VwGH 2003/20/0109

VwGH2003/20/010924.11.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des G in W, geboren 1960, vertreten durch Dr. Georg Riedl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz Josefs-Kai 5, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 18. November 2002, Zl. 218.862/0-VII/43/00, betreffend §§ 7, 8 AsylG (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §1 Z4;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 1997 §1 Z4;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der armenischen Volksgruppe. Er verließ - seinen Angaben zufolge - im Jahre 1993 Armenien und übersiedelte in die am Schwarzen Meer in der Region Krasnodar (Krasnodarskij Kray) gelegene Stadt Sotschi, wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Der Beschwerdeführer gelangte am 15. Juni 2000 nach Österreich und stellte am 21. Juni 2000 einen Asylantrag. Als Fluchtgrund machte der Beschwerdeführer - zusammengefasst - geltend, er sei Anfang Juni 2000 in Sotschi wegen seiner armenischen Abstammung nach einem Streit mit Angehörigen der Kosakenarmee ("Kozatchi Voiska") offenbar über deren Veranlassung von der Polizei mehrfach kontrolliert, angehalten und im Zuge einer mehrtägigen Haft misshandelt und gefoltert worden.

Diesen Asylantrag wies der unabhängige Bundesasylsenat (die belangte Behörde) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 18. November 2002 gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und erklärte gemäß § 8 AsylG (in der damals geltenden Fassung vor der AsylG-Novelle 2003) die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation für zulässig (Spruchpunkt II).

Nach zusammengefasster Wiedergabe des Vorbringens des Beschwerdeführers und des Verfahrensganges nahm die belangte Behörde in Bezug auf die geltend gemachten Fluchtgründe folgenden Sachverhalt als erwiesen an:

"Festgestellt wird, dass der Asylwerber auf Grund seiner armenischen Abstammung in der Region Krasnodarskij Kray sowie in Sotchi durch die sogenannten Kosaken asylrelevant verfolgt wird. Die Staatsmacht ist in dieser Region nicht in der Lage, den Asylwerber vor der Verfolgung durch Kosaken zu schützen.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Asylwerber im restlichen Bereich der Russischen Föderation von Kosaken verfolgt bzw. die Staatsgewalt nicht in der Lage wäre, ihn vor Übergriffen dieser kriminellen Vereinigung zu schützen."

Daran anschließend traf die belangte Behörde "zum Herkunftsstaat" folgende "auf die in der Berufungsverhandlung dargetanen Länderdokumente" gestützte Feststellungen:

"Abgesehen von den Feststellungen zur Region Krasnodarskij Kray wird festgehalten, dass in der Russischen Föderation Armenier wegen ihrer Rasse, Religion oder Nationalität oder politischen Überzeugung nicht asylrelevant verfolgt werden. Das Propiska-System ist seit 01.01.1992 abgeschafft."

Die fallbezogenen Erwägungen der belangten Behörde im Rahmen der rechtlichen Beurteilung zur Abweisung des Asylantrages lauten:

"In ihrem Asylantrag hat die berufende Partei ihrem Herkunftsstaat zurechenbare Verfolgung behauptet, indem sie vorbrachte, dass er (sie) insbesondere in der Region Krasnodarskij Kray von Kosaken, das ist eine kriminelle Vereinigung, verfolgt würde, ihn (sie) die Staatsmacht vor asylrelevanten Übergriffen nicht schützen könne. Diesem Vorbringen ist zuzustimmen. Im Hinblick auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müsste sich diese Verfolgung jedoch auf das gesamte Staatsgebiet der Russischen Föderation beziehen. Dies konnte der Asylwerber nicht dartun, in der Länderdokumentation des Unabhängigen Bundesasylsenates finden sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kosaken auf dem Gebiet der Russischen Föderation asylrelevante Übergriffe auf nichtrussischstämmige Personen verüben und die Staatsgewalt nicht in der Lage wäre, die Betroffenen davor zu schützen. Dies ist auch nicht denkbar, da die Kosaken in der Russischen Föderation selbst eine wenig bedeutende Minderheit sind. Dem Asylwerber steht sohin im Hinblick auf das restliche Gebiet der Russischen Föderation eine innerstaatliche Fluchtalternative offen, es ist ihm zumutbar, sich dort aufzuhalten."

Schließlich begründete die belangte Behörde noch (kurz) den nach § 8 AsylG vorgenommenen Zulässigkeitsausspruch.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerde wendet sich mit ausführlicher Begründung gegen die Annahme der belangten Behörde, die geltend gemachte Bedrohung sei lokal begrenzt und dem Beschwerdeführer stehe eine zumutbare inländische Fluchtalternative offen. Der Beschwerdeführer ist mit dieser Kritik im Recht.

Die belangte Behörde hat sich in ihren Rechtsausführungen hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Asylgewährung auf eine (nicht näher zitierte) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes berufen, wonach sich die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verfolgung auf das gesamte Staatsgebiet der Russischen Föderation beziehen müsse. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem - Fragen der internen Flucht- oder Schutzalternative ausführlich behandelnden - Erkenntnis vom 9. November 2004, Zl. 2003/01/0534, auch mit der vor allem in der älteren Judikatur gebräuchlichen Wendung, wonach sich als Voraussetzung für eine Asylgewährung "die Furcht vor Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 FlKonv ... auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates beziehen muss", näher auseinandergesetzt und dazu ausgeführt, dass damit nicht das Erfordernis einer "landesweiten Verfolgung" gemeint sei. Die Formulierung sei dahin zu verstehen, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeiten innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken müsse. Auf die diesbezüglichen Entscheidungsgründe des genannten Erkenntnisses (insbesondere Punkt 3.) wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.

Da die belangte Behörde die Abweisung des Asylantrages nur mit dem Vorliegen einer internen Fluchtalternative begründete und hiefür - ausgehend von einem unzutreffenden Verständnis der (damals vorliegenden) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes -

Feststellungen über das bloße Fehlen einer "landesweiten Verfolgung" als ausreichend ansah, hat sie die Rechtslage verkannt (vgl. auch das Erkenntnis vom 28. Juni 2005, Zl. 2002/01/0414). Darauf beruht erkennbar, dass die belangte Behörde - unter dem in den Rechtsausführungen formal angesprochenen Gesichtspunkt der Zumutbarkeit eines Ausweichens in andere Landesteile der Russischen Föderation - nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete, auch die individuelle Situation als Angehöriger der armenischen Volksgruppe berücksichtigende Lage des Beschwerdeführers in den in Frage kommenden Gebieten unterlassen hat (vgl. schon das Erkenntnis vom 11. Juni 2002, Zl. 2000/01/0305, mwN, sowie Punkt 4.1. und 4.2. der Entscheidungsgründe des bereits erwähnten Erkenntnisses vom 9. November 2004, Zl. 2003/01/0534). In diesem Zusammenhang rügt die Beschwerde im Übrigen auch zutreffend, dass die Feststellung, das Propiska-System sei seit Anfang 1992 "abgeschafft", ohne Auseinandersetzung mit der tatsächlich geübten Behördenpraxis in Bezug auf die Möglichkeit der Zuwanderung in andere Gebiete der Russischen Föderation keinen maßgeblichen Aussagewert besitzt.

Außerdem ist noch zu bemerken, dass die negativen Feststellungen zu einer dem Beschwerdeführer auch außerhalb seiner Heimatregion drohenden "Verfolgung durch Kosaken" und zur auch dort fehlenden Schutzfähigkeit der Staatsgewalt nicht ausreichend begründet wurden. Abgesehen davon, dass sich der pauschale Hinweis auf "die in der Berufungsverhandlung dargetanen Länderdokumente" nicht darauf bezieht und für sich genommen auch nicht ausreichend nachvollziehbar ist, wären diese (teilweise nicht aktuellen und nur auszugsweise erörterten) Quellen - wie die Beschwerde im Ergebnis zutreffend aufzeigt - auch nicht geeignet, die erwähnten Sachverhaltsannahmen zu tragen. Eine konkrete (beweiswürdigende) Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen des Beschwerdeführers - die Kosaken gebe es in "ganz Russland"; seiner Frau hätten sie gesagt, man würde ihn finden, egal, wo er sich aufhalte; er fürchte sich vor ihnen, weil es allgemein bekannt sei, dass die "Kosakenarmee" ihre Leute auch im Föderalen Sicherheitsdienst (FSB), in der Armee, beim Geheimdienst und beim Auslandsaufklärungsdienst habe - ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen. Die belangte Behörde führte zwar im Rahmen der rechtlichen Beurteilung aus, in ihrer "Länderdokumentation" fänden sich keine Anhaltspunkt dafür, dass die Kosaken auf dem Gebiet der Russischen Föderation asylrelevante Übergriffe auf nichtrussischstämmige Personen verübten und dass die Staatsgewalt nicht in der Lage wäre, die Betroffenen davor zu schützen, und dies sei auch nicht denkbar, weil die Kosaken in der Russischen Föderation selbst eine wenig bedeutende Minderheit seien. Ersteres stellt in dieser allgemeinen Form jedoch keine nachvollziehbare, auf ihre Richtigkeit überprüfbare inhaltliche Begründung dar, Zweiteres ist lediglich eine nicht schlüssige Mutmaßung.

Die belangte Behörde hätte sich jedoch angesichts der (vom Beschwerdeführer dargelegten und von der belangten Behörde nicht bezweifelten) Verflechtung des "Kosakenwesens" mit den behördlichen Strukturen im Kaukasus näher mit seiner Behauptung auseinandersetzen müssen, diese (personellen) Verbindungen bestünden in der gesamten Russischen Föderation, zumal sich - bei Zutreffen dieses Vorbringens - auch daraus die Unzumutbarkeit des Ausweichens in andere Landesteile hätte ergeben können. Dabei wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass der Beschwerdeführer seinem Vorbringen nach nicht direkt von den Angehörigen der Kosakenarmee verfolgt wurde, sondern offenbar über deren Veranlassung wegen seiner armenischen Abstammung Übergriffen durch Polizeiorgane, somit durch staatliche Behörden, ausgesetzt gewesen war.

Der angefochtene Bescheid war aber schon aus den zuvor dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 24. November 2005

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte