Normen
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §43 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2015:RA2014220078.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Die revisionswerbenden Parteien (alle sind russische Staatsangehörige, der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Eltern der weiteren - noch minderjährigen - revisionswerbenden Parteien) beantragten am 2. August 2012 jeweils die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Mit Bescheid vom 10. November 2012 wies die Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung (BH) diese Anträge ab.
Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die dagegen erhobene (nunmehr) Beschwerde der revisionswerbenden Parteien vom Landesverwaltungsgericht Steiermark abgewiesen und die ordentliche Revision für unzulässig erklärt.
Das Verwaltungsgericht hielt fest, der Erstrevisionswerber sowie die Zweit- und Drittrevisionswerberin seien am 28. November 2004 nach Österreich eingereist. Viert- und Fünftrevisionswerber seien 2006 bzw. 2009 in Österreich geboren. Alle revisionswerbenden Parteien hätten Asylanträge gestellt, die (ersten) Asylverfahren seien in Verbindung mit einer Ausweisung am 4. Juni 2010 rechtskräftig abgeschlossen worden. Die revisionswerbenden Parteien seien im Juli 2010 nach Frankreich ausgereist und im Jänner 2011 wieder nach Österreich überstellt worden, wo sie erneut Asylanträge gestellt hätten. Diese Asylverfahren seien im Jänner 2012 rechtskräftig negativ abgeschlossen worden.
Im Zuge seiner Beurteilung verwies das Verwaltungsgericht auf den ca. zehnjährigen, überwiegend rechtmäßigen Inlandsaufenthalt der revisionswerbenden Parteien sowie auf die diesbezüglich ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach Aufenthaltsbeendigungen in derartigen Fällen nur dann als verhältnismäßig angesehen wurden, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit nicht genutzt hat, um sich beruflich und sozial zu integrieren. Weiters wurde auf die zwischenzeitige Ausreise der revisionswerbenden Parteien und auf die Prolongierung des Aufenthaltes durch die "Folgeanträge im Asylverfahren" hingewiesen.
Das Verwaltungsgericht vertrat die Auffassung, die revisionswerbenden Parteien hätten die in Österreich verbrachte Zeit nicht dazu genutzt, um ihre soziale Integration voranzutreiben. Der Erstrevisionswerber habe erst im Juli 2012 eine Sprachprüfung abgelegt, die Zweitrevisionswerberin erst im Juni 2013 einen Deutschkurs absolviert. Die sozialen Kontakte der Zweitrevisionswerberin bestünden (nur) auf schulischer bzw. gesundheitlicher Ebene. Der Erstrevisionswerber habe zu der von ihm vorgelegten Einstellungszusage weder den Namen seines möglichen Arbeitgebers noch das Tätigkeitsgebiet angeben können. Eine Unterhaltung in deutscher Sprache sei mit dem Erstrevisionswerber nicht möglich gewesen, mit der Zweitrevisionswerberin schon.
Die Erteilung von Aufenthaltstiteln sei somit nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG iVm Art. 8 EMRK nicht geboten. Die im April 2014 vorgelegten Schreiben (u.a. eine Stellungnahme der Schulleitung und eine Teilnahmebestätigung an einem Integrationsprojekt) könnten nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes nur in eingeschränktem Ausmaß herangezogen werden, weil sich die darin angegebenen Umstände auf den Zeitraum nach Erlassung des bekämpften Bescheides bezögen. Selbst wenn man die Integrationsschritte bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde berücksichtigen sollte, würde dies am Ergebnis der Interessenabwägung aber nichts ändern, weil die genannten Umstände "keine seit der zweiten Ausweisung durch den Asylgerichtshof (26. Jänner 2012) maßgebliche Sachverhaltsänderung im Sinne des § 44b Abs 1 NAG" nach sich ziehen würden.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Gemäß § 81 Abs. 26 NAG sind mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Bundesminister für Inneres anhängige Berufungsverfahren ab 1. Jänner 2014 vom zuständigen Landesverwaltungsgericht nach den Bestimmungen des NAG idF vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 87/2012 zu Ende zu führen. Ausgehend davon kommt dem Revisionsvorbringen betreffend die Anwendbarkeit der §§ 55 ff Asylgesetz und die Unzuständigkeit der belangten Behörde des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht keine Berechtigung zu.
§ 43 Abs. 3 NAG in der oben genannten Fassung lautet:
"(3) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§ 44a) oder auf begründeten Antrag (§ 44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine 'Niederlassungsbewilligung' zu erteilen, wenn
1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und
2. dies gemäß § 11 Abs. 3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist."
In der Revision wird zur Zulässigkeit vorgebracht, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Erteilung von Aufenthaltstiteln bei einem zehnjährigen Inlandsaufenthalt abgewichen. Zudem habe das Verwaltungsgericht keine Interessenabwägung durchgeführt, wobei die revisionswerbenden Parteien in diesem Zusammenhang insbesondere auf die vorgelegten Einstellungszusagen, die Erfüllung der Integrationsvereinbarung und den Schul- bzw. Kindergartenbesuch der Kinder verweisen.
Diesem Vorbringen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.
Die Erteilung der von den revisionswerbenden Parteien begehrten "Niederlassungsbewilligung" gemäß § 43 Abs. 3 NAG erfordert u.a., dass dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Februar 2015, Ra 2014/22/0025, mwN; siehe zur Bedeutung der Aufenthaltsdauer bei einem - wie vorliegend beim Erstrevisionswerber sowie der Zweit- und Drittrevisionswerberin der Fall - knapp unter zehn Jahre liegenden Inlandsaufenthalt die hg. Erkenntnisse vom 16. Dezember 2014, 2012/22/0169, und vom 9. September 2014, 2013/22/0247).
Das Verwaltungsgericht hat zwar dem Grunde nach auf diese Rechtsprechung Bezug genommen. Es ist auch nicht zu beanstanden, wenn es in diesem Zusammenhang die zwischenzeitige Ausreise der revisionswerbenden Parteien aus dem Bundesgebiet und den Umstand, dass der Inlandsaufenthalt auf zwei Asylanträgen beruhte, mitberücksichtigte. Allerdings beschränkte sich das Verwaltungsgericht bei der Prüfung, ob die Interessenabwägung trotz der langen Aufenthaltsdauer zulasten der revisionswerbenden Parteien auszufallen habe, im Wesentlichen auf die Integrationsmerkmale des Erstrevisionswerbers. Hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin wurde zwar auf die vorgelegte Einstellungszusage, die Deutschkenntnisse und die - vom Verwaltungsgericht offenbar als ungenügend angesehenen - sozialen Kontakte hingewiesen. Die im angefochtenen Erkenntnis nicht näher begründete und nur implizit zum Ausdruck kommende Auffassung, auch die Zweitrevisionswerberin habe die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genutzt, um sich zu integrieren, vermag der Verwaltungsgerichtshof ausgehend von den vorliegenden Umständen nicht zu teilen. Hinzu kommt, dass Ausführungen zu den - in der durchgeführten mündlichen Verhandlung auch nicht einvernommenen - dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien (sieht man von einem Hinweis auf eine Stellungnahme der Schule und eine Schulnachricht der Drittrevisionswerberin ab) überhaupt fehlen. Schon aus diesen Gründen erweist sich die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung als rechtswidrig (dies betrifft schon deshalb auch die Interessenabwägung für den Erstrevisionswerber, weil das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung die Abweisung der Anträge aller Angehörigen seiner Kernfamilie zugrunde gelegt hat).
Darüber hinaus ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Das Verwaltungsgericht bringt in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses zum Ausdruck, dass es integrationsbegründende Umstände aus der Zeit nach Erlassung des bei ihm bekämpften Bescheides (wenn überhaupt) nur eingeschränkt berücksichtigen könne, und es verweist an einer Stelle ausdrücklich auf das Fehlen einer maßgeblichen Sachverhaltsänderung iSd § 44b Abs. 1 NAG seit Erlassung der Ausweisung. § 44b Abs. 1 NAG regelt allerdings die Voraussetzungen für die Zurückweisung eines Antrags nach § 43 Abs. 3 NAG. Die BH hat die verfahrensgegenständlichen Anträge jedoch nicht gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückgewiesen, sondern sie im Lichte des Art. 8 EMRK inhaltlich geprüft und abgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Beschwerde abgewiesen und damit den bekämpften Bescheid bestätigt. Mit den dargestellten Ausführungen in der Begründung verkannte das Verwaltungsgericht die Rechtslage, weil bei der bei Abweisung des Antrages gebotenen Gesamtbeurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes gemäß Art. 8 EMRK alle relevanten Umstände seit der Einreise der revisionswerbenden Parteien (somit auch aus der Zeit vor Erlassung der Ausweisung und aus der Zeit nach Erlassung des bekämpften Bescheides) zu berücksichtigen sind (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2014, 2012/22/0148 bis 0150; siehe auch die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 21. Oktober 2014, Ro 2014/03/0076, wonach das Verwaltungsgericht in der Regel seine Entscheidung an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszurichten hat).
Das angefochtene Erkenntnis war somit - bereits aus den oben dargestellten Gründen - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die revisionswerbenden Parteien nur ein Erkenntnis angefochten haben. Nach § 53 Abs. 1 VwGG ist die Frage des Anspruchs auf Aufwandersatz so zu beurteilen, wie wenn nur der Erstrevisionswerber Revision eingebracht hätte.
Wien, am 26. März 2015
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