VwGH 2000/20/0071

VwGH2000/20/00713.7.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Sulzbacher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der D in W, geboren 1982, vertreten durch Dr. Gernot Breitmeyer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Maria-Theresien-Straße 9, und durch Dr. Farid Rifaat, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 29. November 1999, Zl. 213.830/0-V/13/99, betreffend § 6 Z 1, 2 und 3 sowie § 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §32 Abs1;
AsylG 1997 §6 Z1;
AsylG 1997 §6 Z2;
AsylG 1997 §6;
AVG §66 Abs4;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwRallg;
AsylG 1997 §32 Abs1;
AsylG 1997 §6 Z1;
AsylG 1997 §6 Z2;
AsylG 1997 §6;
AVG §66 Abs4;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine am 19. Juli 1982 geborene nigerianische Staatsangehörige, reiste ihren Angaben zufolge am 22. August 1999 nach Österreich ein und stellte am nächsten Tag einen Asylantrag. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 30. September 1999 gab sie zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, ihr Vater sei Mitglied der "Ugboni-Sekte". Ein führendes Mitglied der "Ugboni" habe dem Vater mitgeteilt, dass er die (damals noch nicht siebzehnjährige) Beschwerdeführerin heiraten wolle, was sie abgelehnt habe. Auch die Mutter sei gegen diese Heirat gewesen. Ohne Wissen ihres Vaters habe die Beschwerdeführerin mit Hilfe ihres Onkels Nigeria verlassen. Für den Fall der Rückkehr befürchte sie, ihr Vater werde sie zwingen, diesen Mann, den die Beschwerdeführerin als "dick" beschrieb, gegen ihren Willen zu heiraten. Bei einer Weigerung werde ihr "Juju", eine Halluzinationen hervorrufende und willenlos machende Droge (ein Gemisch aus verschiedenen Substanzen) verabreicht. Mit "Juju" könne man aber sogar jemanden umbringen. "Juju" sei "etwas von der Ugboni Sekte". Unter dem Einfluss dieser Droge komme es bei Versammlungen der Sekte auch zu (von der Beschwerdeführerin näher beschriebenem) Kannibalismus. Für den Fall der Verheiratung mit diesem Mann befürchte sie auch, dass er sie zwingen werde, der "Ugboni-Sekte" gegen ihren Willen beizutreten. Auch ihre Mutter leide sehr darunter und habe Alpträume, weil sie sich (seinerzeit) geweigert habe, sich dieser Sekte anzuschließen. Die Beschwerdeführerin wolle auf gar keinen Fall ein Sektenmitglied heiraten. Auf Vorhalt, warum sie sich nicht an die Polizei oder andere staatlichen Stellen gewandt habe, erwiderte die Beschwerdeführerin, die Polizisten glaubten selber an "Juju", manche Polizisten seien auch Mitglied der "Ugboni".

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 5. Oktober 1999 gemäß § 6 Z 1 und 2 AsylG als offensichtlich unbegründet ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, insbesondere die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria sei zulässig. Dies begründete die Erstbehörde im Wesentlichen damit, dass aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie befürchte, ihr Vater wolle sie mit einem Mitglied der "Ugboni-Sekte" verheiraten, nicht erkennbar sei, dass ihr in Nigeria Verfolgung drohe. Es entspreche den Gepflogenheiten vieler Kulturen, dass Minderjährige mit Partnern verehelicht werden, ohne diese vorher zu kennen, weil es von den Erziehungsberechtigten so verfügt werde. Auch wenn dies nicht mit Zustimmung des Betroffenen geschehe, könne nicht die Rede von einer "Verfolgung im Herkunftsstaat" sein. Dies entspreche lediglich der Tradition afrikanischer Kulturen. Auch bei der Befürchtung der Beschwerdeführerin, eventuell der "Ugboni-Sekte" beitreten zu müssen, könne nicht von einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gesprochen werden. Im Übrigen sei es der Beschwerdeführerin aus von der Erstbehörde näher dargelegten Gründen zumutbar, sich an die nigerianischen Behörden um Hilfe zu wenden.

Die dagegen erhobene Berufung wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen - ohne Durchführung einer Verhandlung erlassenen - Bescheid vom 29. November 1999 gemäß § 6 Z 1, 2 und 3 AsylG ab und stellte neuerlich gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit insbesondere der Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria fest.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

§ 6 Z 1 bis 3 AsylG lautet:

"Offensichtlich unbegründete Asylanträge

§ 6. Asylanträge gemäß § 3 sind als offensichtlich unbegründet abzuweisen, wenn sie eindeutig jeder Grundlage entbehren. Dies ist der Fall, wenn ohne sonstigen Hinweis auf Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat

1. sich dem Vorbringen der Asylwerber offensichtlich nicht die Behauptung entnehmen lässt, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung droht oder

2. die behauptete Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat nach dem Vorbringen der Asylwerber offensichtlich nicht auf die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe zurückzuführen ist oder

3. das Vorbringen der Asylwerber zu einer Bedrohungssituation offensichtlich den Tatsachen nicht entspricht oder

4. ..."

1. Zum von der belangten Behörde primär herangezogenen § 6 Z 3 AsylG:

Die Erstbehörde hat die Abweisung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet nicht auf diese Bestimmung gestützt, sondern unter Zugrundelegung des Vorbringens der Beschwerdeführerin nur mit dem Vorliegen der Voraussetzungen nach Z 1 und Z 2 des § 6 AsylG begründet. Bereits an dieser Stelle sei daher erwähnt, dass die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid, soweit auf den erstinstanzlichen Bescheid und auf "nachvollziehbare, von der Erstbehörde detailliert herausgearbeitete Indizien für die offensichtliche Unglaubwürdigkeit des Vorbringens" der Beschwerdeführerin verwiesen wird, auch nicht schlüssig begründet ist. Es ist zwar zulässig, dass die Berufungsbehörde ihre Entscheidung (auch) auf andere Tatbestände des § 6 AsylG als die Erstbehörde stützt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 21. Dezember 2000, Zl. 2000/01/0320). Wenn die Berufungsbehörde allerdings erstmals und im Gegensatz zur Erstbehörde annimmt, das Vorbringen zu einer Bedrohungssituation entspreche (offensichtlich) nicht den Tatsachen, so hätte sie nicht davon ausgehen dürfen, der Sachverhalt sei im Sinne des Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG "geklärt", und sie hätte daher nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. das Erkenntnis vom 11. November 1998, Zl.98/01/0308, und die daran anschließende Judikatur) - auch in einem abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 Abs. 1 (hier iVm § 6) AsylG - eine mündliche Berufungsverhandlung durchführen müssen. Ohne Durchführung einer solchen Verhandlung konnte die belangte Behörde somit die Abweisung des Asylbegehrens mit dem Vorliegen der Voraussetzungen nach § 6 Z 3 AsylG nicht mängelfrei begründen, worauf die Beschwerde zutreffend hinweist. Es bedarf aber keiner weiteren Erörterung, dass die belangte Behörde bei einer Befragung der Beschwerdeführerin, die im Übrigen in der Berufung ihre Vernehmung ausdrücklich beantragt hatte, unter Verwertung des persönlichen Eindrucks zu einer anderen Beweiswürdigung hätte kommen können.

2. Zur Hilfsbegründung nach § 6 Z 1 AsylG:

Bei der Prüfung, ob ein unter diese Bestimmung zu subsumierender Fall vorliegt, ist von den Angaben des Asylwerbers auszugehen und auf deren Grundlage zu beurteilen, ob sich diesem Vorbringen mit der erforderlichen Eindeutigkeit keine Behauptungen im Sinne einer im Herkunftsstaat drohenden Verfolgung entnehmen lassen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2000/20/0326, mit dem Hinweis auf das Erkenntnis vom 31. Jänner 2002, Zl. 99/20/0531). Auf die Frage der Glaubwürdigkeit der Angaben im Asylverfahren kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Unter "Verfolgung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Die Anwendung des § 6 Z 1 AsylG setzt im Sinne dieses Verständnisses des Verfolgungsbegriffes voraus, dass dem Vorbringen des Asylwerbers offensichtlich keine Behauptungen zu einer ihm drohenden Verfolgung, also eines ungerechtfertigten Eingriffes der genannten Art, zu entnehmen sind. Im Hinblick auf das "Offensichtlichkeitskalkül" kann dabei auch die unzureichende Intensität des drohenden Eingriffes nur zur Subsumtion des Vorbringens unter diesen Tatbestand führen, wenn der Fall in dieser Hinsicht völlig eindeutig ist und keine Abgrenzungsfragen aufwirft (vgl. das zuletzt erwähnte Erkenntnis vom 31. Jänner 2002, mwN).

Die von der belangten Behörde in diesem Zusammenhang - ähnlich jener der Erstbehörde - vorgenommene Einschätzung, der von der Beschwerdeführerin zum Ausdruck gebrachte Fluchtgrund stelle sich "als Überschreitung allenfalls in Nigeria herrschender sozialer Normen dar bzw. den Willen der Antragstellerin, diesen sozialen Normen oder Traditionen nicht zu entsprechen", wird dem Vorbringen der Beschwerdeführerin in seiner Gesamtheit nicht gerecht. Die Beschwerdeführerin hat nämlich nicht nur vorgebracht, ihr drohe gegen ihren Willen die "Zwangsverheiratung", was schon für sich genommen einen schwerwiegenden Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht darstellte (vgl. dazu etwa Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, § 75 f), sondern sie hat vor allem betont, dass sie sich dieser Heirat widersetzen würde, was zur Folge hätte, dass man sie unter dem Einfluss von Drogen gefügig machen und bei entsprechender Dosierung mit dieser Droge auch töten könnte. Mit der für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 6 Z 1 AsylG geforderten Eindeutigkeit kann aber nicht gesagt werden, bei diesen Maßnahmen handle es sich nicht um "Verfolgung" im oben dargestellten Sinn. Das hat die belangte Behörde verkannt.

3. Zur Eventualbegründung nach § 6 Z 2 AsylG:

Auch bei der Prüfung, ob ein Fall des § 6 Z 2 AsylG vorliegt, ist - wie bei der Z 1 leg. cit. - von den Behauptungen des Asylwerbers auszugehen und auf deren Grundlage zu beurteilen, ob sich diesem Vorbringen offensichtlich nicht entnehmen lässt, dass die geltend gemachte Verfolgung auf einen der in Art. 1 Abschnitt 1 Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) "zurückzuführen ist" (vgl. zuletzt das Erkenntnis vom 12. Juni 2003, Zl. 2000/20/0100).

Die Anwendung dieser Gesetzesstelle begründete die belangte Behörde damit, dass eine Verbindung zu einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Tatbestände nicht habe festgestellt werden können. Insbesondere sei nicht feststellbar, dass die "Situation" der Beschwerdeführerin "motiviert aus der Tatsache entstanden wäre, dass sie Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und sohin einem erhöhten Gefährdungsrisiko ausgesetzt wäre".

Die belangte Behörde übersieht bei dieser Argumentation, dass bei einer behaupteten Verfolgung wegen des Geschlechtes nicht im Sinne des § 6 Z 2 AsylG gesagt werden kann, sie sei "offensichtlich" nicht auf die in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe zurückzuführen (vgl. das Erkenntnis vom 31. Jänner 2002, Zl. 99/20/0497, das unter Hinweis auf das Erkenntnis vom 31. Mai 2001, Zl. 2000/20/0496, und auf weitere Quellen auch im vorliegenden Zusammenhang relevante Ausführungen unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe enthält; vgl. auch das einen ähnlichen Sachverhalt wie hier - die Folgen für die Weigerung, eine von der Familie traditionellerweise verlangte "Zwangsheirat" einzugehen - betreffende Erkenntnis vom 15. Mai 2003, Zl. 2001/01/0503, und das Erkenntnis vom 9. Juli 2002, Zl. 2001/01/0281, die sich ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des § 6 Z 2 AsylG mit geschlechtsspezifischer Verfolgung von Frauen auseinandersetzen).

Im Übrigen scheint unter Bedachtnahme auf die Befürchtung der Beschwerdeführerin, sie sollte auch gezwungen werden, Mitglied der "Ugboni-Sekte" zu werden, nicht ausgeschlossen, dass die behauptete Verfolgungsgefahr (auch) auf der der Beschwerdeführerin (zumindest) unterstellten Ablehnung der religiösen Überzeugung dieser Sekte beruht (vgl. zahlreiche die "Ogboni-Geheimgesellschaft" in Nigeria betreffende, unter dem Gesichtspunkt des § 6 Z 2 AsylG ergangene Erkenntnisse, beispielsweise zuletzt etwa das bereits erwähnte Erkenntnis vom 12. Juni 2003, Zl. 2000/20/0100, oder das eine andere nigerianische Sekte betreffende, ebenfalls schon zitierte Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2000/20/0326, jeweils mit weiteren Nachweisen). Damit ist auch das - von der belangten Behörde an anderer Stelle herangezogenen - Argument entkräftet, "derartige Übergriffe - mögen sie auch religiös motiviert sein - (sind) nicht anders zu beurteilen als solche gewöhnlicher Krimineller bzw. krimineller Organisationen".

4. Soweit die belangte Behörde schließlich - ohne Zuordnung zu einem bestimmten Tatbestand des § 6 AsylG - von einer staatlichen Schutzgewährung gegenüber der von der Beschwerdeführerin behaupteten, von nicht staatlichen Stellen (Privaten) ausgehenden Verfolgungsgefahr ausgeht, ist dies nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht geeignet, das Vorliegen der Voraussetzungen der genannten Bestimmung zu begründen (vgl. etwa das bereits mehrfach erwähnte Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2000/20/0326).

5. Zum Ausspruch nach § 8 AsylG:

Schließlich belastete die belangte Behörde auch diesen Spruchteil - für sich genommen - mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Die in der diesbezüglichen Begründung vertretene Ansicht der belangten Behörde, "die Glaubhaftmachung einer konkreten Gefährdungssituation" setze "das Feststehen der Identität des Fremden voraus", widerspricht nämlich der in der Vergangenheit bereits mehrfach geäußerten Auffassung des Gerichtshofes (vgl. etwa das Erkenntnis vom 12. Dezember 2002, Zl. 99/20/0609, mwN).

6. Der angefochtene Bescheid war daher zur Gänze wegen der (prävalierenden) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001. Wien, am 3. Juli 2003

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