 2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032, mwN).

24 Im vorliegenden Fall war allerdings auch zu berücksichtigen, dass der weit überwiegende Teil des Inlandsaufenthalts des Revisionswerbers unrechtmäßig war, nachdem sein Asylantrag schon nach etwas mehr als drei Jahren rechtskräftig abgewiesen worden war, wobei dieser lange illegale Aufenthalt nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts offenbar auch durch eine Urkundenfälschung ermöglicht wurde, die eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers zur Folge hatte. Vor diesem Hintergrund - elfjährige Gesamtaufenthaltsdauer auf der einen Seite, hoher Anteil unrechtmäßiger Aufenthaltszeiten und eine strafgerichtliche Verurteilung auf der anderen Seite - kam dem Grad der vom Revisionswerber erreichten Integration entscheidende Bedeutung für die Abwägung nach § 9 BFA-VG zu.

25 Um diesen Aspekt beurteilen zu können, wären insbesondere genaue Feststellungen zu den Beschäftigungszeiten des Revisionswerbers erforderlich gewesen; auch dem Vorhandensein einer Einstellungszusage kommt unter diesem Gesichtspunkt entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts Bedeutung zu. Das Gleiche gilt für die Deutschkenntnisse des Revisionswerbers, die nicht allein auf Grund der vorgelegten Zertifikate, sondern tunlichst auf Grund des persönlichen Eindrucks in einer mündlichen Verhandlung zu bewerten sind. Schon im Hinblick darauf hätte nicht von einem "geklärten Sachverhalt" nach § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgegangen und von der ausdrücklich beantragten Verhandlung abgesehen werden dürfen. Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann und dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. etwa das bereits zitierte Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, Punkt 4.2. der Entscheidungsgründe, mwN).

26 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG im Umfang seiner Bekämpfung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

27 Der Zuspruch von Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. Juni 2016

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