VwGH Ra 2019/14/0142

VwGHRa 2019/14/014227.6.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Spruchpunkte A) II. und A) III. des am 31. Jänner 2019 mündlich verkündeten und am 14. März 2019 schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2019, W122 2197626-1/13E, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 14. März 2019, W122 2197626-1/13E, betreffend Feststellung der Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach dem BFA-VG und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: X Y, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019140142.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der im Jahr 1993 geborene und aus Afghanistan stammende Mitbeteiligte stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet bei Polizeibeamten der Landespolizeidirektion Oberösterreich am 21. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). 2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 3. Mai 2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 sowie § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde gemäß § 55 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Das Bundesverwaltungsgericht wies nach Durchführung einer Verhandlung mit mündlich verkündetem Erkenntnis die dagegen erhobene Beschwerde mit Spruchpunkt A) I. teilweise als unbegründet ab. Mit den Spruchpunkten A) II. und A) III. sprach das Verwaltungsgericht aus, dass gemäß § 52 FPG und § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt werde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei, und ihm gemäß § 54 und § 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von 12 Monaten erteilt werde. Die Erhebung einer Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4 Sowohl das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als auch der Mitbeteiligte beantragten die Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidung.

5 Mit Beschluss vom 14. März 2019 berichtigte das Verwaltungsgericht Spruchpunkt A) III. dahingehend, dass dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt werde.

6 Das Bundesverwaltungsgericht ging - zusammengefasst und soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - in seiner Begründung davon aus, dass das Vorbringen des Mitbeteiligten zu seinen Fluchtgründen nicht den Tatsachen entspreche. Betreffend das Begehren auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das Verwaltungsgericht aus, der - aus der Provinz Ghazni stammende - Mitbeteiligte verfüge über eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif. Weiters legte das Gericht dar, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht erfüllt seien.

7 Im Rahmen der nach § 9 BFA-VG bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmenden Interessenabwägung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der Mitbeteiligte sei unbescholten und halte sich seit etwa 3 1/2 Jahren im Bundesgebiet auf. Er unterhalte "zahlreiche Kontakte" zu österreichischen Staatsbürgern und führe mit "einem älteren Ehepaar eine familienähnliche Beziehung". Diese sei "intensiver, wie dies zwischen Großeltern und einem Enkelsohn üblich" sei. Zu den in Afghanistan lebenden Familienangehörigen habe der Mitbeteiligte keinen Kontakt. Er befinde sich seit Oktober 2017 in einem Lehrverhältnis als Prozesstechniker und sei im Betrieb sehr gut integriert. Der Betriebsleiter attestiere ihm, der beste Lehrling zu sein. Aufgrund des aus seiner Tätigkeit herrührenden Gehalts sei der Mitbeteiligte mittlerweile nicht mehr auf Leistungen der Grundversorgung angewiesen. Er habe Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 erlangt und an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen. Er engagiere sich in seiner Freizeit ehrenamtlich. 8 Wenngleich die Aufenthaltsdauer kurz sei und die festgestellten familiären und sozialen Bindungen sowie die "integrativen Leistungen" im Rahmen der Interessenabwägung nicht schwer wögen, sei - so das Bundesverwaltungsgericht weiter - doch davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte die in Österreich verbrachte Zeit genützt habe, sich zu bemühen, sich sozial und beruflich zu integrieren. Der Grad seiner Integration sei sohin als so hoch einzustufen, dass sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig darstelle. Somit sei nach § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei. Daraus ergebe sich, dass dem Mitbeteiligten von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten zu erteilen sei. Es lägen die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" vor, weil mit dem Einkommen des Mitbeteiligten die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht werde.

9 Da es sich bei der im Spruch erfolgten Anführung des Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung" um ein offenkundiges bloßes Versehen gehandelt habe, sei - so das Verwaltungsgericht in der Begründung des Berichtigungsbeschlusses - der Spruch des Erkenntnisses einer Berichtigung zuzuführen gewesen. 10 Die Erhebung einer Revision sei nicht zulässig, weil sich das Bundesverwaltungsgericht bei allen Rechtsfragen auf die ständige und im Rahmen der Entscheidungsbegründung wiedergegebene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sowie eine klare Rechtslage habe stützen können.

11 Der Mitbeteiligte hat gegen Spruchpunkt A) I. dieses Erkenntnisses Revision erhoben, die vom Verwaltungsgerichtshof zur Zahl Ra 2019/18/0191 wegen des Fehlens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG mit Beschluss vom 5. Juni 2019 zurückgewiesen wurde.

12 Die hier gegenständliche vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachte Revision richtet sich nach ihrer Erklärung über den Umfang der Anfechtung gegen die Spruchpunkte A) II. und A) III. des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts. 13 Nach Vorlage dieser Revision sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht hat der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

 

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision erwogen:

15 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht zur Zulässigkeit der Revision geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei. Das Verwaltungsgericht habe die in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze für die nach § 9 BFA-VG vorzunehmende Interessenabwägung missachtet, weil es das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG nicht entsprechend berücksichtigt habe. Das führe im vorliegenden Fall dazu, dass die Interessenabwägung als unvertretbar einzustufen sei. Die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Merkmale der Integration begründeten im vorliegenden Fall nämlich keine derart außergewöhnliche Situation, sodass sich eine Aufenthaltsbeendigung als unzulässig darstellen würde.

16 Weiters stelle sich die Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht überhaupt einen Ausspruch nach § 9 Abs. 3 BFA-VG tätigen dürfe, wenn es nicht zuvor über die Beschwerde gegen die Verweigerung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 entschieden habe.

17 Letzteres beruht auf der Prämisse des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, das Bundesverwaltungsgericht habe über die Beschwerde gegen die Versagung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht abgesprochen. Der revisionswerbenden Behörde ist in diesem Zusammenhang zuzugestehen, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Formulierung sämtlicher Spruchpunkte hätte sorgfältiger vorgehen können. Jedoch ergibt sich aus der Entscheidung, in der - wenn auch unter der Überschrift "Zur Stattgebung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt III.-VI. des angefochtenen Bescheides" - mit näheren Erwägungen ausdrücklich festgehalten wird, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht vorlägen, insgesamt unzweifelhaft, dass die unter Spruchpunkt A) I. vorgenommene Beschwerdeabweisung auch diesen Prozessgegenstand zum Inhalt hatte.

18 Aber selbst wenn man die Ausführungen des Verwaltungsgerichts - ausgehend davon, dass sie sich unter den Erwägungen finden, die mit "Zur Stattgebung der Beschwerde (...)" überschrieben sind - so deuten wollte (was nach dem Gesagten aber aufgrund des Inhaltes dieser Erwägungen nicht naheliegt), dass mit Spruchpunkt A) II. - implizit - eine Behebung der von der Behörde von Amts wegen getroffenen Entscheidung über einen Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 vorgenommen worden wäre, läge - entgegen der Ansicht des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl - eine (wenn auch dann fehlerhafte) Entscheidung über die Beschwerde gegen diesen Ausspruch vor.

19 Das auf die unterbliebene Erledigung der Beschwerde gegen die Versagung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 abstellende Vorbringen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl kann somit die Zulässigkeit der Revision nicht begründen, weil nach dem Gesagten schon die Prämisse, die die revisionswerbende Behörde ihrem weiteren Vorbringen zugrunde legt, nicht zutrifft und infolge dessen die Revision von der auf dieser Prämisse aufbauenden Rechtsfrage nicht abhängt.

20 Die Revision vermag aber aufgrund des Vorbringens zur vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung aufzuzeigen, dass das Bundesverwaltungsgericht in maßgeblicher Weise von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist. Die Revision erweist sich daher als zulässig. Sie ist auch begründet.

21 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit einer vergleichbaren Sachverhaltskonstellation und einem ähnlichen Begründungsduktus des Bundesverwaltungsgerichts in seinem - auch in der Revision zitierten - Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, mit umfangreichen Hinweisen auf die bisherige Judikatur auseinandergesetzt. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses - im Besonderen auf die Ausführungen, inwieweit die Tätigkeit im Rahmen einer Lehre bei der Interessenabwägung Berücksichtigung zu finden hat, und welches Gewicht dem Umstand beizumessen ist, dass sich ein Fremder im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG des Umstandes, dass sein Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem er sich des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste - verwiesen.

22 Auch im vorliegenden Fall ist aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht ins Treffen geführten Umstände nicht zu sehen, dass dem nach der Rechtsprechung (auch) zu beachtenden Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen, keine maßgebliche Bedeutung zuzumessen wäre (vgl. zur Wesentlichkeit dieses Aspekts nochmals VwGH Ro 2019/01/0003, Rn. 57, mwN).

23 Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit die Rechtslage verkannt. Das angefochtene Erkenntnis war daher - im angefochtenen Umfang - in den Spruchpunkten A) II. und A) III. gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben. 24 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten, der gemäß § 47 Abs. 3 VwGG einen Anspruch auf Aufwandersatz nur im Fall der Abweisung der Revision hat, kein Ersatz seines Aufwands für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.

Wien, am 27. Juni 2019

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