VwGH Ra 2014/22/0065

VwGHRa 2014/22/006519.11.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Dr. Robl, die Hofrätin Mag. Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schweda, über die Revision der Bundesministerin für Inneres in 1014 Wien, Herrengasse 7, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 10. Juli 2014, Zl. LVwG-2014/17/0409-4, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Bürgermeisterin der Stadt I; mitbeteiligte Partei: A, z. H. Mag. R), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7 impl;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §44 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7 impl;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §44 Abs1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Antrag der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht auf Zuerkennung von Aufwandersatz wird abgewiesen.

Begründung

Die mitbeteiligte Partei, ein Staatsangehöriger des Togo, reiste am 20. November 2008 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 7. Mai 2010 in Verbindung mit einer Ausweisung in zweiter Instanz rechtskräftig abgewiesen.

Mit Bescheid der Bürgermeisterin der Stadt I (im Folgenden: belangte Behörde) vom 11. Oktober 2013 wurde der am 31. Mai 2012 bei ihr eingelangte Antrag der mitbeteiligten Partei auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen. Die belangte Behörde nahm eine Neubeurteilung im Hinblick auf Art. 8 EMRK vor. Dabei anerkannte sie ein bestehendes Privatleben der mitbeteiligten Partei in Österreich, verwies aber auf das fehlende Familienleben und die fehlende Integration am Arbeitsmarkt sowie auf die drei rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen der mitbeteiligten Partei. Ausgehend davon nahm sie die Interessenabwägung zu Lasten der mitbeteiligten Partei vor.

Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 10. Juli 2014 gab das Landesverwaltungsgericht Tirol (im Folgenden: Verwaltungsgericht) der dagegen erhobenen, ab dem 1. Jänner 2014 als Beschwerde zu wertenden Berufung der mitbeteiligten Partei Folge, behob den Bescheid der belangten Behörde und erteilte der mitbeteiligten Partei den Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 NAG für die Dauer von einem Jahr. Weiters erklärte es die ordentliche Revision für unzulässig.

In seiner rechtlichen Beurteilung verwies das Verwaltungsgericht - zugunsten der mitbeteiligten Partei - auf die (durch Vorlage eines Sprachdiploms nachgewiesenen und durch den Eindruck in der mündlichen Verhandlung bestätigten) sehr guten Deutschkenntnisse, auf den Inlandsaufenthalt seit November 2008, auf die große Anzahl sozialer Kontakte und die Teilnahme am kulturellen Leben (als DJ und in einer "Break Dance Gruppe"), auf die Tätigkeit der mitbeteiligten Partei in einer sozialen Einrichtung und auf die vorgelegten Einstellungszusagen, auf Grund derer davon auszugehen sei, dass die mitbeteiligte Partei in Zukunft selbsterhaltungsfähig wäre. Die mitbeteiligte Partei habe zwar den begonnenen Besuch einer Abendschule abgebrochen, aber angekündigt, eine weitere Schulausbildung absolvieren zu wollen. Die mitbeteiligte Partei verfüge in Österreich über kein Familienleben, zu den in Togo lebenden Verwandten (darunter ihre Mutter) habe sie keinen Kontakt mehr.

Zu den strafgerichtlichen Verurteilungen hielt das Verwaltungsgericht - auf das Wesentliche zusammengefasst - Folgendes fest: Ohne die Straftat nach dem Suchtmittelgesetz (die mitbeteiligte Partei wurde mit Urteil des Landesgerichtes I vom 29. Juni 2011 wegen § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt) bagatellisieren zu wollen, verwies das Verwaltungsgericht darauf, dass die Tat nur einmal gesetzt worden sei, dass diese nunmehr drei Jahre zurückliege und dass die mitbeteiligte Partei diese "zutiefst bereue". Im Zusammenhang mit der Verurteilung der mitbeteiligten Partei durch das Landesgericht I vom 2. August 2013 wegen den §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Geldstrafe in Höhe von 360 Tagessätzen merkte das Verwaltungsgericht an, dass das "Nichtvorzeigen eines Ausweises" im vorliegenden Fall nicht so schwer wiegen könne. Auf Grund der Integrationsbemühungen der mitbeteiligten Partei sei eine günstige Zukunftsprognose zu stellen.

Im Ergebnis sei der mitbeteiligten Partei der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen, weil dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 1 B-VG iVm § 3a NAG erhobene außerordentliche Revision der Bundesministerin für Inneres (im Folgenden: Revisionswerberin).

In ihrer Darlegung der Gründe für die Zulässigkeit der außerordentlichen Revision bringt die Revisionswerberin - auf das Wesentliche zusammengefasst - vor, dass das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes gravierend von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche. Insbesondere habe das Verwaltungsgericht bei seiner Interessenabwägung die den strafgerichtlichen Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten der mitbeteiligten Partei und das große öffentliche Interesse an der Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen (insbesondere der Suchtgiftkriminalität) nicht entsprechend berücksichtigt, wobei die Revisionswerberin in diesem Zusammenhang mehrere Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes zitiert. Auch hätte das Verwaltungsgericht den von der mitbeteiligten Partei in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten Gesinnungswandel angesichts ihrer wiederholten - auch während offener Probezeit erfolgten - Straffälligkeit nicht unhinterfragt lassen dürfen. Ausgehend davon seien die geltend gemachte soziale Integration und der noch nicht sechsjährige Aufenthalt der mitbeteiligten Partei nicht hinreichend, um die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels als geboten anzusehen.

Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie sich dem Vorbringen der Revisionswerberin vollinhaltlich anschließt und angibt, den dortigen Ausführungen sei nichts hinzuzufügen.

Seitens des Vertreters der mitbeteiligten Partei im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurde zu dem in der Revision angesprochenen, gegen die mitbeteiligte Partei bestehenden Verdacht der schweren Nötigung angegeben, dass das diesbezügliche Strafverfahren gegen die mitbeteiligte Partei zwischenzeitig mit einem Freispruch beendet worden sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Nach der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 26 NAG sind die mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Bundesminister für Inneres anhängigen Berufungsverfahren ab 1. Jänner 2014 vom jeweils zuständigen Landesverwaltungsgericht nach den Bestimmungen des NAG idF vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 87/2012 zu Ende zu führen. Dies trifft auf den vorliegenden Fall zu.

Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG idF BGBl. I Nr. 50/2012 lauten wie folgt:

"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. (1) ...

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und

die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen

rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des

Drittstaatsangehörigen;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung,

insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und

Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des

Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich

die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes

des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

..."

"Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus'

§ 41a. (1) ...

(9) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§ 44a) oder auf begründeten Antrag (§ 44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus' zu erteilen, wenn

1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt,

2. dies gemäß § 11 Abs. 3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt."

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. den Beschluss vom 9. September 2014, Ra 2014/22/0062, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof verkennt auch nicht, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks - wie hier durch Einvernahme der mitbeteiligten Partei im Zuge der vom Verwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung - bei der Bewertung der integrationsbegründenden Umstände im Rahmen der Interessenabwägung sowie bei der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Zukunftsprognose eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. das zu einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ergangene Erkenntnis vom 16. Oktober 2014, Ra 2014/21/0039, mwN).

Dessen ungeachtet erweist sich die vorliegende Revision, die hinsichtlich der durchgeführten Interessenabwägung ein Abweichen von den - von der hg. Rechtsprechung entwickelten - Grundsätzen moniert, aus nachstehenden Erwägungen als zulässig und berechtigt:

Der Verwaltungsgerichtshof hat (im Zusammenhang mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen) in Bezug auf Suchtgiftdelinquenz bereits wiederholt festgehalten, dass diese ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht (vgl. das Erkenntnis vom 20. August 2013, 2013/22/0082, mwN). Dem erwähnten strafgerichtlichen Urteil vom 29. Juni 2011 lässt sich entnehmen, dass der mitbeteiligten Partei Suchtgifthandel in zahlreichen Fällen vom Sommer 2010 bis zu ihrer Verhaftung am 24. Mai 2011 zur Last gelegt wurde. Ausgehend davon vermag der Verwaltungsgerichtshof die Einschätzung des Verwaltungsgerichtes, die mitbeteiligte Partei habe eine solche Tat (nach dem SMG) "nur einmal gesetzt", nicht zu teilen. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ein großes öffentliches Interesses an der Verhinderung strafbarer Handlungen gegen die Staatsgewalt anerkannt (vgl. das Erkenntnis vom 29. Juni 2010, 2010/18/0223, mwN). Diesbezüglich ergibt sich aus dem Urteil vom 2. August 2013, dass die mitbeteiligte Partei einen Polizeibeamten durch Wegschlagen der Hand und Losreißen aus dessen Haltegriff mit Gewalt an einer Amtshandlung zu hindern versucht hat. Das strafbare Verhalten der mitbeteiligten Partei kann daher nicht mit einem bloßen "Nichtvorzeigen eines Ausweises" umschrieben werden. Schließlich lässt sich - worauf auch die Revision hinweist - dem angefochtenen Erkenntnis nicht entnehmen, dass die Rückfälligkeit der mitbeteiligten Partei trotz der bereits erfolgten Verurteilung und trotz des bereits verspürten Haftübels entsprechend berücksichtigt wurde. Gleiches gilt für die im Rahmen der Interessenabwägung ebenfalls maßgeblichen Umstände, dass der Aufenthalt der mitbeteiligten Partei seit rechtskräftigem Abschluss ihres Asylverfahrens rechtswidrig war (§ 11 Abs. 3 Z 1 NAG) und dass sie sich auf der Grundlage der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung, die ihr während des Asylverfahrens zugekommen war, - und mehr noch nach der erfolgten Ausweisung - ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (§ 11 Abs. 3 Z 8 NAG; siehe dazu auch das Erkenntnis vom 9. September 2013, 2013/22/0220).

Auf Grund der somit erheblichen, gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels sprechenden öffentlichen Interessen sowie angesichts dessen, dass die zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses etwas über fünfeinhalb Jahre im Inland aufhältige mitbeteiligte Partei über keine familiären Bindungen in Österreich verfügt, vermag der Verwaltungsgerichtshof - ungeachtet der bestehenden privaten Interessen der mitbeteiligten Partei - die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, dass die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist, fallbezogen nicht zu teilen.

Auf das weitere Revisionsvorbringen betreffend den gegen die mitbeteiligte Partei gerichteten Verdacht der schweren Nötigung und auf die dazu erstattete Stellungnahme des Vertreters der mitbeteiligten Partei musste somit nicht mehr eingegangen werden.

Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Ein Anspruch auf Aufwandersatz für die Revisionsbeantwortung der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht - bzw. für den Rechtsträger, in dessen Namen sie gehandelt hat - besteht gemäß § 47 Abs. 4 VwGG idF BGBl. I Nr. 33/2013 nicht.

Wien, am 19. November 2014

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte