VwGH Ra 2019/01/0181

VwGHRa 2019/01/018130.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. April 2019, Zl. I405 2177546- 1/11E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: B S, in S, vertreten durch Mag. German Bertsch, Rechtsanwalt in 6800 Feldkirch, Saalbaugasse 2), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019010181.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A) II. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Togos, stellte am 2. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. 2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 11. Oktober 2017 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Togo zulässig sei (Spruchpunkt III.) sowie eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 11. April 2019 wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A) I.), im Übrigen der Beschwerde stattgegeben, festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, und dem Mitbeteiligten gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt (Spruchpunkt A) II.) sowie ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

4 Begründend stellte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten - soweit wesentlich - fest, der Mitbeteiligte sei gesund und arbeitsfähig, verfüge über eine mehrjährige Schulbildung. Er sei ledig, habe keine Sorgepflichten und führe in Österreich kein Familienleben. Es würden keine Verwandten des Mitbeteiligten in Österreich sondern seine Familienangehörigen (Eltern) in Togo leben. Er habe jedoch aufgrund seines mehr als dreieinhalbjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet hier einen Freundes- und Bekanntenkreis. Der Mitbeteiligte habe die Deutschprüfung A2 erfolgreich abgelegt und besuche einen Deutschkurs auf B1-Niveau. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse sei er als Laiendolmetscher beim Tiroler Integrations-Kompass tätig. Er verkaufe eine Straßenzeitung, wodurch er etwa EUR 100,-- "ins Verdienen bringe". Er sei jedoch nicht selbsterhaltungsfähig. Der Mitbeteiligte habe an einem Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds, an einer Kompetenzanalyse der Tiroler Soziale Dienste sowie an einer Fortbildung der Akademie der Tiroler Soziale Dienste teilgenommen. Vom 7. Februar 2018 bis 31. August 2018 habe er in der Küche des Wohn- und Pflegeheimes St. J. gearbeitet und arbeite seit Anfang Februar 2019 jeweils drei Tage pro Woche zu fünf Stunden in der Küche des Wohn- und Pflegeheims der Tiroler Soziale Dienste. Er sei strafrechtlich unbescholten.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass der Mitbeteiligte in Österreich zwar kein Familienleben führe und nicht über hinreichende Mittel zur Sicherung seines Lebensunterhalts verfüge, er jedoch im Hinblick auf die von ihm verrichteten Tätigkeiten, seine erworbenen Sprachkenntnisse und seines Freundes- und Bekanntenkreises im Bundesgebiet, seinen bisherigen Aufenthalt hier für seine Integration in beruflicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht genutzt habe und um eine möglichst umfassende und auf Dauer angelegte persönliche Integration in Österreich bemüht sei. Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK sei sein individuelles Interesse an einer nicht nur vorübergehenden Fortführung seines Privatlebens in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Schließlich sei der Mitbeteiligte strafrechtlich unbescholten und stelle sein Verbleib im Bundesgebiet keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar.

Ohne weitere Begründung führte das BVwG aus, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 gegeben seien, weshalb der Beschwerde in diesem Punkt stattzugeben und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen gewesen sei.

Die Stattgebung der Beschwerde betreffend den ebenfalls in Spruchpunkt III. des erstbehördlichen Bescheides enthaltenen Ausspruchs über die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 begründete das BVwG nicht.

6 Gegen Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende Amtsrevision. Der Mitbeteiligte beantragte in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision kostenpflichtig "nicht zu zulassen", in eventu ihr nicht stattzugeben.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Amtsrevision - soweit hier wesentlich - zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht habe die in der näher bezeichneten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Grundsätze für die nach § 9 BFA-VG vorzunehmende Interessenabwägung missachtet, weil es das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG nicht entsprechend berücksichtigt habe. Dies führe im vorliegenden Fall zur Unvertretbarkeit der Interessenabwägung. Die vom BVwG herangezogenen Merkmale der Integration begründeten konkret keine derart außergewöhnliche Situation, sodass sich eine Aufenthaltsbeendigung als unzulässig darstellen würde. 8 Die Amtsrevision ist aus den dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, Rn. 12, mwN).

10 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

11 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, bereits ausführlich dargelegt, dass es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen. Der in dieser Rechtsprechung angeführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen, trifft auch auf den vorliegenden Revisionsfall zu.

13 Auch zeigt die Amtsrevision im Zusammenhang mit dem im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts erst etwas mehr als dreieinhalbjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls noch nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH jeweils vom 10.4.2019, Ra 2019/18/0049 und Ra 2019/18/0058). 14 Indem das BVwG daher insgesamt fallbezogen das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat und nicht ausreichend berücksichtigte, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte im Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten.

15 Das Erkenntnis war somit bereits deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16 Kosten waren schon deshalb nicht zuzusprechen, weil der Mitbeteiligte gemäß § 47 Abs. 3 VwGG nur im Fall der Abweisung der Revision Anspruch auf Aufwandersatz hätte.

Wien, am 30. Oktober 2019

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