VwGH Ra 2014/19/0059

VwGHRa 2014/19/005926.11.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Feiel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Pürgy als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Zaunbauer-Jenkins, über die Revision 1. des I S, 2. der G K, 3. des G S und

4. des R S, alle in S, alle vertreten durch Mag. Stefan Geisler, Rechtsanwalt in 6280 Zell am Ziller, Talstraße 4a, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes je vom 7. Mai 2014, Zlen. 1.) W171 1431677-1/9E (Ra 2014/19/0059), 2.) W171 1431678- 1/7E (Ra 2014/19/0060), 3.) W171 1431496-1/7E (Ra 2014/19/0061), und 4.) W171 1431497-1/8E (Ra 2014/19/0062), jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §37;
B-VG Art133 Abs4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGVG 2014 §17;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §37;
B-VG Art133 Abs4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGVG 2014 §17;

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden im Umfang der Anfechtung, somit im Spruchpunkt A I., wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Zweitrevisionswerberin ist die Ehefrau des Erstrevisionswerbers. Die weiteren Revisionswerber sind ihre gemeinsamen (minderjährigen) Söhne. Alle stammen aus Afghanistan.

Die unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereisten Revisionswerber stellten am 22. Juli 2012 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) wies die Anträge mit den Bescheiden je vom 4. Dezember 2012 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten (gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005) als auch des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat (gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005) ab. Unter einem wurden die Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 nach Afghanistan ausgewiesen.

In der Begründung führte das Bundesasylamt - bezogen auf alle Revisionswerber im Wesentlichen gleichlautend - aus, die Identität und Nationalität der Revisionswerber seien nicht geklärt. Jedoch stehe fest, dass sie aus Kabul stammten, Kenntnisse der Sprachen Farsi, Dari und Punjabi hätten und Angehörige der Sikh seien.

Die von den Revisionswerbern angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes wurden von der Verwaltungsbehörde in den meisten Punkten als glaubwürdig beurteilt und als den Tatsachen entsprechend festgestellt. Allerdings stellte sie auch fest, dass es gegen die Revisionswerber "in der Heimat von staatlicher Seite niemals irgendwelche Verfolgungshandlungen gegeben" habe. Weiters stehe fest, dass Privatpersonen vom Erstrevisionswerber aus einem kriminellen Motiv heraus Geld erpressen und sein "gewinnbringendes Geschäft übernehmen" hätten wollen. Dazu habe die (gemeint: afghanische) Polizei auch Ermittlungen zur Ausforschung der Täter geführt.

Der als Fluchtgrund vorgebrachte Sachverhalt könne nicht zur Asylgewährung führen. Er stehe nämlich mit keinem in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) genannten Konventionsgrund in Zusammenhang. Aus dem Vorbringen sei hervorgegangen, dass die "kriminelle Bande aus einem rein privaten Motiv heraus gehandelt" habe. Es sei dem Vorbringen aber nicht zu entnehmen gewesen, dass der Heimatstaat nicht in der Lage oder nicht gewillt gewesen wäre, Schutz zu gewähren. Die Polizei habe - was die Revisionswerber selbst ausgeführt hätten - die Anzeige wegen des geschilderten Vorfalles entgegengenommen. Somit habe kein asylrechtlich relevanter Sachverhalt festgestellt werden können.

Im Übrigen enthalten die Bescheide noch Ausführungen, weshalb den Revisionswerbern auch der Status von subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt werden könne und sich die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme als zulässig darstelle.

Gegen diese Bescheide erhoben die Revisionswerber Beschwerden an den Asylgerichtshof, in denen sie ua. auch beantragten, eine mündliche Verhandlung abzuhalten. Die Beschwerdeverfahren wurden ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht weitergeführt (§ 75 Abs. 19 AsylG 2005).

Mit den nunmehr angefochtenen Entscheidungen wies das Bundesverwaltungsgericht - ohne eine Verhandlung durchzuführen - die Beschwerden, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richteten, gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab. Hinsichtlich der "Spruchpunkte II. und III."

der bekämpften Bescheide gab das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden statt und behob insoweit diese Bescheide gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG). Weiters sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision gegen die Entscheidungen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht (zu allen Revisionswerbern gleichlautend) aus, sie seien Staatsangehörige von Afghanistan, gehörten der Volksgruppe der Sikh an und seien Anhänger des gleichnamigen religiösen Bekenntnisses. Sie seien im Herkunftsstaat in der Hauptstadt Kabul im Bezirk Kartai Parwan wohnhaft gewesen, wo der Erstrevisionswerber erfolgreich ein eigenes Textilhandelsunternehmen betrieben habe. Er sei nach wie vor arbeitsfähig, gesund und in der Lage, für sich und seine Familie im Herkunftsstaat den notwendigen Unterhalt zu sichern.

Im Rahmen der Darstellung des bisherigen Verfahrensganges (unter der gleichnamigen Überschrift) führt das Bundesverwaltungsgericht wörtlich ua. Folgendes aus (Fehler im Original):

"Befragt nach den Fluchtgründen, führte der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen ins Treffen, aufgrund eines tragischen Gewaltverbrechens, dem seine Mutter zum Opfer gefallen sei, das Heimatland verlassen zu haben. Konkret habe der Erstbeschwerdeführer als selbstständiger Textilwarenhändler mit seinem Gewerbe seiner Familie ein in finanzieller Hinsicht durchaus sorgenfreies Leben zu bieten vermocht. Angesichts des nach außen hin sichtbaren Erfolgs seiner Handelsbeziehungen wären ungefähr zehn Monate vor seiner Antragstellung zwei ehemalige Kunden an ihn herangetreten, mit dem Wunsch, sein Geschäft zu übernehmen. Aufgrund seiner Weigerung das unterbreitete Angebot anzunehmen, habe sich das Gespräch zu einem emotionalen Streit entwickelt in dessen Folge die beiden Männer wutentbrannt den Laden verlassen hätten. Zwei Monate nach diesem Vorfall seien fünf Vermummte an der Wohnadresse seiner Familie erschienen und hätten seine Mutter, welche gerade die Eingangstür geöffnet habe, angegriffen und durch mehrere Messerstiche schwer verletzt. Während der Tat sei von keinem der Täter auch nur ein einziges Wort ergriffen worden, aber vermute der Erstbeschwerdeführer, dass der Anschlag eigentlich seiner Person gegolten haben müsse. 'In der Folge ging ich nicht mehr in mein Geschäft, sondern habe alle meine Waren verkauft und beschlossen, das Land zu verlassen (Seite 89 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes des Erstbeschwerdeführers).' Zudem gebe es aber noch drei weitere Motive für das endgültige Verlassen seiner Heimat: So seien die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer regelmäßig beleidigt, beschimpft und an den Haaren gezogen worden, wann immer sie das Haus verlassen hätten. Darüber hinaus existiere in KABUL kein würdiger Platz für rituelle, der Sikh-Tradition folgende, Einäscherungen Verstorbener. Schließlich leide die Zweitgenannte auch noch an einem rätselhaften Juckreiz, welcher trotz diverser Behandlungsmethoden in Afghanistan keinerlei Linderung erfahren habe. Abgesehen von den zuvor geschilderten Problemen werde die Familie in ihrem Herkunftsstaat weder politisch noch religiös verfolgt. Im Falle ihrer Rückkehr 'haben wir Angst um unser Leben und auch das unserer Kinder (Seite 21 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes des Erstbeschwerdeführers).' Die Zweitbeschwerdeführerin schloss sich ihrerseits inhaltlich den Ausführungen ihres Gatten an. Davon abgesehen verfüge weder sie selbst noch eines der ihrerseits gesetzlich vertretenen minderjährigen Kinder über eigene Fluchtgründe."

Im Anschluss hielt das Bundesverwaltungsgericht noch die Angaben der Revisionswerber zum Reiseweg und zu ihren persönlichen Verhältnissen fest.

Unter der Überschrift "Feststellungen (Sachverhalt)" führte das Bundesverwaltungsgericht nach den - oben dargestellten - Feststellungen zur Person der Revisionswerber aus, die von ihnen "präsentierten" Fluchtgründe reduzierten sich im Wesentlichen auf vier Punkte: einem bis zur Ausreise der Familie "ungeklärt gebliebenen strafrechtlichen Übergriff" auf die Mutter des Erstrevisionswerbers mit tödlichem Ausgang, Anfeindungen der minderjährigen Dritt- und Viertrevisionswerber durch andere Kinder "respektive vereinzelte Personen aus der Umgebung", gesundheitliche Probleme der Zweitrevisionswerberin in Form eines permanenten Juckreizes sowie das Fehlen einer "als würdig erachteten Stätte zur rituellen Einäscherung von Verstorbenen nach den traditionellen Regeln der Sikh-Religion".

Das Bundesasylamt - so das Bundesverwaltungsgericht noch im Rahmen der Feststellungen resümierend - sei zu Recht von der mangelnden Asylrelevanz des Fluchtvorbringens ausgegangen. Feststellungen zum Vorbringen der Revisionswerber hinsichtlich der von ihnen ins Treffen geführten Umstände, die es rechtfertigen würden, ihnen Asyl zu gewähren, traf das Verwaltungsgericht nicht.

"Des Weiteren" könnten - so das Bundesverwaltungsgericht (unverkennbar mit Blick auf jene Aussprüche, mit denen die Zurückverweisung der Verfahren erfolgte) weiter - "basierend auf den der angefochtenen verwaltungsbehördlichen Entscheidung zugrunde gelegten Länderfeststellungen keinerlei abschließende Aussagen zur potentiell landesweiten oder bloß regional eingeschränkten Existenz funktionierender Sicherheitsbehörden sowie medizinischer Behandlungsmöglichkeiten für die Behandlung der gesundheitlichen Beschwerden" der Zweitrevisionswerberin getroffen werden. "Aktuelle Kenntnisse zu diesem Fragenkomplex" stellten aber die "unverzichtbare Grundlage für die Beurteilung der allgemeinen Sicherheitslage dar". Auch sei die "gegenwärtige Erreichbarkeit der ursprünglichen Heimatprovinz im Fall einer Rückführung der Beschwerdeführer nicht hinreichend geklärt".

Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das Vorbringen der Revisionswerber werde "in Übereinstimmung mit den erstinstanzlichen Ausführungen" der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt, obgleich es angesichts der im Rahmen der rechtlichen Beurteilung angeführten Gründe "im Ergebnis" dahingestellt bleiben könne, ob dieses Vorbringen "tatsächlich der Realität" entspreche oder nicht.

In seiner rechtlichen Beurteilung stellte das Bundesverwaltungsgericht - nach (zusammenhangloser) Aneinanderreihung diverser Rechtssätze aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - darauf ab, dem als Fluchtgrund "primär konkret ins Treffen geführten" bewaffneten Überfall auf die Mutter des Erstrevisionswerbers mit tödlichem Ausgang ließen sich keinerlei Hinweise auf einen potentiell asylrelevanten Hintergrund entnehmen. Es sei von einer "rein kriminell intendierten Straftat" auszugehen, die nicht geeignet sei, "Rechtsrelevanz zu entwickeln". Es könne daher auch dahingestellt bleiben, ob das Vorbringen der Realität entspreche.

Ebenfalls könne "basierend auf dem Vorbringen" eine "potenziell mangelhafte Schutzfähigkeit respektive -willigkeit der lokalen Sicherheitsbehörden" nicht erkannt werden. So habe der Erstrevisionswerber in diesem Kontext etwa ausgeführt, er habe nach dem Mord die lokalen Polizeikräfte von dem Gewaltverbrechen informiert. Von den Beamten wären auch sämtliche Details protokolliert worden. Es könnten zwar "aus dem Faktum einer offiziellen Anzeigenentgegennahme noch keinerlei Erkenntnisse hinsichtlich der tatsächlichen Schutzwilligkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden gewonnen werden". Jedoch sei auch nicht "im Umkehrschluss ohne weitere Beweismittel oder Indizien" vom Gegenteil auszugehen. Angesichts der bloß rudimentären Angaben der Zeugen (gemeint: gegenüber der afghanischen Polizei) könne nicht davon ausgegangen werden, dass bereits nach "wenigen Wochen bis Monaten" die polizeilichen Untersuchungen zu einem konkreten Ergebnis, wie etwa Festnahmen oder Anklageerhebungen, gelangt sein könnten. "Daraus resultierend könnten aber objektiv keine Zweifel an einer im Wesentlichen funktionierenden Staatsgewalt, die im Falle strafrechtswidriger Übergriffe auf die körperliche Integrität ihrer Bürger in Kabul einzuschreiten" vermöge und die "diese Möglichkeit in der Praxis auch tatsächlich" wahrnehme, "rational nachvollzogen werden". Zudem könne "kein Staat der Erde" völligen Schutz vor strafrechtlichen Übergriffen gewährleisten.

Die weiteren ins Treffen geführten "Fluchtmotive" seien ebenfalls nicht geeignet, Asylrelevanz zu entfalten. Das Fehlen von subjektiv als nach Sikh-Tradition angemessen empfundenen Einäscherungsstätten stelle keinen - allenfalls aus religiösen Gründen - unter den Begriff "Verfolgung" zu subsumierenden Sachverhalt dar; ebenso nicht der Wunsch nach einer effektiven Behandlung des die Zweitrevisionswerberin seit geraumer Zeit quälenden Juckreizes. Auch könne im unfreundlichen Verhalten von Kindern "respektive vereinzelten erwachsenen Vertretern der nicht zur Bevölkerungsgruppe der Sikh zählenden Nachbarschaft" keine Verfolgung gesehen werden.

Auch sonst könne nicht angenommen werden, dass die der Volksgruppe der Sikh angehörenden und des gleichnamigen Religionsbekenntnisses anhängenden Revisionswerber, die nicht politisch aktiv gewesen seien, im gesamten Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale einer Verfolgung ausgesetzt wären.

Zur Frage der Gewährung subsidiären Schutzes und der diesbezüglich ausgesprochenen Zurückverweisung des Verfahrens an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl merkte das Bundesverwaltungsgericht an, die Verwaltungsbehörde habe "die zur Situation der Sikh im Allgemeinen und jener der Sikh-Frauen im Speziellen, in der Hauptstadt Kabul, Bezirk Kartai, notwendigen Ermittlungen und darauf aufbauend die diesbezüglich entscheidungswesentlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht vorgenommen". Solche seien aber für die Beurteilung der "Rückkehrsituation" unabdingbar. In diesem Zusammenhang seien die Revisionswerber nur "oberflächlich" befragt worden.

Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit einer Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG merkte das Bundesverwaltungsgericht an, seine Entscheidung weiche von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - diese sei nicht als uneinheitlich zu beurteilen - nicht ab und es fehle auch nicht an einer solchen. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen lägen nicht vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidungen erhobene außerordentliche Revision, die sich ausdrücklich nur gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt A I.) wendet, nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

Die Revisionswerber bringen zur Zulässigkeit der Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe die in den Beschwerden gestellten Anträge auf Durchführung einer Verhandlung übergangen und aufgrund der Aktenlage entschieden, obwohl ein Grund für das Absehen von der Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) nicht vorgelegen sei. Die Verwaltungsbehörde habe den entscheidungswesentlichen Sachverhalt nicht vollständig und ordnungsgemäß erhoben. Insbesondere habe sich die Behörde nicht ausreichend mit der aktuellen Situation der Volksgruppe der Sikh in Afghanistan auseinandergesetzt, obgleich der Erstrevisionswerber mehrmals angegeben habe, aufgrund der Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe diskriminiert zu werden. Auch seien die Ausführungen, wonach die Situation der Kinder aus ihrer Religionszugehörigkeit resultiert hätte, unberücksichtigt geblieben.

Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

§ 24 Abs. 1 und Abs. 4 VwGVG lautet:

"Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

..."

§ 21 Abs. 7 BFA-VG hat folgenden Wortlaut:

"Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

§ 21. ...

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."

Im vorliegenden Fall hatten die Revisionswerber in ihren Beschwerden gegen die verwaltungsbehördlichen Bescheide jeweils den Antrag gestellt, eine Verhandlung anzuberaumen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte demnach gemäß § 24 Abs. 1 (erster Fall) VwGVG eine mündliche Verhandlung durchzuführen, es sei denn, andere gesetzliche Bestimmungen hätten ermächtigt, davon Abstand zu nehmen. Fallbezogen kam dafür nur der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltene erste Tatbestand in Betracht (die in § 24 Abs. 2 und 5 VwGVG angesprochenen Konstellationen liegen hier nicht vor; zur Subsidiarität des § 24 Abs. 4 VwGVG vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018).

Im genannten Erkenntnis vom 28. Mai 2014 hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

Für die hier vorzunehmende Beurteilung stellt sich von Relevanz dar, dass das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich davon absah, zu den Gründen der Flucht der Revisionswerber Feststellungen zu treffen. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes könne es aus rechtlichen Gründen dahingestellt bleiben, ob insoweit das Vorbringen den Tatsachen entspreche, weil es mangels Konnexes zu einem in der GFK enthaltenen Konventionsgrundes von vornherein nicht "asylrelevant" sei und daher auch keine "Rechtsrelevanz" erlangen könne.

Die Begründung einer Entscheidung eines Verwaltungsgerichts hat (ua.) Feststellungen zum der Entscheidung zugrunde gelegten maßgeblichen Sachverhalt zu enthalten (vgl. zu den Anforderungen an eine Begründung ausführlich das hg. Erkenntnis vom 21. Oktober 2014, Ro 2014/03/0076, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird).

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0069, anknüpfend an das soeben genannte Erkenntnis vom 21. Oktober 2014, des Näheren mit der rechtlichen Einordnung einer sogenannten "Wahrunterstellung" auseinandergesetzt. Das Wesen einer "Wahrunterstellung" liegt darin, dass das sachverhaltsbezogene Vorbringen einer Verfahrenspartei - regelmäßig jenes des Antragstellers - gerade nicht als tatsächlich gegeben festgestellt wird. Vielmehr wird im Rahmen einer "Wahrunterstellung" geprüft, ob im Fall der hypothetischen Richtigkeit des Vorbringens zum Sachverhalt aus den geltend gemachten Tatsachen - allenfalls in Verbindung mit bereits feststehenden Sachverhaltselementen - der behauptete Rechtsanspruch überhaupt begründet werden kann. Ist dies nicht der Fall, bedarf es keiner Ermittlungen und Feststellungen zur Richtigkeit des (allenfalls: übrigen, noch keinen Feststellungen unterworfenen) sachverhaltsbezogenen Vorbringens, weil sich die behaupteten tatsächlichen Vorgänge aus rechtlichen Gründen nicht (mehr) als im Sinn des § 37 AVG maßgeblich darstellen.

Insofern erweist sich die Ansicht, in einem solchen Fall von der Durchführung einer Verhandlung absehen zu können, dann nicht als rechtsirrig, wenn in einem zu beurteilenden Rechtsfall das Vorhandensein eines Rechtsanspruches gerade nicht von der Richtigkeit des Vorbringens eines Antragstellers zu den ins Treffen geführten Tatsachen abhängt. Ist nämlich ein Vorbringen zum Sachverhalt hinreichend konkret, um die rechtliche Prüfung vornehmen zu können (und somit auch nicht ergänzungsbedürftig), aber von vornherein nicht geeignet, einen Rechtsanspruch (fallbezogen: auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten) zu begründen, stellt sich die Frage nicht mehr, ob das sachverhaltsbezogene Vorbringen den Tatsachen entspricht. In einem solchen Fall kann der der Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt nur darin bestehen, (gegebenenfalls: die Tatsache der Antragstellung sowie) den Inhalt des Vorbringens festzuhalten. Sind darüber hinaus wegen rechtlicher Irrelevanz keine Feststellungen zu den behaupteten Tatsachenumständen zu treffen, ist dann aber regelmäßig davon auszugehen, dass der entscheidungsmaßgebliche Sachverhalt (iSd § 37 AVG) als aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt angesehen werden kann, zumal sich der Inhalt des Vorbringens zum Sachverhalt in der Regel als unstrittig darstellt. Das allerdings entbindet nicht davon, in der Entscheidung offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Vorbringens ausgegangen wurde (vgl zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0069).

Von einer "Wahrunterstellung" in diesem Sinn kann in den vorliegenden Fällen aber nicht ausgegangen werden.

Dem Vorbringen der Revisionswerber ist nämlich (auch) zu entnehmen, dass geltend gemacht wird, die Polizeibehörde des Heimatstaates hätte zwar die Anzeige wegen des ins Treffen geführten Überfalles entgegengenommen. Allerdings würden sich die Polizeibehörden ungeachtet dessen sowohl einer Untersuchung des Vorfalles als auch des Schutzes der Revisionswerber enthalten, weil sie der Volksgruppe der Sikh angehörten. Zudem hätten die Übergriffe auf den Dritt- und Viertrevisionswerber ihre Ursache in der Zugehörigkeit zur gleichnamigen Religion. Auch seien die Revisionswerber dem Vorbringen zufolge bedroht und aufgefordert worden, "das Land" zu verlassen, weil sie kein Recht hätten, dort zu leben. Es sei ihnen als Angehörige der Sikh nicht möglich, frei in Afghanistan zu leben.

Dem Bundesverwaltungsgericht ist zwar beizupflichten, dass eine nur auf kriminellen Motiven beruhende Verfolgung keinem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründe zugeordnet werden kann (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 13. November 2001, 2000/01/0098, und vom 31. Mai 2006, 2004/20/0474). Dies bedeutet aber nicht, dass in einer solchen Situation einem Begehren auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten keinesfalls Erfolg beschieden sein kann. Es kommt nämlich entscheidend auch darauf an, auf welche Ursachen allenfalls fehlender staatlicher Schutz zurückzuführen ist. Ist der Heimatstaat des Beschwerdeführers aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit, Schutz zu gewähren, käme einer primär kriminell motivierten Verfolgung nämlich asylrelevanter Charakter zu. Das folgt daraus, dass das Asylrecht als Ausgleich für fehlenden staatlichen Schutz konzipiert ist, sodass bei der Beurteilung des Vorliegens eines Konventionsgrundes letztlich auch der Frage nach den Ursachen des Unterbleibens eines solchen Schutzes Bedeutung beigemessen werden muss (vgl. dazu wiederum das bereits erwähnte Erkenntnis vom 13. November 2001).

Das diesbezügliche - auch sachverhaltsbezogene und nicht bloß auf Rechtsfragen reduzierbare - Vorbringen der Revisionswerber hat das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Beurteilung ausgeblendet. Bei Berücksichtigung desselben könnte aber nicht mehr gesagt werden, ein Bezug zu den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen sei fallbezogen von vornherein nicht denkbar.

Soweit das Bundesverwaltungsgericht zudem davon ausgeht, die Polizeibehörden des Heimatlandes der Revisionswerber würden ohnedies die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit aufweisen, entfernt es sich - ohne dazu in gesetzmäßiger Weise Feststellungen getroffen zu haben, die eine solche Beurteilung erlaubt hätten - vom Vorbringen. Dies gilt auch für die Annahme, bei den "unerfreulichen Auseinandersetzungen" betreffend die Kinder handle es sich um "Vorfälle, wie sie laut allgemeiner Lebenserfahrung überall auf der Welt unter Minderjährigen vorkommen können". Damit nimmt das Bundesverwaltungsgericht eine Bewertung dahingehend vor, dass die Ereignisse nicht dergestalt gewesen wären, ihnen die asylrechtlich geforderte Intensität beimessen zu können. Damit weicht es aber in entscheidungswesentlichen Punkten nicht nur vom Vorbringen - an anderer Stelle wird in der Entscheidungsbegründung allerdings von "Anfeindungen" gesprochen - ab, sondern es bleibt letztlich auch hier im Dunkeln, aufgrund welcher konkreten Umstände eine solche Beurteilung vorgenommen wurde. Schon das vom Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte - in der Begründung aber zudem nur unvollständig wiedergegebene - Vorbringen vermag ohne weitere Feststellungen diese rechtliche Beurteilung allein nicht zu tragen; geht doch das Vorbringen zu den Geschehnissen seinem Inhalt nach deutlich über ein vom Bundesverwaltungsgericht angenommenes bloß "unfreundliches Verhalten" anderer Kinder oder Nachbarn hinaus.

Darüber hinaus spricht das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Entscheidung über die Zurückverweisung betreffend die Frage des subsidiären Schutzes selbst davon, dass die Verwaltungsbehörde bislang die als entscheidungswesentlich angesehene "Situation der Sikh im Allgemeinen und jener der Sikh-Frauen im Speziellen" überhaupt nicht ermittelt hätte, und räumt auf die Weise letztlich offenkundig ein, dass das Vorbingen der Revisionswerber, wonach ihre Situation im Lichte der Zugehörigkeit zu ihrer Volksgruppe und Religion zu betrachten wäre, letztlich doch einer näheren Untersuchung bedarf. Auch führt das Verwaltungsgericht - allerdings nur bezogen auf die Frage der Gewährung subsidiären Schutzes - aus, es könne mangels ausreichender Feststellungen zur Situation im Heimatland der Revisionswerber keine abschließende Aussage zur "potentiell landesweiten oder bloß regional eingeschränkten Existenz funktionierender Sicherheitsbehörden" treffen. Dies steht im Widerspruch zur - im Rahmen der Frage, ob der Status des Asylberechtigten zukommt, erfolgten - Beurteilung, diese Behörden wiesen die geforderte Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit auf.

Ausgehend davon hat das Bundesverwaltungsgericht seinen Entscheidungen - entgegen seinen Ausführungen - das (sachverhaltsbezogene) Vorbringen der Revisionswerber nur in Teilbereichen in Form einer "Wahrunterstellung" zugrunde gelegt. Im Übrigen ist dieses Gericht zum einen - teilweise indem es ihm einen anderen Sinngehalt unterstellt hat - vom Vorbringen abgewichen, zum anderen stellen sich die Feststellungen zum als maßgeblich anzusehenden Sachverhalt - nicht zuletzt auch infolge dessen, dass es dem Vorbringen nicht in allen den Sachverhalt betreffenden Punkten gefolgt ist - als unvollständig dar. Schon deswegen leiden die angefochtenen Entscheidungen an Rechtswidrigkeit.

Daraus ergibt sich aber auch, dass zudem die (oben dargestellten) Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung der beantragten Verhandlung nicht vorlagen.

Die angefochtenen Entscheidungen waren daher - im Umfang der Anfechtung, demnach im Spruchpunkt A I. - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und Z 5 VwGG abgesehen werden. Eine solche wird vom Bundesverwaltungsgericht durchzuführen sein.

Der - im begehrten Ausmaß erfolgte - Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. November 2014

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