VwGH 2007/19/0279

VwGH2007/19/027911.11.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. N. Bachler, die Hofrätin Mag. Rehak und den Hofrat Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der N, vertreten durch Dr. Walter Eisl, Rechtsanwalt in 3300 Amstetten, Ardaggerstraße 14, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 2. April 2007, Zl. 306.061-C1/3E-XIX/62/06, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 2005 §60;
AsylG 2005 §75 Abs1;
AsylG 1997 §7;
AsylG 2005 §60;
AsylG 2005 §75 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin ist armenische Staatsangehörige und reiste gemeinsam mit ihren Kindern (hg. Zlen. 2007/19/0278, 0280) am 11. Oktober 2005 in das Bundesgebiet ein. Sie beantragte für sich und ihre Kinder noch am selben Tag Asyl und brachte dazu in den erstinstanzlichen Einvernahmen im Wesentlichen vor, ihr Vater sei Armenier, ihre Mutter "Aserbaidschanerin" (Aseri) gewesen. 1988 seien die Eltern bei ethnisch bedingten Unruhen ums Leben gekommen. Die Beschwerdeführerin sei mit ihrem damaligen Lebensgefährten nach Spitak im Norden Armeniens gezogen, wo sie (nach dem Erdbeben im Dezember 1988) in einem Container gelebt habe. 1993 sei die Beschwerdeführerin von zwei unbekannten Männern überfallen und von einem der beiden vergewaltigt worden. Ihrer Meinung nach habe die Vergewaltigung mit ihrer Abstammung aus einer "Mischehe" zu tun. Sie glaube, dass dieser Umstand den Männern, die sie überfallen hätten, auf einem näher beschriebenen Weg bekannt geworden sei. Eine Anzeige bei der Polizei habe sie wegen des Überfalls nicht erstattet, sondern sie sei mit ihrer Familie aus Armenien zunächst nach Russland und später in die Ukraine geflohen, ehe sie - mangels ausreichender Aufenthaltspapiere - weiterreisen habe müssen und so nach Österreich gelangt sei.

Das Bundesasylamt richtete am 24. August 2006 eine Anfrage an die Staatendokumentation, die am 11. September 2006 folgende Antwort gab (Hervorhebungen im Original):

"... In Bezug auf ihre Anfrage vom 25.08.2006 dürfen anbei Informationen übermittelt werden.

Anfragepunkt 1): Gibt es Informationen darüber, dass Personen, welche aus einer Mischehe stammen bzw. sich in einer Mischehe befinden, aktuell in Armenien Verfolgungshandlungen zu befürchten haben?

Grundsätzlich garantiert die Verfassung nationalen Minderheiten das Recht, ihre kulturellen Traditionen und ihre Sprache zu bewahren. Nach gewaltsamen Ausschreitungen gegen Armenier in Aserbaidschan Ende der achtziger Jahre kam es im Gegenzug zu Verdrängungsmaßnahmen gegen die in Armenien lebenden Aserbaidschaner, so dass diese (teilweise unter dem Schutz Russlands) das Land verließen. UNHCR hat Kontakt zu vereinzelt in Armenien verbliebenen Aserbaidschanern mit armenischen Ehepartnern, die jedoch mittlerweile nach Bedrohung durch Nachbarn Armenien zumeist verlassen haben. Gegen Abkömmlinge aus armenischaserbaidschanischen Mischehen waren bei Bekannt- werden der Abstammung von einer/einem aserbaidschanischen Mutter/Vater Animositäten und bisweilen Diskriminierungen möglich. Seit dem Waffenstillstand 1994 hat sich die Situation jedoch auch insoweit entspannt. Heute ist es durchaus möglich, bei der Beantragung eines Reisepasses jegliche Volkszughörigkeit, auch 'Aseri', eintragen zu lassen. Die mehreren hundert aserischen Volkszugehörigen, meist Ehepartner aus gemischten Ehen oder ihre Abkömmlinge, sind in Armenien nicht offiziell als Minderheit registriert. Diese Gruppe bemüht sich nicht aufzufallen und geht in diesen Bemühen so weit, ihre Namen zu ändern, um so ihre Volkszugehörigkeit zu verschleiern. Nach Einschätzung des UNHCR kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass aserische Volkszugehörige, selbst wenn sie mit einem/r armenischen Volkszugehörigen verheiratet sind, in gleicher Weise wie ihre Ehegatten die gleichen Rechte und soziale Akzeptanz wie armenische Staatsangehörige genießen. (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, Februar 2006).

Die aktuellen Berichte von Amnesty International sowie Human Rights Watch geben keine Anhaltspunkte, dass es bezüglich Kinder aus gemischten Ehen Probleme geben würde.

Anfragepunkt 2): Inwieweit ist der Staat willens oder fähig, Privatpersonen, welche Verfolgungshandlungen durch Dritte ausgesetzt sind Schutz zu gewähren?

Mit der Aufnahme Armeniens in den Europarat am 25.01.2001 ist auch international ein Voranschreiten der Demokratisierung anerkannt worden. Somit ist ein Mindeststandard nach europäischer Rechtsauffassung hinsichtlich Achtung der Menschenrechte gewährleistet.

...

Anfragepunkt 3): Gibt es Informationen über konkrete Vorfälle, in denen die Polizei bzw. Sicherheitsbehörden Personen, welche aus einer Mischehe stammen, bzw. sich in einer Mischehe befinden bei Anzeigen gegenüber Privaten keinen Schutz bieten?

Es sind keine Berichte bekannt geworden, wonach die armenische Polizei nicht aktiv bei begangenen Verbrechen eingeschritten wäre, bzw. entsprechende Anzeigen ignoriert hätte."

Mit Bescheid vom 14. September 2006 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab. Gleichzeitig erklärte es die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Armenien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG - aus gesundheitlichen Gründen - für nicht zulässig und erteilte der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

Die Abweisung des Asylantrages begründete die erstinstanzliche Behörde im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerin habe geltend gemacht, im Jahr 1993 von Unbekannten wegen ihrer Abstammung vergewaltigt worden zu sein. Abgesehen davon, dass dieser Übergriff von Privaten ausgegangen sei und dem armenischen Staat nicht zugerechnet werden könne, stelle es lediglich eine Mutmaßung der Beschwerdeführerin dar, wenn sie behaupte, wegen ihrer Abstammung vergewaltigt worden zu sein. Auch sei anzumerken, dass sich die allgemeine Lage in Armenien - wie sich dem Bericht der Staatendokumentation entnehmen lasse - wesentlich geändert habe. Wenngleich Bedrohungen, Diskriminierungen und sogar Vertreibungen von Abkömmlingen aus armenisch-aserbaidschanischen Mischehen zum Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin Faktum gewesen seien, sei für die Gewährung von Asyl ausschlaggebend, dass die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung auch zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides noch vorliegen müsse. Eine aktuelle Verfolgungsgefahr habe die Beschwerdeführerin aufgrund der veränderten Lage in Armenien (Waffenstillstand seit 1994, Aufnahme in den Europarat 2001) aber nicht glaubhaft machen können.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin unter anderem vor, auch zum jetzigen Zeitpunkt sei die Gefahr einer (asylrelevanten) Verfolgung auf Grund ihrer ethnischen Abstammung in Armenien nicht gebannt. Zum Beleg dafür zitierte sie einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Februar 2005. Die Beschwerdeführerin würde auf Grund ihrer Abstammung im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keinen Arbeitsplatz erhalten. Die Diskriminierungen und Schikanen, denen sie ausgesetzt wäre, würden ein asylrelevantes Ausmaß erreichen.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab. Eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund sei nicht gegeben. Von der Erstbehörde sei richtig festgestellt worden, dass sich die allgemeine Lage in Armenien seit den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Ereignissen wesentlich geändert habe. Die Bedrohung aus dem Jahr 1993 sei daher nicht mehr aktuell. Wie die seitens der Erstbehörde getroffenen aktuellen Länderfeststellungen zu Armenien zeigten, bleibe für eine asylrelevante Verfolgungsgefahr in Bezug auf die Beschwerdeführerin kein Raum. Derzeit finde in Armenien "grundsätzlich" keine ethnische Verfolgung von Abkömmlingen einer armenisch-aserischen Mischehe statt. Den Feststellungen der Erstbehörde, die sich vollinhaltlich auf solche der Staatendokumentation stützten, komme, da es sich hier um eine wissenschaftliche Aufarbeitung im Sinn des § 60 AsylG 2005 handle, eine erhöhte Bedeutung zu. Die von der Berufung zitierte Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe spreche - im Zusammenhang mit Abkömmlingen aus gemischt-ethnischen Ehen - ausdrücklich davon, dass kaum Berichte über Beschwerden wegen Diskriminierung oder über schwerwiegende Diskriminierungs- bzw. Verfolgungshandlungen seitens der armenischen Gesellschaft vorlägen. Es sei jedoch - so der Bericht - die Möglichkeit gewisser sozialer Isolation, Anfeindungen und Diskriminierungen gegeben. Dem seien die wesentlich aktuelleren Feststellungen der Staatendokumentation entgegen zu halten. Diesen Feststellungen komme eine erhöhte Bedeutung zu, da es sich - wie bereits ausgeführt - um eine wissenschaftliche Aufbereitung im Sinn des § 60 AsylG 2005 handle. Deshalb könnten die Ausführungen in der Berufung die schlüssigen Darlegungen der Staatendokumentation nicht entkräften, wodurch sich auch kein zusätzlicher Erhebungsbedarf für die Berufungsbehörde ergebe. Überdies könne eine Verfolgung durch Privatpersonen nur dann zu einer Asylgewährung führen, wenn der Herkunftsstaat nicht in der Lage oder nicht gewillt sei, diese hintanzuhalten. Dass die staatlichen Behörden in Armenien derzeit nicht in der Lage oder nicht gewillt wären, der Beschwerdeführerin Schutz vor weiteren Übergriffen zu gewähren, ergebe sich weder aus ihrem Vorbringen noch aus den aktuellen erstinstanzlichen Feststellungen, worin ausgeführt werde, dass keine Berichte bekannt seien, nach denen die armenische Polizei bei Verbrechen an Abkömmlingen von armenischaserbaidschanischen Mischehen nicht aktiv eingeschritten wäre, oder eine Anzeigeerstattung ignoriert hätte.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Die Beschwerde rügt, der angefochtene Bescheid gehe "vollständig am tatsächlichen Sachverhalt" vorbei. Auch aktuell sei für die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Abstammung keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in Armenien gegeben. In diesem Zusammenhang verweist die Beschwerde auf "zahlreiche Dokumente, die im Internet unter www.asyl.net veröffentlicht" seien und zitiert beispielsweise ein "Dokument 6/2006: Länderbericht: Transkaukasus-Institut", wonach für aserbaidschanische Volkszugehörige bei Rückkehr nach Armenien keine Existenzmöglichkeit bestehe. Zumindest im Ergebnis zeigt die Beschwerde damit einen relevanten Verfahrensmangel auf.

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in jüngerer Zeit mehrfach mit Bescheiden der belangten Behörde beschäftigt, denen Asylanträge von Personen in oder aus armenisch-aserischen Mischehen zu Grunde lagen (vgl. dazu betreffend Abkömmlinge aus derartigen Ehen die hg. Erkenntnisse vom 30. September 2004, Zlen. 2001/20/0430, 0431, und vom 7. Oktober 2008, Zl. 2006/19/1142; betreffend den aserischen Ehepartner einer Mischehe das hg. Erkenntnis vom 30. September 2004, Zl. 2001/20/0410; betreffend armenische Ehepartner aus Mischehen die hg. Erkenntnisse vom 30. September 2004, Zl. 2001/20/0362, vom 30. Juni 2005, Zl. 2005/20/0114, vom 20. Juni 2007, Zl. 2006/19/0265, und vom 7. Oktober 2008, Zl. 2006/19/0599).

In diesen Verfahren wurde den Asylwerbern von der belangten Behörde vereinzelt auch subsidiärer Schutz mit der Begründung gewährt, wegen ihrer ethnischen Abstammung müssten sie bei Rückkehr nach Armenien mit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung rechnen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang klar gestellt, dass ein solches Bedrohungsszenario auch die Gewährung von Asyl rechtfertigen könnte (vgl. dazu die oben zitierten hg. Erkenntnisse Zlen. 2006/19/0265 und 2006/19/0599).

Auf Grund der genannten Verfahren ist auch notorisch, dass bei der belangten Behörde ein Gutachten der Sachverständigen Dr. Tessa Savvidis vom 7. Mai 2003 aufliegt, in dem die Sachverständige ausgeführt hat, für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung von ethnischen Aseris oder von "Personen aus binationalen Ehen" laute die "Schlüsselfrage", wann sie Armenien verlassen hätten. Falls ein ethnischer Aseri oder "jemand aus einer binationalen Ehe vor z.B. fünf Jahren ausgereist" sei und "für längere Zeit in Russland gelebt" habe, bevor er oder sie "nach Europa" weiter gereist sei um Asyl zu beantragen, könne die Rückkehr nach Armenien "riskant" sein, "weil sich diese Person gegenüber ihrer Gemeinschaft nicht länger ausweisen" könne und "umgekehrt" (vgl. dazu etwa das zitierte hg. Erkenntnis Zl. 2006/19/0599).

Diese Einschätzung deckt sich - wie aus den hg. Vorakten ebenfalls bekannt ist - mit einem Gutachten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 22. September 2003 (Rainer Mattern, Die Situation ehtnisch gemischter Paare in Armenien, Gutachten der SFH-Länderanalyse) sowie einer "Position" des UNHCR vom April 2003 (UNHCR position on mixed Azeri-Armenian couples from Azerbaijan and the specific issue of their admission and asylum in Armenia).

3. Im vorliegenden Verfahren hat das Bundesasylamt von der Möglichkeit einer Anfrage an die Staatendokumentation Gebrauch gemacht.

3.1. Mit dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) wurde die Staatendokumentation beim Bundesasylamt eingerichtet, der gemäß § 60 Abs. 1 AsylG 2005 die Aufgabe zukommt, die für das Asylverfahren relevanten Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen festzuhalten. Zweck der Staatendokumentation ist gemäß § 60 Abs. 2 AsylG 2005 insbesondere die Sammlung von Tatsachen, die relevant sind 1. für die Beurteilung, ob Tatsachen vorliegen, die auf die Gefahr von Verfolgung im Sinne des AsylG 2005 in einem bestimmten Staat schließen lassen, 2. für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Angaben von Asylwerbern und 3. für die Entscheidung, ob ein bestimmter Staat sicher im Sinne des § 39 AsylG 2005 (sicherer Herkunftsstaat) oder des § 4 AsylG 2005 (sicherer Drittstaat) ist. Die gesammelten Tatsachen sind länderspezifisch zusammenzufassen, nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten (allgemeine Analyse) und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Gemäß § 60 Abs. 3 AsylG 2005 (in der für den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides maßgeblichen Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 4/2008) war u.a. die belangte Behörde berechtigt, das Bundesasylamt im Rahmen der Staatendokumentation um die Sammlung von verfügbaren Informationen und die Auswertung von vorhandenen oder zu sammelnden Informationen zu einer bestimmten Frage im Wege der Amtshilfe zu ersuchen; das Bundesasylamt hatte solchen Ersuchen zu entsprechen. Nach der Übergangsbestimmung des § 75 Abs. 1 AsylG 2005 ist § 60 AsylG 2005 auch auf Verfahren anwendbar, die - wie im vorliegenden Fall - schon bei Inkrafttreten des AsylG 2005 anhängig waren.

3.2. Die Auskunft der Staatendokumentation (zur Lage von Abkömmlingen aus armenisch-aserischen Mischehen in Armenien) gab zunächst den Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 2. Februar 2006 (der auch zur Gänze im Verwaltungsakt erliegt) auszugsweise wieder und beschränkte sich im Folgenden auf die Bemerkung, in den jüngsten - nicht näher präzisierten - Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch gebe es keine Anhaltspunkte, dass "es bezüglich Kinder aus gemischten Ehen Probleme geben würde". Erwähnt wurde anschließend auch noch, dass der Staatendokumentation keine Berichte bekannt geworden seien, wonach die armenische Polizei bei Verbrechen gegen die oben angesprochene Personengruppe nicht aktiv eingeschritten wäre oder Anzeigen ignoriert hätte.

Dieses Ermittlungsergebnis wäre nur dann zufriedenstellend, wenn es auf einer breiten Recherche beruhte, die einen ausreichenden Querschnitt von Länderberichten verschiedener Quellen berücksichtigte, und diese Informationsgrundlagen tatsächlich keine Hinweise auf "Probleme" für die betroffene Minderheit erkennen ließen.

Im gegenständlichen Fall kann der Auskunft der Staatendokumentation aber nicht genau entnommen werden, welches Berichtsmaterial gesichtet wurde. Jedenfalls unerwähnt blieben der schon in der Berufung der Beschwerdeführerin zitierte Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Februar 2005 und die unter Punkt 2. der Erwägungen dieses Erkenntnisses angesprochenen (notorischen) Beweismittel. Schon das lässt Zweifel an der Vollständigkeit der Ermittlungen aufkommen, womit ein Kernargument der belangten Behörde, die Feststellungen zur Lage in Armenien stützten sich auf eine wissenschaftlich fundierte Auskunft der Staatendokumentation, nicht aufrecht zu erhalten ist.

4. Auf der Grundlage des aktenkundigen Materials kann (noch) nicht beurteilt werden, ob die Beschwerdeführerin als Abkömmling aus einer armenisch-aserischen Mischehe, die sich seit dem Jahr 1993 nicht mehr in Armenien aufgehalten hat, bei Rückkehr in den Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung erfahren würde.

4.1. Einerseits scheint der aus dem Jahr 2006 stammende Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes auf eine Verbesserung der Lage für diese Minderheit (seit 1994) hinzudeuten. Andererseits wird auch in diesem Bericht zugestanden, dass die in Armenien verbliebenen aserischen Volkszugehörigen bzw. Abkömmlinge aus armenisch-aserischen Mischehen bemüht seien, nicht aufzufallen und danach trachteten, ihre Volkszugehörigkeit zu verschleiern. Eine solche Vorgangsweise spricht dafür, dass diese Personengruppe Furcht zu empfinden scheint, ihre wahre Abstammung offen zu legen. Umso mehr wäre nachzufragen, ob dieses subjektive Empfinden auch objektive Grundlagen hat. Die im Bericht des Auswärtigen Amtes wiedergegebene Einschätzung des UNHCR, wonach nicht davon ausgegangen werden könne, dass aserische Volkszugehörige (selbst wenn sie mit einem/r armenischen Volkszugehörigen verheiratet sind) die gleichen Rechte und die gleiche soziale Akzeptanz wie armenische Staatsangehörige genießen, lässt nicht klar erkennen, ob Abkömmlinge aus derartigen gemischt-ethnischen Beziehungen im Heimatstaat mit Handlungen zu rechnen hätten, die als asylrelevante Verfolgung anzusehen wären (vgl. dazu etwa auch die Umschreibung von "Verfolgungshandlungen" in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtling oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Statusrichtlinie). Auszuschließen ist das aber nicht. Somit erweist sich schon der Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes, auf den die Staatendokumentation und ihr folgend die Asylbehörden ihre Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat vorrangig stützen, als nicht geeignet, die aktuelle Situation für Abkömmlinge aus armenisch-aserischen Mischehen in Armenien abschließend zu beurteilen.

4.2. Hinzu kommt, dass das notorische Gutachten der Sachverständigen Savvidis aus dem Jahr 2003 (siehe Punkt 2. der Erwägungen) in einem unaufgeklärten Widerspruch zur Einschätzung des Auswärtigen Amtes zu stehen scheint, der zufolge sich die Situation schon seit 1994 (relevant) gebessert habe.

4.3. Der in der Berufung angesprochene Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Februar 2005) belegt für sich betrachtet keine asylrelevante Verfolgung von Abkömmlingen aus armenisch-aserischen Mischehen. Der belangten Behörde ist zuzugeben, dass es auch nach diesem Dokument "kaum Berichte oder Beschwerden über gesetzliche Diskriminierung oder über schwerwiegende Diskriminierungs- bzw. Verfolgungshandlungen seitens der armenischen Gesellschaft" gebe. Allerdings merkt die Schweizerische Flüchtlingshilfe im Folgenden an, es sei "davon auszugehen, dass gewisse soziale Isolation, Anfeindungen, Diskriminierungen bzw. Schikanierungen existieren können". Insbesondere im Zusammenhang mit einer Rückkehr nach Armenien würden "sie (Angehörige dieser Personengruppe( es sehr schwer haben ... , falls keine eigene Familie bzw. kein soziales Netz existiert". Welche "Erschwernisse" die Schweizerische Flüchtlingshilfe für Rückkehrer im Auge hatte, lässt sich daraus nicht genau erkennen. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass - folgt man dem Bericht - ein Rückkehrer (gemischt-ethnischer Abstammung) ohne familiären Rückhalt in Armenien in eine ausweglose und seine Existenz gefährdende Situation geraten könnte, der im Sinn des zuvor Gesagten (vgl. Punkt 2. der Erwägungen dieses Erkenntnisses) allenfalls auch Asylrelevanz zukäme.

4.4. Bei dem in der Beschwerde zitierten "Dokument 6/2006" dürfte es sich um eine Stellungnahme des Transkaukasus-Institutes vom 8. März 2006 an das deutsche Verwaltungsgericht Ansbach handeln, wonach für aserbaidschanische Volkszugehörige bei einer Rückkehr nach Armenien keine Existenzmöglichkeiten bestünden (aus http://www.asyl.net/laenderinfo/armenien.html ). Ob dieses Berichtsmaterial auch für den vorliegenden Fall relevant ist, vermag nicht beurteilt zu werden. Die zitierte Stellungnahme liegt im Volltext nicht vor und es ist auch nicht bekannt, welcher Sachverhalt ihr zu Grunde lag und ob dieser mit dem vorliegenden Fall vergleichbar ist (in der Kurzfassung des Dokuments ist jedenfalls von "aserbaidschanischen Volkszugehörigen", nicht aber von Abkömmlingen aus Mischehen die Rede). Der Beschwerde ist aber Recht zu geben, dass auch die Existenz dieses Dokuments dafür spricht, die Ermittlungen zu ergänzen.

5. Zu berücksichtigen ist auch, dass selbst die Asylbehörden zugestehen, im Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin aus Armenien (1993) sei die Vertreibung auch von Abkömmlingen aus derartigen Mischehen ein "Faktum" gewesen. Um der Beschwerdeführerin in einer solchen Situation eine relevante (nachhaltige) Verbesserung der Lage im Herkunftsstaat entgegen halten zu können, ist es erforderlich, die Länderfeststellungen auf eine breite und - zur Wahrung der Rechtssicherheit - innerhalb der belangten Behörde auch einheitliche Tatsachengrundlage zu stellen.

6. Der Verwaltungsgerichtshof übersieht die praktischen Schwierigkeiten der Asylbehörden bei der Ermittlung der maßgeblichen Lage im Herkunftsstaat nicht. Ungeachtet dessen ist von den Asylbehörden nach ständiger Rechtsprechung zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens eines Asylwerbers geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten internationalen Organisationen in die Entscheidung einbeziehen (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 8. April 2003, Zl. 2002/01/0060, vom 21. September 2004, Zl. 2001/01/0348, und vom 23. September 2004, Zl. 2004/21/0134; vgl. zur Pflicht der Asylbehörden, von amtswegen aktuelles Berichtsmaterial heranzuziehen, nur beispielsweise die hg. Erkenntnisse vom 4. April 2001, Zl. 2000/01/0348, vom 1. April 2004, Zl. 2002/20/0440, und vom 14. November 2007, Zl. 2005/20/0473).

Mit der Einrichtung der Staatendokumentation wurde den Asylbehörden eine derartige Informationsmöglichkeit an die Hand gegeben. Ihre Inanspruchnahme erfüllt die oben aufgestellten Anforderungen aber nur dann, wenn dabei das in § 60 AsylG 2005 vorgegebene Ziel (vgl. Punkt 3.1. der Erwägungen dieses Erkenntnisses) erreicht wird. Davon kann die im gegenständlichen Fall nicht ausgegangen werden.

7. Im fortgesetzten Verfahren wird es daher erforderlich sein, die Auskunft der Staatendokumentation im Sinn der dargelegten Grundsätze zu ergänzen. Dabei wird auf eine vollständige und nachprüfbare Dokumentation vorhandener Länderberichte und Gutachten Bedacht zu nehmen sein. Allenfalls wäre auch ein aktuelles länderkundliches Gutachten darüber einzuholen, ob Abkömmlinge aus einer armenisch-aserischen Mischehe in Armenien (noch) mit asylrelevanter Verfolgung - sei es auch nur von privater Seite - zu rechnen haben; bejahendenfalls wäre zu klären, ob sie dagegen von Seiten des armenischen Staates effektiven Schutz erhalten können.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 11. November 2008

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