VwGH Ra 2019/19/0212

VwGHRa 2019/19/021216.2.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 2019, W228 2190965‑1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: Q N, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019190212.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A) IV. und V. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 25. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 5. März 2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten teilweise als unbegründet ab (Spruchpunkte A) I. bis III.). Es stellte im Übrigen in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten erteilt werde (Spruchpunkte A) IV. und V.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG wurde für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B).

4 Begründend hielt das BVwG fest, dass die Ehefrau des Mitbeteiligten sowie seine übrigen Familienangehörigen weiterhin in Afghanistan lebten. Der Mitbeteiligte sei unbescholten, lebe seit circa dreieinhalb Jahren im Bundesgebiet und habe sich in diesem Zeitraum von Beginn an um eine umfassende Integration bemüht. Er habe mehrere Deutschkurse besucht und die Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Niveau A2 und zu Werte- und Orientierungswissen abgelegt. Im Jahr 2018 sei er knapp sechs Monate als Stallarbeiter tätig gewesen und verfüge mittlerweile über Einstellungszusagen von drei verschiedenen Arbeitgebern. Aus einer dieser Beschäftigungen werde der Mitbeteiligte künftig ein regelmäßiges Einkommen lukrieren, mit dem er sich das Leben in Österreich finanzieren könne. Darüber hinaus habe er seinen Arbeitswillen auch bereits bei gemeinnützigen Tätigkeiten unter Beweis gestellt, nehme intensiv am sozialen Leben in seinem Wohnumfeld teil und habe zahlreiche Kontakte zur österreichischen Bevölkerung geknüpft.

5 Berücksichtige man all diese Aspekte, so würden im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die aus den erwähnten Umständen erwachsenden privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet und an der Fortführung seines bestehenden Privatlebens in Österreich die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen. Da die durch eine Rückkehrentscheidung drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruhe, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer seien, sei die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig. Es sei daher von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten zu erteilen. Die Voraussetzungen der Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 lägen vor.

6 Gegen die Spruchpunkte A) IV. und V. des angefochtenen Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von den in der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätzen für die bei Rückkehrentscheidungen im Sinn des Art. 8 EMRK vorzunehmende Interessenabwägung abgewichen, weil es das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG völlig unberücksichtigt gelassen habe. Eine außergewöhnliche Konstellation, in der trotz des erst etwa dreijährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten in Österreich das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung von der Integration des Mitbeteiligten überwogen würde, liege nicht vor.

8 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und auch als berechtigt.

9 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2020/20/0066, mwN).

10 Es entspricht ‑ wie das BVwG selbst im angefochtenen Erkenntnis zutreffend aufzeigt ‑ der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 15.3.2016, Ra 2016/19/0031; 21.1.2020, Ra 2020/14/0011, jeweils mwN).

11 Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass der Mitbeteiligte im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG erst etwa dreieinhalb Jahre im Bundesgebiet aufhältig war. Das BVwG räumt insoweit auch ein, dass dieser relativ kurzen Aufenthaltsdauer (von nicht einmal fünf Jahren) nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der durchzuführenden Interessenabwägung keine maßgebliche Bedeutung in Zusammenhang mit den privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich zukommt. Zu Recht führt das BVwG aber auch aus, dass die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien darstellt, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist. Liegt ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).

12 Ebenso darf nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) zwar nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Sinn wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).

13 Im vorliegenden Fall ist der Amtsrevision darin zuzustimmen, dass das BVwG das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG völlig unberücksichtigt gelassen hat. Unter Zugrundelegung der aus näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgeleiteten Auffassung, die Annahme eines „Automatismus“, wonach ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bei Vorliegen einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren jedenfalls abzuweisen wäre, sei als verfehlt zu erachten, billigte das BVwG dem Mitbeteiligten zu, fallgegenständlich könne keineswegs davon ausgegangen werden, dass er die in Österreich verbrachte Zeit nicht genützt hätte, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Den sich aus den Feststellungen ergebenden Umstand, dass diese soziale und berufliche Integration in einem Zeitraum erzielt wurde, in dem sich der Mitbeteiligte seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, nahm das BVwG in seine Betrachtung nicht auf.

14 Dabei geht das BVwG, ohne es ausdrücklich auszusprechen, im Ergebnis von einer außergewöhnlichen Integration des Mitbeteiligten aus, während die Amtsrevision diese explizit bestreitet und zusammengefasst geltend macht, dass sich der gegenständliche Fall nicht von vergleichbaren ‑ näher bezeichneten ‑ anderen unterscheide, die bereits Gegenstand von höchstgerichtlichen Entscheidungen gewesen seien und in denen die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen nicht ausgereicht hätten, um ihnen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK einen dauernden Verbleib in Österreich zu ermöglichen.

15 Zu Recht weist die Amtsrevision diesbezüglich darauf hin, dass sich aus den vom BVwG zugunsten des Mitbeteiligten ins Treffen geführten Umständen keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen ergebe, dass bereits von einer außergewöhnlichen Konstellation gesprochen werden könne. Die Interessenabwägung des BVwG erweist sich daher als unvertretbar (vgl. die Nachweise in VwGH Ra 2019/19/0289).

16 Das Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 16. Februar 2021

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