Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7 impl;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §44 Abs1;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Der Landeshauptmann von Steiermark wies mit Bescheid vom 22. Juli 2014 die Anträge der Mitbeteiligten (die Erstmitbeteiligte ist die Mutter der Zweitmitbeteiligten, beide sind Staatsangehörige von Aserbaidschan) auf Erteilung jeweils einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" ab.
Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Steiermark der gegen den zitierten Bescheid erhobenen Beschwerde statt und erteilte den Mitbeteiligten die beantragten Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten. Weiters erklärte es die ordentliche Revision für unzulässig.
Das Landesverwaltungsgericht hielt fest, dass die Mitbeteiligten am 27. März 2011 legal (mit Visa "C") in Österreich eingereist seien und am 3. April 2011 Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten. Diese Anträge seien mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 21. April 2011 in Verbindung mit einer Ausweisung abgewiesen worden. Dagegen erhobene Beschwerden habe der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 6. Juni 2011 abgewiesen.
Am 8. Februar 2012 hätten die Mitbeteiligten zweite Anträge auf Gewährung von internationalem Schutz gestellt. Diese Anträge seien mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 24. Februar 2012 gemäß § 68 AVG zurückgewiesen worden. Die dagegen erhobenen Beschwerden habe der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 14. März 2012 abgewiesen.
Am 19. September 2012 hätten die Mitbeteiligten Aufenthaltstitel gemäß § 41a Abs. 9 NAG begehrt. Diese Anträge habe der Landeshauptmann von Steiermark mit Bescheid vom 7. März 2013 abgewiesen.
Am 18. September 2013 hätten die Mitbeteiligten weitere Anträge auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gestellt.
Die Erstmitbeteiligte verfüge über eine universitäre Ausbildung, spreche mehrere Sprachen fließend und habe eine Ausbildung für Massage abgeschlossen. Sie sei nach drei Monaten Angestelltenverhältnis berechtigt, sich als gewerblicher Masseur gemäß § 19 Gewerbeordnung selbständig zu machen. Sie habe mit namentlich genannten Ärzten einen Arbeitsvorvertrag abgeschlossen, wonach die Erstmitbeteiligte als Reinigungskraft und Haushaltshilfe tätig wäre. Nach nunmehrigem Abschluss der Massageausbildung wäre beabsichtigt, die Erstmitbeteiligte auch für Massagetätigkeiten heranzuziehen.
Die Mitbeteiligten hätten während ihres Aufenthaltes in Österreich viele Freunde und Unterstützer gefunden und es sei eine namentlich genannte Pfarre in Graz zum Mittelpunkt ihres Soziallebens geworden.
Die Zweitmitbeteiligte habe die 1. Klasse der Musikhauptschule mit gutem Erfolg abgeschlossen, sie besuche den Klavierunterricht am Konservatorium in Graz und habe sowohl im Musikgymnasium Ferdinandeum als auch am Konservatorium große Fortschritte gemacht. Den Mitbeteiligen sei von einer namentlich genannten Person bestätigt worden, dass sie deren Wohnung mitbenützen könnten.
Beide Mitbeteiligte seien sozialversichert und beherrschten die deutsche Sprache ausnehmend gut.
Den Mitbeteiligten sei nach dem mehrjährigen Aufenthalt in Österreich ein sehr hohes Maß an Integration zuzumessen. Dafür sprächen die von ihnen erworbenen Deutschkenntnisse und die Kontakte der Erstmitbeteiligten zur Kirchengemeinschaft und der Zweitmitbeteiligten zur Klassengemeinschaft. Beide Mitbeteiligten zeigten sich hinsichtlich ihrer Integration als außergewöhnlich engagiert, gebildet und sozial tätig. Ihr Privatleben stelle sich daher jedenfalls als schützenswert dar. Die Mitbeteiligten hätten definitiv einen Grad an Integration erreicht, der nicht mehr den Schluss rechtfertige, dass ein Eingriff in Rechte nach Art. 8 EMRK noch verhältnismäßig wäre.
Zweifellos hätten die Mitbeteiligten gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, indem sie nach Abschluss ihrer Asylverfahren nicht ausgereist seien. Sie hätten aber versucht, ihren illegalen Aufenthalt zu legalisieren.
Darüber hinaus habe der Verfassungsgerichtshof unter Hinweis auf zahlreiche Urteile des EGMR ausgesprochen, dass für Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren grundsätzlich Anpassungsfähigkeit anzunehmen sei. Dem habe sich der Verwaltungsgerichthof angeschlossen. Die Zweitmitbeteiligte sei nunmehr 13 Jahre alt und nicht mehr in einem anpassungsfähigen Alter, weshalb sie durch eine Rückkehr nach Aserbaidschan in ihrem Wohlergehen und in ihren Interessen stark beeinträchtigt wäre.
Insgesamt lägen besondere Umstände vor, die eine Abwägung der Parameter nach Art. 8 EMRK bzw. § 11 Abs. 3 NAG zugunsten der Mitbeteiligten ausfallen ließen.
Die ordentliche Revision sei unzulässig, weil keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen gewesen sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision der Bundesministerin für Inneres; die Mitbeteiligten erstatteten eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Der von den Mitbeteiligten begehrte Aufenthaltstitel gemäß § 41a Abs. 9 NAG erfordert unter anderem, dass dessen Erteilung gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist.
Die einzelfallbezogene Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs in das Privat- und/oder Familienleben nach Art. 8 EMRK stellt im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - keine grundsätzliche Rechtsfrage dar (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2015, Ro 2014/22/0045). Das angefochtene Erkenntnis hat jedoch den Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze überschritten, weshalb die Revision zulässig und auch berechtigt ist.
Dem Verwaltungsgericht ist zwar zuzustimmen, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks - wie hier durch Vernehmung der Mitbeteiligten im Zuge der vom Verwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung - bei der Bewertung der integrationsbegründenden Umstände im Rahmen der Interessenabwägung eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 19. November 2014, Ra 2014/22/0065).
Die entscheidungserheblichen Umstände im vorliegenden Fall bestehen jedoch darin, dass sich die Mitbeteiligten im maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses erst zirka dreieinhalb Jahre im Bundesgebiet aufgehalten haben. Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt zum Ausdruck gebracht (vgl. etwa das Erkenntnis vom 10. November 2010, 2008/22/0777), dass einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zukommt.
Weiters fällt ins Gewicht, dass der bisherige Aufenthalt der Mitbeteiligten in Österreich im Wesentlichen nur auf der Grundlage einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung während des Asylverfahrens erlaubt war und die Mitbeteiligten daher nicht damit rechnen durften, sie würden dauernd in Österreich bleiben können. Dieser Aspekt ist deswegen bedeutsam, weil dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. etwas das hg. Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0295 bis 0298), das grundsätzlich von einem Fremden erfordert, nach Abweisung seines Asylantrages den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise wiederherzustellen.
Demgegenüber haben die Mitbeteiligten im vorliegenden Fall nach Abweisung ihres ersten Asylantrages einen weiteren Asylantrag gestellt, der ebenfalls erfolglos geblieben ist. Sie haben auch nach Abweisung ihrer ersten Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Österreich nicht verlassen, sondern erneut Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen gestellt. Sie haben somit mehrfach behördliche und gerichtliche Entscheidungen über die Verweigerung eines Asyl- bzw. Aufenthaltsrechts ignoriert. Durch dieses Verhalten wurde das bereits genannte öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens stark beeinträchtigt.
Letztlich führt auch entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes das Alter der Zweitmitbeteiligten nicht dazu, dass dieser und demnach auch ihrer Mutter ein Aufenthaltstitel gewährt werden müsste. Es ist zwar richtig, dass in der Rechtsprechung für Kinder im Alter von sieben und elf Jahren eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit angenommen wurde (vgl. das auch vom Verwaltungsgericht zitierte Erkenntnis vom 19. September 2012, 2012/22/0143 bis 0146). Ob dies für ein Kind - wie hier - im Alter von 13 Jahren nicht (mehr) gilt, kann dahinstehen. Das Verwaltungsgericht hat nämlich nicht darauf Bedacht genommen, dass die Zweitmitbeteiligte erst im Alter von zirka zehn Jahren ihr Heimatland verlassen und demnach die grundsätzliche Sozialisierung bereits im Heimatland erfahren hatte, was eine Wiedereingliederung ermöglicht.
Insgesamt gesehen widerspricht somit die Zuerkennung von Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen an die Mitbeteiligten den Grundlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben war.
Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch an die Mitbeteiligten nicht in Betracht.
Wien, am 23. Juni 2015
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