VwGH Ra 2016/21/0029

VwGHRa 2016/21/002914.4.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Revision 1. des A G, 2. der A T, 3. des D G und 4. des B G, alle in L und vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. November 2015, L519 1316388- 3/8E, L519 1300466-5/8E, L519 1401914-4/5E und L519 1415870-2/5E, betreffend Versagung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 sowie Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Normen

AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

1. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG 2005 richtet, als unzulässig zurückgewiesen.

2. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerber sind armenische Staatsangehörige und gehören der jesidischen Volksgruppe an. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind "traditionell" verheiratet, der Dritt- und der Viertrevisionswerber sind ihre Kinder.

2 Die damals 15-jährige Zweitrevisionswerberin reiste Mitte Jänner 2006 gemeinsam mit ihren Eltern (Revisionswerber zu Ra 2016/21/0033 und 0034) illegal aus Deutschland nach Österreich ein. Sie stellte wie ihre Eltern einen Antrag auf internationalen Schutz, der letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 29. September 2009 vollinhaltlich - in Verbindung mit einer Ausweisung nach Armenien - abgewiesen wurde.

3 Schon im Oktober 2009 stellte die - damals schwangere - Zweitrevisionswerberin, die im August 2008 den Drittrevisionswerber zur Welt gebracht hatte, einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei wies sie u.a. darauf hin, dass sie mit dem Erstrevisionswerber, ihrem Lebensgefährten und Vater ihrer Kinder, in einem gemeinsamen Haushalt lebe; sein Asylverfahren sei noch offen.

4 Das genannte Asylverfahren des Erstrevisionswerbers wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 15. Dezember 2009 abgeschlossen. Auch insoweit kam es zu einer vollinhaltlichen Abweisung des nach der am 30. August 2007 erfolgten - illegalen - Einreise nach Österreich gestellten Antrags auf internationalen Schutz, die gleichfalls mit einer Ausweisung nach Armenien verbunden war.

5 Auch der Erstrevisionswerber stellte in der Folge einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag und den zuvor erwähnten Folgeantrag der Zweitrevisionswerberin sowie Anträge des Dritt- und des im Dezember 2009 geborenen Viertrevisionswerbers - jeweils mit Bescheiden vom 27. September 2010 - wiederum vollinhaltlich und in Verbindung mit Ausweisungen nach Armenien ab. Den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 4. November 2014 in den Punkten Asyl und subsidiärer Schutz keine Folge. Im Übrigen verwies es gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 die Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.

6 Mit Bescheiden je vom 29. Juni 2015 sprach das BFA hierauf aus, dass den Revisionswerbern Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt würden; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG werde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Armenien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde außerdem die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt.

7 Die Revisionswerber erhoben Beschwerde. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 30. November 2015 wies das BVwG diese Beschwerde in Bezug auf alle Revisionswerber jeweils gemäß §§ 55, 57 AsylG 2005, § 10 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und §§ 46, 52 Abs. 2 und 9 sowie 55 FPG als unbegründet ab. Außerdem erklärte es jeweils die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

8 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

9 In Bezug auf die Entscheidungen nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

10 Im Übrigen erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt.

11 Das BVwG erließ gegen die Revisionswerber Rückkehrentscheidungen. Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus jüngerer Zeit etwa das hg. Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, mwN).

12 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 2. Oktober 2012, Zl. 2012/21/0044, oder - aus jüngster Zeit - das Erkenntnis vom 17. März 2016, Ro 2015/22/0016 (Rz 4)).

13 Vor diesem Hintergrund ist in Bezug auf die Zweitrevisionswerberin zunächst zu konstatieren, dass auch das BVwG davon ausging, es seien "Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende berücksichtigungswürdige

Integration ... in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht

... erkennbar". Unter dem Aspekt "Grad der Integration" hielt das BVwG in diesem Zusammenhang u.a. fest, dass sie die deutsche Sprache weitgehend beherrsche und in der "baptistischen Glaubensgemeinschaft" gut vernetzt sei. Von einem völligen Fehlen jeglicher Integration kann daher keine Rede sein.

14 Zwar befand sich die Zweitrevisionswerberin bei Erlassung des nunmehr angefochtenen Erkenntnisses im Dezember 2015 noch nicht zehn Jahre in Österreich. Dass ihr auf einen zehnjährigen Inlandsaufenthalt einige wenige Wochen fehlten, kann allerdings nicht maßgeblich sein. Einerseits hat der Verwaltungsgerichtshof nämlich seine zuvor angeführte Rechtsprechung zu einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (siehe das zuvor genannte Erkenntnis vom 17. März 2016, Ro 2015/22/0016; in diesem Sinn vor allem die Erkenntnisse vom 10. Dezember 2013, Zl. 2012/22/0151, vom 9. September 2014, Zl. 2013/22/0247, vom 16. Dezember 2014, Zl. 2012/22/0169, und vom 10. November 2015, Ro 2015/19/0001, Punkt 7.3. der Entscheidungsgründe). Andererseits darf fallbezogen nicht ausgeklammert werden, dass die Zweitrevisionswerberin bereits 15-jährig nach Österreich einreiste und mithin schon - besonders prägende - Jugendjahre in Österreich verbrachte. Hiezu kommt, dass sie nach ihrem unbestrittenen Vorbringen Armenien bereits 2001 (somit mit zehn oder elf Jahren) verließ und sich zunächst zwei Jahre in Russland und ab 2003 in Deutschland aufhielt, wo sie auch die Schule besuchte. Vor diesem Hintergrund ist den privaten Interessen der - unbescholtenen - Zweitrevisionswerberin an einem weiteren Verbleib in Österreich der Vorrang zu geben.

15 Dieses, bezüglich der Zweitrevisionswerberin gewonnene Ergebnis muss auch auf ihre beiden in Österreich geborenen und hier Schule bzw. Kindergarten besuchenden Kinder, den siebenjährigen Drittrevisionswerber und den sechsjährigen Viertrevisionswerber, durchschlagen. Es ist aber auch bezüglich des Erstrevisionswerbers, der sich bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses etwa acht Jahre und drei Monate in Österreich aufhielt, von Relevanz, weil die dem angefochtenen Erkenntnis zu Grunde liegende Prämisse, gegenüber allen Familienmitgliedern würden Rückkehrentscheidungen erlassen, weshalb kein Eingriff in das Familienleben der Revisionswerber vorliege, nicht mehr zutrifft.

16 Nach dem Gesagten ist das angefochtene Erkenntnis, soweit es die vom BFA erlassenen Rückkehrentscheidungen bestätigt (und damit auch hinsichtlich der Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005) mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher im genannten Umfang samt den auf die Erlassung der Rückkehrentscheidungen aufbauenden Absprüchen nach § 52 Abs. 9 und § 55 FPG gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben (zum Umfang der Aufhebung siehe etwa das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ra 2015/21/0119).

17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere die §§ 50 und 53 Abs. 1 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. April 2016

Stichworte