BVwG L508 2291158-1

BVwGL508 2291158-13.9.2024

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L508.2291158.1.00

 

Spruch:

 

L508 2291158-1/8E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.02.2024, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

 

A)

 

Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

 

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein Staatsangehöriger aus der Türkei und der kurdischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Religionsgemeinschaft zugehörig, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 11.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensakts [im Folgenden: AS] 6).

2. Im Rahmen der Erstbefragung nach dem AsylG durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts am folgenden Tag (AS 5 - 11) gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, dass er krank sei. Er würde auf seinem linken Auge fast nichts sehen, weshalb er sich für die Bundesrepublik Deutschland entschieden hätte, da es dort gute Ärzte gebe. Bei einer Rückkehr in die Türkei hätte er nichts zu befürchten.

3. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nachfolgend: BFA) am 17.04.2023 (AS 93 - 103) gab der BF sodann - zu seinen Ausreisegründen befragt - an, dass er im Jahr 2015 von zwei Angehörigen der Mafia und der Polizei geschlagen worden sei. Er hätte nachgefragt, warum sie dies getan haben, worauf sie gemeint hätten, dass es ein Unfall gewesen wäre. Sie hätten die Beweise und die Aufnahmen der Kamera zurückgehalten. Die Behörde sei bei ihm zu Hause gewesen und habe man ihm eine Geldsumme angeboten, um ihn zur Zurückziehung der Anzeige zu bewegen. Er habe dies nicht getan und sei es zu einem Gerichtsverfahren gekommen. Nach dem Vorfall sei er für ca. einen Monat bewusstlos gewesen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sei er nach Hause zurückgekehrt. Die Täter hätten ihn bedroht und ihm gesagt, dass sie ihn töten würden falls er vor Gericht ziehen würde. Sie meinten, es wäre ein Unfall gewesen. Sie seien bewaffnet zu ihm nach Hause gekommen und hätten immer wieder unter Drohung verlangt, die Anzeige zurückzuziehen. Er hätte dann die Türkei verlassen, damit sie seinen Eltern nichts antun, da sie gemeint hätten, dass sie ihn bzw. jemand aus seiner Familie töten wollen.

Weitere Angaben zu seinen angeblichen ausreisekausalen Problemen machte der Beschwerdeführer nach entsprechenden Fragen und Vorhalten durch die Leiterin der Amtshandlung.

Abschließend wurde dem BF angeboten, in die von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationsquellen zur Türkei Einsicht zu nehmen oder diese ausgehändigt zu erhalten und im Anschluss eine (schriftliche) Stellungnahme hierzu abzugeben. Der BF verzichtete auf diese Möglichkeit (AS 102).

Bereits vor der Einvernahme vor dem BFA brachte der BF mehrere türkische Dokumente zur Bescheinigung seines Vorbringens in Kopie in Vorlage (Übersetzung: AS 45 - 91).

4. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 07.02.2024 (AS 109 ff) wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Dem Fluchtvorbringen wurde - abgesehen von der im Jahr 2015 im Zuge einer Schießerei erlittenen Verletzung am linken Auge und diesbezüglich geführter Gerichtsverfahren - die Glaubwürdigkeit versagt (AS 194 ff). In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wurde, weshalb gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig sei. Ferner wurde erläutert, weshalb die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

 

5. Gegen den oa. Bescheid des BFA erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit Schriftsatz vom 13.03.2024 (AS 231 ff) in vollem Umfang wegen mangelhaften Ermittlungsverfahrens, inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den BF günstigerer Bescheid erzielt worden wäre, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Hinsichtlich des genauen Inhalts der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.

5.1. Zunächst wurde - nach kurzer Wiedergabe des Sachverhalts und des bisherigen Verfahrensgangs - ergänzend vorgebracht, dass der BF am 11.01.2024 in diesem Fall erneut eine Beschwerde gemacht habe, da er der Meinung sei, dass der damalige Richter Schmiergeld von den Tätern angenommen habe.

5.2. In der Folge wurde moniert, dass die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken habe, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrags geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrags notwendig erscheinen.

Den Anforderungen an ein faires Verfahren sei die Behörde im vorliegenden Fall nicht gerecht geworden. Das Ermittlungsverfahren und die Befragung des BF seien sehr oberflächlich gewesen und hätten sich auf wenige Punkte beschränkt. Die Behörde habe sich nur unzureichend mit der Situation des BF im Fall der Rückkehr in die Türkei befasst. So seien während der Einvernahme wichtige Punkte unerwähnt geblieben, da der BF nur sehr oberflächlich befragt worden sei. Da das Ermittlungsverfahren an sich mangelhaft gewesen sei, habe dies zu einer fehlerhaften Entscheidung geführt. Der BF sei nicht ausreichend zur Situation in der Türkei befragt worden. Dies stelle einen groben Mangel dar, zumal die Behörde eine Rückkehrentscheidung in die Türkei erlassen habe und sich somit näher mit der Situation vor Ort befassen hätte müssen. Im Verfahren vor dem BFA sei damit der Grundsatz des Parteiengehörs verletzt worden. Ferner habe die belangte Behörde ihre eigenen Länderfeststellungen dem Ergebnis der Prüfung des Sachverhalts nicht zugrunde gelegt bzw. ausreichend berücksichtigt und dadurch das Verfahren mit einem wesentlichen Mangel belastet. Außerdem würden sich diese kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen und seien dadurch als Begründung zur Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz unzureichend. Ein Vorbringen, wie jenes des BF, das eng mit politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen im Herkunftstsaat in Verbindung stehe, könne nur auf der Basis eines entsprechenden Fachwissens unter Heranziehung aktueller Berichte zur Ländersituation beurteilt werden. Insoweit wurde in diesem Zusammenhang eine Länderinformationsquelle zur Korruption in der Türkei (AS 235) zitiert.

Das BFA habe zudem keinerlei Ermittlungen dahingehend getätigt, ob der BF aufgrund seiner Asylantragstellung im Ausland zusätzlichen Bedrohungen ausgesetzt wäre. Dies wäre angesichts der derzeitigen Lage in der Türkei jedenfalls indiziert gewesen. Das Ermittlungsverfahren sei bezüglich der Rückkehr in die Türkei sehr mangelhaft. So sei nicht berücksichtigt worden, dass es in der Türkei tatsächlich keine Rechtssicherheit gebe und Grundrechte nicht beachtet werden würden. Hätte das BFA die in der Beschwerde angeführten Berichte berücksichtigt und die persönliche Situation des BF ausreichend erhoben, hätte es zum Schluss kommen müssen, dass dem BF im Fall einer Rückkehr in die Türkei asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner politischen Gesinnung drohe. Weiters hätte es zur Feststellung gelangen müssen, dass dem BF aufgrund seiner individuellen Situation und der allgemeinen Sicherheitslage jedenfalls eine Verletzung in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK drohe.

5.3. Was die Situation im Fall der Rückkehr betrifft, so führe die Behörde nur unzureichende Feststellungen an, die die Entscheidung nicht nachvollziehbar machen würden. Es seien keine ausreichenden diesbezüglichen Ermittlungen durchgeführt worden.

5.4. Ferner wurde ausgeführt, dass die belangte Behörde den Antrag des BF abgewiesen habe, weil sie diesen als nicht asylrelevant und unglaubwürdig erachte. Diese Feststellung basiere auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung und einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung und verletze § 60 AVG. Der BF halte seine Aussagen zu seinen Fluchtgründen aufrecht. Der BF habe entgegen der Ansicht des BFA sein Vorbringen detailliert und lebensnah gestaltet und über die drohende Verfolgung und über seine Erlebnisse gesprochen. Entgegen der ständigen Rechtsprechung des VwGH sei ein Abgleich mit den einschlägigen Länderberichten des BFA der Beweiswürdigung jedoch nicht zu entnehmen. Dementsprechend habe das BFA auch keine Aussagen über die Plausibilität seines Vorbringens treffen können, was sich zum Nachteil des BF ausgewirkt habe. Hätte die belangte Behörde das Vorbringen des BF entsprechend gewürdigt und hätte sie insbesondere einen Abgleich mit aktuellen, relevanten Länderberichten vorgenommen, wäre sie insbesondere zu dem Schluss gekommen, dass die geschilderte Verfolgungsgefahr objektiv nachvollziehbar und GFK-relevant sei.

Die Behörde sei der Meinung, dass der BF in der Türkei kein Gerichtsverfahren mehr offen habe. Laut seinem e-Devlet-Auszug sei noch am 11.01.2024 ein Rechtsmittel ergangen, da laut dem BF kein faires Verfahren garantiert worden sei. Der türkische Anwalt des BF habe ihm ein Konvolut an türkischen Gerichtsdokumenten (unter anderem welche aus dem Jahr 2024 und vom 18.12.2023) vorgelegt, welche der Beschwerde angeschlossen seien (AS 249 - 273). Weiters sei es für die belangte Behörde unglaubwürdig, dass der BF schon im Jahr 2017 bedroht worden sei, er jedoch erst 2022 ausgereist sei. Dem sei entgegenzusetzen, dass die Bedrohungen wider ihn und seine Familie intensiver geworden seien, als er im Jahr 2019 eine Berufung gegen das Strafverfahren gemacht habe. Ihm sei mitgeteilt worden, er solle das Land verlassen.

5.5. Zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit wurde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides festgehalten, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative für den BF nicht bestünde. Somit wäre dem BF internationaler Schutz gemäß § 3 AsylG zu gewähren gewesen. Die angeführten Verfahrensfehler seitens des BFA und die mangelhafte Rechtsanwendung hätten allerdings zu einer Nichtgewährung jenes internationalen Schutzes geführt.

Hinsichtlich des Eventualantrags auf Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sei anzuführen, dass dem BF im Falle der Abschiebung jedenfalls eine unmenschliche bzw. erniedrigende Strafe oder Behandlung aufgrund seiner Volksgruppe drohe. Eine Verletzung des Art. 2 und 3 EMRK könnte im gegebenen Fall der Abschiebung in die Türkei demnach nicht ausgeschlossen werden und mache jene somit unzulässig. Entgegen der Ansicht der Behörde könne bei einer Rückkehr in die Türkei, wie aus den angeführten Länderberichten zu entnehmen sei, eine Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK sowie der Zusatzprotokolle Nr. 6 und 13 nicht ausgeschlossen werden. Die Behörde stütze ihre rechtliche Beurteilung auf allgemein gehaltene und teilweise unvollständige Länderberichte. Um die Frage einer möglichen Verletzung des Non-Refoulements-Gebots abschließend zu prüfen, hätte die Behörde aktuellere Länderberichte heranziehen und sich konkret mit dem Fall des BF beschäftigen müssen. Zu beachten wäre die individuelle Situation des BF. Er sei auf einem Auge blind und habe seit dem Angriff in der Türkei keiner Tätigkeit mehr nachgehen können. Die Unterstützung durch seine Familie sei nicht gesichert. Es sei notorisch, dass die Sicherheitslage in der Türkei sehr schlecht sei. Es könne demnach nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer Rückkehr die Gefahr einer Verletzung der Art. 2 und 2 EMRK bestehe.

Was die Spruchpunkte IV. und V. betrifft, so habe sich der BF seit seiner Einreise in Österreich versucht zu integrieren. Der BF sei unbescholten, habe sich kooperativ verhalten und in der kurzen Zeit in Österreich bereits ein sicheres, ihn unterstützendes Umfeld aufgebaut. Der BF sei gewillt, trotz seiner Beeinträchtigung aus eigenen Kräften für seinen Lebensunterhalt aufzukommen und wolle in Zukunft einer Arbeit nachgehen. Der Aufenthalt des BF in Österreich gefährde weder die öffentliche Ruhe oder Ordnung, noch die nationale Sicherheit oder das wirtschaftliche Wohl. Der Eingriff in das schützenswerte Privat- und Familienleben sei unverhältnismäßig und daher auf Dauer unzulässig.

5.6. Gemäß Artikel 47 Abs. 2 GRC habe jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt werde. Gem. § 21 Abs. 7 BFA-VG könne eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergebe, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspreche. Der VwGH habe im Zuge der Auslegung der Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ die folgenden Kriterien erarbeitet. Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde müsse die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde dürfe kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht bleiben könne wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstoße.

In der gegenständlichen Beschwerde sei die Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens aufgezeigt worden. Da das BVwG seiner Entscheidung aktuelle Länderberichte zugrundezulegen habe und die Feststellungen des Bundesamts zumindest insofern zu ergänzen haben werde, sei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung schon allein aus diesem Grund erforderlich. Es sei der Beweiswürdigung des Bundesamts zudem substantiiert entgegengetreten worden, weshalb eine gerichtliche Überprüfung im Rahmen einer Beschwerdeverhandlung notwendig sei. Zweck einer Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sei darüber hinaus nicht nur die Klärung des Sachverhalts und die Einräumung von Parteiengehör zu diesem, sondern auch das Rechtsgespräch und die Erörterung der Rechtsfragen. Dies gelte insbesondere dann, wenn sich die Rechtslage während des Verfahrens in einem entscheidungswesentlichen Punkt ändere, sich daraus eine Rechtsfrage ergebe, die im bisherigen Verfahren noch nicht erörtert worden sei und zu der der Beschwerdeführer noch keine Gelegenheit zur Äußerung gehabt habe.

5.7. Abschließend wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge

* eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen;

* die angefochtene Entscheidung zur Gänze beheben und dem BF den Status eines Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 AsylG zuerkennen;

* in eventu die angefochtene Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit zur Gänze beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverweisen;

* für den Fall der Abweisung des obigen Beschwerdeantrags gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG feststellen, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Türkei zukomme;

* in eventu feststellen, dass die gemäß § 52 FPG erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei;

* sowie in eventu die ordentliche Revision zulassen.

5.8. Mit diesem Rechtsmittel wurde kein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet, welches geeignet wäre, zu einer anderslautenden Entscheidung zu gelangen.

6. Die mit der Beschwerde in Kopie vorgelegten türkischen Dokumente (AS 249 - 273) wurden seitens des Bundesverwaltungsgerichts amtswegig einer Übersetzung zugeführt (OZ 6).

7. Beweis wurde erhoben durch die Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des BFA unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des Bescheidinhalts sowie des Inhalts der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Verfahrensbestimmungen

1.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

 

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

 

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

 

1.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

 

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

 

§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

 

Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.

 

1.3. Prüfungsumfang

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

 

Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

 

Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

 

Gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

 

2. Zur Entscheidungsbegründung:

Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes.

 

2.1. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens gelangt das BVwG nach Maßgabe unten dargelegter Erwägungen zu folgenden entscheidungsrelevanten Feststellungen:

 

2.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und dessen Fluchtgründen:

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist sunnitischen Glaubens.

 

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und ist an dem angegebenen Datum geboren.

 

Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

 

Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Der Beschwerdeführer zeigt Interesse für die kurdischen Belange.

 

Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung des Beschwerdeführers durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa beim Verwenden der kurdischen Sprache, aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit sind glaubhaft.

Im April 2015 geriet der Beschwerdeführer als unbeteiligter Pasant zufällig in eine Auseinandersetzung zweier bewaffneter Gruppierungen und erlitt beim Schusswechsel zwischen diesen Personen eine schwere Verletzung, welche zum Verlust seines linken Auges führte. Alle an dem Vorfall Beteiligten und somit auch die diese Verletzung verursachenden Täter wurden in einem türkischen Strafverfahren aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ein vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang wider das türkische Innenministerium angestrengte Verfahren auf Entschädigung des erlittenen materiellen/immateriellen Schadens blieb vor den türkischen Verwaltungsgerichten aufgrund der zu spät erhobenen Klage infolge von Verjährung ohne Erfolg.

 

Der vom BF ansonsten vorgebrachte Ausreisegrund (Bedrohung und Verfolgung durch an diesem Vorfall Beteiligte und somit auch die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten) wird mangels Glaubwürdigkeit des diesbezüglichen Vorbringens hingegen nicht festgestellt.

Der Beschwerdeführer liefe nicht ernstlich Gefahr, bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung intensiven Übergriffen durch den Staat, andere Bevölkerungsteile oder sonstige Privatpersonen ausgesetzt zu sein. Insbesondere wäre der Beschwerdeführer nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe, im Falle seiner Rückkehr in die Türkei, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, unmittelbaren (persönlichen) und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt.

 

Es kann sohin nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der GFK asylrelevant verfolgt bzw. dessen Leben bedroht wurde beziehungsweise dies im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte.

 

Es konnten im konkreten Fall auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.

 

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Türkei in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würde.

 

Im Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in seinem Heimatland festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer verließ die Türkei zwecks Verbesserung der Lebenssituation aus gesundheitlichen bzw. wirtschaftlichen Motiven.

Selbst wenn man sein gesamtes Vorbringen als wahr unterstellen und daher annehmen würde, dass der BF durch an dem Vorfall im April 2015 Beteiligte bzw. durch die seine Verletzung am Auge verursachenden Täter bedroht und verfolgt worden war, muss diesbezüglich festgestellt werden, dass sein Vorbringen keine Asylrelevanz entfalten würde (siehe rechtliche Würdigung zur Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates und zur Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative), zumal der Beschwerdeführer bei einer Bedrohung und Verfolgung in der geschilderten Form durch Privatpersonen wirksamen Schutz bei den zuständigen Behörden des Herkunftsstaats in Anspruch nehmen könnte. Ferner könnte der BF wegen der Drohungen wider seine Person durch an dem Vorfall im April 2015 Beteiligte bzw. durch die seine Verletzung am Auge verursachenden Täter eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen und wäre dem BF jedenfalls auch eine Rückkehr nach Istanbul möglich und zumutbar. Es wären dort die existentiellen Lebensgrundlagen des Beschwerdeführers angesichts einer finanziellen Unterstützung durch seine in der Türkei und in Europa lebenden Familienangehörigen - etwa durch Überweisungen - oder durch Aufnahme einer eigenen beruflichen Tätigkeit gesichert. In Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen kam es 2022 wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen, wobei sich der wohl schwerwiegendste Anschlag am 13.11.2022 ereignete, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Istanbul gilt dennoch als vergleichsweise sicher, zumal es deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden, weshalb hier insgesamt von einer stabilen Sicherheitslage auszugehen ist. Diese Stadt ist für den Beschwerdeführer auch direkt erreichbar.

Der Beschwerdeführer ist am linken Auge erblindet und leidet deshalb gelegentlich an Schmerzen. Der Beschwerdeführer leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Aktuelle ärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Beeinträchtigung seiner Gesundheit aufzeigen und/oder Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen, hat der Beschwerdeführer nicht vorgelegt, weshalb von keiner schwerwiegenden Erkrankung oder Behandlungsbedürftigkeit auszugehen ist. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an einer per se lebensbedrohlichen Erkrankung leidet, die in der Türkei nicht behandelbar ist bzw. welche eine Rückkehr in die Türkei iSd Art. 3 EMRK unzulässig machen würde.

Er befindet sich in einem arbeitsfähigen Zustand und Alter.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er wurde in der Stadt Adana in der gleichnamigen Provinz geboren, wuchs dort auf und lebte dort auch zuletzt vor seiner Ausreise.

Er besuchte in der Türkei zehn Jahre die Schule. Im Anschluss arbeitete er bis 2015 in Adana und Istanbul als selbständiger Textildesigner. In den Folgejahren bestritt er seinen Lebensunterhalt infolge seiner Arbeitslosigkeit von seinen Ersparnissen. Er verfügt über zwei Grundstücke und zwei Fahrzeuge in der Türkei. Seine Eltern und mehrere Geschwister leben nach wie vor in der Türkei, wobei alle Familienangehörigen mit Ausnahme eines Bruders, der in der Provinz Mersin lebt, in Adana wohnen. Ein Bruder arbeitet als Dolmetscher für Russisch und Englisch und ein Bruder ist professioneller Fußballspieler. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie regelmäßig über WhatsApp in Kontakt.

 

Der BF verließ die Türkei etwa Ende September 2022 legal und reiste in der Folge illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo der BF am 11.10.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

Der private Lebensmittelpunkt des BF befindet sich in der Türkei. Der Beschwerdeführer unterhält in Österreich keine Beziehung und verfügt zum Entscheidungszeitpunkt über keine relevanten Bindungen zu Österreich. In Österreich halten sich keine Verwandten des BF auf. Verwandte, konkret Tanten und ein Onkel, leben in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Der Beschwerdeführer besucht(e) in Österreich einen Deutschkurs. Die Absolvierung einer Deutschprüfung hat der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen. Er beherrscht die deutsche Sprache allenfalls in geringem Ausmaß.

 

Er knüpfte normale soziale Kontakte zu anderen Asylwerbern in seiner Unterkunft. Unterstützungserklärungen brachte er nicht in Vorlage.

 

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Der BF war bzw. ist nicht legal erwerbstätig. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF in Österreich selbsterhaltungsfähig ist. Der BF verfügt weder über eine Einstellungszusage noch über einen gültigen arbeitsrechtlichen Vorvertrag.

 

Er leistet keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit und ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich.

 

Er ist als erwerbsfähig anzusehen, etwaige gesundheitliche Einschränkungen des Beschwerdeführers sind abgesehen von den Beeinträchtigungen aufgrund des Verlusts seines linken Auges nicht aktenkundig.

 

Er ist strafgerichtlich unbescholten.

 

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des BF in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.

 

Er hat mit Ausnahme seines nunmehrigen Aufenthalts in Österreich sein Leben zum überwiegenden Teil in der Türkei verbracht, wo er auch sozialisiert wurde und wo sich seine engsten Familienangehörigen, seine Bekannten und seine Freunde aufhalten.

 

Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr erneut bei seinen Familienangehörigen, konkret seinen Eltern und Geschwistern, wohnen wird können. Davon abgesehen ist der Beschwerdeführer als arbeitsfähig und -willig anzusehen. Der Beschwerdeführer spricht Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch).

 

Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nicht vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in die Türkei festzustellen ist.

 

2.1.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei war insbesondere unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer seitens der belangten Behörde am 17.04.2023 zur Einsicht/Aushändigung und Stellungnahme angebotenen Länderinformationsquellen (AS 102) festzustellen:

Politische Lage

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu, insbesondere als Folge der Teuerung und des damit verbundenen Kaufkraftverlustes und der einhergehenden, zunehmenden Verarmung von Teilen der Bevölkerung. Die Opposition versucht, die Regierung in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen, und fördert eine migrantenfeindliche Stimmung. Die einst gegenüber Flüchtlingen mehrheitlich freundlich eingestellte Bevölkerung ist mittlerweile nicht mehr bereit, weitere Menschen aufzunehmen (ÖB 30.11.2022, S. 4). Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert (WZ 7.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 4, EC 12.10.2022, S. 11) zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagierten ein "stolzes Türkentum", islamischen Wertvorstellungen wurde zusehends mehr Gewicht verliehen, Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpften um ihr Dasein (WZ 7.5.2023).

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 12.10.2022, S. 3, 11; vgl. WZ 7.5.2023).

Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 10.2022, S. 6; vgl. DE 31.12.2023, Günay 2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 10.2022, S. 6; vgl. Esen/Gumuscu 19.2.2016).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 12.10.2022, S. 11f.). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 12.10.2022, S. 6).

Das Präsidialsystem

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2022, S. 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55; vgl. EC 12.10.2022, S. 4, 13). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. Das Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei der Türkei, der HDP, ist noch nicht abgeschlossen [Anm.: Stand Mai 2023], und es werden immer mehr parlamentarische Immunitäten der Mandatare der Opposition aufgehoben (EC 12.10.2022, S. 4, 13).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck. So wurden zwei stellvertretende Gouverneure und ein Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Zentralbank entlassen (EC 12.10.2022, S. 9, 14).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 12.10.2022, S. 13; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 5). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2022, S. 5) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Das Parlament hat 2021 nur 87 von 732 vorgeschlagenen Gesetzen verabschiedet. Dem gegenüber standen im April 2022 bereits wieder 98 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 12.10.2022, S. 13). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.4; vgl. PRT 10.3.2023).

Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (ZO 22.5.2023). Drei Tage vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hatte Muharrem İnce, Vorsitzender der Partei Memleket (Vaterland) seine Kandidatur zurückgezogen (ZO 11.5.2023; vgl. ARD 11.5.2023, Standard 19.5.2023), erhielt dennoch 0,43 % der Stimmen (Standard 19.5.2023).

Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" war, dass Erdoğan während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage zeigte, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023), und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" (ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).

In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (Anadolu 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023, taz 28.5.2023).

Das Parlament

Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S., 6f.).

Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische IYI-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023). Am 30.5.2023 bestätigte der Oberste Wahlrat in der Bekanntgabe des finalen Wahlergebnisses diese Mandatsverteilung, sodass die Regierungskoalition über eine Mehrheit von 268 Sitzen verfügt (BAMF 5.6.2023, S. 15).

Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S. 2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021). Entgegen der nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung von Selahattin Demirtaş, des seit November 2016 inhaftierten Parlamentariers und Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, zu veranlassen, kamen die türkischen Behörden dem Begehr bislang nicht nach [Stand Juni 2023] (CoE-CoM 2.12.2021).

Eingriffe in die lokale Demokratie

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15). Bis April 2022 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister inhaftiert und 39 Bürgermeister verhaftet. Derzeit befinden sich acht Ko-Bürgermeister der HDP [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] in Haft (EC 12.10.2022, S. 12, 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).

Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).

Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, insbesondere gegen jene der HDP, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern, und dies trotz Urteilen des EGMR zu deren Gunsten (EC 12.10.2022, S. 13).

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SDZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 12.2022, S. 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022).

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (NL-MFA 18.3.2021, S. 12). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 2.3.2022, S. 13), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 12.10.2022, S. 5, 17). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis24, 24.11.2022).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023, S. 3, 29). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 12.10.2022, S. 17). Die häufigen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 16.5.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023, S.29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 16.5.2023).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2021 346 Personen, innerhalb und außerhalb [Anmerkung: Grenzgebiete zu Irak und Syrien] der Türkei bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon mindestens 69 Angehörige der Sicherheitskräfte 275 bewaffnete Militante und acht Zivilisten (İHD 6.11.2022, S. 40). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.7.2015 bis 3.3.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht (ICG 3.3.2023). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 12.10.2022, S. 18). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 12.5.2023; vgl. EDA 16.5.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis24, 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023, S. 29).

Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April 2022 die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vgl. ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Dohuk [aka Duhok] in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet (ICG 8.2022). Auch im September und Oktober 2022 stand das irakisch-kurdische Dohuk im Fokus türkischer Militäroperationen. So kamen am 11.9.2022 bei Zusammenstößen mit der PKK vier türkische Soldaten ums Leben und am 1. Oktober ein weiterer (ICG 9.2022, ICG 10.2022). Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). Nach einem Bombenanschlag in Istanbul begann das Militär am 20.11.2022 mit der "Operation Klauenschwert", bei der Luftangriffe in Nordsyrien und im Irak gegen zahlreiche mutmaßliche PKK- und YPG-Ziele durchgeführt wurden. Am nächsten Tag kündigte Präsident Erdoğan mögliche Bodenangriffe in beiden Ländern an. Die grenzüberschreitenden Vergeltungsangriffe aus Nordsyrien nahmen zu: Bei einem Raketenangriff am 21.11.2022 wurden in der Provinz Gaziantep drei Zivilisten getötet (ICG 11.2022). Auch im Dezember 2022 hielten die türkischen Militäraktionen gegen die PKK bzw. YPG in Nordsyrien und dem Nordirak an, obgleich mit geringerer Intensität als im Vormonat (ICG 12.2022). Gleiches galt für den Jänner 2023, wobei sich die Militäroperationen in der Türkei gegen die PKK auf die Provinzen Diyarbakır, Bingöl, Muş und Batman konzentrierten, bei gleichzeitigen Luftangriffen auf deren Stellungen im Nordirak und Syrien (ICG 1.2023).

Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS (Daesh) wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, ICG 7.2022), gefolgt von weiteren 90 Festnahmen im Oktober (ICG 10.2022) und rund ebenso vielen im November (ICG 11.2022) sowie 85 im Dezember 2022 (ICG 12.2022). Auch 2023 wurden die Verhaftungen vermeintlicher IS-Anhänger bzw. IS-Mitglieder fortgesetzt: - Von Jänner bis April wurde seitens der Behörden die Festnahme von in Summe rund 420 Personen vermeldet (ICG 4.2022).

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SDZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine jüngste Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AM 20.4.2022). Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26. September das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, Arab News 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (Arab News 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AM 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AM 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (Anadolu 18.11.2022).

Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).

Laut türkischem Innenminister hatten mit Ende November 2022 116 Personen infolge von Überzeugungsarbeit der Behörden 2022 freiwillig ihre Waffen niedergelegt (Anadolu 30.11.2022).

Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei in Kraft, vorerst für drei Monate. Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).

Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind." (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023).

Allgemeine Menschenrechtslage

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB 30.11.2022, S. 30; vgl. EC 12.10.2022, S. 6, 30). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB 30.11.2022, S. 30). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 30).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 12.10.2022, S. 6, 30). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden für die Grundrechte und die damit zusammenhängenden erlassenen Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen bleiben in Kraft und haben weiterhin tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (EC 12.10.2022).

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EU 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023, S. 1f., 96; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 30).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich Anfang Mai 2022 das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie der Lage der Rechtsstaatlichkeit" und "fordert[e] die Staatsorgane der Türkei auf, der gerichtlichen Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, Wissenschaftlern, Journalisten, geistlichen Führern und Rechtsanwälten ein Ende zu setzen" (EP 5.5.2022, Pt. 4).

Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 45).

Mit Stand 30.11.2022 waren 20.300 Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 26,8 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Denn mit Jahresende 2021 stammten 15.250 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 21,7 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 21.1.2022). Im Jahr 2022 stellte der EGMR in 73 Fällen (von 80) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 27, betrafen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, gefolgt vom Recht auf Eigentum (20) und dem Recht auf ein faires Verfahren (16) (ECHR 1.2023).

Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD 6.11.2022, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt. Zu einigen der in den Medien berichteten Todesfälle gibt es noch immer keine glaubwürdigen Untersuchungen. Die gemeldeten Tötungen durch die Sicherheitsbehörden im Südosten, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen im Jahr 2015, werden nach wie vor nicht effektiv untersucht, beziehungsweise sanktioniert (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022).

Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten

Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 15.5.2023), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2022, S. 23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2022, S. 23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).

Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 15.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2022, S. 23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Das System der "vakıf" geht auf das Osmanische Reich zurück und wurde durch den Vertrag von Lausanne und diverse Stiftungsgesetze über die Zeit verfestigt. Derzeit gibt es 167 solcher Stiftungen, darunter 77 griechisch-orthodoxe, 54 armenisch-orthodoxe, 19 jüdische, zehn syrisch-orthodoxe, drei chaldäisch-katholische, zwei bulgarisch-orthodoxe und jeweils eine georgisch-orthodoxe und türkisch-orthodoxe (Stand: August 2022). Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder der Stiftungsräte nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2022, S. 23; vgl. Bianet 12.4.2022, DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiöse Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 28.7.2022, S. 11).

Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (tarikat) sowie Logen (tekke oder zaviye), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 15.5.2023). Formal seit den Zwanziger-Jahren verboten, als etwa 1925 alle Derwischhäuser geschlossen wurden, organisieren sich die Anhänger des Sufismus in Vereinen und geben ihr Wissen legal, beispielsweise an Universitäten, weiter. An der staatlichen Universität Istanbul etwa besteht ein eigener Lehrstuhl samt Master-Studienlehrgang für Sufismus (DF 19.2.2018).

In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S. 10). Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37).

Blasphemie ist nach dem Strafgesetzbuch verboten, das die "Erregung von Hass und Feindseligkeit" unter Strafe stellt, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 15.5.2023). Die Türkei machte nicht nur vom entsprechenden Artikel des Strafgesetzbuchs Gebrauch, sondern gehört auch zu den Top-10-Ländern der Welt, in denen Fälle von angeblicher Blasphemie durch die Nutzung sozialer Medien verfolgt werden. Beispielsweise kündigte die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft 2022 eine Untersuchung gegen Spotify, einen schwedischen Musikstreamingdienst, an, nachdem Beschwerden eingegangen waren, dass die Namen bestimmter Playlists "religiöse Werte" und Staatsbeamte beleidigten. - Im Jänner 2022 machte die türkische Popsängerin Sezen Aksu Schlagzeilen, nachdem sie einen Clip eines fünf Jahre alten Liedes von sich auf YouTube geteilt hatte. Das Lied erregte in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit und löste bei mehreren Regierungsvertretern Kritik aus, weil der Text die religiösen Figuren Adam und Eva als "ignorant" bezeichnete. Nach dem Freitagsgebet in jenem Monat warnte Präsident Erdoğan, ohne Aksu namentlich zu nennen, dass "niemand gegen seine Heiligkeit Adam sprechen darf. Wenn es sein muss, ist es unsere Pflicht, diese Zungen herauszureißen. Niemand kann gegen unsere Mutter Eva sprechen. Es ist unsere Pflicht, diejenigen, die gegen sie sprechen, auf ihren Platz zu verweisen." Regierungsnahe Juristen erstatteten gegen die Sängerin Anzeige, die staatliche Religionsbehörde Diyanet und die Rundfunkbehörde RTÜK griffen ebenfalls ein (USCIRF 12.2022, S. 3; vgl. NZZ 1.2.2022).

Der Blasphemie-Paragraph dient vornehmlich als politisches Instrument zur Verfolgung all jener, die den staatlichen Institutionen und deren Vertretern kritisch gegenüber stehen. Außerdem scheint es in der Rechtspraxis laut der türkischen NGO Initiative für Religionsfreiheit - İnanç Özgürlüğü Girişimi so zu sein, dass die Anwendung von Artikel 216 Absatz 3 durch die Behörden weitgehend auf Fälle beschränkt ist, die den Islam betreffen, und nicht die äquivalenten Beleidigungen von religiösen Minderheiten (USCIRF 12.2022, S. 1f.). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter von Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).

Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren (USDOS 15.5.2023).

Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine durch die Verfassung eingerichtete staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird. Obwohl das Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Mitglieder des Rates sunnitische Muslime sein müssen, ist dies in der Praxis der Fall. (USDOS 15.5.2023). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, inklusive Aleviten. Aus den im Jahr 2021 veröffentlichten Meinungsumfragen des Forschungs- und Meinungsforschungsunternehmens KONDA Research and Consultancy geht hervor, dass sich etwa 88 % als sunnitische Muslime bezeichnen, 6 % als Nichtgläubige, 4 % als Aleviten und die restlichen 2 % in der Kategorie "Sonstige". Die Aleviten-Stiftung geht jedoch davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind. 4 % der Muslime sind laut eigener Schätzung schiitische Jafari (USDOS 15.5.2023; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen und ca. 10.000 Baha'i. Die Zahl der ostorthodoxen Christen ist im Laufe des Jahres 2022 deutlich auf über 150.000 gestiegen, was vor allem auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist, der zu einem Zustrom von schätzungsweise 60.000 Russen und 40.000 Ukrainern führte. Zur ostorthodoxen Bevölkerung gehören auch weniger als 2.500 ethnisch griechisch-orthodoxe Christen und eine kleine, unbestimmte Anzahl bulgarisch-orthodoxer und georgisch-orthodoxer Christen. Zu den anderen Gruppen gehören schätzungsweise 7.000 bis 10.000 Mitglieder protestantischer und evangelikaler christlicher Konfessionen; 5.000 Mitglieder der Zeugen Jehovas; schätzungsweise 2.000 bis 3.500 armenische Katholiken; weniger als 3.000 chaldäische Christen; und weniger als 1.000 Jesiden (USDOS 15.5.2023).

Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). 3 % bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1 % - und 2 % als nicht gläubig (AM 9.1.2019). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55 % auf 51 %, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99 % steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60 % als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).

Kritiker werfen der AKP vor, sunnitische Muslime zu bevorzugen, und verweisen auf die Umgestaltung des Bildungssystems, welches den islamischen Unterricht in säkularen Schulen begünstigt und den Aufstieg religiöser Schulen gefördert hat. Die AKP baute auch das Direktorat für religiöse Angelegenheiten aus und nutzte diese Institution als Kanal für politische Klientelpolitik. Neben anderen Funktionen nutzt die Partei das Direktorat, um regierungsfreundliche Predigten in Moscheen in der Türkei sowie in Ländern, in denen die türkische Diaspora präsent ist, zu verbreiten (FH 10.3.2023, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie Darwins Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39).

Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichtetes Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2022, S. 24). Hierzu stellte das Europäische Parlament im Juni 2022 "mit Besorgnis fest, dass noch immer Hetze und Hassverbrechen gegen religiöse Minderheiten, hauptsächlich Aleviten, Christen und Juden, gemeldet werden und dass die einschlägigen Ermittlungen ergebnislos bleiben" (EP 7.6.2022, S. 13, Pt. 19).

Im Jahr 2021 waren die Bedingungen für die Religionsfreiheit in der Türkei nach wie vor schlecht, ohne dass sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verbessert hätte. Viele Religionsgemeinschaften sahen sich weiterhin mit bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die die Ausübung ihrer Religion verhinderten oder ernsthaft einschränkten. Insbesondere weigerte sich die Regierung weiterhin, religiösen Gruppen die Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Ebenso unternahm die Regierung keine Schritte zur Wiedereröffnung der Theologischen Schule von Halki (Chalki-Seminar), einem Seminar des Ökumenischen Patriarchats der Ost-orthodoxen Kirche. Durch die Nachlässigkeit der Regierung gegenüber Vandalismus und sogenannte "Schatzsucher" wurden religiöse Stätten ernsthaft beschädigt oder zerstört (USCIRF 4.2021, S. 62f.).

Es kommt immer wieder zu Hassverbrechen, inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (BMZ 10.2020), die sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder richten, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37).

Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an (USDOS 20.3.2023, S. 90). Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S. 68).

Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch mit Ende 2022 weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 15.5.2023). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 15.5.2023).

Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte (AM 12.4.2022; vgl. Bianet 11.4.2022).

Aleviten und Nicht-Muslime werden in Schulen und im öffentlichen Sektor systematisch diskriminiert (FH 10.3.2023, F4; vgl. AA 28.7.2022, S. 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften nur in Einzelfällen im öffentlichen Dienst zu finden, aber nicht in der Armee (ÖB 30.11.2022, S. 26). Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Und Mitte August 2022 erfolgte seine Ernennung zum Distriktgouverneur von Babadağ/Denizli. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. - Im türkischen Parlament zählt die Republikanische Volkspartei (CHP) einen und die Demokratische Partei der Völker (HDP) zwei christliche Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2022, S. 26).

Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 28.7.2022, S. 11; vgl. BMZ 10.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 28.7.2022, S. 11).

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023, S. 85).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023, S. 85f.).

Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 12.10.2022, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Von Hassreden und Übergriffen sind insbesondere auch Aleviten und Nicht-Muslime betroffen (FH 10.3.2023, D2). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Im Jahr 2020 waren insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner militärischen Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vgl. USCIRF 12.2021, S. 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87).

Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft (EC 12.10.2022, S. 45). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch. Allerdings wirkt die limitierte Aufnahme oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 12.10.2022, S. 45).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022; S. 28).

Kurden

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2022, S. 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).

Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023, S. 29, 85). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 12.10.2022, S. 5).

Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S. 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S. 17, Pt. 44).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 12.10.2022, S. 18, 45). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 12.10.2022, S. 18; vgl. CCRT 8.4.2021)

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 18). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, S. 11; vgl. VOA 11.6.2022; ÖB 30.11.2022, S. 22f.). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, S. 10).

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21).

Übergriffe

Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (NL-MFA 2.3.2022, S. 43). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch im Jahr 2022 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden ÖB 30.11.2022, S. 27).

Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September 2021 wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar 2022 brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022). Im September 2022 wurde eine kurdische Familie, die im Dorf Arpadere in der westlichen Provinz Aydın ein Haus kaufen wollte, bei einem, von manchen Quellen als rassistisch eingestuften, Angriff der Dorfbewohner schwer misshandelt. Die Polizei reagierte nicht auf den Frauen-Notruf KADES, der von einem weiblichen Familienmitglied aktiviert wurde (Duvar 13.9.2022; vgl. Bianet 13.9.2022).

Verwendung der kurdischen Sprache

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2022, S. 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die bisherigen Bemühungen gewählter Gemeindevertretungen, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, blieben allerdings erfolglos. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, kurdische Medien und zahlreiche Kunsträume bleiben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Einschränkung der kulturellen Rechte beitragt (EC 12.10.2022; S. 43). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2022, S. 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2022, S. 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2022, S. 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 28). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022, S. 28). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S. 27).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Flüchtlinge

Nach Angaben des stellvertretenden Innenministers İsmail Çataklı vom 8.5.2022 beherbergte die Türkei mehr als vier Mio. (4,083.693) Asylsuchende (HDN 9.5.2022). Waren 2021 offiziell 3,737 Mio. syrische Staatsbürger als temporäre Flüchtlinge registriert, ging mit Stand 1.6.2023 auf 3,366 zurück. Die meisten leben in Istanbul (ca. 531.000), Gaziantep (442.000), Şanlıurfa (rund 337.000) und Hatay (rund 317.000). Nurmehr 61.600 von ihnen lebten in neun Flüchtlingslagern (PMM 1.6.2023a). Für Flüchtlinge und Migranten gibt es eine Residenzpflicht zur Verteilung auf die 81 türkischen Provinzen (AA 28.7.2022, S. 19). Die übrigen rund 330.000 Asylsuchenden und Flüchtlinge stammen vor allem aus dem Irak, Iran, Afghanistan und Somalia (EC 12.10.2022, S. 19). 2022 suchten laut amtlichen Angaben rund 33.250 (2021: 29.250) Personen um internationalen Schutz an. Hiervon waren alleinig 19.400 (2021: 21.900) aus Afghanistan, nebst hauptsächlich Irakern (rund 4.100) und circa 7.100 Ukrainern (PMM 12.2022). Allerdings schätzen manche Experten, dass die Zahl der irregulären Einwanderer afghanischer Herkunft angesichts der jüngsten Flüchtlingsströme mehr als 500.000 betragen könnte (AM 23.7.2021). Die türkischen Behörden registrierten im Jahr 2022 285.000 (2021: 163.000) illegale Einreisen. Davon waren rund 116.000 Afghanen, mit Abstand gefolgt von rund 15.400 Pakistani. Syrer scheinen in der Jahres-Statistik nicht mehr unter den Top-Ländern auf. Mit Stand Ende 1.6.2023 waren es für das laufende Jahr 2023 59.746 illegale Migranten (PMM 1.6.2023b).

Registrierung und Versorgung

Jeder Asylwerber wird einer Provinz zugewiesen, wo er sich beim Präsidium für Migrationsmanagement (PMM) registrieren lässt, sich aus eigenen Mitteln eine private Unterkunft besorgt und dort bleibt, solange er internationalen Schutz genießt, auch nach Erlangung des Flüchtlingsstatus. Das PMM verweist einen Asylwerber nur selten an ein Aufnahme- und Unterbringungszentrum, sondern in der Regel an einen privaten Wohnsitz in der zugewiesenen Provinz. In der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Ausländer und internationalen Schutz (17.3.2016) wird die Verteilungspolitik näher ausgeführt. Darin wird das Konzept der "Satellitenstädte" als Provinzen definiert, die vom PMM benannt werden und in denen Personen, die internationalen Schutz beantragen, ihren Wohnsitz nehmen müssen. Neu angekommene Personen, die internationalen Schutz beantragen, können ihren Antrag in einer Provinz stellen, die nicht in der Liste aufgeführt ist, und können dort bleiben, bis sie einer Satellitenstadt zugewiesen werden. Nach der letzten verfügbaren Liste sind 62 Provinzen in der Türkei vom PMM als "Satellitenstädte" für die Überweisung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, benannt. In der Praxis stehen jedoch nicht alle Provinzen für Antragsteller zur Verfügung. Es liegt im Ermessen der einzelnen Provincial Directorates of Migration Management (PDMM), je nach ihrer Kapazität über die Öffnung oder Schließung einer Satellitenstadt und die Überweisung dorthin zu entscheiden. Die Schließung oder Öffnung eines regionalen PDMM-Büros wird nicht offiziell oder öffentlich bekannt gegeben (ECRE 27.2.2023).

Seit Mai 2022 ist es gesetzlich verboten, dass in einer Region oder einem Gebiet der Türkei mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus Ausländern besteht. Dies umfasst sowohl Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in der Türkei haben, als auch für diejenigen, die das Land nur besuchen. 781 Stadtteile in verschiedenen Provinzen sind nun für ausländische Staatsangehörige gesperrt, die sich im Rahmen des vorübergehenden Schutzes, des internationalen Schutzes und der Aufenthaltsgenehmigung ummelden oder ihren Wohnort wechseln wollen, wenn sie Ausländer mit Aufenthaltsgenehmigung sind oder vorübergehenden oder internationalen Schutz genießen, mit Ausnahme von Neugeborenen und Fällen der Kernfamilienzusammenführung. Aus diesem Grund kann ein nicht-türkischer Staatsangehöriger weder einen dieser 781 Stadtteile in der Türkei als seinen eingetragenen Wohnsitz für behördliche Angelegenheiten wählen, noch kann er die Behörden bitten, seine Adresse in einen dieser Orte zu transferieren. Adana, Ankara, İstanbul, İzmir, Muğla und Antalya sind einige der Städte, die in diese Kategorie fallen (ECRE 27.2.2023). Nach Angaben des stellvertretenden Ministers werden Flüchtlinge aus überfüllten Gebieten in andere Orte transferiert. Die Menschen haben etwa zwei Monate Zeit, um ihre Adresse zu ändern und während dieses Prozesses mit NGOs zusammenzuarbeiten. Der vorübergehende Schutzstatus derjenigen, die ihre neue Adresse nach zwei Monaten nicht mitgeteilt haben, wird aufgehoben, was dazu führt, dass diese Personen keine Dienstleistungen von Schulen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen in Anspruch nehmen können. Bislang sollen bereits 4.500 Syrer aus dem Stadtteil Altındağ in Ankara an andere Orte verbracht worden sein (DS 24.2.2022; vgl. AM 23.2.2022, MEE 22.2.2022).

Angesichts der Auswirkungen des schweren Erdbebens erklärte das PMM am 7.2.2023, dass die Pflicht zur Einholung einer Reisegenehmigung für Personen mit einem Fluchtstatus, die in Kahramanmaraş, Hatay, Malatya, Adıyaman, Adana, Gaziantep, Şanlıurfa, Kilis, Osmaniye und Diyarbakır wohnen und außerhalb dieser Provinzen reisen möchten, vorübergehend aufgehoben wurde. Nach Antragsstellung bei der Provinzdirektion für Migrationsmanagement wird eine Reiseerlaubnis für 90 Tage gewährt. Dezidiert ausgenommen sind Reisen nach Istanbul. Registrierten Asylwerbern, die in einer der oben genannten Provinzen wohnen und die ihren Wohnort aufgrund des Erdbebens ohne Reisegenehmigung verlassen mussten, wird empfohlen, sich mit ihrem Ausweis für internationalen oder vorübergehenden Schutz an die Provinzdirektion für Migrationsmanagement in der Provinz zu wenden, in die sie gereist sind, um eine Reisegenehmigung für 90 Tage zu erhalten und Probleme zu vermeiden (RSN/RRT 8.2.2023).

Registrierte Flüchtlinge erhalten in der Türkei Ausweispapiere und kostenlosen Zugang zu medizinischer (Grund-)Versorgung in staatlichen Krankenhäusern. Rechtlich steht ihnen auf Antrag auch der Zugang zum Arbeitsmarkt offen (AA 28.7.2022, S. 20). Der ganz überwiegende Teil der Flüchtlinge und Migranten besitzt weiterhin keine Arbeitserlaubnis und findet nur im informellen Sektor Beschäftigung (AA 28.7.2022, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 57). Viele Flüchtlinge und Asylwerber werden in der Schattenwirtschaft ausgebeutet (EC 6.10.2020, S. 91). Die Konkurrenz zwischen wirtschaftlich schwachen Gruppen der einheimischen Bevölkerung und den Neuankömmlingen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt führt teilweise zu sozialen Spannungen (AA 28.7.2022, S. 20). Kinderarbeit und frühe Zwangsverheiratung bleiben ebenfalls ein großes Problem unter den Flüchtlingen (USDOS 20.3.2023, S. 64). Von den Syrern und Syrerinnen, beispielsweise, hat die Hälfte nie eine Schule besucht oder kann nicht lesen und schreiben. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen leben mehr als 70 % der syrischen Flüchtlinge in Armut (AT 3.1.2022). Das Europäische Parlament "fordert[e] die Regierung der Türkei auf, den Zugang syrischer Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt zu verbessern und Maßnahmen zu ergreifen, damit das Risiko der Staatenlosigkeit für eine Generation syrischer Kinder, die in der Türkei geboren sind, nicht eintritt" (EP 7.6.2022, S. 22, Pt. 36). Denn etwa 1,6 Millionen Syrer in der Türkei sind minderjährig, und schätzungsweise 750.000 von ihnen wurden dort geboren. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist staatenlos (FP 26.3.2023).

Laut UNHCR und World Food Programme (WFP) erreichten in der ersten Hälfte des Jahres 2022 die Partnerorganisationen fast zwei Millionen Begünstigte durch Bargeld, Nahrungsmittelhilfe usw. Mehr als 1,9 Millionen Begünstigte wurden durch monatliche Bargeldhilfe im Rahmen des landesweiten sozialen Sicherheitsnetzes für Notfälle (ESSN) und des ergänzenden ESSN (C-ESSN) unterstützt. Im zweiten Quartal 2022 stieg die Zahl der Personen, denen durch einmalige monatliche Bargeldzahlungen geholfen wurde, im Vergleich zum ersten Quartal des Jahres um fast 65 % und erreichte 45.619. Im zweiten Quartal 2022 stieg die Zahl der Empfänger von Nahrungsmittelhilfe um fast 35 % auf 59.013. Die hohen inflationären Wirtschaftstrends haben auch den Zugang zu Unterkünften für viele Betroffene beeinträchtigt, was auf den sich beschleunigenden Anstieg der Mieten zurückzuführen ist (UNHCR/WFP 29.7.2022).

Grundversorgung / Wirtschaft

Das starke Wirtschaftswachstum des Vorjahres mit 11,4 % hat sich 2022 halbiert. Die Wachstumsaussichten für 2023 haben sich auch infolge der Erdbebenkatastrophe eingetrübt, aktuell (Stand April 2023) wird mit einem Wachstum von 2,8 % des BIP gerechnet (WKO 4.2023, S. 4). Denn in wichtigen Absatzmärkten der türkischen Exporteure wie der Europäischen Union und den USA wird 2023 ein Konjunkturabschwung erwartet. Die reale Kaufkraft ist gesunken. Die positiven Effekte auf den Konsum durch die deutliche Senkung des Leitzinses seit September 2021 von 19 auf 9 % werden durch die horrende Inflation gedämpft. Die Konsumentenpreise legten im Oktober 2022 um durchschnittlich 86 % zu. Die meisten Unternehmen reagieren mit Gehaltserhöhungen, die die Einbußen aber nur abfedern. Neben der Inflation führt der stark schwankende Wechselkurs der türkischen Lira (TL) zu hoher Unsicherheit. Die Bevölkerung flüchtet in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien. Die Verschuldung der Bevölkerung ist bereits hoch. Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 30.11.2022). Während die offizielle Inflationsrate Ende 2022 bei rund 85 % lag, bezifferte das unabhängige Wirtschaftsinstitut "Ena Grup" die Teuerung bei knapp über 170 % (FR 23.12.2022). Besonders waren Lebensmittel von der Preissteigerung betroffen (Duvar 23.10.2022; vgl. AM 3.11.2022). Umfragen zeigten, dass die Türken die Inflation weit höher einschätzten, als die offiziellen Daten wiedergeben (Duvar 23.10.2022). Die Talfahrt der türkischen Lira setzte sich auch 2022 fort. Erhielt man im März 2021 für einen Euro noch 8,8 Lira, so stand der Wechselkurs im März 2023 bei 21,16 Lira für 1 Euro (WKO 4.2023, S. 4).

Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 30.11.2022), obschon sie 2022 leicht zurückging war. Im November 2022 verzeichnete das Statistikamt 10,2 % statt 12 % (2021) Arbeitslose und 17,8 % Jugendarbeitslosigkeit (2021: 21,4 %). Die Erwerbstätigenquote lag bei 54,1 % (WKO 4.2023, S. 5). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ging für 2023 in ihrer Berechnung von einer Arbeitslosenrate bei den über 15-Jährigen von 9,9 % aus, wobei sie bei Frauen mit 12,5 % etwas, und besonders in der Altersgruppe der 15 bis 24-Jährigen mit 18,8 % deutlich höher ausfiel (ILO 2023). Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Die Armutsgrenze in der Türkei ist im Jänner 2023 auf 28.875 Lira [Anm.: 1 Euro war Ende April 2023 fast 21,5 Lira wert.] ge​ stiegen, mehr als das Dreifache des Mindestlohns (8.506 Lira), wie Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) zeigen. - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag im Jänner 2023 bei 8.864 Lira. Damit lag der Mindestlohn bereits im Jänner 2023 unter der Hungerschwelle für eine vierköpfige Familie (Duvar 30.1.2023).

Präsident Erdoğan hat den Mindestlohn ab dem 1.1.2023 auf 8.500 Türkische Lira netto von zuvor 5.500 TL angehoben. Allerdings kritisierten sowohl die Gewerkschaften als auch die Opposition die Anhebung als zu gering, auch weil 60 % aller Arbeitenden nur den Mindestlohn verdienen (FR 23.12.2022). Mit der Steigerung um rund 55 % ist die Mindestlohnerhöhung weit unter der offiziell verkündeten Inflationsrate von rund 84 %. Private Unternehmen sind allerdings nicht verpflichtet, eine Lohnerhöhung von 55 % durchzuführen, solange die Löhne nicht unter dem Mindestlohn liegen. Laut inoffiziellen Quellen beträgt die tatsächliche Inflation sogar über 170 %. Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern durchschnittlich 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der damals 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB 30.11.2022, S. 41). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB 30.11.2022, S. 41).

Medizinische Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc.. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2022, S. 42f.).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2022, S. 43). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022a). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022a).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S. 15).

Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).

Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2022, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.3.2023). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.3.2023). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.3.2023).

Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt (AA 24.3.2023).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2022, S. 10).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2022, S. 40). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 40). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB 30.11.2022, S. 45). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

 Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

 Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

 TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2022, S. 41).

2.2. Das BVwG stützt sich im Hinblick auf diese Feststellungen auf folgende Erwägungen:

2.2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsakts des Bundesverwaltungsgerichts.

 

2.2.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den entscheidungsrelevanten Sachverhalt im Rahmen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens erhoben und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens sowie die aus seiner Sicht bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen klar und übersichtlich zusammengefasst. Das BVwG schließt sich im entscheidungswesentlichen Umfang diesen Ausführungen mit den nachstehenden Erwägungen an.

 

2.2.3. Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers ergeben sich aus der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Einklang mit dem Akteninhalt.

Was die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers betrifft, so wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Dokumente, die seine Identität zweifelsfrei belegen hätten können und mit seinen Identitätsangaben übereinstimmen würden, im Original vorlegte. Aufgrund seiner glaubhaften Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde sowie dem Bundesverwaltungsgericht in Zusammenschau mit den von der belangten Behörde und dem Bundesverwaltunsgericht sichtlich als für unbedenklich befundenen türkischen Gerichtsunterlagen in Kopie (vgl. etwa AS 249 - 273 [Übersetzungen: AS 45 – 91; OZ 6]) stehen die Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall dennoch hinreichend fest.

Dass er sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden ist, sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer abgesehen vom Verlust des linken Auges samt daraus gelegentlich resultierenden Schmerzen gesund ist und somit weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung leidet, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer im bisherigen Verfahren diesbezüglich keinerlei Angaben getätigt hat. Zu Beginn der Erstbefragung verneinte der BF Beschwerden oder Krankheiten zu haben, die ihn an dieser Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigen würden (AS 9) und bezog er sich auch bei der Schilderung der Fluchtgründe lediglich auf die Erwähnung seiner Sehbeeinträchtigung am linken Auge (AS 7). In der Einvernahme vor dem BFA am 17.04.2023 bestätigte der BF, dass es ihm - abgesehen von Schmerzen am linken Auge - gut gehe (AS 95). Es ist daher von keiner schwerwiegenden Erkrankung des Beschwerdeführers auszugehen. Dass der Beschwerdeführer Gründe haben könnte, insofern wahrheitswidrige Aussagen zu tätigen, ist nicht im Geringsten ersichtlich. Zudem wurden aktuelle medizinische Unterlagen weder vor der belangten Behörde noch in der Beschwerde vorgelegt und bis dato sind auch keine beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Im Falle einer Erkrankung oder sonstigen wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustands wäre davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer unter Beachtung der Mitwirkungspflicht im Asylverfahren ein entsprechendes substantiiertes Vorbringen erstattet hätte.

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Behandlung dieser physischen Beeinträchtigung samt den daraus gelegentlich resultierenden Schmerzen auch in der Türkei möglich ist und ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass die medizinische Grundversorgung in der Türkei gewährleistet ist.

Die Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers beruhen auf dessen Ausführungen im gegenständlichen Verfahren, insbesondere in der Einvernahme vor der belangten Behörde, im Hinblick auf die mehrjährige Schulausbildung sowie Berufserfahrung als selbständiger Textildesigner. Ferner brachte der Beschwerdeführer – wie zuvor erörtert – abgesehen vom Verlust des linken Auges samt daraus gelegentlich resultierenden Schmerzen keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, welche die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen würden. In Anbetracht der Schulbildung und Berufserfahrung des BF sowie der Sprachkenntnisse geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar ist, durch Aufnahme einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Selbsterhaltung zu erwirtschaften, zumal der Beschwerdeführer auch im Rechtsmittelschriftsatz darlegte, dass er gewillt sei, trotz seiner Beeinträchtigung in Österreich aus eigenen Kräften für seinen Lebensunterhalt aufzukommen und in Zukunft einer Arbeit nachgehen wolle (AS 241).

 

Wann der Beschwerdeführer den Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt hat, ist in unbedenklichen Urkunden/Unterlagen dokumentiert (AS 5 ff). Es ist auch naheliegend, dass der Beschwerdeführer, kurz bevor er den Antrag auf internationalen Schutz stellte, in das Bundesgebiet eingereist ist. Die Feststellungen zur unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet ergeben sich aus dem diesbezüglich unbestrittenen Akteninhalt sowie aus der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in Umgehung der die Einreise regelnden Vorschriften ohne die erforderlichen Dokumente in Österreich einreiste.

Dass er legal etwa Ende September 2022 aus der Türkei ausgereist sei, sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus (AS 8 f, 97).

 

Die Feststellungen zu seiner regionalen Herkunft, seinem Personenstand, seiner Kinderlosigkeit, seiner schulischen Ausbildung, seiner in der Türkei ausgeübten Erwerbstätigkeit und seinen Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhalts, seinen Sprachkenntnissen in Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch), seinen Familienangehörigen und zum sonstigen persönlichen Umfeld bzw. den Lebensumständen in der Türkei ergeben sich aus den diesbezüglichen Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde. Die Angaben des BF waren im Wesentlichen stringent und es ist kein Grund ersichtlich, warum der Beschwerdeführer etwa in Bezug auf seine privaten und familiären Verhältnisse oder seine beruflich ausgeübte Tätigkeit vor seiner Ausreise falsche Angaben hätte machen sollen.

Die Feststellungen über die Lebenssituation des Beschwerdeführers in Österreich und die fehlenden Aspekte einer Integration in Österreich beruhen auf den bisherigen Angaben vor der belangten Behörde und im gegenständlichen Beschwerdeverfahren. Der BF verfügt über keine „familiären“ Anknüpfungspunkte in Österreich. Sein privater und familiärer Lebensmittelpunkt lag zuletzt in der Türkei.

 

Die Feststellungen, wonach der Beschwerdeführer in Österreich keine Verwandten hat und hier keine Beziehung führt und zu den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Verwandten (Tanten und Onkel) folgen gleichfalls den Aussagen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und besteht kein Grund für das Bundesverwaltungsgericht an diesen Ausführungen zu zweifeln.

 

Dass der Beschwerdeführer private Kontakte zu anderen Asylwerbern in seiner Unterkunft in Österreich unterhält, stellt die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts insgesamt nicht in Abrede. Hinweise auf eine einem Familienleben entsprechende Beziehung gibt es – angesichts der Darstellung der Kontakte und der unterbliebenen Vorlage von Unterstützungserklärungen – nicht.

 

Dass er in Österreich einen Deutschkurs besucht(e), sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus (AS 101 f).

 

Negative Feststellungen dahingehend, dass der Beschwerdeführer keine Deutschprüfungen erfolgreich absolviert hat, dass er nicht legal erwerbstätig war bzw. ist, er nicht selbsterhaltungsfähig ist, er weder über eine Einstellungszusage noch über einen gültigen arbeitsrechtlichen Vorvertrag verfügt, er keine Unterstützungserklärungen in Vorlage brachte, er keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit leistet und nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich ist und dass keine sonstigen Gründe für eine hinreichende Integration bestehen würden, ergeben sich daraus, dass der Beschwerdeführer im bisherigen Verfahren diesbezüglich keine entsprechenden Angaben getätigt oder Beweismittel in Vorlage gebracht hat. Auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 17.04.2023 hat der Beschwerdeführer, etwa die Fragen, ob er einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehe oder in einem Verein sei, negiert. Befragt, wie sich sein Leben in Österreich gestalte, erklärte der BF, dass er Deutsch lernen und seit ca. drei Wochen einen Kurs besuchen würde (AS 101 f). Da der Beschwerdeführer - wie bereits erwähnt – zwar einen Deutschkurs besucht(e), aber bislang noch keine Deutschprüfung erfolgreich absolviert hat und im Übrigen auch erst über einen relativ kurzen Aufenthalt (etwa 22 Monate) im Bundesgebiet verfügt, ist davon auszugehen, dass er aufgrund seines ansonsten lediglich im Selbststudium erworbenen Wissens keine nennenswerten, sondern erst einfache Deutschkenntnisse besitzt. Gegenteiliges ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

 

Dem BF wurde in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 17.04.2023 ausreichend Gelegenheit eingeräumt, alle für die Entscheidung wesentlichen Umstände vorzubringen. Dabei ist es dem BF jedoch nicht gelungen, durch konkrete und substantiierte Ausführungen darzulegen, warum entgegen der Ansicht des BFA dennoch vom Vorliegen eines schützenswerten Privat- und Familienlebens auszugehen sei. Auch in der Beschwerde vermochte der BF der Beurteilung des BFA nichts Konkretes entgegenzusetzen, was zu einer anderen Beurteilung der privaten Situation des BF in Österreich führen könnte. Es ist dem BF in einer Gesamtschau daher nicht gelungen, darzulegen, dass ihm zum Schutz des Privat- und Familienlebens ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen sei, wobei diesbezüglich auch auf die detaillierten Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung unter Punkt 3.3.4. verwiesen wird.

Dass der Beschwerdeführer seit seiner Antragstellung im Oktober 2022 laufend Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ist einem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem zu entnehmen.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit in Österreich entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich am 09.08.2024).

Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass sein weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder der Beschwerdeführer im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der § 382b oder § 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor und es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine dahingehenden positiven Feststellungen getroffen werden können.

 

2.2.4. Die Feststellungen zum Vorbringen des Beschwerdeführers bzw. dessen Fluchtgründen und zu seiner Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung und in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, den getroffenen Länderfeststellungen und auf den Ausführungen in der Beschwerde.

 

Die Feststellung zum Nichtvorliegen einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Gefährdung des Beschwerdeführers ergibt sich einerseits aus dem seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des Bundesverwaltungsgerichts als nicht glaubhaft erachteten Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich einer Bedrohung und Verfolgung sowie andererseits aus den detaillierten, umfangreichen und aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in der Türkei.

 

Hinweise auf asylrelevante die Person des Beschwerdeführers betreffende Bedrohungssituationen konnte dieser nicht glaubhaft machen.

 

2.2.4.1. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl basiert auf einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren und fasst in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung in der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammen. Das Bundesamt hat sich mit dem individuellen Vorbringen auseinandergesetzt und in zutreffenden Zusammenhang mit der Situation des Beschwerdeführers gebracht.

 

2.2.4.2. Im Ergebnis ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen im Hinblick auf die Veranlassung zur Ausreise glaubwürdig und in sich schlüssig darzulegen. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich den beweiswürdigenden Argumenten der belangten Behörde an. Im Einzelnen:

 

Die Feststellungen des Inhalts, dass der Beschwerdeführer der Gülen-Bewegung nicht angehört und nicht in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt war, beruhen auf dem Umstand, wonach der Beschwerdeführer ein diesbezügliches Vorbringen weder vor der belangten Behörde noch in der Beschwerde mit einem Wort erwähnte.

 

Der Vollständigkeit halber ist dennoch allgemein auf den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 sowie den daran anschließenden und bis zum 18.07.2018 verhängten Ausnahmezustand einzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht verweist diesbezüglich zunächst auf die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei, welche die wesentlichen Ereignisse seit dem versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 abbilden. Darüber hinaus ist eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von diesen Ereignissen und den daraus erwachsenden Folgen der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichts nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer hielt sich zur Zeit des versuchten Militärputsches in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 zwar in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch kann den Aussagen des Beschwerdeführers aber nicht entnommen werden. Der Beschwerdeführer gehört auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachte er weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung zum Ausdruck. Ausweislich der sonstigen beweiswürdigenden Erwägungen besteht demgemäß kein Anlass, aus diesen Gründen im Fall einer Rückkehr in die Türkei Strafverfolgung oder Inhaftierung befürchten zu müssen.

Dass der Beschwerdeführer keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung angehört(e), ergibt sich aus der expliziten Verneinung der Fragen vor der belangten Behörde (AS 98 f), ob er Mitglied einer politischen Partei (gewesen) sei. Ein exilpolitisches Engagement im Bundesgebiet kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers ebenso wenig entnommen werden, zumal der Beschwerdeführer nicht in Vereinen oder Organisationen aktiv und auch nicht Mitglied von Vereinen oder Organisationen in Österreich ist. Zur Vollständigkeit ist noch anzumerken, dass der Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht einen Nachweis über den etwaigen Besuch derartiger Veranstaltungen in Österreich vorlegte.

Die Feststellung betreffend das Interesse des Beschwerdeführers an den kurdischen Belangen beruht - unter Berücksichtigung des Bildungshintergrundes - auf den diesbezüglichen glaubhaften Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde. So zeugen die Ausführungen des Beschwerdeführers von einem vorhandenen Interesse an der türkischen Innenpolitik. In Anbetracht der Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers erscheint dies zudem plausibel. Hingegen verneinte er vor der belangten Behörde explizit die Fragen, ob er Mitglied einer politischen Partei (gewesen) sei (AS 98 f). Insofern war keinerlei politische Exponiertheit des Beschwerdeführers zu erkennen, die ein Verfolgungsinteresse türkischer Behörden nahelegen könnte, wie dies an bekannten Beispielen von Vertretern der HDP, wie etwa deren Parteivorsitzenden, Inhabern von Bürgermeistersitzen, Parlamentsmitgliedern und anderen ranghohen Parteimitgliedern, ersichtlich wurde.

Vor dem Hintergrund der Länderinformationsquellen erscheint es angesichts der Sicherheitslage in der Türkei aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ferner plausibel, dass sich der Beschwerdeführer gelegentlich, etwa beim Verwenden der kurdischen Sprache, aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, schikanös behandelt erachtete. Allfällige Beschimpfungen/ Beleidigungen und mangelnde Akzeptanz des Beschwerdeführers aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, sind glaubhaft, wobei das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass diese Ereignisse vom Beschwerdeführer sehr allgemein geschildert wurden und kaum Konkretisierungen aufwiesen (vgl. etwa AS 98). Hinsichtlich dieser vom Beschwerdeführer geschilderten negativen Erfahrungen aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit ist jedenfalls festzuhalten, dass es sich dabei bloß um einfache Alltagsdiskriminierungen handelte, die nicht das Ausmaß asylrelevanter Verfolgung erreichten, was sich auch daran zeigt, dass die als Kurden ebenfalls von diesen Umständen betroffenen Familienangehörigen des Beschwerdeführers weiterhin problemlos in der Türkei leben können. Im Übrigen war es dem BF beispielsweise auch selbst in der Türkei jahrelang möglich, einer Beschäftigung nachzugehen und dort wohnhaft zu sein. Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit sind somit daraus nicht abzuleiten (siehe dazu unten in der rechtlichen Beurteilung).

Die Feststellungen in Zusammenhang mit der im April 2015 stattgefundenen Auseinandersetzung zweier bewaffneter Gruppierungen, in welche der Beschwerdeführer als unbeteiligter Passant zufällig geriet, und den daraus resultierenden Folgen gründen sich – vor dem Hintergrund der zur Türkei herangezogenen Länderinformationen – auf die Ausführungen des Beschwerdeführers im Verfahren und die vom Beschwerdeführer in Kopie vorgelegten Verfahrensunterlagen zum türkischen Strafverfahren in dieser Angelegenheit und zum vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang wider das türkische Innenministerium angestrengte Verfahren auf Ersatz des erlittenen materiellen/immateriellen Schadens (AS 249 - 273 [Übersetzungen: AS 45 - 91; OZ 6]).

Für das Bundesverwaltungsgericht war – dem BFA folgend – auf der Grundlage der Ausführungen des Beschwerdeführers und des vorliegenden Beweismittels daher feststellbar, dass der Beschwerdeführer im April 2015 als unbeteiligter Passant zufällig in eine Auseinandersetzung zweier bewaffneter Gruppierungen geriet und beim Schusswechsel zwischen diesen Personen eine schwere Verletzung erlitt, die zum Verlust seines linken Auges führte. Ebenso wenig wird angezweifelt, dass die an dem Vorfall Beteiligten bzw. die diese Verletzung verursachenden Täter in einem türkischen Strafverfahren aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden und ein vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang wider das türkische Innenministerium angestrengte Verfahren auf Ersatz des erlittenen materiellen/immateriellen Schadens vor den türkischen Verwaltungsgerichten infolge von Verjährung aufgrund der zu spät erhobenen Klage ohne Erfolg blieb. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Angaben nicht stimmen sollten. Die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts konnte sie daher ohne Weiteres den Feststellungen zugrunde legen. Dass wider den BF aktuelle Fahndungsmaßnahmen, wie ein Haftbefehl, eine Strafanzeige, etc. bestünden, was der BF vor dem BFA lediglich beiläufig erwähnte (AS 98), konnte indes von der belangten Behörde richtigerweise nicht festgestellt werden, zumal der Beschwerdeführer dies in der Folge weder im Zuge der freien Schilderung der ausreisekausalen Ereignisse wiederholte oder gar präzisierte, noch dies im Zuge der weiteren Fragen durch die einvernehmende Organwalterin des BFA eine Erwähnung fand und auch den vorgelegten Unterlagen Derartiges nicht entnommen werden kann (AS 99 ff). Es erschließt sich auch nicht, weshalb wider den BF aktuelle Fahndungsmaßnahmen, wie ein Haftbefehl, oder eine Strafanzeige, vorliegen sollten, wurde doch das von ihm ins Treffen geführte Strafverfahren nicht wider seine Person geführt und handelt es sich beim zweiten Verfahren lediglich um den Versuch des BF vom türkischen Innenministerium nach seiner Verletzung Ersatz des erlittenen materiellen/immateriellen Schadens vor den türkischen Verwaltungsgerichten zu erlangen. Zudem ist hervorzuheben, dass es gegen die in den Raum gestellten Fahndungsmaßnahmen spricht, dass dem Beschwerdeführer ohne Schwierigkeiten die legale Ausreise auf dem Luftweg mit einem Flugzeug nach Serbien gelang. Die Verwendung des eigenen Reisepasses bei der Ausreise deutet auch darauf hin, dass der Beschwerdeführer keine Bedenken hatte, sich der Passkontrolle an einem Flughafen in der Türkei zu unterziehen beziehungsweise ergeben sich daraus keine Hinweise, dass der Beschwerdeführer Verfolgungshandlungen in seinem Heimatland selbst befürchtete oder zu befürchten hatte.

Insofern in der Beschwerde moniert wird, dass seitens der belangten Behörde festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer kein Gerichtsverfahren mehr offen habe (AS 238) und der belangten Behörde in diesem Zusammenhang entgegnet wird, dass laut der türkischen Website e-Devlet kapısı am 11.01.2024 ein Rechtsmittel ergangen sei, zumal laut dem BF kein faires Verfahren garantiert worden sei (AS 238), wobei diesbezüglich auch ein Konvolut an türkischen Gerichtsdokumenten (AS 249 – 273 [Übersetzung: OZ 6]) in Vorlage gebracht wird, ist festzuhalten, dass entgegen den Ausführungen in der Beschwerde den vorgelegten und vom Bundesverwaltungsgericht einer Übersetzung zugeführten Unterlagen nicht entnommen werden kann, dass der Beschwerdeführer tatsächlich entsprechende Verfahrensschritte im Jänner 2024 gesetzt hat, was auch darauf hinweist, dass dem Beschwerdeführer der Inhalt der von ihm vorgelegten Bescheinigungsmittel gar nicht geläufig ist. Im Ergebnis kann jedenfalls ohnehin dahingestellt bleiben, ob aktuell noch eines der vom BF vor dem BFA thematisierten Gerichtsverfahren anhängig ist, zumal es sich bei diesen Verfahren ohnein nicht um ein Strafverfahren wider den BF handelt bzw. gehandelt hat. Insofern der BF darüber hinaus nun ein neues Strafverfahren bzw. ein Berufungsverfahren im bereits vor dem BFA angesprochenen Strafprozess ins Treffen führt (vgl. auch AS 249 [Übersetzung: OZ 6]), so ist darauf hinzuweisen, dass dies vom BF selbst initiiert worden sein soll und daher ebenso wenig wider ihn geführt wird, weshalb hier von keiner Bedrohung und/oder Verfolgung des BF ausgegangen werden kann. So legte der BF in der Beschwerde selbst zweifelsfrei dar, dass er am 11.01.2024 eine Beschwerde in dieser Angelegenheit erhoben habe, weil er der Meinung sei, dass der damalige Richter Schmiergeld von den Tätern angenommen habe. Eine aufgrund der Konventionsgründe erfolgte individuelle Verfolgung des BF kann jedoch daraus nicht abgeleitet werden. Das Vorbringen bezüglich dieser Verfahren lässt keinen konkreten Anknüpfungspunkt an die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe erkennen (zur Notwendigkeit eines kausalen Zusammenhanges mit einem oder mehreren Konventionsgründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vgl. VwGH 26.07.2022, Ra 2022/20/0023, mwN). Was ein wider die an dem im April 2015 erfolgten Vorfall Beteiligten bzw. die diese Verletzung verursachenden Täter geführtes türkisches Strafverfahren und ein vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang wider das türkische Innenministerium angestrengtes Verfahren auf Ersatz des erlittenen materiellen/immateriellen Schadens vor den türkischen Verwaltungsgerichten betrifft, so kann auch aus diesen Verfahren keine asylrelevante Bedrohung des BF erblickt werden. Weder stellt dies einen ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen dar, noch ist der Eingriff auf einen der Konventionsgründe zurückzuführen.

Es bleibt festzuhalten, dass es dem BF im Lichte seiner Aussagen in Zusammenschau mit den von ihm in Kopie vorgelegten Verfahrensunterlagen nicht gelang, eine individuelle Bedrohungssituation bezüglich einer Verfolgung und Bedrohung durch die an diesem Vorfall Beteiligten bzw. die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten, aufzuzeigen, zumal es gegen eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers vor dem Verlassen der Türkei spricht, dass der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts lediglich davon sprach, dass er aufgrund seiner Sehbeeinträchtigung am linken Auge nach Deutschland gewollt habe, weil es dort gute Ärzte gebe und er bei einer Rückkehr in die Türkei nichts zu befürchten hätte (AS 7). Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zufolge nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat und gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen Bedenken bestehen (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN). Dennoch fällt im gegenständlichen Fall ins Gewicht, dass sich der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung nur auf die Behandlungsmöglichkeiten seiner Verletzung am linken Auge bezog, während er vor dem BFA eine Bedrohung und Verfolgung durch die am im April 2015 stattgefundenen Vorfall Beteiligten und somit auch die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten ins Treffen führte (AS 99 ff). Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts zu erwarten gewesen, dass vom Asylwerber zuerst – schon in der Erstbefragung – eine unmittelbar seine Person betreffende Gefährdungslage gleichbleibend dargelegt wird, anstatt zunächst von den Behandlungsmöglichkeiten in Deutschland bezüglich seiner Verletzung am linken Auge zu sprechen und erst in der Folge ein modifiziertes Vorbringen bei der Einvernahme vor der belangten Behörde oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erstatten. Der im gegenständlichen Fall nicht stringenten Darlegung solcher eigener Erlebnisse bei der Erstbefragung in Gestalt einer Bedrohung und/oder Verfolgung durch die an diesem Vorfall Beteiligten und somit auch die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten kommt aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ein nicht unmaßgeblicher Beweiswert insofern zu, als dieser unterschiedlichen Darstellung der ausreisekausalen Ereignisse zumindest Indizcharakter dahingehend zuzumessen ist, als dies schon begründete Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Antragstellers dahingehend zulässt (zur Zulässigkeit derartiger Erwägungen bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Beschwerdeführer VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0143; zur Maßgeblichkeit solcher Erwägungen auch ohne mündliche Verhandlung siehe jüngst VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168).

 

Ungereimtheiten zwischen den Angaben eines Asylwerbers vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts und jenen vor einem Organwalter der belangten Behörde sind zwar mit Blick auf das Erkenntnis des VfGH vom 27.06.2012, U 98/12, differenziert zu beurteilen. In dieser Entscheidung hielt der VfGH im Zusammenhang mit einem psychisch angeschlagenen und von den Strapazen der Schleppung gezeichneten jugendlichen Afghanen, der über traumatische Ereignisse aus seiner Kindheit berichtete, fest, dass gerade diese Umstände besonders zu berücksichtigen sind. Konkret wurde festgehalten, dass das entscheidende Gericht bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zur umfassenden Auseinandersetzung mit allen relevanten Gesichtspunkten verpflichtet ist. Dazu gehört beispielsweise auch seine psychische Gesundheit, bei deren Beeinträchtigung ein großzügigerer Maßstab an die Detailliertheit seines Vorbringens zu legen ist (VfSlg. 18.701/2009). Auch das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers sind zu berücksichtigen.

Der erwachsene Beschwerdeführer hat jedoch abgesehen vom Verlust seines linken Auges samt daraus resultierenden gelegentlichen Schmerzen keine gesundheitlichen Einschränkungen zum Zeitpunkt seiner Einvernahmen glaubhaft geltend gemacht, wobei festzuhalten ist, dass von einem volljährigen und im Wesentlichen gesunden Antragsteller grundsätzlich zu erwarten ist, dass er seine Ausreisegründe zumindest in den Eckpunkten und bei der ersten Möglichkeit sich hierzu zu äußern wahrheitsgemäß angibt und in weiterer Folge auch bei den jeweiligen Befragungen in den Grundzügen damit übereinstimmend vorträgt.

Der BF war auch weder in der Einvernahme vor dem BFA noch in der Beschwerde in der Lage, eine plausible Erklärung für diese Widersprüche zu erbringen. Auf einen entsprechenden Vorhalt beschränkte sich der BF in der Einvernahme vor dem BFA lediglich auf die Behauptung, dass er schon über seine Probleme erzählt habe, er aber nicht wisse, weshalb dies nicht protokolliert worden sei (AS 101). Von entscheidender Bedeutung ist hierbei nun, dass der Beschwerdeführer vermeintliche Mängel im Zuge der Aufnahme der Niederschrift über die Erstbefragung erst auf einen entsprechenden Vorhalt vor der belangten Behörde vorbrachte. Es wäre jedenfalls zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer sich am Ende der Erstbefragung in Form einer entsprechenden Anmerkung/Einwendung oder kurz danach, etwa durch eine schriftliche Eingabe, spätestens aber zu Beginn in der Einvernahme vor der belangten Behörde dazu äußert. Der Beschwerdeführer unterfertigte indes das Protokoll über die Erstbefragung am 12.10.2022 und bestätigte damit, dass er keine Ergänzungen/Korrekturen zu machen habe und dass er alles verstanden habe (AS 11). Wäre die Erstbefragung derart fehlerhaft verlaufen, wäre davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer dies jedenfalls im Zuge der Befragung vor der belangten Behörde erörtert hätte. Stattdessen gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er vor der Polizei bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben getätigt habe. Des Weiteren bestätigte der Beschwerdeführer erneut, dass alle seine Angaben korrekt protokolliert und rückübersetzt worden seien (AS 95). Es zeigt sich, dass sich der Beschwerdeführer als Folge seiner unterschiedlichen Angaben in der Erstbefragung und vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in der Einvernahme nach einem Vorhalt in Ausreden flüchtete. Dabei ist nochmals festzuhalten, dass die Erstbefragung rückübersetzt wurde und der Beschwerdeführer jederzeit die Möglichkeit gehabt hätte, eine falsche Protokollierung anzumerken. Eine nachvollziehbare Erklärung für diese Ungereimtheiten sind hierin somit nicht zu erblicken.

Der belangten Behörde ist des Weiteren zuzustimmen, dass auch der Umstand besondere Beachtung verdient, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA im Zuge der freien Schilderung der ausreisekausalen Ereignisse ursprünglich lediglich aussagte, dass er von seinen Widersachern geschlagen worden sei. Erst auf weitere Nachfrage bzw. Aufforderung, den Vorfall aus dem Jahr 2015 zu schildern, erwähnte der Beschwerdeführer schließlich, dass er angeschossen worden sei, wobei der Beschwerdeführer letztlich eingestand, dass er als unbeteiligter Passant zufällig in diese Auseinandersetzung geraten sei (AS 99 ff). Insoweit zeigt sich jedenfalls, dass der Beschwerdeführer diesen Ereignissen keine besondere Bedeutung beimisst, andernfalls er im Stande gewesen wäre, entsprechende Angaben stringent wiederzugeben. Dieses Aussageverhalten belegt nicht nur, dass es dem Beschwerdeführer an persönlicher Glaubwürdigkeit fehlt. Es ist auch ein untrügliches Indiz dafür, dass sich diese Geschehnisse wider seine Person nicht genau in der von ihm geschilderten Form ereignet haben. Von einem Asylwerber, der tatsächlich internationalen Schutzes bedarf, ist nämlich anzunehmen, dass er sich auch noch nach Jahren an derart dramatische Ereignisse erinnern kann und im Rahmen der Möglichkeiten, in der Einvernahmen vor der belangten Behörde, sein Vorbringen ausführlich zu schildern, auch von sich aus widerspruchsfrei zur Sprache bringt, wenn aus diesen Ereignissen die eigene Bedrohung und/ oder Verfolgung resultiert.

Darüber hinaus darf richtigerweise nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde zu Protokoll gab, dass er eine ihm angebotene Entschädigungszahlung durch die Behörden abgelehnt habe, weil ihm diese zu gering gewesen sei (AS 99 f). Die Ablehnung dieses Angebots deutet jedenfalls darauf hin, dass der Beschwerdeführer keine ernsthaften Bedenken bezüglich einer Gefährdung durch seine Widersacher hatte beziehungsweise ergeben sich daraus keine Hinweise, dass der Beschwerdeführer Verfolgungshandlungen in seinem Heimatland selbst befürchtete oder zu befürchten hatte, zumal er seine angeblichen Widersacher ohnhin einzig bei der Verhandlung während des Gerichtsverfahrens gesehen haben will (AS 100). Es widerstreitet den sonstigen Schilderungen, dass das Ausschlagen dieses Angebots in einem derart von mangelnder Vorsicht gekennzeichneten Kontext erfolgt sein sollte, zumal sich der Beschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt keineswegs sicher sein konnte, dass seine Widersacher in der Folge nicht doch gewaltsam wider ihn vorgehen.

Für das Bundesverwaltungsgericht war - dem BFA folgend - zudem zu berücksichtigen, dass sich auch nicht erschließt, wie der Beschwerdeführer ungeachtet der angeblich ständig bestehenden Verfolgungsgefahr aufgrund der von ihm geführten Gerichtsverfahren von 2015 bis zur Ausreise im Jahr 2022 seinem eigenen Vorbringen zufolge in Adana leben konnte. Der BF hielt sich vor seiner Ausreise weiterhin an seiner Wohnadresse auf und damit an einem Ort, an dem seine angeblichen – höchst gefährlichen und bestens vernetzten – Widersacher wohl durchaus zuerst nach ihm suchen würden. Personen, welche vorbringen, in einem Zustand der Todesangst zu sein, verhalten sich aus Sicht des BFA und des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls nicht so wie der Beschwerdeführer, der nach den angeblichen Drohungen weiterhin an seiner Wohnadresse zubrachte, musste er doch jederzeit mit dem Erscheinen seiner angeblichen Verfolger und mit von diesen ausgehenden Verfolgungshandlungen rechnen. Das Verhalten des Beschwerdeführers spricht somit entschieden gegen eine aktuelle Gefährdung vor der Ausreise. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer eine besondere Gefährdung seiner Person aufgrund der von ihm geführten Gerichtsverfahren ortet, wäre damit zu rechnen gewesen, dass bereits wesentlich früher eine Ausreise oder eine Übersiedelung erfolgen. Insoweit der BF diesen Überlegungen in der Beschwerde entgegnet, dass die Bedrohungen wider ihn und seine Familie erst im Jahr 2019 intensiver geworden seien, als er eine Berufung gegen das Strafverfahren gemacht habe und ihm hierbei mitgeteilt worden sei, er solle das Land verlassen, so vermag diese Argumentation ebenso wenig zu überzeugen, zumal dies nicht zu erklären vermag, weshalb der BF im Anschluss dennoch mehrere Jahre bis September 2022 in der Türkei verblieben ist. Der Beschwerdeführer hat insofern das Bedrohungspotential offenbar selbst nicht sehr hoch eingeschätzt, zumal er die Türkei selbst nach seinem Entschluss zur Ausreise ca. Mitte Oktober 2021 (AS 97) erst im September 2022 verlassen hat und daher selbst nach seinem Entschluss zur Ausreise noch etwa ein Jahr im Einflussbereich der Gegner an seiner Wohnadresse bzw. zumindest in deren Nähe verblieb. In diesem Zusammenhang ist schließlich zu berücksichtigen, dass auch ein Großteil der Familie des Beschwerdeführers, konkret etwa dessen Eltern und mehrere Geschwister, dessen Vorbringen zufolge weiterhin problemlos in der Türkei, insbesondere in der Provinz Adana, ansässig ist. Schwierigkeiten seiner Familienangehörigen mit seinen vermeintlichen Widersachern führte der BF - trotz angeblicher Drohungen wider diese - ebenso wenig ins Treffen.

Gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens spricht darüber hinaus, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt nicht plausibel darstellen konnte, weshalb es für ihn nicht möglich gewesen wäre, durch einen Wohnsitzwechsel – etwa nach Istanbul – dieser Bedrohung zu entgehen. In der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt befragt, weshalb er nicht den Wohnort innerhalb der Türkei gewechselt habe, gab der Beschwerdeführer allgemein zu Protokoll, dass sein Lebensmittelpunkt in Adana sei, er dort ein Haus besitze und ihm seine Widersacher gesagt hätten, dass er die Türkei ganz verlassen solle (AS 101). Ein nachvollziehbarer Grund, weshalb er einer allfälligen Gefährdung in seiner Heimatprovinz nicht zumindest innerhalb des Herkunftsstaates entgehen könnte, anstatt die Türkei gleich zu verlassen, wird damit jedoch nicht aufgezeigt.

Schließlich merkt die erkennende Richterin an, dass es zwar Bedenken geben mag, sollte die Behörde oder das Bundesverwaltungsgericht die Unglaubhaftigkeit eines (Flucht-)Vorbringens unreflektiert und ausschließlich damit begründen, dass ein Asylwerber nicht im – sozusagen – erstbesten sicheren Staat, den er nach dem Verlassen seines Herkunftsstaats betreten hat, einen Asylantrag gestellt hat. Auf eine derartige Argumentation zieht sich das Bundesverwaltungsgericht gegenständlich jedoch nicht zurück und werden dessen Feststellungen auch keineswegs ausschließlich darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer in keinem der von ihm durchreisten Staaten einen Asylantrag gestellt habe, weshalb das Bundesverwaltungsgericht ergänzend – unter Bedachtnahme auf die Angaben des Beschwerdeführers – darauf hinweist, dass dieser nicht nachvollziehbar darlegen konnte, weshalb er nicht in einem der durchreisten Staaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe (AS 8, 97). Dass sich der Beschwerdeführer etwa in Ungarn als einem Staat der Europäischen Union, mag sein Zielland auch die Bundesrepublik Deutschalnd gewesen sein, von einer Asylantragstellung hätte abhalten lassen, wäre im Falle einer tatsächlichen Verfolgung(sgefahr) im Herkunftsstaat nicht naheliegend, weshalb auch dieses Verhalten des Beschwerdeführers nicht dafür spricht, dass er seinen Herkunftsstaat im Jahr 2022 wegen einer tatsächlichen Gefahr verlassen hat. Insoweit kann der Schluss gezogen werden, dass es dem Beschwerdeführer nicht darum ging, einer Verfolgung in seinem Heimatland zu entgehen, sondern er seinen Antrag in einem west- oder mitteleuropäischen Land stellen wollte.

Es ist daher abschließend festzuhalten, dass die erkennnende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts das im Verfahren vor der belangten Behörde geschilderte Vorbringen einer Bedrohung und/ oder Verfolgung der Person des BF durch die an diesem Vorfall im April 2015 Beteiligten bzw. die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten aufgrund der vorangehend dargestellten Widersprüche und Ungereimtheiten sowie Unplausibilitäten des Vorbringens als nicht glaubhaft erachtete. Die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts zweifelt in keiner Weise an, dass dieses Vorbringen des Beschwerdeführers zur Begründung seines Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Ereignisse in Form einer Bedrohung und Verfolgung durch die an diesem Vorfall Beteiligten bzw. die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten nicht der Wahrheit entspricht.

Vor dem Hintergrund, dass sich Tanten und Onkel des BF in der Bundesrepublik Deutschland befinden, er deshalb die Bundesrepublik Deutschland als Ziel seiner Reise bezeichnete (AS 7 ff, 97) und eine Einreise oder ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für den Beschwerdeführer für Österreich oder ein anderes Land der Europäischen Union nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war, bestätigt sich daher die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Asylantragstellung lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte, um hier seine Lebenssituation aus gesundheitlichen bzw. wirtschaftlichen Motiven zu verbessern. Dementsprechend legte der Beschwerdeführer in der Erstbefragung bei der Schilderung der Fluchtgründe noch dar, dass er krank sei und sich für Deutschland als Ziel seiner Reise entschieden habe, weil es dort gute Ärzte gebe (AS 7). Des Weiteren darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Beschwerdeführer vor dem BFA erklärte, dass er die letzten Jahre keiner Arbeit nachgegangen sei und von seinen Ersparnissen gelebt habe (AS 98). Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig (offensichtlich missbräuchlich) zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz eingebracht wurde.

Eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers vor seiner Ausreise oder im Fall seiner Rückkehr in die Türkei kann das Bundesverwaltungsgericht somit aufgrund dieser Ausführungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen.

Was eine in den Raum gestellte Bedrohung und/oder Verfolgung wegen der bloßen Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe betrifft, so machen nach den aktuellen Länderinformationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für die Türkei zu den ethnischen Minderheiten und der Situation der Kurden, AS 156 ff) die Angehörigen der kurdischen Volksgruppe ca. 13 bis 15 Millionen der türkischen Gesamtbevölkerung von etwa 83 Millionen Einwohnern aus. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südostanatolien, wo sie die Mehrheit bilden, und auf Nordostanatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen (siehe Seite 51 des bekämpften Bescheides). Aus den herangezogenen Länderberichten zur Lage der Kurden in der Türkei ist jedenfalls keine systematische Verfolgung (oder eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung) sämtlicher Angehöriger der kurdischen Minderheit in der Türkei durch staatliche Organe oder durch Dritte abzuleiten.

Der Beschwerdeführer verblieb darüber hinaus jedenfalls bis nach seinem 33. Geburtstag in der Türkei und führte seine Ausreise im Wesentlichen auf konkrete (wiewohl nicht glaubhafte bzw. nicht asylrelevante) Vorfälle zurück. Dass ihm bereits zuvor aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit ein weiterer Verbleib im Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei, wurde von ihm nicht - glaubhaft - vorgebracht. Die zum Teil prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird weder von der belangten Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht in Abrede gestellt, im gegenständlichen Fall ist jedoch weder eine derart exponierte Stellung seiner Person in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass er aktuell von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wäre. Es ist zwar davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer auch die grundlegenden politischen Forderungen der PKK (Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen) möglicherweise inhaltlich teilt, in seinem Vorbringen finden sich jedoch keine Hinweise, dass er die terroristischen Aktivitäten der PKK nicht ablehnen würde und engagierte er sich auch nicht aktiv bei der PKK. Hinweise auf eine dem Beschwerdeführer aktuell allenfalls nur unterstellte Gesinnung im Hinblick auf die Aktivitäten der PKK sind im Verfahren ebenfalls nicht glaubhaft hervorgekommen. Insbesondere wurde der Beschwerdeführer in den letzten Jahren vor seiner Ausreise nie wegen einer ihm unterstellten Nähe zur PKK oder auch der Gülen-Bewegung von türkischen Behörden belangt. Darüber hinaus wurde kein Sachverhalt substantiiert vorgebracht, welcher auf eine Rückkehrgefährdung aufgrund eines tatsächlichen oder nur unterstellten Naheverhältnisses zur PKK oder der Gülen-Bewegung hindeuten würde, sodass eine solche Rückkehrgefährdung aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts auch auszuschließen ist.

2.2.4.3. Unter der theoretischen Annahme, dass das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers, insbesondere dass der BF durch an dem Vorfall im April 2015 beteiligte Personen bzw. durch die seine Verletzung am linken Auge verursachenden Täter bedroht und verfolgt worden sei, real wäre, müsste das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch verneint werden, da den Länderberichten zur Türkei bezüglich einer Bedrohung durch Privatpersonen zu entnehmen ist, dass die türkischen Behörden grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig sind. Dass der Beschwerdeführer durch die dortigen Behörden nicht wirksam Schutz vor Bedrohung der behaupteten Art finden kann, hat der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft dargetan. Des Weiteren müsste das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei einer derartigen Auseinandersetzung mit Privatpersonen jedenfalls auch wegen des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative verneint werden. Es steht dem Beschwerdeführer frei, sich an einem anderen Ort in der Türkei - konkret bspw. Istanbul - niederzulassen und wird dies auch von Seiten des Bundesverwaltungsgerichts für zumutbar gehalten. Das Bundesverwaltungsgericht kann ferner nicht erkennen, dass dem Beschwerdeführer aus individuellen Erwägungen ein Aufsuchen Istanbuls nicht zumutbar wäre. Der Beschwerdeführer ist jung, abgesehen vom Verlust des linken Auges gesund, arbeitsfähig, verfügt über eine mehrjährige schulische Ausbildung sowie Berufserfahrung als selbständiger Textildesigner und sollte im Falle seiner Rückkehr durch die Aufnahme einer Tätigkeit, selbst wenn es sich dabei um eine Hilfstätigkeit handelt, seinen Lebensunterhalt bestreiten können, zumal der BF in der Türkei auch noch über zwei Grundstücke und zwei Fahrzeuge verfügt. Zur Sicherheitslage in Istanbul ist auszuführen, dass diese nach der Quellenlage verglichen relativ stabil ist. Anschläge finden vereinzelt statt. Dass es vereinzelt zu Anschlägen kommt, ändert aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nichts daran, dass die Sicherheitslage insgesamt als annehmbar, wenn auch nicht ganz frei von gelegentlichen Terrorakten, anzusehen ist. Die im Verfahren herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen bringen jedenfalls hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die türkischen Sicherheitskräfte für eine ausreichend stabile Sicherheitslage sorgen.

 

Dass Istanbul im Luftweg erreichbar ist, ergibt sich aus der insoweit unbestritten gebliebenen Quellenlage. Gegenteiliges wurde im Verfahren nicht vorgebracht.

2.2.4.4. Die seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vorgenommene Beweiswürdigung ist im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig. Sie steht auch im Einklang mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wonach die Behörde einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubwürdig anerkennen kann, wenn der Asylwerber während des Verfahrens im Wesentlichen gleich bleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst sehr spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängten, dass sie nur der Asylerlangung um jeden Preis dienen sollten, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen. Als glaubhaft könnten Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650).

Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305, führen beispielsweise in Zitierung des Urteils des Obersten Gerichtshofs vom 29.02.1987, Zahl 13 Os 17/87, aus: "Die aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnene freie Überzeugung der Tatrichter wird durch eine hypothetisch denkbare andere Geschehensvariante nicht ausgeschlossen. Muss doch dort, wo ein Beweisobjekt der Untersuchung mit den Methoden einer Naturwissenschaft oder unmittelbar einer mathematischen Zergliederung nicht zugänglich ist, dem Richter ein empirisch-historischer Beweis genügen. Im gedanklichen Bereich der Empirie vermag daher eine höchste, ja auch eine (nur) hohe Wahrscheinlichkeit die Überzeugung von der Richtigkeit der wahrscheinlichen Tatsache zu begründen, (...)"; vgl. auch VwGH 18.06.2014, Ra 2014/01/0032, wonach der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 17 VwGVG 2014 in Verbindung mit § 45 Abs. 2 AVG auch für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht uneingeschränkt gelte.).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist unter Heranziehung dieser, von der höchstgerichtlichen Judikatur festgelegten, Prämissen für den Vorgang der freien Beweiswürdigung dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht entgegenzutreten.

2.2.4.5. In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet. Der Beschwerdeführer ist in der Beschwerde auch keinem der dargestellten beweiswürdigenden Argumente des BFA substantiiert entgegengetreten. Schließlich langte bislang auch kein ergänzender Schriftsatz beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Insoweit das in der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA erstattete Vorbringen in der Beschwerde wiederholt wird, wird damit die Beweiswürdigung des BFA nicht substantiiert angegriffen. Die bloße Wiederholung eines bestimmten Tatsachenvorbringens in der Beschwerde stellt weder ein substantiiertes Bestreiten der erstinstanzlichen Beweiswürdigung noch eine relevante Neuerung dar (vgl. VwGH 27.05.2015, Ra 2015/18/0021, mwN).

 

2.2.4.6. Der Beschwerdeführer rügte zwar die Verletzung von Verfahrensvorschriften (§ 18 Abs. 1 AsylG 2005), inwieweit (konkret) die belangte Behörde (die) Verfahrensvorschriften verletzt habe, zeigt er aber nicht nachvollziehbar auf.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Niederschriften über die Erstbefragung sowie über die Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde vollen Beweis über den Verlauf und den Gegenstand der Amtshandlung liefern (§ 15 AVG) und sowohl den Feststellungen als auch der Beweiswürdigung zugrunde gelegt werden konnten.

Hervorzuheben ist, dass der Beschwerdeführer mit seiner Unterschrift bestätigte, dass es bei der Erstbefragung keine Verständigungsprobleme gegeben habe und dass ihm die Niederschrift rückübersetzt worden sei, er hatte keine Ergänzungen/Korrekturen zu machen (AS 11); die Niederschrift enthält keinen Hinweis auf etwaige Unregelmäßigkeiten. Dasselbe trifft auf die Einvernahme vor der belangten Behörde am 17.04.2023 (11:30 h bis 13:15 h; AS 93 ff) zu. Am Ende der Einvernahme am 17.04.2023 bejahte der Beschwerdeführer die Frage, ob er Gelegenheit gehabt habe, alles vorzubringen, was ihm wichtig erscheine (AS 102). Ferner ließ der BF nach erfolgter Rückübersetzung am Ende der Einvernahme vor dem BFA keine Korrekturen an der Niederschrift vornehmen und brachte auch ansonsten keine Einwendungen gegen die Niederschrift vor (AS 102 f). Des Weiteren bestätigte der BF, dass er den Dolmetscher einwandfrei verstanden habe (AS 103). Einwendungen im Sinne des § 14 Abs. 3 AVG wurden von Seiten des Beschwerdeführers nach der Rückübersetzung insoweit nicht vorgebracht.

Die Leiterin der Einvernahme am 17.04.2023 stellte dem Beschwerdeführer an diesem Tag u. a. konkrete Fragen zu allfälligen Problemen in seinem Herkunftsstaat. Der BF hatte die Gelegenheit, die Gründe für seinen Asylantrag ausführlich in freier Erzählung darzulegen. Darauf folgten zahlreiche konkrete Fragen und Aufforderungen durch die Leiterin der Amtshandlung zu den vom Beschwerdeführer behaupteten Fluchtgründen (AS 99 ff).

Die belangte Behörde ist ihrer aus § 18 AsylG 2005 in Verbindung mit § 37 und § 39 Abs. 2 AVG resultierenden Pflicht, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen, somit nachgekommen (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0236). Namentlich hat die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hingewirkt, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrags geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrags notwendig erscheinen. Zu beachten ist überdies, dass aus § 18 AsylG 2005 keine Verpflichtung abgeleitet werden kann, Umstände ermitteln zu müssen, die ein Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0202). Ferner zieht § 18 AsylG 2005 nicht die Pflicht nach sich, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (VwGH 15.10.2018, Ra 2018/14/0143). Insbesondere kann keine Verpflichtung der belangten Behörde erkannt werden, den Beschwerdeführer zu seinem Standpunkt dienlichen Angaben durch zielgerichtete Befragung gleichsam anzuleiten.

 

Der Vorwurf, dass sich die belangte Behörde mit dem ausreisekausalen Vorbringen des Beschwerdeführers nicht ausreichend auseinandergesetzt habe, entbehrt angesichts des Inhalts des angefochtenen Bescheides (vgl. insbesondere AS 122 ff und die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts unter Punkt 2.2.4.) daher jeglicher Grundlage. Dass der Beschwerdeführer ein derart verfehltes und nicht einmal ansatzweise den Tatsachen entsprechendes Vorbringen erstattet, begründet zum einen zusätzlich erhebliche Zweifel an seiner persönlichen Glaubwürdigkeit und ist zum anderen ein untrügliches Indiz dafür, dass er dem angefochtenen Bescheid keine sachlichen oder rechtlichen Argumente entgegenzusetzen hat.

Wenn der Beschwerdeführer moniert, dass eine spezifischere Fragestellung erforderlich gewesen wäre und dies eine Verletzung des Grundsatzes des Parteiengehörs darstelle (AS 233 f), so ist dem nochmals explizit zu entgegnen, dass es grundsätzlich dem Asylwerber zukommt, dass dieser die Gründe seiner Furcht vor Verfolgung konkret und substantiiert vorbringen konnte (VwGH 21.11.1996, 95/20/0334). Dem Antragsteller wurde im vorliegenden Fall im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme ausreichend Gelegenheit eingeräumt, alle für die Entscheidung wesentlichen Umstände anzuführen. Dem Beschwerdeführer wurde am 17.04.2023 eindreiviertel Stunden Zeit geboten, die jeweiligen Fluchtgründe und Rückkehrhindernisse ausführlich darzulegen. Bei Betrachtung der Niederschrift ist jedenfalls erkennbar, dass dem Beschwerdeführer ausreichende Gelegenheit gegeben wurde, die an ihn gerichteten Fragen ausführlich beantworten zu können. Der Verwaltungsgerichtshof ist der Ansicht, dass es dem Asylwerber obliegt alles Zweckdienliche für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen (vgl. VwGH 20.01.1993, 92/01/0752; 19.05.1994, 94/19/0465 mwN) und die belangte Behörde ist nicht verpflichtet den Antragsteller derart anzuleiten, dass sein Antrag von Erfolg gekrönt sein muss. Dieses Vorbringen in der Beschwerde ist im Ergebnis nicht dergestalt, um damit der Beweiswürdigung der belangten Behörde konkret und substantiiert entgegen zu treten, weshalb auch keine Verpflichtung zur Durchführung eines ergänzenden Ermittlungsverfahrens besteht. Eine Verletzung der Ermittlungspflichten kann aus diesem Grund nicht festgestellt werden, vielmehr wurde dem Beschwerdeführer bereits in der Erstbefragung das Merkblatt bezüglich der Pflichten und Rechte von Asylwerbern in einer ihm verständlichen Sprache ausgehändigt (AS 6, 10). Ihm musste also die Mitwirkungspflicht im Asylverfahren und die Folgen einer allfälligen Verletzung dieser Pflicht bewusst sein, was ihn jedoch nicht zu weitergehenden Angaben veranlasste. Abschließend ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass konkret und kurz zu beantwortende Fragen letztlich im Interesse des Beschwerdeführers liegen. Einerseits kann auf diese Weise Missverständnissen vorgebeugt werden und ermöglichen derartige Fragen andererseits gut strukturierte und präzise Antworten. Dem Beschwerdeführer blieb es jedenfalls offensichtlich unbenommen, die an ihn gestellten Fragen auch umfänglicher zu beantworten.

 

Die belangte Behörde konnte sich auf die niederschriftlichen Ausführungen des BF und die - aktuellen - Länderfeststellungen zur Türkei stützen, um den Sachverhalt abschließend beurteilen zu können. Von Seiten des BFA wurden umfassende Länderdokumentationsunterlagen zur Beurteilung der Situation vor Ort herangezogen. Im Übrigen erläuterte der BF in keiner Weise näher aufgrund welcher konkreten Umstände vor Ort die vorstehend dargestellten Widersprüche entkräftet bzw. das lebensfremde Verhalten des BF erklärbar wären, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann (dazu auch Hengstschläger-Leeb, Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, RZ 65 zu § 52 AVG).

Dass die Behörde § 18 Abs. 1 AsylG 2005 nicht entsprochen hätte, erweist sich in Anbetracht der bisherigen Ausführungen als unzutreffende Behauptung. Außerdem zeigt der Beschwerdeführer die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel nicht konkret auf, sondern behauptet weitgehend pauschal, die Behörde hätte bei entsprechender Würdigung sowie ausführlicher Ermittlung zu seinen Gunsten entscheiden müssen (vgl. zur Erforderlichkeit, die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler in konkreter Weise darzulegen, VwGH 23.02.2016, Ra 2016/01/0012). Auch hat der Beschwerdeführer von der Möglichkeit, nähere und präzisere Angaben zu machen und der Beweiswürdigung in allen wesentlichen Punkten substantiiert entgegenzutreten, gerade nicht umfassend Gebrauch gemacht. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer tatsächlich kein zulässiges verfahrensrelevantes Vorbringen mehr zu erstatten hat, andernfalls ein solches wohl in der Beschwerde erstattet worden wäre. Das Bundesverwaltungsgericht geht ferner davon aus, dass sowohl das Ermittlungsverfahren von der belangten Behörde insofern ausreichend korrekt durchgeführt als auch der entscheidungsrelevante Sachverhalt vollständig erhoben wurde.

 

2.2.4.7. Insoweit in der Beschwerde moniert wurde, dass es an einer Plausibilitätskontrolle des Vorbringens des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund einschlägiger Länderberichte fehle, so ist einerseits auf die Ausführungen in der Beweiswürdigung zur Aktualität der Länderberichte und andererseits den Beschwerdegegenstand und das Vorbringen des Beschwerdeführers zu verweisen, wodurch sich zeigt, dass die belangte Behörde das vom Beschwerdeführer geschilderte Vorbringen in einem ausreichenden Maße vor dem Hintergrund eines aktuellen Länderinformationsblatts der Staatendokumentation beurteilte.

 

2.2.4.8. Was eine vermeintlich unschlüssige Beweiswürdigung betrifft, so gilt es wiederum zu bedenken, dass der Beschwerdeführer mit diesen und auch den übrigen Ausführungen in der Beschwerde den Erwägungen zur Glaubhaftigkeit seines Vorbringens, insbesondere dem Umstand, dass dieses, wie die Behörde zutreffend erkannte, widersprüchlich und unplausibel gewesen sei, überhaupt nichts ernsthaft entgegensetzt. Von einem im Zeitpunkt der Einvernahmen volljährigen und im Wesentlichen psychisch und physisch gesunden Antragsteller ist grundsätzlich zu erwarten, dass er seine Ausreisegründe zumindest in den Eckpunkten und bei der ersten Möglichkeit sich hierzu zu äußern wahrheitsgemäß und möglichst genau angibt. Im Ergebnis ist es dem Beschwerdeführer weder gelungen eine wesentliche Unschlüssigkeit der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung aufzuzeigen, noch ist er dieser im Rahmen der Anfechtungsbegründung in substantiierter Form entgegengetreten. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, dass der Beschwerdeführer entweder in begründeter Form eine maßgebliche Unrichtigkeit der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung dargetan oder Argumente vorgebracht hätte, die einerseits zu einer anderen Gewichtung oder Bewertung der verfahrensgegenständlichen Beweismittel führen würden oder aus denen andererseits im Rahmen der allgemeinen Denklogik eine Prävalenz des von ihm dargestellten Geschehnisablaufs gegenüber jenem von der Verwaltungsbehörde angenommenen hervorleuchtet, was im Ergebnis zu einer anders gelagerten Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des der weiteren rechtlichen Würdigung zugrunde zu legenden historisch-empirischen Sachverhalts führen würde.

 

2.2.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:

2.2.5.1. Die von der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Verfahren getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid bzw. Erkenntnis angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die belangte Behörde hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat) ergibt.

 

Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde gelegt wurden, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Dementsprechend ergibt sich auch nach Einsicht in das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei (Version 8 vom 7. März 2024) keine wesentliche Verschlechterung der allgemeinen Situation sowie der Sicherheitslage in der Türkei, weswegen es, insbesondere nach Prüfung der Situation im Herkunftsgebiet anhand aktueller Berichte, auch - entgegen der Behauptung in der Beschwerde - nicht erforderlich war, dem Verfahren aktuellere Länderfeststellungen zu Grunde zu legen.

 

Die Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat sollen ein objektives Bild über die gegenwärtige Situation im Herkunftsstaat zeichnen. Dazu ist es freilich nicht erforderlich, dass jede verfügbare Quelle betreffend den Herkunftsstaat ausgewertet und dargestellt wird, zumal ansonsten eine Uferlosigkeit der erforderlichen Ermittlungen zu befürchten ist. Entscheidend ist, dass Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden, um die notwendige Ausgewogenheit sicherzustellen und dermaßen einen möglichst realitätsnahen Gesamteindruck im Hinblick auf die Lage im Herkunftsstaat zeichnen. Es ist nicht möglich, im Rahmen der zu treffenden Feststellungen jeglichen Bericht zur Lage in der Türkei wörtlich zu zitieren bzw. zu erwähnen. Wesentlich ist es, ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zu zeichnen, was aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts gegeben ist und weshalb diesbezüglich auf die - unter Berücksichtigung der vom BFA und dem Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen - getroffenen weiteren Ausführungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung verwiesen werden kann.

 

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht daher kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der BF trat den Quellen und deren Kernaussagen zu den herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage in der Türkei weder im Zuge der Einvernahme noch in der Beschwerde substantiiert entgegen. Die maßgeblichen Länderinformationen, die die Behörde und daran anknüpfend die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts den Feststellungen als Beweismittel zugrunde gelegt hat, erscheinen schlüssig, richtig und vollständig. Die belangte Behörde brachte diese Länderinformationen in das Verfahren ein und räumte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme bezüglich des von ihm herangezogenen Länderinformationsblatts zur Türkei ein. Der Beschwerdeführer verzichtete auf eine Stellungnahmemöglichkeit (AS 102).

Wenn in der Beschwerde auszugsweise Passagen aus einer älteren Version des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zur Türkei zur Thematik der Korruption (AS 235) zitiert werden, so ist diesbezüglich zur Vollständigkeit anzumerken, dass diese Länderinformationen bereits als veraltet anzusehen sind. Soweit der Beschwerdeführer mit den Berichten auf die aktuelle Situation bezüglich Korruption hinweisen möchte, wird insoweit auf die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen verwiesen, zumal vom BFA und dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidungsfindung ohnehin eine aktuellere Version des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zur Türkei herangezogen wird. Im Hinblick auf diesen Themenbereich kann jedenfalls auf die vorangehenden und nachstehenden Ausführungen verwiesen werden, zumal es – unter Heranziehung der aktuellen Länderinformationen – eine Frage der Beweiswürdigung und insbesondere der rechtlichen Beurteilung ist, inwieweit dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen eine Rückkehr möglich und zumutbar ist.

Die Situation im Herkunftsland hat sich auch seit der Erlassung des verwaltungsbehördlichen Bescheides im Februar 2024 in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert. Hierbei ist anzumerken, dass es sich bei der Türkei um einen Staat handelt, der zwar im Hinblick auf menschenrechtliche Standards Defizite aufweist, darüber hinaus aber nicht - etwa im Vergleich zu Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien u.v.a. - als Staat mit sich rasch ändernder Sicherheitslage auffällig wurde, sondern sich im Wesentlichen über die letzten Dekaden als relativ stabil erwiesen hat (vgl. dazu etwa VfGH 21.09.2017, Zl. E 1323/2017-24, VwGH 13.12.2016, Zl. 2016/20/0098).

2.2.5.2. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Behörde beziehungsweise das Verwaltungsgericht verpflichtet ist, sich aufgrund aktuellen Berichtsmaterials ein Bild über die Lage in den Herkunftsstaaten der Asylwerber zu verschaffen (vgl. VwGH 30.10.2020, Ra 2020/19/0298). In Ländern mit besonders hoher Berichtsdichte, wozu die Türkei zweifelsfrei zu zählen ist, liegt es in der Natur der Sache, dass die Behörde nicht sämtliches existierendes Quellenmaterial verwenden kann, da dies ins Uferlose ausarten würde und den Fortgang der Verfahren zum Erliegen bringen würde. Vielmehr wird den oa. Anforderungen schon dann entsprochen, wenn es einen repräsentativen Querschnitt des vorhandenen Quellenmaterials zur Entscheidungsfindung heranzieht (vgl. VwGH 11.11.2008, 2007/19/0279). Die der Entscheidung zu Grunde gelegten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers können somit zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, jedoch - entgegen den Ausführungen in der Beschwerde (AS 133, 135) - als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation des Beschwerdeführers in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann. Die vom BFA und dem Bundesverwaltungsgericht getroffene Auswahl des Quellenmaterials ist aus diesem Grunde daher ebenso wenig zu beanstanden.

Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

2.2.6. Der Beschwerdeführer beantragte in seiner Beschwerdeschrift eine mündliche Verhandlung bzw. persönliche Einvernahme. Hierbei wurde aber nicht angeführt, was bei einer weiteren - persönlichen Einvernahme im Asylverfahren - konkret an entscheidungsrelevantem und zu berücksichtigendem Sachverhalt noch hervorkommen hätte können. Das Vorbringen hinsichtlich der Alltagsprobleme wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe in Form schikanöser Behandlung wurde ohnehin dem Verfahren zugrunde gelegt und handelt es sich dabei um eine Rechtsfrage in Bezug auf die Asylrelevanz bzw. den Verfolgungsbegriff und keine Thematik der Beweiswürdigung. Selbiges gilt für das Vorbringen bezüglich des Vorfalls im Jahr 2015, der beim Beschwerdeführer zum Verlust des linken Auges führte. Das sonstige Fluchtvorbringen hinsichtlich der Bedrohung und/ oder Verfolgung durch die an diesem Vorfall Beteiligten bzw. durch die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten wurde aufgrund einer schlüssigen Beweiswürdigung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid als nicht glaubhaft qualifiziert und ist des Weiteren auf eine Alternativbegründung in Form des Vorliegens der Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates und des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative hinzuweisen, weshalb die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben konnte.

2.2.7. Der Beschwerdeschriftsatz enthält im Übrigen keine konkreten Ausführungen, die zu einer anders lautenden Entscheidung führen könnten und vermag daher die erkennende Richterin auch nicht zu weiteren Erhebungsschritten und insbesondere auch nicht zur Abhaltung einer mündlichen Verhandlung veranlassen, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu keinem anderen Verfahrensausgang geführt hätte.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit, Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung". Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069; VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 15.03.2015, Ra 2015/01/0069; VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472).

 

Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 09.04.1997, Zl. 95/01/055; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, Zl. 95/20/0239; VwGH 16.02.2000, Zl. 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 22.01.2021, Ra 2021/01/0003)

 

Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; jüngst VwGH 23.02.2021, Ra 2020/18/0500).

 

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 28.04.2015, Ra 2014/19/0177; VwGH 12.06.2020, Ra 2019/18/0440); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183, VwGH 08.06.2000, 99/20/0203).

 

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 18.11.2015; Ra 2015/18/0220; VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).

 

Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann weiters nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht (VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203, VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0291, VwGH 07.09.2000, Zl. 2000/01/0153, VwGH 20.05.2015, Ra 2015/20/0030; VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, ua.)

 

3.1.2. Im gegenständlichen Fall sind nach Ansicht der erkennenden Richterin die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund, nicht gegeben.

Der Beschwerdeführer vermochte nämlich keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen (vgl. Punkt 2 ff des gegenständlichen Erkenntnisses).

 

3.1.3. Was die Ereignisse im Jahr 2015 im Zuge derer der Beschwerdeführer bei einem Schusswechsel zwischen zwei bewaffneten Gruppierungen als unbeteiligter Passant das linke Auge verlor betrifft, so mangelt es diesem Vorbringen am erforderlichen zeitlichen Zusammenhang mit der späteren Ausreise im September 2022, weswegen diesen Ereignissen allein schon aus diesem Grund keine Asylrelevanz zukommen kann. Die Voraussetzung wohlbegründeter Furcht wird in der Regel nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0430; siehe auch 30.08.2007, 2006/19/0400; 17.03.2009, 2007/19/0459). Eine asylrelevante Verfolgungsgefahr ist nämlich nur dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 24.11.1999, 99/01/0280). Ein zeitlicher Zusammenhang besteht auch bei länger zurückliegenden Ereignissen dann, wenn sich der Asylwerber während seines bis zur Ausreise noch andauernden Aufenthalts im Lande verstecken oder sonst durch Verschleierung seiner Identität der Verfolgung einstweilen entziehen konnte. Ab welcher Dauer eines derartigen Aufenthalts Zweifel am Vorliegen einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung begründet erscheinen mögen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (VwGH 07.11.1995, 94/20/0793). Dass sich der Beschwerdeführer längere Zeit versteckt hätte oder sich sonst durch Verschleierung seiner Identität einer (hier hypothetischen) Verfolgung hätte entziehen können, brachte er nicht vor. Die rein subjektive Befürchtung des Beschwerdeführers, ihm könne womöglich im Fall einer Rückkehr etwas zustoßen, vermag eine asylrelevante Gefährdung nicht aufzuzeigen. Es ergibt sich somit aus diesem Grund in Zusammenschau mit den getroffenen Feststellungen zum Herkunftsstaat keine glaubhaft aktuelle und konkrete Gefährdung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, zumal der Beschwerdeführer in den Folgejahren in der Türkei verblieb und dort bis zu seiner Ausreise von seinen Ersparnissen in seiner Herkunftsprovinz lebte.

 

3.1.4. Selbst wenn man das gesamte sonstige Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich einer individuell, gezielt gegen ihn gerichteten Verfolgung durch die am Vorfall im April 2015 Beteiligten bzw. durch die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten für glaubhaft erachten würde und der rechtlichen Beurteilung zugrunde legt, konnte der Beschwerdeführer keine Umstände dartun, die die Annahme rechtfertigen würden, dass er in seinem Heimatstaat einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt sei, und konnten daher die von ihm geltend gemachten Fluchtgründe nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Es ist dem Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang nicht gelungen, eine gezielt und konkret gegen ihn gerichtete, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende, Asylrelevanz erreichende Verfolgung darzutun.

3.1.4.1. Selbst bei Wahrunterstellung des gesamten sonstigen Vorbringens des Beschwerdeführers ist darin keine Asylrelevanz zu erblicken, zumal diesen von privater Seite erfolgten Übergriffen lediglich dann asylrelevanter Charakter zukäme, wenn der Heimatstaat in einer solchen Situation aus in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit wäre, der verfolgten Person Schutz zu gewähren. Das folgt nach der Rechtsprechung daraus, dass das Asylrecht als Ausgleich für fehlenden staatlichen Schutz konzipiert ist, sodass bei der Beurteilung des Vorliegens eines Konventionsgrundes letztlich auch der Frage nach den Ursachen des Unterbleibens eines solchen Schutzes Bedeutung beigemessen werden muss (vgl. VwGH 26.11.2014, Ra 2014/19/0059). Diesbezüglich legte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall nicht substantiiert dar, dass in der Türkei die staatlichen Schutzmechanismen gegenüber privaten Bedrohungen in der von ihm behaupteten Form nicht ausreichend bzw. die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Sicherheitsorgane nicht gegeben seien und es ihm nicht möglich und zumutbar wäre, sich im Falle der behaupteten Bedrohungen an die Sicherheitsbehörden des Herkunftsstaats zu wenden, um deren Schutz in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich wandte sich der Beschwerdeführer in dieser Angelegenheit bislang bereits mehrfach an die türkischen Behörden, die allerdings im Rahmen der durchgeführten Verfahren - aus seiner subjektiven Sicht - zu seinen Ungunsten entschieden. Bezüglich der Darlegungen des Beschwerdeführers, wonach die Behörden/ das Gericht von seinen Widersachern bestochen worden sei(en) (AS 100 f, 232, 238), besteht nicht der geringste Anhaltspunkt und handelt es sich um Spekulationen des Beschwerdeführers, die allesamt auch rein kriminell motivierte Handlungen darstellen würden. Auch wenn die Sicherheitskräfte in der Türkei nicht derartig effizient wie mitteleuropäische Sicherheitskräfte vorgehen, kann daraus indes nicht geschlossen werden, dass (im Fall einer Rückkehr) dem Beschwerdeführer staatlicher Schutz aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen verweigert würde. Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht nicht verkennt, dass es durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte zwar weiterhin auch zu Menschenrechtsverletzungen kommt und von Korruption sowie mangelndem Vertrauen in Sicherheitsorgane berichtet wird, stellen die vom Beschwerdeführer angesprochenen Vorfälle in der Türkei jedenfalls amtswegig zu verfolgende strafbare Handlungen dar und existieren auch Behörden, welche zur Strafrechtspflege und Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit berufen und auch effektiv tätig sind. Auf Basis der Länderberichte kann nicht geschlossen werden, dass die Polizei systematisch in den vom Beschwerdeführer geschilderten Angelegenheiten nichts unternimmt oder sich systematisch (politisch) beeinflussen lässt oder bei einer entsprechenden Anzeige untätig bleiben würde. Des Weiteren kann auf Grund der Quellenlage nicht angenommen werden, dass die türkische Justiz bei begründetem Sachverhalt kein Verfahren einleiten würde, und hat der Beschwerdeführer dies auch nicht behauptet. Wie sich aus den Länderberichten ergibt, agiert die türkische Polizei prinzipiell auf Grundlage der Gesetze. Es haben sich somit im gegenständlichen Fall keine ausreichend nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die türkischen Behörden dem Beschwerdeführer effektiven Schutz gegen allfällige Angriffe und Bedrohungen tatsächlich verweigern würden.

Selbst bei der Annahme, dass die örtliche Polizei bestechlich sei, wäre dem Beschwerdeführer die Möglichkeit unbenommen (gewesen), sich an eine übergeordnete Dienststelle zu wenden bzw. mit Hilfe eines Anwalts bei Gericht gegen vermeintliche Verfolgungshandlungen der Polizei vorzugehen. Entsprechendes gilt im Falle der Bestechlichkeit eines örtlichen Richters. Lediglich ergänzend ist dazu anzumerken, dass die Polizei zwar nicht in jedem Fall im Stande sein wird, ein Verbrechen (bzw. eine gerichtlich strafbare Handlung) bereits im Vorhinein zu verhindern oder in der Folge lückenlos aufzuklären, dies jedoch nicht als Argument für ein völliges Fehlen staatlichen Schutzes herangezogen werden kann. Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass polizeiliche Erhebungen auch längere Zeit andauern und unter Umständen auch erfolglos bleiben können. Daraus kann jedoch weder auf eine mangelnde Schutzfähigkeit noch auf die fehlende Schutzwilligkeit der Behörden geschlossen werden.

 

3.1.4.2. Des Weiteren ist bezüglich des Vorbringens einer Bedrohung und/ oder Verfolgung durch die am im April 2015 erfolgten Vorfall Beteiligten bzw. durch die die Verletzung verursachenden Täter wegen der Bemühungen des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu erhalten auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative hinzuweisen, auch wenn eine solche Prüfung ebenfalls nur eine hypothetische darstellt, ohne hierdurch das Vorbringen des Beschwerdeführers bezüglich einer gezielten Verfolgung durch die an dem im April 2015 erfolgten Vorfall Beteiligten bzw. durch die die Verletzung verursachenden Täter als glaubhaft qualifizieren zu wollen:

 

Sollte sich der Beschwerdeführer in seiner Heimatregion – in der Provinz Adana - unsicher fühlen, so stünde es ihm jederzeit frei seinen Wohnsitz in einen anderen Teil der Türkei (z.B. Istanbul) zu verlegen.

 

Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaats, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine so genannte innerstaatliche Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.03.1999, Zl. 98/01/0352). Nach der Rechtsprechung des VwGHs muss sich die Verfolgungsgefahr auf das gesamte Staatsgebiet beziehen. Nach einer in der älteren Rechtsprechung verwendeten Formulierung darf in keinem Teil des Herkunftsstaats Verfolgungssicherheit bestehen (VwGH 10.3.1993, Zl. 03/01/002). Nach der jüngeren Rechtsprechung ist mit dieser Formulierung jedoch nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, die Formulierung sei dahingehend zu verstehen, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeiten innerhalb des Herkunftsstaats - im gesamten Herkunftsstaat auswirken müsse (VwGH 9.11.2004, Zl 2003/01/0534; VwGH 24.11.2005, 2003/20/0109).

 

Nur im Hinblick auf nichtstaatliche Verfolgung ist das Bestehen einer innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht zu ziehen und ist von der Behörde stets zu prüfen, ob die verfolgende Organisation als mächtig eingestuft werden könne beziehungsweise ob eine lokale Begrenztheit des Wirkungskreises dieser Organisation angenommen werden könne (VwGH 15.05.2003, 2002/01/0560).

 

Um vom Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, müssen die Asylbehörden über Ermittlungsergebnisse verfügen, die die Sicherheit der Asylwerber dartun (vgl. etwa VwGH 8.9.1999, Zl. 99/01/0126; VwGH 16.2.2000, Zl 99/01/0149). Es muss konkret ausgeführt werden, wo der Beschwerdeführer tatsächlich Schutz vor der von ihm geltend gemachten Bedrohung finden könnte. Entsprechend dem „Ausschlusscharakter“ der internen Schutzalternative müsse es Sache der Behörde sein, die Existenz einer internen Schutzalternative aufzuzeigen und nicht umgekehrt Sache des Asylwerbers, die Annahme einer theoretisch möglichen derartigen Alternative zu widerlegen und nimmt der Verwaltungsgerichtshof mit dieser Rechtsprechung jedenfalls eine Beweislast der Asylbehörden an (VwGH 09.09.2003, 2002/01/0497 und 08.04.2003, 2002/01/0318 sowie zur Ermittlungspflicht VfGH 02.10.2001, B 2136/00).

 

Aufgrund des sich Versteckthaltens kann noch nicht von einer innerstaatlichen Fluchtalternative gesprochen werden (etwa VwGH 18.4.1996, Zl.95/20/0295; VwGH 20.3.1997, Zl 95/20/0606; in diesem Sinne ebenfalls VwGH 29.10.1998, Zl. 96/20/0069).

 

Ebenso darf der Betroffene im sicheren Landesteil nicht in eine aussichtslose Lage gelangen und jeglicher Existenzgrundlage beraubt werden. Solcherart wird dem Kriterium der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative Beachtung geschenkt (VwGH 8.9.1999, Zl. 98/01/0614, VwGH 6.10.1999, Zl. 98/01/0535, VwGH 8.6.2000, 99/20/0597; VwGH 19.10.2006, Zl. 2006/0297-6; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529; VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; VwGH 24.1.2008, Zl. 2006/19/0985-10). Auch wirtschaftliche Benach-teiligungen können asylrelevant sein (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529; VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; VwGH 08.11.2007, 2006/19/0341). Dem gegenüber seien gemäß ständiger Rechtsprechung allfällige aus der Situation des Asylwerbers ableitbare wirtschaftliche beziehungsweise soziale Benachteiligungen nicht geeignet, zu einer Verneinung der inländischen Fluchtalternative zu führen, zumal alleine in allgemeinen schlechten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen keine staatliche Verfolgung gesehen werden könne (VwGH 08.09.1999, 98/01/0620; VwGH 24.10.1996, 95/20/0321; VwGH 10.12.1996, 06/20/0753).

 

Maßgebliche Faktoren zur persönlichen Zumutbarkeit können das Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse, soziale und andere Schwächen, ethnische, kulturelle oder religiöse Überlegungen, politische und soziale Verbindungen und Vereinbarkeiten, Sprachkenntnisse, Bildungs-, Berufs- und Arbeitshintergrund und -möglichkeiten, sowie gegebenenfalls bereits erlittene Verfolgung und deren psychische Auswirkungen sein. Es wird jedoch die Ansicht vertreten, dass schlechte soziale und wirtschaftliche Bedingungen in dem betreffenden Landesteil die innerstaatliche Fluchtalternative nicht grundsätzliche ausschließen (siehe VwGH 8.9.1999, 98/01/0620; VwGH 26.6.1996, 95/20/0427). Ein bloßes Absinken des Lebensstandards durch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative, welches jedoch noch über dem Niveau der aussichtslosen Lage ist daher bei Bestehen einer Existenzgrundlage hinzunehmen.

 

In der Regel wird eine innerstaatliche Fluchtalternative für unbegleitete Minderjährige zu verneinen sein, weil es vielfach nicht legal möglich ist oder zumutbar wäre, ohne Eltern und gesetzlichen Vertreter in einem Teil des Landes den Wohnsitz zu nehmen, in dem der Minderjährige einer individuellen Verfolgung nicht ausgesetzt gewesen wäre (VwGH 26.06.1996, 95/20/0427). Im Falle der Annahme einer innerstaatliche Fluchtalternative müsse aber jedenfalls auf das Zumutbarkeitskalkül besonders Bedacht genommen werden und seien konkrete Feststellungen über die im Fall eines solchen Ortswechsels zu erwartende konkrete Lage des Minderjährigen zu treffen (VwGH 19.10.2006, 2006/19/0297).

 

Zu den bereits getroffenen Ausführungen kommt noch hinzu, dass das verfolgungssichere Gebiet eine gewisse Beständigkeit in dem Sinne aufweisen muss, dass der Betroffene nicht damit rechnen muss, jederzeit auch in diesem Gebiet wieder die Verfolgung, vor der er flüchtete, erwarten zu müssen (VwGH 21.3.2002, Zl. 99/20/0401, in diesem Sinne auch VwGH 19.2.2004, Zl. 2002/20/0075; VwGH 24.6.2004, Zl. 2001/20/0420).

 

Ebenso muss das sichere Gebiet für den Betroffenen erreichbar sein, ohne jenes Gebiet betreten zu müssen, in welchem er Verfolgung befürchtet bzw. muss im Rahmen der Refoulementprüfung feststehen, dass eine Abschiebung in dieses sichere Gebiet möglich ist (VwGH 26.6.1997, Zl.95/21/0294; in diesem Sinne auch VwGH 11.6.1997, Zl. 95/21/0908, 6.11.1998, Zl. 95/21/1121; VwGH 21.11.2002, 2000/20/0185; VwGH 10.6.1999, 95/21/0945, ähnlich VwGH 17.2.2000, 9718/0562).

 

Darüber hinaus muss es dem Asylsuchenden auch möglich sein, seine politischen oder religiösen Überzeugungen, sowie seine geschützten Merkmale beizubehalten (VwGH 19.12.2001, 98/20/0299).

 

Zum Wesen und den Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative siehe weiters: UNHCR, Richtlinie zum internationalen Schutz: „Interne Flucht- oder Neuansiedlungs- alternative“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 23.07.2003, HCR/GIP/03/04; Artikel 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, Amtsblatt der Europäischen Union L 304 vom 30.09.2004 (Qualifikations- oder Statusrichtlinie) und § 11 AsylG 2005 (bei der Prüfung des „internen Schutzes“ geht es nicht mehr um die Frage, ob im Zeitpunkt der Flucht innerhalb des Herkunftsstaates interne Schutzzonen als Alternative zur Flucht bestanden haben, sondern darum, ob im Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe a) der Richtlinie) derartige Zonen, also interne Schutzzonen, nicht mehr als Alternative zur Flucht, sondern als Alternative zum internationalen Schutz bestehen), sowie Herzog-Liebminger, Die innerstaatliche Fluchtalternative, 69 bis 114.

 

Aus den oa. Ausführungen ergibt sich im gegenständlichen Fall Folgendes:

 

Aus den länderkundlichen Feststellungen oben ergibt sich zweifelsfrei, dass der Beschwerdeführer im hypothetischen Fall einer Rückkehr nach Istanbul in der Türkei, nicht der Gefahr einer individuellen Verfolgung aus religiösen oder ethnischen Gründen, sei es ausgehend von staatlichen Organen oder von Dritten, oder allenfalls aus anderen Gründen ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer ist kein sog. "high-profile-target", das sich in einer so exponierten Lage befindet, dass es in der ganzen Türkei gefunden werden würde bzw. in der ganzen Türkei Verfolgung drohen würde. Dass seine Gegner in der ganzen Türkei entsprechende Kontakte und Möglichkeiten haben, hat der Beschwerdeführer jedenfalls nicht glaubhaft dargelegt, was sich auch daran zeigt, dass etwa die Eltern und mehrere Geschwister weiterhin in Adana in der Türkei leben können und der BF nicht vorbrachte, dass diese Familienangehörigen einer Bedrohung oder Verfolgung - etwa im Rahmen von Nachforschungen - ausgesetzt seien. Der BF war auch in der Einvernahme vor dem BFA nicht in der Lage, näher zu begründen, weshalb es ihm nicht möglich gewesen wäre, seinen Wohnsitz zum Schutz vor seinen Gegnern nach Istanbul zu verlegen. Abgesehen von der Schilderung, wonach ihn seine Widersacher aufgefordert hätten, die Türkei ganz zu verlassen, beschränkte sich der BF auf die Entgegnung, dass sein Lebensmittelpunkt in Adana sei und sich sein Haus dort befinde (AS 101). Tatsächlich erweist sich die persönliche Ausfindigmachung des Beschwerdeführers am ausgewählten Ort der IFA als nur schwer möglich. Der erkennenden Richterin erschließt sich in keiner Weise, weshalb ein Leben in einer der vielen Großstädte seines Herkunftslandes, insbesondere in Istanbul, für ihn als jungen, abgesehen vom Verlust seines linken Auges gesunden, mobilen und arbeitsfähigen Mann unmöglich wäre, zumal er bei einer Rückkehr auf Rückkehrunterstützung und auf die Unterstützung vor Ort durch spezielle Programme, die Rückkehrer bei diversen Fragen, wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc., unterstützen, für die erste Zeit nach seiner Ankunft zurückgreifen und sich zumindest einen Gelegenheitsjob besorgen könnte und so jedenfalls in der Lage wäre, für sein eigenes Auskommen zu sorgen.

 

Mag der Beschwerdeführer auch der kurdischen Volksgruppe angehören, so wurde nicht zuletzt aus den länderkundlichen Informationen des Bundesverwaltungsgerichts erkennbar, dass ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen ist. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Kurden in der Türkei sind zwar aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen indes von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Angehörige der Volksgruppe der Kurden werden auch nicht allein aufgrund ihrer Volksgrupppenzugehörigkeit verfolgt oder staatlichen Repressionen unterworfen.

 

Auch war zweifelsfrei feststellbar, dass dieses Gebiet für den Beschwerdeführer ohne wesentliche Schwierigkeiten auf direktem Wege erreichbar wäre. Die sichere Erreichbarkeit dieser Stadt ergibt sich aufgrund der Vielzahl der Einreisemöglichkeiten in die Türkei auf dem Land-, Wasser- und Luftweg. Auch Istanbul verfügt über eine vergleichsweise gute Infrastruktur mit dem Bestehen eines Flughafens, der für den zivilen Flugverkehr geeignet ist. Istanbul ist daher eine für Normalbürger über den Flughafen gut erreichbare Stadt. Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach Istanbul einzureisen, ohne jenes Gebiet betreten zu müssen, in dem er die befürchtete Verfolgung behauptet.

 

In der Türkei herrscht Reise- und Niederlassungsfreiheit. Der Beschwerdeführer kann daher aufgrund der bestehenden Reisefreiheit in der Türkei auch jederzeit seinen Wohnsitz nach Istanbul verlegen.

 

Dass die Millionenmetropole Istanbul für den BF ohne wesentliche Schwierigkeiten direkt erreichbar ist, wurde bereits in den vorhergehenden Absätzen geklärt.

Die für eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative ebenfalls geforderte Beständigkeit der im fraglichen Gebiet herrschenden Umstände, insbesondere auch hinsichtlich einer Verfolgungsfreiheit, war im Lichte der in den letzten Jahren in Istanbul im Wesentlichen unverändert gebliebenen Lage ebenso feststellbar. Die Sicherheitslage in Istanbul ist besser als in anderen Regionen. Istanbul liegt deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach nicht anzunehmen. Ferner geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass Istanbul überhaupt von Kampfhandlungen und/oder Ausgangssperren betroffen war. Es herrscht dort kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre. Weder stellt der Beschwerdeführer dort eine besonders exponierte Persönlichkeit dar, noch liegen Hinweise vor, dass sich die lokal begrenzte Verfolgung auf das gesamte Staatsgebiet erstreckt.

Dass der Beschwerdeführer in der genannten Stadt frei von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung leben kann, bedarf in Anbetracht der Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keiner weiteren Erörterung.

 

Etwaige entscheidungserhebliche, gesundheitliche Einschränkungen wurden vom Beschwerdeführer nicht dargetan.

 

Was die zu erwartenden generellen Lebensumstände im Falle einer Einreise in dieses Gebiet angeht, war aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen länderkundlichen Informationen und in Anbetracht der vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen zu gewinnen, dass die Möglichkeiten, sich in der Türkei eine Existenzgrundlage zu schaffen, sehr stark von den individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen und der körperlichen Verfassung abhängen und durch Unterstützung seitens Verwandter und Freunde deutlich erhöht werden können. Der Beschwerdeführer hat bislang bereits mehrere Jahre in Istanbul gearbeitet. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der BF durch seine Familie mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaats und zwei dort gesprochenen Sprachen vertraut ist. Der Beschwerdeführer könnte zudem etwa auf die finanzielle Unterstützung durch seine sonstigen in der Türkei und in Europa lebenden Verwandten zurückgreifen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb seine Familienangehörigen nicht in der Lage sein sollten, ihn finanziell zu unterstützen. Insbesondere erschließt sich nicht, weshalb eine räumliche Trennung die Familienangehörigen des Beschwerdeführers außer Stande setzen sollte, ihn (finanziell) zu unterstützen. Der Beschwerdeführer verfügt daher in Istanbul über genügend Rückhalt in Form von (finanzieller) Unterstützung durch Familienangehörige. Deshalb ist nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt und eine Unterkunft zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte. Selbst wenn seine Familie nicht in der Lage wäre, ihn (finanziell) zu unterstützen, so wird es für unqualifizierte aber im Wesentlichen gesunde Menschen in der Regel möglich sein, sich durch Gelegenheitsjobs (im schlechtesten Falle als Lagerarbeiter, LKW-Beifahrer oder Tellerwäscher) ihren Lebensunterhalt zu sichern. Im Lichte dieser Ausführungen erscheint es dem Beschwerdeführer aufgrund der Feststellungen zu seiner Person vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage in der Türkei als Kurde möglich und zumutbar, dort seine dringendsten Lebensbedürfnisse auch in Istanbul zu decken und wird der Beschwerdeführer somit auch an diesem Orte über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügen. Die genannte Großstadt weist eine Einwohnerzahl von mehreren Millionen Personen auf, sodass von einem entsprechend dynamischen Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgegangen werden kann. Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen abgesehen vom Verlust seines linken Auges gesunden, mobilen, erwachsenen, arbeitsfähigen und anpassungsfähigen Mann, welcher seine Mobilität und seine Fähigkeit, sich auch in einer fremden Umgebung zurecht zu finden, bereits durch seine Reise nach Österreich unter Beweis stellte. Er könnte in Istanbul wiederum eine Beschäftigung, wie etwa als Lagerarbeiter, LKW-Beifahrer oder Tellerwäscher, bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten, annehmen. Beim Beschwerdeführer handelt es sich nicht um eine vulnerable Person, sondern um eine solche, die auch durch Anbietung ihrer Arbeitskraft zu ihrem Lebensunterhalt beitragen kann, was der BF auch bereits vor seiner Ausreise durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter Beweis gestellt hat.

 

Auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Merkmale als Kurde ergibt sich aus dem zitierten Quellenmaterial, dass für Angehörige dieser Gruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative existent ist.

 

Im Lichte dieser Erwägungen war zur maßgeblichen Einschätzung zu gelangen, dass der Beschwerdeführer zwar bei einer Rückkehr in die betreffende Region mit gewissen Anfangsschwierigkeiten und mit Einschränkungen des Lebensstandards konfrontiert sein würde. Diese Einschränkungen des Lebensstandards erreichen jedoch aus Sicht des Gerichts nicht jenes Ausmaß, bei dem davon auszugehen wäre, dass diese Person Gefahr laufen würde in eine ausweglose Lage zu geraten. Alleine ein solches Risiko würde eine Inanspruchnahme der in Istanbul bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative für den Beschwerdeführer unzumutbar machen, was jedoch nach Abwägung aller relevanten Umstände zu verneinen war.

 

Trotz der teilweise als prekär zu bezeichnenden Sicherheitslage in der Türkei ist aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falls und unter Berücksichtigung der vom BFA und dem Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat und eine Neuansiedlung in dem soeben erwähnten Gebiet im Hinblick auf die regional und innerhalb der Provinzen unterschiedliche Sicherheitslage nicht grundsätzlich ausgeschlossen und aufgrund der individuellen Situation des Beschwerdeführers insgesamt auch zumutbar. Zu allfälligen wirtschaftlichen Problemen bei einer Neuansiedlung in einem anderen Landesteil ist überdies darauf hinzuweisen, dass ein voraussichtlich niedrigerer Lebensstandard oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation kein ausreichender Grund sein kann, um ein vorgeschlagenes Gebiet als unzumutbar abzulehnen (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz – „Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, vom 23.07.2003).

 

3.1.5. Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Darüber hinaus leben mehrere Familienangehörige des Beschwerdeführers nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in der Provinz Adana, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb dem Beschwerdeführer aufgrund seiner kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen seine Eltern mehrere Geschwister nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Begegnung in der Türkei, ist der Beschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).

 

Was seine Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft eben nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die vom Beschwerdeführer thematisierten allgemeinen Schwierigkeiten (Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa beim Verwenden der kurdischen Sprache) erfüllen dieses Kriterium nicht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist als Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Dass der Beschwerdeführer Opfer derart gravierender Diskriminierungen aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit wurde, hat er nicht substantiiert vorgebracht, zumal es keinesfalls einleuchtet, dass der BF nach derartigen Vorfällen jahrelang zuhause in der Provinz Adana oder in der Millionenmetropole Istanbul - und damit an Orten, an denen sich diese Vorfälle ereignet hatten - verharrte und erst später im Jahre 2022 tatsächlich ausreiste.

 

3.1.6. Auch das Vorliegen eines Nachfluchtgrunds ist im gegenständlichen Fall zu verneinen. Nach den getroffenen Feststellungen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass türkische Staatsangehörige, die aus dem Ausland in ihre Heimat zurückkehren, nunmehr asylrelevanten Verfolgungshandlungen beispielweise wegen ihrer illegalen Ausreise oder ihrer mehrjährigen Abwesenheit aus der Türkei ausgesetzt wären.

 

3.1.7. Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).

 

3.1.8. In einer Gesamtschau sämtlicher Umstände und mangels Vorliegens einer aktuellen Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA abzuweisen.

 

3.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hat die Behörde einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z1), wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine "reale Gefahr" einer Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben), Art 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 (Abschaffung der Todesstrafe) zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung nach § 7 zu verbinden (Abs 2 leg cit). Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht (Abs 3 leg cit).

Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).

Unter "realer Gefahr" ist in diesem Zusammenhang eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH 99/20/0573 v. 19.2.2004 mwN auf die Judikatur des EGMR. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller "Beweise" zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).

3.2.2. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Beweisverfahrens kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland einer existentiellen Gefährdung noch einer sonstigen Bedrohung ausgesetzt sein könnte, sodass die Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten würde. Eine Gefährdung durch staatliche Behörden bloß aufgrund des Faktums der Rückkehr ist nicht ersichtlich, auch keine sonstige allgemeine Gefährdungslage durch Dritte.

 

Der Beschwerdeführer hat weder eine lebensbedrohende Erkrankung noch einen sonstigen auf seine Person bezogenen "außergewöhnlichen Umstand" behauptet oder bescheinigt, der ein Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG darstellen könnte.

 

Der Beschwerdeführer ist - abgesehen vom Verlust des linken Auges im Jahr 2015 und deshalb regelmäßig auftretenden Schmerzen - gesund.

 

Aktuelle ärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen, hat der BF nicht in Vorlage gebracht. Dafür, dass sich der BF im Entscheidungszeitpunkt in einem akut behandlungsbedürftigen Zustand befindet, finden sich keine Hinweise. Würde beim Beschwerdeführer nämlich tatsächlich in Österreich aus diesen Gründen eine dringende Behandlungsbedürftigkeit bestehen, so könnte wohl davon ausgegangen werden, dass er dies im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht dem Bundesverwaltungsgericht mitgeteilt bzw. entsprechende ärztliche Befundberichte in Vorlage gebracht hätte.

 

Dass der Gesundheitszustand des BF im Falle einer Abschiebung in die Türkei in signifikanter Weise eine Verschlechterung erfahren würde, kann nicht festgestellt werden.

 

Es kann sohin nicht festgestellt werden, dass der BF an einer solchen Erkrankung leidet, welche ein Abschiebehindernis im Sinne von Artikel 3 EMRK darstellen würde.

 

Gemäß der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht darauf, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK.

 

Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 01.09.2021, Ra 2020/19/0439, mwN sowie vgl. die Beschlüsse des VwGH vom 21. Februar 2017, Ro 2016/18/0005 und Ra 2017/18/0008 bis 0009, unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien; auch Beschluss des VwGH vom 23.3.2017, Ra 2017/20/0038; siehe auch Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“]; Erk. d. VfGH 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9). Bloß spekulative Überlegungen über einen fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung sind ebenso unbeachtlich wie eine bloße Minderung der Lebensqualität (Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 27. Mai 2008, N. v. The United Kingdom, Nr. 26.565/05).

 

Zum Erkrankungen betreffenden Aspekt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Urteil (der Großen Kammer) vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, 57467/15 (auszugsweise in deutscher Sprache wiedergegeben in NLMR 6/2021, 508 ff), neuerlich (unter Hinweis auf EGMR [Große Kammer] 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10) betont, dass es Sache des Fremden ist, Beweise vorzulegen, die zeigen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, er würde im Fall der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einem realen Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen. Erst wenn solche Beweise erbracht werden, ist es Sache der Behörden des ausweisenden Staats, im Zuge der innerstaatlichen Verfahren jeden dadurch aufgeworfenen Zweifel zu zerstreuen und die behauptete Gefahr einer genauen Prüfung zu unterziehen, im Zuge derer die Behörden im ausweisenden Staat die vorhersehbaren Konsequenzen der Ausweisung auf die betroffene Person im Empfangsstaat im Lichte der dort herrschenden allgemeinen Lage und der persönlichen Umstände des Betroffenen erwägen müssen. Die Verpflichtungen des ausweisenden Staats zur näheren Prüfung werden somit erst dann ausgelöst, wenn die oben genannte (hohe) Schwelle überwunden wurde und infolge dessen der Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK eröffnet ist (Rn. 135; vom EGMR in der Rn. 140 auch als „Schwellentest“ [„threshold test“] bezeichnet, der bestanden werden muss, damit die weiteren Fragen, wie etwa nach der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer angemessenen Behandlung, Relevanz erlangen [„As noted in paragraph 135 above, it is only after that test is met that any other questions, such as the availability and accessibility of appropriate treatment, become of relevance.“]; vgl. erneut VwGH 25.04.2022, Ra 2021/20/0448) (VwGH vom 17.07.2023, Ra 2022/19/0184).

Wendet man die einschlägige Judikatur auf den gegenständlichen Fall an, so kann das Bundesverwaltungsgericht in den gesundheitlichen Problemen des BF keinen Grund für ein Abschiebungshindernis erkennen.

 

Im vorliegenden Fall konnten vom BF keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise auf unzumutbare Verschlechterungen der Krankheitszustände im Falle einer Abschiebung in die Türkei, belegt werden.

 

Der Beschwerdeführer leidet zwar aufgrund des Verlusts des linken Auges an einem leicht angegriffenen Gesundheitszustand, jedoch ist eine Behandlung dieses Krankheitsbildes des BF auch in seiner Heimatprovinz möglich und zugänglich, was sich aus seinen eigenen Angaben vor dem BFA bezüglich einer Behandlung vor der Ausreise im Jahr 2022 (AS 96) und den vom BFA und der erkennenden Richterin getroffenen Länderfeststellungen zweifelsfrei ergibt.

 

Aktuell liegen dem erkennenden Gericht keine aktuellen ärztlichen oder therapeutischen Unterlagen vor, wonach der BF sich zum Entscheidungszeitpunkt in einem akut behandlungsbedürftigen Zustand befindet.

 

Die gesundheitlichen Probleme des BF weisen somit keinesfalls jene besondere Schwere auf, die nach der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK eine Abschiebung als eine unmenschliche Behandlung erscheinen ließe. Es ist insbesondere nicht anzunehmen, dass sich der BF in dauernder stationärer Behandlung befände oder auf Dauer nicht reisefähig wäre. Laut den schon dargestellten Länderfeststellungen steht in der Türkei für die beim BF vorliegende gesundheitliche Beeinträchtigung eine medizinische Heilbehandlung zur Verfügung. In der Türkei ist jedenfalls eine medizinische Grundversorgung gewährleistet und sind auch allfällige gesundheitliche Beeinträchtigungen des BF behandelbar. Nach der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK wäre es schließlich auch unerheblich, wenn etwa die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver wäre als im abschiebenden Staat.

 

Durch eine Abschiebung des BF wird Art. 3 EMRK nicht verletzt und reicht es jedenfalls aus, wenn medizinische Behandlungsmöglichkeiten im Land der Abschiebung verfügbar sind, was in der Türkei jedenfalls der Fall ist. Dass die Behandlung in der Türkei den gleichen Standard wie in Österreich aufweist oder unter Umständen auch kostenintensiver ist, ist nicht relevant, weshalb es auch nicht entscheidend ist, dass Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, zumal landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit gewährleistet sind.

 

Zusammenfassend lassen die vom Beschwerdeführer getroffenen Ausführungen zwar auf einen etwas beeinträchtigten Gesundheitszustand schließen. Dies stellt aber keine derartige Beeinträchtigung dar, welche die Rückverbringung des BF in die Türkei im Lichte des Art. 3 EMRK unzulässig machen würde.

 

Aus den vom BFA und von der erkennenden Richterin herangezogenen Länderfeststellungen ergibt sich, dass die medizinische Grundversorgung in der Türkei gewährleistet ist und die Behandlung dieser vor Jahren erlittenen Verletzung zweifelsfrei auch in der Türkei – wie bereits in der Vergangenheit - möglich sein wird. Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neuesten Stand eingerichtet. Mag das Angebot für die psychische Gesundheit auch mangelhaft bleiben, so hat sich trotzdem das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Insofern wird der Beschwerdeführer eine notwendige Medikation bzw. die erforderlichen Wirkstoffe zur Schmerzbehandlung in der Provinz Adana mit vertretbarem und leistbarem Aufwand beziehen können. Die vom Beschwerdeführer allenfalls benötigte Art von Medikamenten (Schmerzmittel) ist verfügbar.

 

Die Behandlung der bereits im Jahr 2015 erfolgten Verletzung bzw. von deren Folgen besteht aktuell allenfalls in der medikamentösen Behandlung von Schmerzen und ist nicht lebensbedrohlich, so dass dem BF eine Behandlung in der Türkei aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts zugemutet werden kann.

 

Selbst wenn der BF aufgrund einer allfälligen Behandlung aufgrund der Ausgestaltung des Gesundheitswesens in der Türkei mit erheblichen finanziellen Belastungen zu rechnen hätte, kann unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK kein wesentlicher Aspekt erblickt werden, zumal davon ausgegangen werden kann, dass der BF auch die frühere familiäre Unterstützung im Herkunftsstaat findet. Er ist daher weder von Obdachlosigkeit noch extremer Armut und daraus resultierendem gänzlich fehlenden Zugang zu medizinischen Leistungen bedroht, zumal der BF über Verwandte in der Türkei verfügt, die ihn unterstützen können.

 

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Fremdenpolizeibehörde bei der Durchführung einer Abschiebung im Fall von bekannten Erkrankungen des Drittstaatsangehörigen durch geeignete Maßnahmen dem Gesundheitszustand Rechnung zu tragen hat. Insbesondere wird kranken Personen eine entsprechende Menge der verordneten Medikamente mitgegeben. Anlässlich einer Abschiebung werden von der Fremdenpolizeibehörde auch der aktuelle Gesundheitszustand und insbesondere die Transportfähigkeit beurteilt sowie gegebenenfalls bei gesundheitlichen Problemen die entsprechenden Maßnahmen gesetzt.

 

Im gegenständlichen Fall mag es somit zwar sein, dass die Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat hinter denen in Österreich zurückbleiben, aufgrund des Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens ist jedoch bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen festzustellen, dass hierdurch im gegenständlichen Fall die vom EGMR verlangten außerordentlichen Umstände nicht gegeben sind (vgl. hierzu insbesondere auch weiters Urteil des EGMR vom 06.02.2001, Beschwerde Nr. 44599, Case of Bensaid v. The United Kingdom oder auch VwGH v. 7.10.2003, 2002/01/0379).

 

In der Türkei erfolgen weder grobe, massenhafte Menschenrechtsverletzungen unsanktioniert, noch ist nach den seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl getroffenen Feststellungen von einer völligen behördlichen Willkür auszugehen ist, weshalb auch kein "real Risk" (VwGH vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582; VwGH 09.04.2008, 2006/19/0354) einer unmenschlichen Behandlung festzustellen ist.

 

Da sich der Herkunftsstaat des Beschwerdeführers nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konflikts besteht.

 

Die Sicherheitslage in der Türkei ist zwar als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich indes nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Adana im Süden der Türkei. Betreffend die Sicherheitslage in der Provinz Adana ist mit Blick auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 in der Türkei verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, ihres mutmaßlichen Ablegers [TAK], des sog. Islamischen Staates und im geringen Ausmaß der DHKP-C. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak können den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den angrenzenden türkischen Gebieten haben, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April 2022 die sog. Operation "Claw Lock"). Im Südosten der Türkei startete das Militär am 08.08.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.07.2015 bis 03.03.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht.

Vorab ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Provinz Adana im Süden der Türkei, in welcher der Beschwerdeführer vor der Ausreise lebte, deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach – schon in Anbetracht seines Aufenthalts in der Provinz Adana weit weg von den unsicheren Provinzen in der Osttürkei – nicht anzunehmen. Ferner brachte der Beschwerdeführer auch ansonsten nicht vor, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein bzw. geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass Adana überhaupt von Kampfhandlungen und/oder Ausgangssperren betroffen war. Mehrere Familienangehörige, insbesondere seine Eltern und mehrere Geschwister, leben weiterhin problemlos in seiner Heimatprovinz Adana. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in seiner Heimatprovinz Adana mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.

Vor allfälligen Übergriffen oder Bedrohungen seitens seiner Gegner (immer unter der Annahme der Glaubhaftunterstellung des Vorbringens) könnte, wie bereits ausgeführt, staatlicher Schutz bei den Behörden des Heimatlandes erlangt werden bzw. könnte der Beschwerdeführer jedenfalls Drohungen oder Übergriffen durch Verlegung seines Wohnsitzes in einen anderen Landesteil der Türkei entgehen.

 

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang abschließend auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137-14 zur Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, in welchem sich der VwGH mit der Frage einer Rückkehrgefährdung iSd Art. 3 EMRK aufgrund der bloßen allgemeinen Lage (hier: Irak), insbesondere wegen wiederkehrenden Anschlägen und zum anderen einer solchen wegen – kumulativ mit der allgemeinen Lage – zu berücksichtigenden individuellen Faktoren, befasst hat und die Revision gegen das Erkenntnis des BVwG als unbegründet abgewiesen wurde.

 

Es ist unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation (abgesehen vom Verlust seines linken Auges gesunder junger Mann mit sozialem Netz durch seine Familienangehörigen, Freunde und Bekannten, Sprachkenntnisse in Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch), mehrjährige Schulausbildung sowie mehrjährige Berufserfahrung als selbständiger Textildesigner, Besitz zweier Grundstücke und zweier Fahrzeuge) nicht ersichtlich, warum dem Beschwerdeführer eine Existenzsicherung in der Türkei, auch an anderen Orten bzw. in anderen Landesteilen der Türkei, zumindest durch Gelegenheitsarbeiten, nicht möglich und zumutbar sein sollte. Es wäre dem Beschwerdeführer letztlich zumutbar, durch eigene und notfalls wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. ihn schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen - erforderlichenfalls unter Anbietung seiner gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung - jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können. Gründe, weshalb eine wirtschaftliche Absicherung des BF nicht gegeben wäre, sind weder den Angaben des BF vor der belangten Behörde noch dem vorliegenden Verwaltungsakt zu entnehmen.

 

Es gibt auch keine entsprechenden Hinweise darauf, dass eine existenzielle Bedrohung des Beschwerdeführers im Hinblick auf seine Versorgung und Sicherheit in der Türkei gegeben ist.

 

Im Fall des erwachsenen Beschwerdeführers kann bei einer Gesamtschau nicht davon ausgegangen werden, dass er im Fall einer Rückkehr in die Türkei gegenwärtig einer spürbar stärkeren, besonderen Gefährdung ausgesetzt wäre. Familienangehörige, Freunde und Bekannte des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Türkei und ist somit ein soziales Netz gegeben, in welches er bei seiner Rückkehr wieder Aufnahme finden wird. Es ist somit nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in der Türkei völlig allein und ohne jede soziale Unterstützung wäre. Auch wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Verwandten beschränkt sein sollte, konstituiert deren Anzahl aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts (Eltern und mehrere Geschwister) ein hinreichend leistungsfähiges familiäres Netzwerk, welches den Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr unterstützen kann, zumal der BF Gegenteiliges nicht substantiiert vorbrachte. Es sind zudem keine Gründe ersichtlich, warum er als Erwachsener in der Türkei - wie bereits vor seiner Ausreise - nicht einer Erwerbstätigkeit nachgehen können sollte. Er ist in der Türkei aufgewachsen, hat dort die überwiegende Zeit seines Lebens verbracht, wurde dort sozialisiert und es kam nicht hervor, dass er in der Türkei keine familiären und privaten Anknüpfungspunkte mehr hat. Insofern er in der Beschwerde darauf verweist, dass er auf einem Auge blind sei und seit dem Angriff in der Türkei keiner Tätigkeit mehr nachgehen habe können, so wird zur Vollständigkeit angemerkt, dass der BF vor dem BFA nicht vorbrachte, dass er keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen könnte. Ihm sei von ärztlicher Seite lediglich empfohlen worden, Bildschirmarbeit zu meiden (AS 98). Dementsprechend legte der BF in der Beschwerde auch dar, dass er sehr wohl gewillt sei, in Österreich trotz seiner Beeinträchtigung aus eigenen Kräften für seinen Lebensunterhalt aufzukommen und er in Zukunft einer Arbeit nachgehen wolle (AS 241).

Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit als Anspruchsberechtigter offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können.

Das vor kurzem stattgefundene Erdbeben und die dabei entstandenen Schäden an Wohngebäuden und Infrastruktur stehen einer Rückkehr des BF in die Türkei ebenso wenig entgegen. Es handelt sich um keinen landesweiten Katastrophenzustand, der im gesamten Staatsgebiet der Türkei zu einer Gefährdungslage im Hinblick auf die Art. 2 und 3 EMRK führen

würde, sondern lediglich um ein lokal begrenztes Phänomen, wobei auf die große internationale Solidarität sowie das junge Alter und die Anpassungs- sowie Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers hingewiesen wird. Es wurde jedenfalls vom BF im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nicht konkret vorgebracht, dass es für diesen allein aus diesem Grund ausgeschlossen wäre, sich im Herkunftsstaat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Ferner stünde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit offen, seinen Wohnsitz überhaupt in einen anderen Landesteil der Türkei zu verlegen, zumal eine Unterkunftnahme in einem anderen Landesteil, etwa in Istanbul, jedenfalls problemlos möglich ist, wenn auch gewisse Startschwierigkeiten (mit welchen sich jedoch jedermann in vergleichbarer Situation konfrontiert sähe) nicht ausgeschlossen werden können.

 

Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen ansonsten nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhalts gem. Art. 2 und/ oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.

 

Aufgrund der Ausgestaltung des Strafrechts des Herkunftsstaats des Beschwerdeführers (die Todesstrafe wurde im Jahr 2004 abgeschafft) scheidet das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Art. 2 EMRK, oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe aus.

 

Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in wesentlichen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechts-verletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch, jeder der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthalts aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein. Ebenso betreffen die festgestellten Problemfelder zu einem erheblichen Teil Bereiche, von denen der Beschwerdeführer nicht betroffen ist.

 

Aus der sonstigen allgemeinen Lage im Herkunftsstaat kann ebenfalls bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Bestehen eines unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalts abgeleitet werden.

 

Weitere, in der Person des Beschwerdeführers begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.

 

Somit war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl als unbegründet abzuweisen.

 

3.3. Zur Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung (§ 57 AsylG sowie § 52 FPG):

3.3.1. Gemäß § 10. Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.

 

3.3.2. Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

 

3.3.2.1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit Oktober 2022 im Bundesgebiet und sein Aufenthalt ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren vor dem BFA noch in der Beschwerde behauptet wurde.

 

3.3.3. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

 

3.3.3.1. Der Beschwerdeführer ist als türkischer Staatsangehöriger kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da mit der erfolgten Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

 

3.3.4. § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0037; VwGH 09.09.2021, Ra 2020/22/0174; vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0037 mwN; auch Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

3.3.4.1. Insofern Tanten und Onkel des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik Deutschland leben, ist schon deshalb mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme keine Trennung von einer im Bundesgebiet zurückbleibenden Person verbunden, was eine Berücksichtigung der Beziehungen in der Interessenabwägung freilich nicht obsolet macht (vgl. VwGH 26.03.2015, 2013/22/0284). Zum Verhältnis zu diesen Personen wurden keine näheren Ausführungen getätigt. Der Beschwerdeführer legte nicht einmal dar, dass es mit den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Verwandten beispielsweise zu Telefonaten oder persönlichen Begegnungen bei gelegentlichen Besuchen kommt. Folglich liegt in Ansehung dieser Personen auch kein schützenswertes Familienleben im Sinn der zitieren Rechtsprechung vor.

Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten oder sonstige nahen Angehörigen in Österreich. Die sonstigen sozialen Kontakte, die der Beschwerdeführer in Österreich unterhält, sind nicht als Familienleben iSd Art. 8 EMRK zu qualifizieren, weshalb insofern ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts ebenso zu verneinen ist.

Die aufenthaltsbeendende Maßnahme bewirkt somit lediglich einen Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers.

Sohin blieb zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf ein Privatleben in Österreich darstellt.

3.3.4.2. Im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts wurde in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert.

In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylweber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.

 

Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da - abseits familiärer Umstände - eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541).

 

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191; VwGH 25.04.2018, Ra 2018/18/0187; vgl. auch VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN). Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN).

Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 10.04.2019 Ra 2019/18/0049, mwN). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 16.02.2021, Ra 2019/19/0212 sowie VwGH vom 19.03.2021, Ra 2019/19/0123, mwN). Allerdings nimmt das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN; dort auch zur Bedeutung einer Lehre iZm Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK).

 

Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013; vgl. zum unsicheren Aufenthaltsstatus auch die Entscheidungen des VwGH vom 27.06.2019, Ra 2019/14/0142, vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0015, vom 06.05.2020, Ra 2020/20/0093 vom 27.02.2020, Ra 2019/01/0471 und zuletzt vgl. VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0428).

 

Für den gegenständlichen Fall ergibt sich Folgendes:

Der Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein und stellte hier am 11.10.2022 den gegenständlichen – unbegründeten – Antrag auf internationalen Schutz. Allein durch die Antragstellung konnte der Beschwerdeführer seinen Aufenthalt im Bundesgebiet legalisieren. Hätte er diesen Antrag nicht gestellt, wäre er seit nunmehr etwa 22 Monaten rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig, sofern der rechtswidrige Aufenthalt nicht (durch entsprechende Maßnahmen) bereits beendet worden wäre. Die bisherige Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweifelsfrei noch zu kurz, um bereits jetzt von einer außergewöhnlichen schützenswerten dauernden Integration zu sprechen. In Anbetracht des Umstands, dass der Antrag auf internationalen Schutz unbegründet ist, er versuchte diesen mit einem teilweise nicht glaubhaften Sachverhalt zu begründen und der Beschwerdeführer zur Antragstellung illegal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist war, sind gravierende öffentliche Interessen festzustellen, die für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung sprechen. Diese Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit das private Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib, selbst wenn er in der Bundesrepublik Deutschland über Familienangehörige und im Bundesgebiet über soziale Kontakte verfügt, er einen Deutschkurs besucht(e) und er sein zukünftiges Leben hier gestalten will. Private und familiäre Interessen von Fremden am Verbleib im Gastland sind jedenfalls weniger stark zu gewichten, wenn diese während eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz begründet werden, da der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt nicht von vornherein von einem positiven Ausgang des Verfahrens ausgehen konnte und sein Status bis zum Abschluss des Verfahrens ungewiss ist. Auch nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bewirkt in Fällen, in denen das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art. 8 EMRK (vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055 mwN). Der Beschwerdeführer reiste im Oktober 2022 in das Bundesgebiet ein und am 21.02.2024 erging im Verfahren des BF der - abweisende - Bescheid des BFA. Der Beschwerdeführer durfte daher gemäß der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach der erstinstanzlichen Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz rund 16 Monate nach seiner Einreise seinen zukünftigen Aufenthalt nicht mehr als gesichert betrachten und nicht mehr darauf vertrauen, in Zukunft in Österreich verbleiben zu können (vgl. VwGH 29.04.2010, 2010/21/0085).

 

Der Beschwerdeführer befindet sich hier in keiner Lebensgemeinschaft und hat keine Verwandten in Österreich.

 

Der BF besitzt einen normalen Freundes- und Bekanntenkreis und geht üblichen Freizeitaktivitäten nach. Unterstützungsschreiben konnte der Beschwerdeführer nicht vorlegen. Es bestehen keine über übliche Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse hinausgehende innige Verhältnisse, geschweige denn Abhängigkeitsverhältnisse. Diese Bekanntschaften und Freundschaften sind jedenfalls erst während des unsicheren Aufenthalts entstanden und macht er hiermit keine Umstände geltend, die seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet maßgeblich verstärken könnten (vgl. etwa das Erkenntnis des VwGH vom 26. November 2009, Zl. 2007/18/0311).

 

Bezüglich der privaten Bindungen (Freundes-/Bekanntenkreis) in Österreich ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wäre, den Kontakt zu den betreffenden in Österreich lebenden Personen gänzlich abzubrechen. Es steht ihm insbesondere frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0235). Ebenso wäre dem Beschwerdeführer im Falle der Aufenthaltsbeendigung auf diese Weise die Aufrechterhaltung des Kontakts zu den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Verwandten möglich. Der Vollständigkeit halber weist das Bundesverwaltungsgericht auch darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer generell freisteht, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen, zumal gegen ihn kein Einreiseverbot besteht (vgl. die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs VwGH 22.01.2013, 2012/18/0201, 29.06.2017, Ro 2016/21/0007, 17.03.2016, Ro 2016/21/0007, und insbesondere 30.07.2015, Ra 2014/22/0131, sowie § 11 Abs. 1 Z 3 NAG und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa nach der Verordnung (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) und nach dem FPG).

 

Der Beschwerdeführer hat sich in der Zeit, in der er sich im Bundesgebiet aufhält, ansonsten auch nicht nennenswert integriert. Diese Schlussfolgerung ist insbesondere angesichts der allenfalls einfachen Deutschkenntnisse und der Tatsache, dass er bislang zwar einen Deutschkurs besucht(e), aber noch keine Deutschprüfung erfolgreich abgelegt hat, der fehlenden Mitgliedschaft in hiesigen Organisationen und Vereinen und den relativ wenig ausgeprägten privaten Beziehungen zu österreichischen Staatsangehörigen und in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigten Personen zu ziehen. Unterstützungsschreiben konnte der Beschwerdeführer nicht vorlegen. Ferner hat der Beschwerdeführer während seines gesamten Aufenthalts keine gemeinnützige oder ehrenamtliche Arbeit geleistet. Schließlich geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass selbst die perfekte Beherrschung der deutschen Sprache sowie eine vielfältige soziale Vernetzung und Integration noch keine über das übliche Maß hinausgehende Integrationsmerkmale bedeuten (vgl. VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029).

 

Der Beschwerdeführer übt in Österreich auch keine erlaubte Beschäftigung aus und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF lebt seit seiner Antragstellung laufend von staatlicher Unterstützung. Er konnte keine eigenen Existenzmittel in Österreich nachweisen. Der BF verfügt weder über eine Einstellungszusage noch über einen gültigen arbeitsrechtlichen Vorvertrag. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer bisher auch keine besondere Ausbildung oder Berufsausbildung in Österreich genossen.

 

Der persönliche und familiäre Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers liegt in der Türkei, wo seine engsten Familienangehörigen, Bekannten und Freunde leben und er somit über ein soziales Netz verfügt, zumal der BF in Bezug auf sein Lebensalter erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich aufhältig ist und kann auch aufgrund der nicht übermäßig langen Abwesenheit (etwa 22 Monate) aus seinem Heimatland Türkei nicht davon ausgegangen werden, dass bereits eine völlige Entwurzelung vom Herkunftsland stattgefunden hat und somit bestehen nach wie vor Bindungen des BF zur Türkei.

 

Der Umstand, dass der Beschwerdeführer in Österreich nicht straffällig geworden ist, bewirkt keine Erhöhung des Gewichts der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel und die Begehung von Straftaten eigene Gründe für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellen (VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).

 

Letztlich ist die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthalts der beschwerdeführenden Partei in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu verneinen, zumal sich der BF im gegenständlichen Verfahren erst seit etwa 22 Monaten in Österreich befindet. Zwischen der Antragstellung durch den Beschwerdeführer und der gegenständlichen Entscheidung durch die belangte Behörde liegen rund 16 Monate. Von der Vorlage der Beschwerde bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vergingen rund vier Monate.

 

Auch der Verfassungsgerichtshof erblickte in einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen kosovarischen (ehemaligen) Asylwerber keine Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl dieser im Laufe seines rund achtjährigen Aufenthaltes seine Integration u.a. durch gute Kenntnisse der deutschen Sprache, Besuch von Volkshochschulkursen in den Fachbereichen Rechnen, Computer, Deutsch, Englisch, Engagement in einem kirchlichen Verein, erfolgreiche Kursbesuche des Ausbildungszentrums des Wiener Roten Kreuzes und ehrenamtliche Mitarbeit beim Österreichischen Roten Kreuz sowie durch die Vorlage einer bedingten Einstellungszusage eines Bauunternehmers unter Beweis stellen konnte (VfGH 22.09.2011, U 1782/11-3, vgl. ähnlich auch VfGH 26.09.2011, U 1796/11-3).

 

Das Bundesverwaltungsgericht kann aber auch keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr des Beschwerdeführers erkennen: Der Beschwerdeführer beherrscht nach wie vor die Sprachen Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch), sodass auch seine Resozialisierung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an keiner Sprachbarriere scheitert und von diesem Gesichtspunkt her möglich ist. Im Hinblick auf den Umstand, dass der erwachsene Beschwerdeführer den überwiegenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat verbracht hat, ist davon auszugehen, dass anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat bestehen, zumal dort seine engsten Familienangehörigen, Freunde und Bekannten leben. Insoweit kann - insbesondere aufgrund der erst kurzen Abwesenheit (etwa 22 Monate) aus seinem Heimatland Türkei - nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer seinem Kulturkreis völlig entrückt wäre und sich in seiner Heimat überhaupt nicht mehr zurecht finden würde, zumal der BF vor seiner Ausreise auch als selbständiger Textidesigner tätig gewesen ist und dort über zwei Grundstsücke sowie zwei Fahrzeuge verfügt. Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz in der Türkei - letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlands ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0076; jüngst VwGH 07.07.2021, Ra 2021/18/0167). Zur Resozialisierung im Heimatland hat der Verwaltungsgerichtshof wie folgt festgestellt: Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in mehreren (mit dem vorliegenden vergleichbaren) Fällen zum Ausdruck gebracht, die von Fremden geltend gemachten Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern seien vielmehr - letztlich auch als Folge des seinerzeitigen, ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen.

Würde sich darüber hinaus ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Überdies würde dies dazu führen, dass Fremde, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten oder sogar rechtsmissbräuchlichen Asylantrags erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. dazu auch das Erkenntnis VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass "eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde.").

Angesichts der - somit in ihrem Gewicht erheblich geminderten - Gesamtinteressen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf (vgl. dazu im Allgemeinen und zur Gewichtung der maßgeblichen Kriterien VfGH 29.09.2007, B 1150/07).

 

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Die Verfügung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und erscheint auch nicht unverhältnismäßig.

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt somit, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.

3.3.5. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

 

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

 

3.3.5.1. Die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat ist gegeben, da nach den die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.

 

3.3.6. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

3.3.6.1. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.

 

4. Entfall einer mündlichen Verhandlung

Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben.

 

Der Verwaltungsgerichtshof (Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017 und 0018) hielt in diesem Zusammenhang fest, dass sich die bisher zu § 67d AVG ergangene Rechtsprechung auf das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten erster Instanz insoweit übertragen lässt, als sich die diesbezüglichen Vorschriften weder geändert haben noch aus systematischen Gründen sich eine geänderte Betrachtungsweise als geboten darstellt.

Die in § 24 Abs. 4 VwGVG getroffene Anordnung kann nach dessen Wortlaut nur zur Anwendung gelangen, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist. Schon deswegen kann - entgegen den Materialien - nicht davon ausgegangen werden, diese Bestimmung entspräche (zur Gänze) der Vorgängerbestimmung des § 67d Abs. 4 AVG. Zudem war letztgenannte Norm nur auf jene Fälle anwendbar, in denen ein verfahrensrechtlicher Bescheid zu erlassen war. Eine derartige Einschränkung enthält § 24 Abs. 4 VwGVG nicht (mehr).

Für den Anwendungsbereich der vom BFA-VG 2014 erfassten Verfahren enthält § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 eigene Regelungen, wann - auch: trotz Vorliegens eines Antrags - von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann. Lediglich "im Übrigen" sollen die Regelungen des § 24 VwGVG anwendbar bleiben. Somit ist bei der Beurteilung, ob in vom BFA-VG erfassten Verfahren von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann, neben § 24 Abs. 1 bis 3 und 5 VwGVG in seinem Anwendungsbereich allein die Bestimmung des § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014, nicht aber die bloß als subsidiär anwendbar ausgestaltete Norm des § 24 Abs 4 VwGVG, als maßgeblich heranzuziehen.

Mit Blick darauf, dass der Gesetzgeber im Zuge der Schaffung des § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 vom bisherigen Verständnis gleichlautender Vorläuferbestimmungen ausgegangen ist, sich aber die Rechtsprechung auch bereits damit auseinandergesetzt hat, dass sich jener Rechtsrahmen, in dessen Kontext die hier fragliche Vorschrift eingebettet ist, gegenüber jenem, als sie ursprünglich geschaffen wurde, in maßgeblicher Weise verändert hat, geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich sind:

 

 der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und

 

 bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen

 

 die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und

 

 das BVwG diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen

 

 in der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht bleibt wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.

 

Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

 

Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das BFA vorangegangen. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben sich aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr wurde im Verfahren den Grundsätzen der Amtswegigkeit, der freien Beweiswürdigung und der Erforschung der materiellen Wahrheit sowie des Rechts auf Parteiengehör entsprochen. Der Sachverhalt wurde daher nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung des BFA festgestellt.

 

Im gegenständlichen Fall hat das Bundesverwaltungsgericht keine neue Beweismittel beigeschafft und sich für seine Feststellungen über die Person des Beschwerdeführers und zur Lage in der Türkei auf jene des angefochtenen Bescheides gestützt.

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes löst das Aufzeigen weiterer, von der Verwaltungsbehörde nicht aufgegriffener und somit erstmals thematisierter Aspekte die Verhandlungspflicht nur dann aus, wenn damit die tragenden verwaltungsbehördlichen Erwägungen nicht bloß unwesentlich ergänzt werden (vgl. VwGH 26.07.2022, Ra 2022/20/0146, mwN). Wie dargelegt, wurde den Argumenten im angefochtenen Bescheid nicht substantiiert entgegengetreten und es wurde auch in der Beschwerde kein konkretes Vorbringen hinsichtlich eines potentiell asylrelevanten Sachverhalts erstattet.

 

Das BFA hat die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt und das Bundesverwaltungsgericht teilt die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung (vgl. diesbezüglich die auch unter Punkt 2.2.4. wiedergegebene Argumentation des BFA).

 

Die Beschwerde ist der Richtigkeit dieser Feststellungen und der zutreffenden Beweiswürdigung der Behörde nicht substantiiert entgegengetreten (VwGH vom 20.12.2016, Ra 2016/01/0102) und hat keine neuen entscheidungsrelevanten Tatsachen vorgebracht.

 

Die Beschwerde hat die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zwar beantragt, aber es nicht konkret aufzuzeigen unternommen, dass eine solche Notwendigkeit im vorliegenden Fall bestehen würde (vgl. etwa VwGH 04.12.2017, Ra 2017/19/0316-14).

 

Bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts weist die Entscheidung des BFA vom 07.02.2024 immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit auf.

 

Was das Vorbringen des BF in der Beschwerde betrifft, so findet sich in dieser kein neues bzw. ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen hinsichtlich allfälliger sonstiger Fluchtgründe. Auch tritt der BF in der Beschwerde den seitens der belangten Behörde getätigten beweiswürdigenden Ausführungen nicht in ausreichend konkreter Weise entgegen.

 

Nach Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (in der Folge als Charta bezeichnet) hat zwar jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Die in § 21 Abs. 7 BFA-VG vorgesehene Einschränkung der Verhandlungspflicht iSd des Art. 52 Abs. 1 der Charta ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts allerdings zulässig, weil sie eben - wie in der Charta normiert - gesetzlich vorgesehen ist und den Wesensgehalt des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Rechts achtet. Die möglichst rasche Entscheidung über Asylanträge ist ein Ziel der Union, dem ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. etwa Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes). Das Unterbleiben der Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt festgestellt werden kann, ohne dass der Entfall der mündlichen Erörterung zu einer Verminderung der Qualität der zu treffenden Entscheidung führt, trägt zur Erreichung dieses Zieles bei. Damit erfüllt die in § 21 Abs. 7 BFA-VG vorgesehene Einschränkung auch die im letzten Satz des Art. 52 Abs. 1 der Charta normierte Voraussetzung (vgl. dazu zur im Ergebnis inhaltsgleichen Vorgängerbestimmung des § 21 Abs. 7 BFA-VG, nämlich § 41 Abs. 7 AsylG 2005, auch VfGH 27.09. 2011, U 1339/11-3). Daher ist auch aus europarechtlicher Sicht eine Verhandlung im Asylverfahren nicht zwingend vorgesehen.

 

Insofern moniert wird, dass es im gegenständlichen Fall an einer Plausibilitätskontrolle des Vorbringens des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund aktueller Länderberichte fehle, so ist einerseits auf die Ausführungen in der Beweiswürdigung zur Aktualität der Länderberichte und andererseits den Beschwerdegegenstand und das Vorbringen des Beschwerdeführers zu verweisen, wodurch sich zeigt, dass das vom Beschwerdeführer geschilderte Vorbringen in einem ausreichenden Maße vor dem Hintergrund eines aktuellen Länderinformationsblatts der Staatendokumentation beurteilt wurde.

 

Insoweit im Übrigen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wegen eines Rechtsgesprächs und zur Erörterung der Rechtsfragen beantragt wurde, konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben, weil keine Rechtsfragen offen waren, die in einer mündlichen Verhandlung zu erörtern waren, insbesondere hat sich entgegen dem Beschwerdevorbringen die Rechtslage während des Verfahrens nicht nur nicht in einem entscheidungswesentlichen Punkt geändert, sondern gar nicht geändert.

 

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das ausreisekausale Vorbringen des Beschwerdeführers selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung unter Verweis auf das Vorliegen der Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates und das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative als nicht asylrelevant zu qualifizieren wäre und die getroffenen Feststellungen auf den Angaben des Beschwerdeführers selbst sowie auf den in das Verfahren einbezogenen Länderberichten, denen der Beschwerdeführer auch nicht substantiiert entgegengetreten ist, basieren, hat sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keine Notwendigkeit ergeben, den als geklärt erscheinenden Sachverhalt mit dem Beschwerdeführer im Rahmen einer Verhandlung neuerlich zu erörtern. Im Ergebnis bestand daher kein Anlass für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, wobei im Übrigen darauf hinzuweisen ist, dass auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zu keinem anderen Verfahrensausgang geführt hätte.

 

Letztlich ist auch nochmals auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.06.2014, Zl. Ra 2014/20/0002-7 hinzuweisen, in welchem dieser auch explizit festhält, dass, insoweit das Erstgericht die die Beweiswürdigung tragenden Argumente der Verwaltungsbehörde teilt, das im Rahmen der Beweiswürdigung ergänzende Anführen weiterer - das Gesamtbild nur abrundenden, aber nicht für die Beurteilung ausschlaggebenden - Gründe, nicht dazu führt, dass die im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 28.05.2014, Zlen. Ra 2014/20/0017 und 0018 dargestellten Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung der Verhandlung gemäß dem ersten Tatbestand des § 21 Abs. 7 BFA-VG nicht erfüllt sind (zur aktuelleren Judikatur in Bezug auf die Thematik der Unterlassung der Verhandlungspflicht siehe etwa VwGH vom 20.12.2016, Ra 2016/01/0102, VwGH vom 04.12.2017, Ra 2017/19/0316-14, VwGH vom 26.07.2022, Ra 2022/20/0146, VwGH vom 11.07.2023, Ra 2023/20/0285, mwN, VwGH vom 24.01.2024, Ra 2023/20/0186-12 sowie VwGH vom 10.05.2024, Ra 2024/01/0146-7).

 

Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht vertritt, dass im Falle einer tragfähigen Alternativbegründung bzw. dem Verweis auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative, das Revisionsvorbringen hinsichtlich der festgestellten Unglaubwürdigkeit und dem Erfordernis der Verhandlungspflicht nicht von Relevanz sein kann (vgl. etwa die aktuellen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.11.2016, Ra 2016/20/0245-5, vom 28.10.2016, Ra 2016/20/0235-5, im weiteren Sinne vom 22.06.2017, Ra 2017/20/0052-8, vom 25.04.2018, Ra 2017/18/0311, vom 07.05.2018, Ra 2018/18/0088-7 sowie vom 23.04.2024, Ra 2024/18/0187-7).

 

Zu B) Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab (vgl. die unter Punkt 2. bis 4. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

 

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zur Schutzfähigkeit, zur innerstaatlichen Fluchtalternative, dem Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben, abgeht. Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert.

 

Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

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