VwGH Ra 2019/01/0471

VwGHRa 2019/01/047127.2.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, gegen das am 9. September 2019 verkündete und am 11. November 2019 ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zl. I408 2140695-1/13E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M F in S), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010471.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin in seinem Spruchpunkt A) II. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 14. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. 2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 31. Oktober 2016 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.).

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.), sprach in Erledigung der Beschwerde aus, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und erteilte dem Revisionswerber den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus"

für die Dauer von zwölf Monaten (Spruchpunkt A) II.). Im Übrigen erklärte es die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

5 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, der Mitbeteiligte sei zwar erst seit vier Jahren im Bundesgebiet aufhältig, er habe jedoch in Österreich fußgefasst und sich als Person integriert. Er beherrsche Deutsch auf einem beachtlichen Niveau und er sei auch in sozialen Vereinen tätig. Der Mitbeteiligte sei in seinem multikulturellen Umfeld aktiv und gehe mit allen Herausforderungen offen und unbekümmert um. Er werde geschätzt und versuche, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Es werde nicht verkannt, dass der Mitbeteiligte diese Aktivitäten im Bewusstsein seines vorläufigen und unsicheren Aufenthaltes gesetzt habe, aber seine konsequente und nachhaltige Art, in der österreichischen Gesellschaft Fuß zu fassen und anzukommen, fordere Respekt ein und diese sei über Unterstützungsschreiben dokumentiert. Auch die vom Mitbeteiligten gesetzten Schritte in Bezug auf eine Ausbildung im Pflege- und Sozialbereich seien stimmig und nachvollziehbar und würden eine erfolgsversprechende Zukunftsprognose begründen.

6 Gegen den Ausspruch der Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels (Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurück-, in eventu die Abweisung der Revision.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Amtsrevision macht zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation, dass trotz des erst etwa vierjährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten das öffentliche Interesse überwogen werde, liege im Revisionsfall jedoch nicht vor. Sämtliche vom BVwG herangezogenen Aspekte seien zudem dadurch gemindert, dass sie während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden seien. 8 Die Revision ist aus den dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele etwa VwGH 23.12.2019, Ra 2019/01/0479, mwN).

10 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

11 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, bereits ausführlich dargelegt, dass es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen. Der darin angeführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass ein Fremder mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen, trifft auch auf den Revisionsfall zu.

13 Die Amtsrevision zeigt im Zusammenhang mit dem im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts erst etwa vierjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich noch von keiner solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH jeweils vom 10.4.2019, Ra 2019/18/0049 und Ra 2019/18/0058; 30.10.2019, Ra 2019/01/0181, mwN).

14 Indem das BVwG daher insgesamt fallbezogen das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtete und nicht ausreichend berücksichtigte, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte im Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten.

15 Das Erkenntnis war schon deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 27. Februar 2020

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