VwGH 2012/21/0065

VwGH2012/21/006516.11.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark (nunmehr Landespolizeidirektion Steiermark) gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark vom 30. Jänner 2012, Zl. UVS 26.12-25/2011-13, betreffend Feststellung der vorübergehenden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres; mitbeteiligte Partei: G, in G), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid behob die belangte Behörde den Bescheid der Bundespolizeidirektion Graz vom 1. Februar 2011, mit dem gegen den Mitbeteiligten ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gemäß § 60 Abs. 1 und Abs. 2 Z 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG in der Fassung vor dem FrÄG 2011, BGBl. I Nr. 38, erlassen worden war, und sprach aus, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung "vorübergehend bis zum 07.03.2012" unzulässig sei.

Der 1989 geborene Mitbeteiligte ist ein georgischer Staatsangehöriger, der am 19. Juni 2002 gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester illegal in das Bundesgebiet eingereist ist. Sein am Tag nach der Einreise gestellter Asylantrag wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 22. April 2010 abgewiesen, und es wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Georgien für zulässig erklärt.

Der Erlassung des erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotes lagen folgende Verurteilungen zugrunde:

1. vom 11. August 2009 zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Monat wegen leichter Körperverletzung;

2. vom 3. November 2010 zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten (davon 14 Monate bedingt) wegen (teils versuchten) gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch, Urkundenunterdrückung und Entfremdung unbarer Zahlungsmittel; und

3. vom 21. Dezember 2010 nach §§ 31 und 40 StGB wegen versuchten Diebstahls (ohne Ausspruch einer Zusatzstrafe).

Die belangte Behörde stellte im angefochtenen Bescheid zwei weitere Verurteilungen fest, nämlich vom 7. März 2011 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von einem Monat wegen versuchten Diebstahls und vom 8. Juli 2011 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten wegen versuchten Einbruchsdiebstahls (Tatzeitpunkt: 2. Juni 2011).

Die belangte Behörde stellte weiters fest, dass der Beschwerdeführer zweimal wegen "depressiver Einbrüche" in stationärer Behandlung gewesen sei und weiterhin alle zwei Wochen ambulant betreut werde; er sei drogenabhängig und nehme an einem Drogenersatzprogramm teil. Er habe gute Deutschkenntnisse und wolle seine Automechanikerlehre, die er mangels Arbeitserlaubnis nach zwei Wochen abgebrochen habe, fortsetzen. Seine in Georgien lebenden Cousins und Cousinen seien ihm nahezu unbekannt. Abgesehen von den Haftzeiten habe er in Österreich immer gemeinsam mit seinen Eltern gewohnt, die für ihn in ihrer nunmehrigen Wohnung ein Zimmer reserviert hätten. Seine Familienmitglieder verfügten über bis zum 7. März 2012 befristete Niederlassungsbewilligungen und gingen legalen Beschäftigungen nach (sein Vater als Stapelfahrer, seine Mutter als Putzfrau und seine Schwester als Zahnarztassistentin in Ausbildung).

In ihrer rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde aus, dass im Beschwerdefall auf Grund der Verurteilungen des Beschwerdeführers der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG (in der auf Grund des Bescheiderlassungszeitpunktes anwendbaren Fassung des FrÄG 2011) erfüllt sei. Sie bejahte auch das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Sinn dieser Bestimmung. Zwar habe er die Mehrzahl der strafbaren Handlungen vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen, und es sei in zwei Fällen beim Versuch geblieben; da sich sämtliche Straftaten in den Jahren 2009 bis 2011 ereignet hätten und der Beschwerdeführer noch eine Haftstrafe verbüße, weswegen sein Wohlverhalten über einen längeren Zeitraum noch nicht bewiesen werden habe können, gehe von ihm nach wie vor eine beträchtliche Gefahr aus.

In die Interessenabwägung gemäß § 61 FPG bezog die belangte Behörde ein, dass der Beschwerdeführer im Alter von zwölf Jahren nach Österreich eingereist und bis zum 27. April 2010 zum Aufenthalt berechtigt gewesen sei. Da er ledig sei und bisher - vor Verbüßung seiner Haftstrafen - stets gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester gewohnt habe, habe mit diesen ein dem Schutz des Art. 8 EMRK unterliegendes Familienleben bestanden. Er habe in Österreich nicht nur den Großteil seiner Schulbildung erhalten, sondern die prägende Zeit seiner Jugend und Adoleszenz verbracht. Auf Grund seiner Drogenabhängigkeit und der gerichtlichen Straftaten, die sich mit einer Ausnahme als Angriffe gegen fremdes Eigentum darstellten, habe er seine Integration allerdings selber "konterkariert". Er spreche zwar Georgisch und unterhalte sich mit seinen Eltern in dieser Sprache, habe aber seine Heimat seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen und könne sich an seine dort lebenden Cousins und Cousinen kaum erinnern. Nachdem die erstinstanzliche Asylentscheidung wenige Monate nach Antragstellung ergangen sei, habe sich das Asylverfahren in zweiter Instanz, ohne dass den Beschwerdeführer daran ein Verschulden treffe, über rund acht Jahre erstreckt. Sein Familienleben sei nicht nur lange vor der erstinstanzlichen Entscheidung im Asylverfahren entstanden, sondern vor allem dadurch geprägt, dass die weiteren Familienmitglieder mittlerweile bis 7. März 2012 befristete "Aufenthaltsbewilligungen" besäßen. Während nur die gerichtlichen Vorstrafen für das öffentliche Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit sprächen, könne der Beschwerdeführer bei einer Gesamtbetrachtung sämtliche anderen Kriterien des § 61 Abs. 2 FPG für sich ins Treffen führen, darunter vor allem den Schutz seines Familienlebens, das vor seiner Haftstrafe tatsächlich bestanden habe und nach der Haftentlassung fortgesetzt werde. Er dürfe daher vorübergehend, solange seine Familienmitglieder eine Niederlassungsbewilligung hätten, nicht mit einer Rückkehrentscheidung belegt werden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende Amtsbeschwerde. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die beschwerdeführende Sicherheitsdirektion wendet sich gegen die von der belangten Behörde vorgenommene Interessenabwägung. Sie habe die öffentlichen Interessen gegenüber den privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers völlig falsch gewichtet, zumal der Beschwerdeführer volljährig sei und es sich um einen Wiederholungstäter im Bereich der Eigentumskriminalität handle, den weder eine einschlägige Verurteilung noch die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes davon abgehalten hätten, neuerlich straffällig zu werden. Die für die Integration maßgebliche soziale Komponente sei durch die vom Beschwerdeführer begangenen strafbaren Handlungen erheblich gemindert worden. Auch seine Reintegration in Georgien sei ihm zumutbar, weil es sich um einen "arbeitsfähigen jungen Mann" handle, der im Herkunftsstaat noch Verwandte als soziale Anknüpfungspunkte habe.

§ 61 FPG in der Fassung des FrÄG 2011 lautet wie folgt:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 61. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

  1. 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
  2. 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
  3. 4. der Grad der Integration;
  4. 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;
  5. 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
  6. 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

    8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

    9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

(4) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung deren Unzulässigkeit gemäß Abs. 3 festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung nach Abs. 1 vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung rechtfertigen würde."

Die belangte Behörde ist im Beschwerdefall zum Ergebnis gekommen, dass die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers das öffentliche Interesse an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung überwogen hätten. Während nur die gerichtlichen Vorstrafen für das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit sprächen, könne der Beschwerdeführer bei einer Gesamtbetrachtung "sämtliche anderen Kriterien des § 61 Abs. 2 FPG für sich ins Treffen führen".

Diese Beurteilung ist durch die Feststellungen der belangten Behörde nicht gedeckt: Der Beschwerdeführer hat sich zwar zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung seit neuneinhalb Jahren in Österreich aufgehalten und ist schon im Alter von zwölf Jahren eingereist. Maßgebliche Integrationsschritte - abgesehen vom Erlernen der deutschen Sprache - hat die belangte Behörde aber nicht festgestellt; so war der Beschwerdeführer abgesehen von einer zweiwöchigen Lehrzeit nie berufstätig und hat nach seinem Hauptschulabschluss auch keine weitere Ausbildung absolviert. Dem stehen mehrfache, im Zeitraum von 2009 bis 2011 - auch noch nach Erlassung des erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotes - begangene Straftaten sowie der zuletzt unrechtmäßige Aufenthalt des Beschwerdeführers gegenüber. Auch hat der Beschwerdeführer nach den Feststellungen der belangten Behörde zwar nur geringe Bindungen zu seinem Heimatstaat Georgien, er beherrscht aber nach wie vor die Landessprache und hat dort - mag er sich auch an seine Verwandten "kaum mehr erinnern" können - familiäre Anknüpfungspunkte. Was seine rechtmäßig in Österreich aufhältigen Angehörigen - Eltern und Schwester - betrifft, so hat die belangte Behörde nicht genügend darauf Bedacht genommen, dass der Beschwerdeführer bereits volljährig ist, sodass - anders als bei Beziehungen zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern - nicht ipso iure ein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK vorliegt, sondern anhand der konkreten Umstände zu prüfen ist, ob eine hinreichend stark ausgeprägte persönliche Nahebeziehung vorhanden ist (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423, und vom 24. März 2011, Zl. 2008/23/1134, jeweils mwN). Selbst wenn aber eine (vorübergehende) Trennung des Beschwerdeführers von seinen Angehörigen trotz der von ihm verübten Straftaten und der weiterhin von ihm ausgehenden großen Gefahr aus besonderen Gründen nicht zulässig sein sollte, hätte die belangte Behörde in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob nicht den Angehörigen eine Rückkehr nach Georgien gemeinsam mit dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar wäre, um auf diese Weise das Familienleben aufrechtzuerhalten (vgl. zur Bedeutung dieses Kriteriums für die Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung etwa das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2011, Zl. 2009/22/0183, mwN).

Sollte eine alle diese Aspekte einbeziehende Interessenabwägung zum Ergebnis führen, dass die privaten oder familiären Interessen des Beschwerdeführers das öffentliche Interesse an der Erlassung der Rückkehrentscheidung überwiegen, so entsprächen die Behebung des erstinstanzlichen (im Beschwerdefall nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des FrÄG 2011 erlassenen) Aufenthaltsverbotes und der Ausspruch der Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung der Rechtslage (vgl. dazu grundlegend das hg. Erkenntnis vom 25. Oktober 2012, Zl. 2012/21/0030, auf dessen Entscheidungsgründe des Näheren gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird). Für die Frage, ob die Erlassung der Rückkehrentscheidung nur vorübergehend oder auf Dauer unzulässig ist, kommt es darauf an, ob die ansonsten drohende Verletzung des Privat- oder Familienlebens des Fremden auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Es wäre daher im Beschwerdefall - bei Bejahung eines unzulässigen Eingriffs in das Familienleben durch die Rückkehrentscheidung - zu prüfen, ob anzunehmen ist, dass sich die Angehörigen des Beschwerdeführers weiterhin auf Dauer rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten werden oder ob ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. Das diesbezüglich erfolgte Abstellen der belangten Behörde allein auf die Befristung der Aufenthaltstitel greift zu kurz (vgl. auch dazu das Erkenntnis vom 25. Oktober 2012, Punkt 3.4. der Entscheidungsgründe).

Da die belangte Behörde nach dem Gesagtem die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am 16. November 2012

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte