VwGH Ra 2015/21/0249

VwGHRa 2015/21/02494.8.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag.a Ortner, über die Revision von 1. O A, 2. N A, 3. A A, 4. N A, und 5. E A, alle in W und vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. November 2015, 1) W111 1261565-2/4E, 2) W111 1312378-2/4E,

3) W111 1315582-2/4E, 4) W111 1406380-2/4E und 5) W111 1417677- 2/4E, betreffend Abweisung von Anträgen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005, Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Georgien (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55;
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
BFA-VG 2014 §9;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2015210249.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Der 1980 geborene Erstrevisionswerber und die 1987 geborene Zweitrevisionswerberin führen eine Lebensgemeinschaft und sind die Eltern der jeweils minderjährigen Dritt- bis Fünftrevisionswerber, die 2007, 2009 und 2010 in Österreich zur Welt gekommen sind. Alle sind georgische Staatsangehörige.

2 Der Erstrevisionswerber reiste am 17. November 2004 unrechtmäßig nach Österreich ein und stellte am nächsten Tag (unter Angabe von falschen Personaldaten) einen Asylantrag. Dieser Antrag blieb ebenso wie die von der am 20. November 2006 eingereisten Zweitrevisionswerberin und von den beiden älteren Kindern gestellten Anträge auf Gewährung von internationalem Schutz erfolglos. Die die jeweiligen Rechtsmittel abweisenden Erkenntnisse des Asylgerichtshofes datieren vom 29. September 2009; unter einem ergingen gegen die genannten Revisionswerber auch Ausweisungen nach Georgien. Im Zuge des anschließenden Verfahrens zur Erlangung von sogenannten "Heimreisezertifikaten" bei der georgischen Botschaft gab der Erstrevisionswerber am 20. September 2010 schließlich seine richtigen Personaldaten bekannt. Ein für die mittlerweile geborene Fünftrevisionswerberin Anfang November 2010 gestellter Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz wurde im Instanzenzug mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes Anfang März 2011 samt Ausweisung nach Georgien abgewiesen.

3 Am 21. August 2014 brachten die Revisionswerber schließlich die verfahrensgegenständlichen Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln "aus Gründen des Art. 8 EMRK" nach § 55 AsylG 2005 ein.

4 Diese Anträge wurden mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 6. bzw. 7. Oktober 2015 abgewiesen. Unter einem wurden gegen die Revisionswerber (ohne Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise) gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Georgien zulässig sei.

5 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung der ausdrücklich beantragten Verhandlung - in Bezug auf alle Revisionswerber mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. November 2015 als unbegründet ab, gewährte jedoch gemäß § 55 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen. Außerdem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gegen sein Erkenntnis gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

7 Die Revision erweist sich - wie in ihrer Zulässigkeitsbegründung zutreffend aufgezeigt wird - deshalb als zulässig und berechtigt, weil das BVwG in Bezug auf die für die Abweisung der Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 55 AsylG 2005 gleichermaßen wie für die Erlassung der Rückkehrentscheidungen maßgebliche (zum diesbezüglichen inhaltlichen Gleichklang vgl. Punkt 3.3. und 3.4. des hg. Erkenntnisses vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, und darauf Bezug nehmend den hg. Beschluss vom 28. Jänner 2016, Ra 2016/21/0006) Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

8 Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus jüngerer Zeit etwa das schon genannte Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, mwN).

9 Bei dieser Interessenabwägung stellte das BVwG in den Vordergrund, dass der Aufenthalt der Revisionswerber in Österreich während der "ganzen - wenn auch bereits langjährigen" - Dauer "nur ein vorläufiger und unsicherer" gewesen sei. Diesem Aspekt kommt zwar unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG ("Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren") Bedeutung zu. Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings bereits wiederholt klargestellt, dies habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung (bzw. Rückkehrentscheidung) führen könne (vgl. etwa die Erkenntnisse vom 17. April 2013, Zl. 2013/22/0088, und vom 7. November 2012, Zl. 2012/18/0057, jeweils mwN).

10 Daran knüpft die ständige - auch schon zu § 9 BFA-VG (und den entsprechenden Vorgängerregelungen) ergangene - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes an, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa schon das Erkenntnis vom 30. August 2011, Zl. 2008/21/0605, mwN, und beispielsweise aus der letzten Zeit das Erkenntnis vom 14. April 2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032, mwH, sowie darauf Bezug nehmend das Erkenntnis vom 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165, Rz 23).

11 Darauf hat das BVwG - ungeachtet dessen, dass sich der Erstrevisionswerber im Entscheidungszeitpunkt bereits elf Jahre in Österreich aufhielt und schon im Verwaltungsverfahren, aber auch in seiner Beschwerde auf diese Judikaturlinie hingewiesen hatte - nicht Bedacht genommen. Vielmehr hat es in diesem Zusammenhang nur Fälle ins Treffen geführt, denen jeweils eine wesentlich kürzere Aufenthaltsdauer zugrunde lag (vgl. Seite 31/32 des angefochtenen Erkenntnisses).

12 Der Erstrevisionswerber verfügt nach den Feststellungen des BVwG über ausreichende Deutschkenntnisse (mit "befriedigend" bestandene Sprachprüfung auf dem Niveau B1), stellte Bemühungen an, durch unselbständige Tätigkeiten (wiederholte geringfügige Beschäftigungen bei der MA 48) zum Unterhalt beizutragen, half regelmäßig in der Flüchtlingsunterkunft durch Verrichtung verschiedener Tätigkeiten (Reinigungs-, Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten) und unterstützte bei Bedarf andere Bewohner. Demzufolge gestand das BVwG dem Erstrevisionswerber auch entsprechende Integrationsbemühungen zu, von einer "nachhaltigen und außergewöhnlichen Integration", welche die öffentlichen Interessen "ausnahmsweise" überwiegen würden, könne jedoch nicht gesprochen werden. Damit verkannte das BVwG jedoch, dass beim Erstrevisionswerber auf eine derart ausgeprägte Integration gemäß der unter Rz 10 zitierten Judikatur nicht abzustellen gewesen wäre. Maßgeblich wäre vielmehr gewesen, dass in Bezug auf den Erstrevisionswerber, dem laut Schreiben des AMS vom 15. Oktober 2015 auch eine bis 30. April 2016 gültige Beschäftigungsbewilligung erteilt wurde, nicht gesagt werden kann, er habe die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt, um sich sozial und beruflich zu integrieren.

13 Vor diesem Hintergrund hätte das BVwG somit am Maßstab der dargestellten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den privaten Interessen des - als unbescholten geltenden - Erstrevisionswerbers an einem weiteren Verbleib in Österreich den Vorrang geben müssen. Daran ändert - entgegen der vom BVwG auch vertretenen Meinung - nichts, dass der Erstrevisionswerber ursprünglich eine Aliasidentität benutzt hatte, erfolgte doch die diesbezügliche Richtigstellung bereits im Jahr 2010, was es ermöglicht hätte, den bestehenden Ausreisebefehl zwangsweise in Form einer Abschiebung durchzusetzen. Die unrichtigen Identitätsangaben waren somit für die besonders lange Aufenthaltsdauer letztlich nicht kausal (vgl. demgegenüber den dem Erkenntnis vom 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165, zugrundeliegenden Fall, in dem die Aufenthaltsverlängerung durch eine auch strafgerichtlich geahndete Urkundenfälschung ermöglicht wurde).

14 Das in den vorstehenden Ausführungen gewonnene Ergebnis schlägt auch auf die anderen Familienangehörigen durch. Fallbezogen ist dabei noch zu berücksichtigen, dass sich auch die Zweitrevisionswerberin im Entscheidungszeitpunkt bereits neun Jahre in Österreich aufhielt und nach den Feststellungen des BVwG nicht zu vernachlässigende Integrationsschritte (Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2, ebenfalls Verrichtung verschiedener Tätigkeiten in der Unterkunft und Unterstützung von Mitbewohnern, Absolvierung eines Babysitterinnen-Kurses) unternommen hat. Dazu kommt, dass alle drei Kinder in Österreich geboren wurden, hier ihr ganzes bisheriges Leben verbrachten und in Kindergarten und Volksschule gut integriert sind, was besonders bei der im Entscheidungszeitpunkt schon mehr als acht Jahre alten Drittrevisionswerberin ins Gewicht fällt.

15 Im Übrigen ist abschließend noch anzumerken, dass es in einem Fall wie dem vorliegenden vor einer Bestätigung der Entscheidungen des BFA angebracht gewesen wäre, die in der Beschwerde ausdrücklich beantragte Verhandlung zur Gewinnung eines unmittelbaren Eindrucks insbesondere von den Erstbis Drittrevisionswerbern durchzuführen (vgl. etwa nur Punkt 4.2. des schon genannten Erkenntnisses vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101, wonach der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK bzw. § 9 BFA-VG relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt).

16 Nach dem Gesagten ist das angefochtene Erkenntnis, soweit es die vom BFA vorgenommene Abweisung der Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005 und die erlassenen Rückkehrentscheidungen bestätigt, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, wobei die Aufhebung auch die auf die Erlassung der Rückkehrentscheidungen aufbauenden Absprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und nach § 55 FPG zu erfassen hat.

17 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

18 Der Zuspruch von Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere unter Bedachtnahme auf § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren auf Zuspruch von 30 % Streitgenossenzuschlag findet darin keine Deckung und war daher abzuweisen.

Wien, am 4. August 2016

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