Normen
BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019010051.L00
Spruch:
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A. III. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 2. Jänner 2018 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet abgewiesen (A. I. und A. II.) sowie festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei, und dem Revisionswerber amtswegig gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt (A.III.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (B.). 5 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte verfüge in Österreich über zahlreiche soziale Kontakte, viele österreichische Freunde, sei sehr gut in die österreichische Gesellschaft integriert und engagiere sich beim Roten Kreuz, in einem Männergesangsverein sowie einem Gemeinschaftsgarten. Der Mitbeteiligte befinde sich seit April 2018 in einer dreijährigen Lehrausbildung zum Koch in einem näher bezeichneten Unternehmen, wobei er von seinen Vorgesetzten, Arbeitskollegen und Gästen sehr geschätzt und in einem Zwischenzeugnis in höchstem Maße gelobt worden sei. Der Mitbeteiligte beziehe aus dieser Tätigkeit ein regelmäßiges Einkommen sowie Grundversorgung. Er habe trotz seines verhältnismäßig kurzen Aufenthaltes in Österreich keinen persönlichen Bezug mehr zu Afghanistan und keinen Kontakt zu seiner engeren Familie.
6 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung aus, der unbescholtene Mitbeteiligte lebe seit etwa drei Jahren in Österreich und habe sich von Beginn an um umfassende Integration bemüht. Er arbeite - im öffentlichen Interesse - in der Tourismusbzw. Gastgewerbebranche als Lehrling und sei in seinem Lehrbetrieb sehr gut integriert. Er erziele ein über der Geringfügigkeitsgrenze liegendes Einkommen und könne sich sein Leben in Österreich damit selbst finanzieren. Der Mitbeteiligte spreche sehr gut Deutsch und nehme am sozialen Leben in seinem Wohnumfeld teil, wobei er von diesem sehr geschätzt und als bestens integriert, beliebt, zuverlässig, hilfsbereit, freundlich sowie sprachlich und fachlich auf sehr hohem Niveau beschrieben werde. Die Aufenthaltsdauer des Mitbeteiligten schlage zwar nachteilig aus, die in knapp drei Jahren erlangte Integration rechtfertige jedoch die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Zudem habe der Mitbeteiligte keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan. Die privaten Interessen des Mitbeteiligten würden somit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen.
7 Gegen die Feststellung der Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels (Spruchpunkt A. III. des angefochtenen Erkenntnisses) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
8 Zur Zulässigkeit führte die Revision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende große Bedeutung beigemessen. Im Revisionsfall liege keine derart außergewöhnliche Konstellation vor, dass trotz des erst etwa dreijährigen Aufenthaltes die privaten Interessen des Mitbeteiligten das öffentliche Interesse überwiegen würden. Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spreche, sozial vielfältig vernetzt und integriert sei, für seinen Lebensunterhalt selbst aufkomme und nie straffällig geworden sei, würden keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale darstellen. Auch einer Berufstätigkeit und einer Ausbildung komme für sich betrachtet keine wesentliche Bedeutung zu. Sämtliche der vom BVwG herangezogenen Aspekte seien während eines unsicheren Aufenthalts entstanden und daher in ihrem Gewicht gemindert. Zudem seien öffentliche Interessen nicht zu Gunsten des Fremden in die Interessenabwägung miteinzubeziehen. Da der Mitbeteiligte Afghanistan erst 2015 verlassen habe, sein gesamtes Leben in seinem Herkunftsstaat verbracht habe, im Kreis seiner afghanischen Familie aufgewachsen und nach den afghanischen Traditionen und Gebräuchen sozialisiert worden sei, seien die Ausführungen des BVwG, wonach der Mitbeteiligte keinen persönlichen Bezug zu Afghanistan habe, nicht nachvollziehbar.
9 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Amtsrevision.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.
12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes
ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN).
13 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit den von der Amtsrevision angesprochenen Rechtsfragen bereits in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, umfassend auseinandergesetzt und in dieser Entscheidung zusammengefasst ausgeführt, dass die Berücksichtigung einer Lehre beziehungsweise einer Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen. Der in dieser Rechtsprechung angeführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen, trifft auch auf den vorliegenden Revisionsfall zu.
15 Auch zeigt die Amtsrevision im Zusammenhang mit dem etwa erst dreijährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH jeweils vom 10.4.2019, Ra 2019/18/0049 und Ra 2019/18/0058).
16 Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass es im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nicht auf das Bestehen einer Kernfamilie im Heimatland ankommt, sondern lediglich auf "Bindungen zum Heimatstaat des Fremden" (vgl. VwGH 22.1.2013, 2011/18/0012).
17 Indem das BVwG daher insgesamt fallbezogen das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat (wobei auch die Berücksichtigung einer Lehre in einem Mangelberuf als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden nicht in Betracht kommt, vgl. hierzu nochmals VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003) und gänzlich außer Acht ließ, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte in Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, sowie weiters auf das Fehlen einer Kernfamilie im Herkunftsstaat abstellte, hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten.
18 Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 19. Juni 2019
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