VwGH 95/20/0427

VwGH95/20/042726.6.1996

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des M in P, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 2. Juni 1995, Zl. 4.342.630/7-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.860,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und reiste am 31. Oktober 1992 in das Bundesgebiet ein. Am 9. November 1992 stellte er durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin den Antrag, ihm Asyl zu gewähren. Anläßlich seiner am 10. November 1992 erfolgten niederschriftlichen Befragung gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, Polizisten seien oft in das Haus seiner Familie gekommen und hätten nach seinem Vater (A, Beschwerdeführer zur hg. Zl. 95/20/0428) gefragt. Dabei hätten alle Ohrfeigen bekommen, so auch er. Nach einer halben Stunde seien die Polizisten wieder gegangen, seien jedoch fast jeden Tag gekommen. Etwa zwei Wochen vor der Ausreise sei er in der Nacht, als Polizisten plötzlich in seinem Zimmer gestanden seien, davon so erschrocken, daß er ein paar Schritte zurückgewichen, dadurch gestolpert und auf den Blechofen gefallen sei, wodurch er sich an der Wange und an der linken Hand Brandwunden zugezogen habe. Er wolle zu seinem Vater und möchte bei diesem bleiben, wo sei ihm egal.

Mit Bescheid vom 25. Februar 1993 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers ab.

In der dagegen gerichteten Berufung machte der Beschwerdeführer geltend, nachdem sein Vater seine Heimat habe verlassen müssen, sei er systematisch von Polizeibeamten verhört worden, wobei körperliche Gewalt gegen ihn angewendet worden sei. Sein Vater sei in Verbindung mit einer verbotenen politischen Organisation gestanden. Es bestehe auch ein aufrechter Haftbefehl gegen seinen Vater, der sich der Verhaftung nur durch die Flucht habe entziehen können. In seinem Heimatstaat bestehe jedoch Sippenhaftung, sodaß er konkret auch für die eigene körperliche Integrität und Sicherheit zu fürchten habe. Des weiteren sei dem Beschwerdeführer untersagt worden, entsprechende Schulen zu besuchen, es liege daher auch eine Diskriminierung seiner Person vor. Würde er in seine Heimat zurückkehren müssen, würden Verfolgungsmaßnahmen in gesetzwidriger Weise gegen ihn vorgenommen werden.

Mit Bescheid vom 25. Mai 1993 wies die belangte Behörde diese Berufung ab. Infolge der dagegen gerichteten Beschwerde hob der Verwaltungsgerichtshof mit hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1994, Zl. 94/20/0272, den bekämpften Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (infolge Aufhebung des Wortes "offenkundig" in § 20 Abs. 2 AsylG 1991 durch den Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 1. Juli 1994, G 92, 93/94) auf, wodurch das Verfahren wiederum bei der belangten Behörde anhängig wurde.

Mit "Manuduktionsschreiben" vom 16. März 1995 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Geltendmachung einfacher Verfahrensmängel und daraus etwa folgender Sachverhaltsergänzungen gegeben und u.a. im Rahmen des Parteiengehörs mitgeteilt, die Berufungsbehörde halte es für erwiesen, daß sich aus dem Gesamtbild seines Vorbringens keinerlei Gründe ergäben, die die Annahme nahelegen würden, daß sich die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände auf das gesamte Gebiet seines Heimatstaates bezögen, er daher nicht Schutz vor etwaigen Beeinträchtigungen in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte finden können bzw. nicht sogar schon während seines Aufenthaltes in Istanbul gefunden habe.

Daraufhin erstattete der Beschwerdeführer eine Berufungsergänzung, in der er im wesentlichen seine Angaben in erster Instanz bekräftigte, ergänzend jedoch darauf verwies, daß die von ihm geschilderten Befragungen unter Gewaltanwendung auch auf Grund der sich steigernden Häufigkeit, jeweils verbunden mit Gewalttätigkeiten gegen ihn und seine verbliebenen Familienmitglieder, eine Verfolgung sowohl nach ihrer Art als auch nach ihrer Intensität darstellten. Er verwies inhaltlich darauf, daß er bereits in seiner Berufung ausgeführt habe, daß er auf Grund einer in seinem Heimatland bestehenden "Sippenhaftung" mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen gehabt hätte. Zur Frage der sogenannten "inländischen Fluchtalternative" äußerte sich der Beschwerdeführer nicht.

Mit dem nunmehr angefochtenen (Ersatz-)Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers (samt deren Ergänzung neuerlich) gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und begründete dies im wesentlichen damit, daß nach Vorbringen des Beschwerdeführers weder die Befragungen durch die Polizei noch die dabei erlittenen Ohrfeigen Flüchtlingseigenschaft zu indizieren geeignet seien, da Erkundigungen der türkischen Behörden nach seinem Vater noch nicht auf eine Verfolgungsintention gegen seine Person hindeuteten. Es handle sich dabei um verhältnismäßig geringe, vorübergehende Beeinträchtigungen im Zuge behördlicher Ermittlungen, welche keine Zwangslage zu begründen vermöchten, der sich der Beschwerdeführer nur durch Ausreise hätte entziehen können. Grund der Befragungen und der Ohrfeigen sei lediglich ein von den türkischen Behörden beim Beschwerdeführer vermutetes Sonderwissen über den Aufenthaltsort seines Vaters, erworben durch sozialen Umgang mit diesem, gewesen, sodaß damit weder eine politische Gesinnung noch schlechthin die Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe Auslöser für die behauptete Verfolgung gewesen sei. Daß sich der Beschwerdeführer infolge seines eigenen Erschreckens und Stolpern verletzt habe, sei asylrechtlich ebenso irrelevant wie sein Wunsch, zu seinem Vater zu wollen und bei diesem zu bleiben. Im übrigen habe er keine Umstände geltend gemacht, die die Annahme rechtfertigten, daß sich die von ihm geltend gemachten Umstände auf das Gesamtgebiet seines Heimatstaates bezögen, er also nicht vor etwaigen "Fährnissen" in einem anderen Teil der Türkei Schutz hätte finden können bzw. nicht in Istanbul bereits während seines Aufenthaltes gefunden habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Zunächst ist der belangten Behörde grundsätzlich darin beizupflichten, daß bloße Verhöre, Befragungen und auch - vom Staat nicht initiierte - Übergriffe Einzelner in die körperliche Integrität nicht jene Qualität und Intensität aufweisen, die für die Glaubhaftmachung einer "wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung" im Sinne des § 1 Z. 1 AsylG 1991 (inhaltsgleich mit Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) erforderlich ist (vgl. als Beispiel für viele das hg. Erkenntnis vom 4. November 1992, Zl. 92/01/0819).

Es trifft zwar zu, daß der Beschwerdeführer auf den Vorhalt der belangten Behörde in ihrem Manuduktionsschreiben, es habe für ihn möglicherweise in anderen Teilen seines Heimatstaates, insbesondere während seines Aufenthaltes in Istanbul, eine sogenannte "inländische Fluchtalternative" bestanden, in der von ihm erstatteten Berufungsergänzung nicht eingegangen ist, doch erweist sich die Heranziehung dieses Abweisungsgrundes auch ohne ausdrückliche Bestreitung durch den Beschwerdeführer als nicht stichhältig. Aus dem Akt ergibt sich, daß der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Ausreise erst 14 Jahre alt war, er daher auch nach türkischem Recht (vgl. auch Art. 11 türkisches bürgerliches Gesetzbuch nach Bergmann-Ferid, Bd. VIII. S. 19) minderjährig war. Unter diesem Aspekt kann nicht davon ausgegangen werden, daß es für den Beschwerdeführer legal möglich oder zumutbar gewesen wäre, ohne seine Eltern und gesetzlichen Vertreter in einem Teil der Türkei Wohnsitz zu nehmen, in dem er einer individuellen Verfolgung nicht ausgesetzt gewesen wäre. Was für einen eigenberechtigten Erwachsenen gilt, kann nicht ohne weiteres auf einen Minderjährigen übertragen werden.

Fällt dieser Asylabweisungsgrund jedoch weg, erweist es sich als entscheidungsrelevant, daß die belangte Behörde die in der Berufung aufgestellte Behauptung des Beschwerdeführers, er habe auf Grund der in seinem Heimatland geltenden "Sippenhaftung" für die verbotenen Tätigkeiten und die Flucht seines Vaters am eigenen Leib Verfolgung zu erleiden, ungeprüft gelassen hat. Aufgrund der von ihm in erster Instanz geschilderten Art und Häufigkeit der "Befragungen" wäre die belangte Behörde im Rahmen des § 20 Abs. 2 AsylG 1991 verpflichtet gewesen, durch Anordnung einer Ergänzung des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens klären zu lassen, ob der Vater des Beschwerdeführers einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen ist und inwieweit diese dann allenfalls auch auf den Beschwerdeführer durchgeschlagen hat bzw durchschlagen hätte können. Auch hinsichtlich der Intensität der Verfolgungshandlungen kann nicht ohne weiteres auf einen Mj. übertragen werden, was für einen Erwachsenen gilt. Aus diesem Grund belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Vermeidung sie zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können. Er war daher gemäß § 43 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war abzuweisen, da an Bundesstempel lediglich ein Anspruch von 360 S zuerkannt werden konnte (S 240,-- Bundesstempel für zweifache Beschwerde und 120 S für Beilagen).

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