VwGH Ra 2014/22/0055

VwGHRa 2014/22/005530.7.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Schubert-Zsilavecz, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom 2. April 2014, Zlen. LVwG 26.16-2137/2014-11, LVwG 26.16-2140/2014-7, LVwG 26.16- 2142/2014-7 und LVwG 26.16-2143/2014-7, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Landeshauptmann von Steiermark; mitbeteiligte Parteien: 1. E M in W, 2. R M in G, 3. R M in G, 4. R M in G), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7 impl;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §43 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §44 Abs1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2015:RA2014220055.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Die mitbeteiligten Parteien (alle sind russische Staatsangehörige, die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien sind die Eltern der noch minderjährigen weiteren mitbeteiligten Parteien) reisten am 31. Juli 2011 in das Bundesgebiet ein und stellten Asylanträge. Diese Asylanträge wurden in Verbindung mit Ausweisungen mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 22. Juni 2012 rechtskräftig abgewiesen.

Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Steiermark (belangte Behörde) vom 16. Mai 2013 wurden die Anträge der mitbeteiligten Parteien vom 17. Dezember 2012 auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung abgewiesen. Die belangte Behörde erachtete angesichts der vorgebrachten Argumente eine Neubeurteilung im Sinn des Art. 8 EMRK als geboten. Eine positive Erledigung der Anträge sei aber - insbesondere im Hinblick auf die kurze Aufenthaltsdauer von weniger als zwei Jahren, die fehlende Integration am Arbeitsmarkt und den fehlenden Nachweis von Sprachkenntnissen - nicht gerechtfertigt.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis behob das Verwaltungsgericht den bekämpften Bescheid, gab den Anträgen der mitbeteiligten Parteien statt und erteilte ihnen jeweils für zwölf Monate einen Aufenthaltstitel, konkret der erstmitbeteiligten Partei eine Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) und der zweit- bis viertmitbeteiligten Partei jeweils einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 NAG. Die ordentliche Revision wurde gemäß § 25a VwGG für unzulässig erklärt.

Das Verwaltungsgericht verwies auf die vorgelegten Sprachdiplome der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien sowie auf deren Mitarbeit bei der Caritas bzw. beim Roten Kreuz. Die zweitmitbeteiligte Partei habe eine verbindliche Einstellungszusage der Israelitischen Kultusgemeinde vorgelegt. Hinsichtlich der minderjährigen dritt- und viertmitbeteiligten Partei verwies das Verwaltungsgericht auf die vorgelegten Schulnachrichten, die daraus ableitbaren verbesserten schulischen Leistungen und auf die Stellungnahmen der jeweiligen Klassenvorstände. Die drittmitbeteiligte Partei leide an einer juvenilen Depression und absolviere seit September 2013 eine Psychotherapie. Die Einvernahme der mitbeteiligten Parteien im Zuge der mündlichen Verhandlung habe ergeben, dass diese die deutsche Sprache beherrschten.

In seinen Erwägungen führte das Verwaltungsgericht aus, dass der Auffassung der belangten Behörde nur insoweit zuzustimmen sei, als der Aufenthalt der mitbeteiligten Parteien als nicht sehr lang anzusehen sei. Allerdings sei den mitbeteiligten Parteien im Hinblick auf ihre Deutschkenntnisse und ihre soziale Integration, die Tätigkeit der erstmitbeteiligten Partei für die Caritas, die verbindliche Einstellungszusage der zweitmitbeteiligten Partei und ihre Kontakte zum Roten Kreuz sowie die äußerst positiven Schulnachrichten der dritt- und viertmitbeteiligten Partei ein hohes Maß an Integration zuzugestehen.

Hinsichtlich der dritt- und viertmitbeteiligten Partei ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass sich diese (zum Zeitpunkt der Entscheidung 14 bzw. zwölf Jahre alten Kinder) nicht mehr in einem anpassungsfähigen Alter befänden. Zudem verwies das Verwaltungsgericht auf die Erkrankung und die laufende Therapie der drittmitbeteiligten Partei. Laut psychotherapeutischer Stellungnahme sei der Zustand derzeit stabil, allerdings sei eine weiterführende Psychotherapie sinnvoll und notwendig.

Im Ergebnis hielt das Verwaltungsgericht fest, dass die kurze Aufenthaltsdauer, der illegale Aufenthalt und die nicht vollständige berufliche Integration grundsätzlich gegen die Erteilung der Aufenthaltstitel sprechen würden. Auf Grund der Unterstützung durch die Israelitische Kultusgemeinde, der ausgezeichneten Sprachkenntnisse, der sozialen Kontakte und des Umstandes, dass sich die beiden Kinder nicht mehr in einem Alter befänden, in dem ihnen eine Reintegration zumutbar wäre, sowie angesichts der Erkrankung der drittmitbeteiligten Partei sei die Abwägung nach Art. 8 EMRK bzw. § 11 Abs. 3 NAG zugunsten der mitbeteiligten Parteien vorzunehmen.

Gegen dieses Erkenntnis erhob die Bundesministerin für

Inneres Amtsrevision gemäß § 3a NAG.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen.

Gemäß der Übergangsvorschrift des § 81 Abs. 26 NAG waren die vorliegenden Verfahren vom Landesverwaltungsgericht Steiermark nach den Bestimmungen des NAG in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 87/2012 zu Ende zu führen.

Die fallbezogen maßgeblichen Bestimmungen der §§ 41a Abs. 9 und 43 Abs. 3 NAG in dieser Fassung haben die Erteilung der betreffenden Aufenthaltstitel jeweils davon abhängig gemacht, dass dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. den Beschluss vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0203, mwN).

Im vorliegenden Fall begründet die Revisionswerberin die Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision damit, dass die vorgenommene Interessenabwägung gravierend von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche. Diesbezüglich verweist sie auf den erst dreijährigen Inlandsaufenthalt der mitbeteiligten Parteien, während dessen die Familie nicht damit hätte rechnen dürfen, dauerhaft in Österreich verbleiben zu können. Weiters führt die Revisionswerberin ins Treffen, dass den beiden Kindern, die bei ihrer Einreise in Österreich zehn bzw. zwölf Jahre alt gewesen seien, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtes eine Wiedereingliederung in ihrem Heimatstaat zumutbar sei. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichtes zum Gesundheitszustand der drittmitbeteiligten Partei seien nicht ausreichend, zumal keine Feststellungen zu den Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat getroffen worden seien.

Ausgehend davon erweist sich die Revision aus nachstehenden Gründen als zulässig und auch berechtigt:

Vorauszuschicken ist zunächst, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht verkennt, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks - wie vorliegend durch die Vernehmung der mitbeteiligten Parteien im Zuge der vom Verwaltungsgericht durchgeführten Verhandlung - bei der Bewertung der integrationsbegründenden Umstände im Rahmen der Interessenabwägung eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. März 2015, Ra 2014/22/0154, mwN). Das Verwaltungsgericht konnte daher, neben den vorgelegten Unterlagen (Sprachzeugnisse, Einstellungszusage, Schulnachrichten, Empfehlungsschreiben und Stellungnahmen Dritter wie der Klassenvorstände) auch die Schilderungen der einvernommenen mitbeteiligten Parteien - wie auch der einvernommenen Zeugin - etwa über den großen Freundes- und Bekanntenkreis sowie über die ehrenamtliche Tätigkeit der zweitmitbeteiligten Partei in ihre Abwägungsentscheidung einfließen lassen.

Zur Aufenthaltsdauer der mitbeteiligten Parteien in Österreich ist Folgendes anzumerken: Entgegen der in der Revision zum Ausdruck kommenden Auffassung kann nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen ist. Da es sich bei der Aufenthaltsdauer um einen von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umständen handelt, ist die Annahme eines "Automatismus", wonach ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bei Vorliegen einer Aufenthaltsdauer von nur drei Jahren jedenfalls abzuweisen wäre, verfehlt. Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof bereits zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. das Erkenntnis vom 23. Juni 2015, Ra 2015/22/0026 und 0027). Die hier zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vorliegende Aufenthaltsdauer von knapp unter drei Jahren konnte daher für sich genommen keine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen der mitbeteiligten Parteien an einer Titelerteilung bewirken.

Weiters fällt in diesem Zusammenhang ins Gewicht, dass sich die mitbeteiligten Parteien im Hinblick auf ihre nur vorläufige Aufenthaltsberechtigung während der Dauer der Asylverfahren sowie angesichts des Umstandes, dass das Erkenntnis des Asylgerichtshofes in diesen Verfahren bereits in weniger als einem Jahr nach Antragstellung ergangen ist, zum Zeitpunkt des Entstehens der integrationsbegründenden Umstände ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten und somit nicht damit rechnen durften, dauerhaft in Österreich bleiben zu können (siehe dazu etwa das Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0295 bis 0298).

Zu der vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführten Erkrankung der drittmitbeteiligten Partei ist auf Folgendes hinzuweisen: Nach der - vom Verwaltungsgerichtshof übernommenen - Rechtsprechung des EGMR hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt. Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon ausgesprochen, dass es einem Fremden obliegt, substanziiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse im Sinn des Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich - auch in seinem Gewicht - beurteilbar (vgl. etwa das - eine aufenthaltsbeendende Maßnahme betreffende - Erkenntnis vom 21. Februar 2013, 2011/23/0516, mwN). Das Verwaltungsgericht weist zwar auf die dargestellte Rechtsprechung hin, hält aber lediglich fest, dass der vorliegende Fall anders zu bewerten sei, weil es sich um ein schwer traumatisiertes Kind handle. Die für eine derartige Beurteilung erforderlichen Feststellungen über die Behandlungsmöglichkeiten für die drittmitbeteiligte Partei in ihrem Heimatstaat werden im angefochtenen Erkenntnis hingegen nicht getroffen.

Vor allem aber rügt die Revision zu Recht die Ausführungen des Verwaltungsgerichtes zum nicht mehr vorliegenden anpassungsfähigen Alter der beiden Kinder. Das Verwaltungsgericht hat die Erteilung der Aufenthaltstitel maßgeblich auch damit begründet, dass den beiden Kindern eine Reintegration in ihrem Heimatstaat auf Grund ihres Alters nicht mehr zumutbar sei. Diese Auffassung vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht zu teilen. Es ist zwar richtig, dass in der Rechtsprechung für Kinder im Alter von sieben und elf Jahren eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit angenommen wurde. Es kann dahinstehen, ob dies für Kinder im Alter von - wie vorliegend - 14 und zwölf Jahren nicht (mehr) gilt. Das Verwaltungsgericht hat nämlich nicht darauf Bedacht genommen, dass die beiden Kinder ihre Heimat erst im Alter von zwölf bzw. zehn Jahren verlassen haben und demnach ihre grundsätzliche Sozialisierung bereits im Herkunftsland erfahren haben, was eine Wiedereingliederung jedenfalls zumutbar erscheinen lässt (vgl. zu all dem die hg. Erkenntnisse vom 19. September 2012, 2012/22/0143 bis 0146, und vom 23. Juni 2015, Ra 2015/22/0026, 0027).

Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung über die Erteilung der beantragten Aufenthaltstitel somit auf eine Begründung gestützt, die nicht mit den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang steht.

Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am 30. Juli 2015

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