VwGH 95/20/0295

VwGH95/20/029518.4.1996

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des G in W, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 11. Mai 1995, Zl. 4.323.577/9-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1991 §1 Z1;
AsylG 1991 §20 Abs1;
AVG §45 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1991 §1 Z1;
AsylG 1991 §20 Abs1;
AVG §45 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.830,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, der am 30. September 1991 in das Bundesgebiet eingereist ist, hat am selben Tag einen Asylantrag gestellt, in dem er geltend machte, daß er in seinem Heimatland wegen seiner politischen Gesinnung von den Behörden verfolgt worden sei. Bei seiner Einvernahme durch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich gab der Beschwerdeführer an, er sei Kurde und seit 1990 Mitglied der DSP ("Demokratische Linkspartei"). Er sei in den letzten fünf Jahren vor seiner Ausreise ca. 20-mal von der Polizei festgenommen und verhört worden. Dabei sei er beschuldigt worden, "kurdische Freiheitskämpfer" mit Lebensmitteln unterstützt und "Unterschlupf" gewährt zu haben. Er sei auch mißhandelt worden und habe während der Dauer seiner Haft im Sommer 1991 (18 Tage) auf dem Betonboden schlafen müssen.

Mit Bescheid vom 25. Oktober 1991 stellte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark fest, beim Beschwerdeführer lägen die Voraussetzungen für seine Anerkennung als Flüchtling nicht vor.

Mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 4. August 1993 war der dagegen erhobenen Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 66 Abs. 4 AVG keine Folge gegeben worden.

Nach Aufhebung dieses Bescheides der belangten Behörde mit hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1994, Zl. 94/20/0124 (infolge Aufhebung des Wortes "offenkundig" in § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991 durch den Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 1. Juli 1994, Zl. G 92, 93/94), wurde dem Beschwerdeführer mit Schreiben der belangten Behörde vom 21. Februar 1995 die Möglichkeit eröffnet, allfällige Mängel des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens im Sinne dieses Erkenntnisses (unter Verweis auf das hg. Erkenntnis vom 25. August 1994, Zl. 94/19/0435) ergänzend vorzubringen. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer die Rechtsauffassung der belangten Behörde vorgehalten, daß er in der Türkei eine inländische Fluchtalternative hätte finden können bzw. während seines Aufenthaltes in Istanbul gefunden habe.

Bei der im Wege des Bundesasylamtes am 28. März 1995 dazu erfolgten ergänzenden Befragung des Beschwerdeführers erklärte dieser, der eingebrachten Berufung grundsätzlich nichts mehr hinzufügen zu können. Zur Glaubhaftmachung seiner Angaben bot er ergänzend die Einvernahme der Zeugen A (seine nunmehrige Ehegattin), seines Schwagers T und seines Cousins H an, die als "Augenzeugen" das Vorgehen der türkischen Militärbehörden in seinem Heimatdorf sowie die ihn selbst betreffenden Vorgänge belegen könnten. Hinsichtlich der von der belangten Behörde angenommenen Fluchtalternative in der Türkei erklärte er, daß eine solche für ihn nicht bestanden habe. Er habe sich während seines Aufenthaltes in Istanbul versteckt gehalten und habe befürchtet, bei einer allfälligen Anhaltung und Ausweiskontrolle durch die Sicherheitsorgane aufgegriffen zu werden. In Istanbul sei auch der militärische Geheimdienst tätig, sodaß er sich dort keine Existenz hätte aufbauen können. Auch dazu bot er die Einvernahme der namentlich unter Angabe ihrer Adressen und Telefonnummern in Wien angeführten Zeugen an.

Mit dem nunmehr angefochtenen (Ersatz-)Bescheid vom 11. Mai 1995 wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers (neuerlich) gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und versagte damit die Gewährung des Asyls.

In der Begründung dieses Bescheides versagte die belangte Behörde den Angaben des Beschwerdeführers in erster Instanz deshalb die Glaubwürdigkeit, weil dieser in seiner Berufungsschrift hinsichtlich der Dauer seiner Verfolgung und der Anzahl der bei ihm stattgefundenen Hausdurchsuchungen sowie der Intensität der erlittenen Folterungen abweichende Angaben gemacht habe. Abgesehen davon habe der Beschwerdeführer nach seinen Angaben in den Jahren 1987 bis 1989 seinen Militärdienst bei einer Panzereinheit in X abgeleistet, sodaß das Ausmaß seiner Festnahmen im Heimatdorf nicht glaubwürdig erscheine. In dieser Annahme werde die belangte Behörde auch dadurch bestärkt, daß der Beschwerdeführer bei seiner ergänzenden niederschriftlichen Einvernahme angebliche "Augenzeugen" angeboten habe, die sich nach der Aktenlage seit 1987 bzw. 1988 in Österreich als anerkannte Flüchtlinge aufhielten; eine eventuelle Rückkehr dieser Personen in die Türkei während des Zeitraumes bis zum Jahr 1991 sei nicht zu vermuten. Die Behauptung des Beschwerdeführers, diese namhaft gemachten Zeugen könnten ihn betreffende Verfolgungshandlungen bestätigen, sei somit nicht glaubwürdig.

Schließlich sei davon auszugehen, daß die behaupteten Verfolgungshandlungen sich "ausschließlich aus der Topographie des Heimatortes" des Beschwerdeführers ergäben und der Beschwerdeführer außerhalb dieses Gebietes, wo bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, insbesondere in Istanbul, eine Fluchtalternative gefunden habe. Der Beschwerdeführer habe auch bei seiner ergänzenden Befragung keine dort gegen ihn stattgefundenen Verfolgungshandlungen vorbringen können. Der Umstand, daß der Beschwerdeführer nach seiner geschilderten 18-tägigen Inhaftierung wieder freigelassen worden sei, spreche ebenfalls gegen seine behauptete Verfolgung durch die türkischen Behörden. Auch die vom Beschwerdeführer bei seiner ergänzenden Befragung vorgebrachte Befürchtung, im Falle der Rückkehr in die Türkei verhaftet und mißhandelt zu werden, gehe deshalb ins Leere. Aus der angegebenen allgemeinen Situation der kurdischen Volksgruppe im Zusammenhang mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Teilen der Türkei könne eine konkrete, gegen den Beschwerdeführer selbst gerichtete Verfolgung nicht abgeleitet werden.

Der Beschwerdeführer bekämpft diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Wenn der Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt der Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend macht, daß die belangte Behörde zu Unrecht die anläßlich der Ergänzung des Berufungsverfahrens am 28. März 1995 angebotenen Zeugen nicht einvernommen habe, ist der Beschwerdeführer darauf zu verweisen, daß gemäß § 20 Abs. 1 Asylgesetz 1991 dem Berufungsverfahren grundsätzlich nur die Ergebnisse des erstinstanzlichen Verfahrens zugrundezulegen sind. Im Hinblick auf das erwähnte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juli 1994 hatte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer infolge Aufhebung ihres Bescheides vom 4. August 1993 mit hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1994 die Gelegenheit zu bieten, auch einfache Verfahrensmängel, soweit solche im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegen sein sollten, zu rügen. Derartige Mängel wurden aber anläßlich der ergänzenden Befragung des Beschwerdeführers am 28. März 1995 nicht geltend gemacht. Liegen die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens im Sinn des § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991 (in seiner nach Kundmachung der Aufhebung des Wortes "offenkundig" durch den Verfassungsgerichtshof bereinigten Fassung) nicht vor, hat die belangte Behörde gemäß § 20 Abs. 1 Asylgesetz 1991 die Ermittlungsergebnisse des erstinstanzlichen Verfahrens ihrer Entscheidung zugrundezulegen. Auf die erstmals im Berufungsverfahren neu angebotenen Zeugen war daher im Grunde des § 20 Abs. 1 leg. cit. nicht Bedacht zu nehmen, zumal nicht ersichtlich ist, daß der Beschwerdeführer diese Zeugen nicht schon im erstinstanzlichen Verfahren hätte namhaft machen können.

Aus dem Gesagten ergibt sich aber auch, daß die belangte Behörde selbst gegen diese Verfahrensvorschrift verstoßen hat, weil sie ihre Beweiswürdigung wesentlich auf das ihrer Auffassung nach gesteigerte Vorbringen in der Berufung und die dort georteten abweichenden Aussagen gestützt hat (vgl. dazu hg. Erkenntnisse vom 24. November 1993, Zl. 93/01/0234, und vom 24. März 1994, Zl. 94/19/0089). Die belangte Behörde hätte aus diesen Erwägungen die Unglaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers in erster Instanz auch nicht darauf stützen dürfen, daß die bei der ergänzenden Befragung am 28. März 1995 angebotenen Zeugen in Wahrheit nichts gesehen haben könnten (weshalb der Beschwerdeführer sich damit unglaubwürdig gemacht habe).

Soweit die belangte Behörde die Unglaubwürdigkeit der behaupteten Anzahl der Festnahmen des Beschwerdeführers darauf stützt, daß dieser in den Jahren 1987-1989 den Militärdienst außerhalb seines Heimatdorfes abgeleistet habe, ist diese Begründung nicht schlüssig. Der Beschwerdeführer hat nicht behauptet, daß sich die Festnahmen nur in seinem Heimatdorf ereignet hätten. Es kann auch nicht als unmöglich angesehen werden, daß der Beschwerdeführer in den Jahren 1989 bis zu seiner Flucht im Jahr 1991 im angegebenen Ausmaß festgenommen worden sei. Um beurteilen zu können, ob seine Darstellung im Widerspruch zur Dauer seines Militärdienstes außerhalb seines Heimatdorfes steht, hätte es eines diesbezüglichen Vorhaltes und einer Aufforderung zur Konkretisierung seiner angegebenen Festnahmen bedurft.

Soweit die belangte Behörde die angenommene Fluchtalternative des Beschwerdeführers in Istanbul damit begründet, daß dieser während seines Aufenthaltes in Istanbul keine gegen ihn dort gesetzte Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden habe angeben können, ist diese Begründung deshalb nicht schlüssig, weil der Beschwerdeführer angegeben hatte, daß er sich in Istanbul versteckt gehalten habe. Im übrigen hat die belangte Behörde nicht konkret dargetan, wo in der Türkei der Beschwerdeführer sonst eine inländische Fluchtalternative hätte finden können und auf welche Ermittlungsergebnisse sie diese Annahme zu stützen vermag.

Der belangten Behörden kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie die Freilassung des Beschwerdeführers nach seiner zuletzt angegebenen Inhaftierung als Indiz gegen eine Verfolgungsabsicht des türkischen Staates wertet. Nach den Darlegungen des Beschwerdeführers sei er in den letzten Jahren wegen seiner politischen Gesinnung regelmäßig festgenommen und zuletzt infolge einer gegen ihn von Geheimdienstleuten geführten Aktion konkret beschuldigt worden, als Symphatisant der PKK diesen Leuten Lebensmittel und Unterschlupf zu gewähren. Warum die Furcht, bei anderen Gelegenheiten wieder festgenommen zu werden, aufgrund der im Verlauf des dargestellten Geschehens immer wieder erfolgten Freilassungen des Beschwerdeführers - sofern sich seine Angaben als glaubwürdig erweisen sollten - unbegründet sein soll, ist nicht nachvollziehbar.

Es ergibt sich somit, daß die belangte Behörde Verfahrensvorschriften außer acht gelassen hat, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können. Es mußte daher der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufgehoben werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

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