AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L508.2289958.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Thomas KLEIN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.02.2024, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein Staatsangehöriger aus der Türkei und der kurdischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Religionsgemeinschaft zugehörig, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 21.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensakts [im Folgenden: AS] 11).
2. Im Rahmen der Erstbefragung nach dem AsylG durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts am folgenden Tag (AS 9 - 21) gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, dass er an kurdischen Veranstaltungen teilgenommen habe und sie die türkischen Spione nicht in Ruhe gelassen hätten. Diese hätten von ihnen verlangt, auch Spione zu werden, um gegen die eigenen Kurden tätig zu werden. Bei einer Rückkehr würde er nicht frei leben können und ein Spion werden müssen.
3. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nachfolgend: BFA) am 20.12.2023 (AS 31 - 42) gab der BF sodann - zu seinen Ausreisegründen befragt - an, dass dies wegen des Systems der Dorfschützer gewesen sei. Diese Schützlinge hätten versucht, ihn zum Mitmachen zu überreden. Sie hätten vorgeschlagen, dass er etwas über Waffen lerne. Sie seien auch in den Bergen tätig und dafür zuständig, dass kein Kampf zwischen den ethnischen Gruppen ausgelöst werde. Er habe nicht dabei sein und keine Waffen in der Hand haben wollen. Wenn er in der Türkei geblieben wäre, hätte er diese Probleme immer und immer wieder gehabt. Er habe eine Lösung finden müssen und gewusst, dass er nicht mehr in der Türkei leben könnte. Die kurdischen Dorfbewohner hätten Widerstand gegen die Türken ausgeübt. Er sei sehr jung und habe nicht zwischen zwei Fronten sein wollen. Bei einer Rückkehr hätte er auch viele psychische Probleme.
Weitere Angaben zu seinen angeblichen ausreisekausalen Problemen machte der Beschwerdeführer nach entsprechenden Fragen und Vorhalten durch den Leiter der Amtshandlung.
Abschließend wurde dem BF angeboten, die von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationsquellen zur Türkei ausgehändigt zu erhalten und im Anschluss innerhalb von zwei Wochen eine Stellungnahme hierzu abzugeben. Der BF verzichtete auf diese Möglichkeit (AS 40).
4. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 01.02.2024 (AS 49 ff) wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Dem Fluchtvorbringen wurde die Glaubwürdigkeit versagt (AS 108 ff). In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wurde, weshalb gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig sei. Ferner wurde erläutert, weshalb die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
5. Gegen den oa. Bescheid des BFA erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit Schriftsatz vom 04.03.2024 (AS 129 ff) in vollem Umfang aufgrund von inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Hinsichtlich des genauen Inhalts der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.
5.1. Zunächst wurden im Wesentlichen - nach kurzer Wiedergabe des Sachverhalts und des bisherigen Verfahrensganges - Überlegungen zu den beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffen (AS 132 - 135). Angesichts des glaubhaften Vorbringens des BF sei davon auszugehen, dass auch dem BF im Fall der Rückkehr in die Türkei im Sinne einer Prognose über die bloß entfernte Möglichkeit hinaus mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung von staatlicher Seite drohe.
5.2. Des Weiteren wurde um die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ersucht, damit der BF seine Fluchtgründe ausführlich noch einmal vor einem unabhängigen Gericht vorbringen und glaubhaft machen könne. Insbesondere habe es das BFA unterlassen, Feststellungen hinsichtlich der Rolle und der faktischen Tätigkeiten der Dorfschützer zu stellen und inwieweit dies mit den Angaben des BF in Einklang zu bringen sei bzw. ob die Angaben des BF mit faktischen Tätigkeiten der Dorfschützer in Einklang gebracht werden würden. Es werde in diesem Zusammenhang auf Art. 47 EU-Grundrechtecharta hingewiesen, demzufolge jede Person ein Recht darauf habe, dass seine Sache vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht mündlich und öffentlich verhandelt werde.
5.3. Abschließend wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht wolle
- eine mündliche Beschwerdeverhandlung mit dem BF vor dem Verwaltungsgericht durchführen;
- in der Sache selbst entscheiden und den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass dem BF der Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 zuerkannt werde;
- hilfsweise in der Sache selbst entscheiden und dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 8 AsylG 2005 zuerkennen und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilen;
- hilfsweise die Erlassung von Rückkehrentscheidungen wider den BF gem. § 9 BFA-VG für auf Dauer unzulässig erklären und ihm eine Aufenthaltsberechtigung gem. § 55 AsylG 2005 amtswegig erteilen;
- hilfsweise den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und sein Verfahren zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das BFA zurückverweisen.
5.4. Mit diesem Rechtsmittel wurde kein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet, welches geeignet wäre, zu einer anderslautenden Entscheidung zu gelangen.
6. Beweis wurde erhoben durch die Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des BFA unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des Bescheidinhalts sowie des Inhalts der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Verfahrensbestimmungen
1.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.
1.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
1.3. Prüfungsumfang
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
2. Zur Entscheidungsbegründung:
Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes.
2.1. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens gelangt das BVwG nach Maßgabe unten dargelegter Erwägungen zu folgenden entscheidungsrelevanten Feststellungen:
2.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und dessen Fluchtgründen:
Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist sunnitischen Glaubens.
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und ist an dem angegebenen Datum geboren.
Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Der Beschwerdeführer zeigt Interesse für die kurdischen Belange und sympathisiert(e) mit der Halkların Demokratik Partisi.
Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung des Beschwerdeführers durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa während der Schulzeit oder seines Erwerbslebens oder beim Verwenden der kurdischen Sprache, aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit sind glaubhaft.
Der von ihm vorgebrachte Ausreisegrund (Bedrohung und Verfolgung bei kurdischen Veranstaltungen durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf) wird mangels Glaubwürdigkeit des diesbezüglichen Vorbringens hingegen nicht festgestellt.
Der Beschwerdeführer liefe nicht ernstlich Gefahr, bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung intensiven Übergriffen durch den Staat, andere Bevölkerungsteile oder sonstige Privatpersonen ausgesetzt zu sein. Insbesondere wäre der Beschwerdeführer nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe, im Falle seiner Rückkehr in die Türkei, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, unmittelbaren (persönlichen) und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt.
Es kann sohin nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der GFK asylrelevant verfolgt bzw. dessen Leben bedroht wurde beziehungsweise dies im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte.
Es konnten im konkreten Fall auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Türkei in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würde.
Im Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in seinem Heimatland festgestellt werden.
Selbst wenn man sein gesamtes Vorbringen als wahr unterstellen und daher annehmen würde, dass der BF durch türkische Spione bzw. durch Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf bedroht und verfolgt worden war, muss diesbezüglich festgestellt werden, dass sein Vorbringen keine Asylrelevanz entfalten würde (siehe rechtliche Würdigung zur Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative), zumal der Beschwerdeführer wegen der Bedrohung und Verfolgung seiner Person durch türkische Spione bzw. durch Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen könnte und wäre dem BF jedenfalls auch eine Rückkehr nach Istanbul möglich und zumutbar. Es wären dort die existentiellen Lebensgrundlagen des Beschwerdeführers angesichts einer finanziellen Unterstützung durch seine in der Türkei und in Europa lebenden Familienangehörigen - etwa durch Überweisungen - oder durch Aufnahme einer eigenen beruflichen Tätigkeit gesichert. In Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen kam es 2022 wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen, wobei sich der wohl schwerwiegendste Anschlag am 13.11.2022 ereignete, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Istanbul gilt dennoch als vergleichsweise sicher, zumal es deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden, weshalb hier insgesamt von einer stabilen Sicherheitslage auszugehen ist. Diese Stadt ist für den Beschwerdeführer auch direkt erreichbar.
Der Beschwerdeführer ist abgesehen von Bandscheibenproblemen gesund. Der Beschwerdeführer leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung.
Er befindet sich in einem arbeitsfähigen Zustand und Alter.
Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er wurde in der Provinz Bingöl in Südostanatolien geboren, wuchs dort auf und lebte dort - abgesehen von einem etwa zweijährigen Aufenthalt von etwa November 2020 bis etwa September 2022 in Istanbul - in einem im Eigentum seiner Familie befindlichen Haus.
Er besuchte in der Türkei zwölf Jahre die Schule und erlangte einen Maturaabschluss. Im Anschluss arbeitete er vier Jahre von 2016 bis 2019 in Bingöl als Bauarbeiter und während seines Aufenthalts in Istanbul als Teamleiter im IT-Bereich. Seine Eltern, zwei Brüder, vier Tanten väterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits, drei Tanten mütterlicherseits und drei Onkel mütterlicherseits leben nach wie vor in der Türkei, wobei die Eltern und ein Bruder weiterhin in seinem Elternhaus in Bingöl wohnen. Ein Bruder ist in Istanbul aufhältig. Sein Vater arbeitet als Reinigungskraft in einer Schule und seine Mutter führt den Haushalt. Ein Bruder geht einer Erwerbsarbeit im IT-Bereich nach und ein Bruder besucht noch die Schule. Die Familie des BF besitzt zudem Grundstücke. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie regelmäßig - ca. einmal pro Woche - telefonisch in Kontakt.
Der BF verließ die Türkei etwa Anfang bis Mitte September 2022 illegal und reiste in der Folge illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo der BF am 21.09.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der private Lebensmittelpunkt des BF befindet sich in der Türkei. Der Beschwerdeführer unterhält in Österreich noch keine Beziehung und verfügt zum Entscheidungszeitpunkt über keine relevanten Bindungen zu Österreich. In Österreich halten sich abgesehen von einem Onkel und Cousins keine Verwandten des BF auf, wobei er sich mit seinem Onkel gelegentlich persönlich trifft. Dieser unterstützt ihn auch gelegentlich finanziell. Verwandte, konkret eine Tante und ein Onkel, leben zudem in der Bundesrepublik Deutschland. Mit den beiden steht er telefonisch in Kontakt.
Der Beschwerdeführer besucht(e) in Österreich weder einen Deutschkurs, noch hat er eine Deutschprüfung erfolgreich absolviert. Er verfügt infolge des von ihm praktizierten Selbststudiums allenfalls über einfache Deutschkenntnisse.
Er knüpfte normale soziale Kontakte. Unterstützungserklärungen brachte er nicht in Vorlage.
Der Beschwerdeführer bezog von 23.09.2022 bis 15.11.2022 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und lebte von staatlicher Unterstützung. Im Zeitraum von 16.01.2023 bis 31.12.2023 ging der BF einer Beschäftigung in einem Unternehmen für Fenster, Türen und Fassadenelementen aus Holz, Kunststoff und Aluminium nach. Der BF ist gegenwärtig nicht legal erwerbstätig. Zuletzt bezog er von 01.01.2024 bis 02.04.2024, von 04.04.2024 bis 14.04.2024, am 16.04.2024 und von 19.04.2024 bis 24.04.2024 Arbeitslosengeld. Der BF verfügt weder über eine Einstellungszusage noch über einen gültigen arbeitsrechtlichen Vorvertrag.
Er leistet keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit und ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich.
Er ist als erwerbsfähig anzusehen, etwaige gesundheitliche Einschränkungen des Beschwerdeführers sind abgesehen von Bandscheibenproblemen nicht aktenkundig.
Er ist strafgerichtlich unbescholten.
Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des BF in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.
Er hat mit Ausnahme seines nunmehrigen Aufenthalts in Österreich sein Leben zum überwiegenden Teil in der Türkei verbracht, wo er auch sozialisiert wurde und wo sich seine engsten Familienangehörigen, seine Bekannten und seine Freunde aufhalten.
Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr erneut bei seinen Familienangehörigen, konkret seinen Eltern und Geschwistern, wohnen wird können. Davon abgesehen ist der Beschwerdeführer als arbeitsfähig und -willig anzusehen. Der Beschwerdeführer spricht Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch).
Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nicht vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in die Türkei festzustellen ist.
2.1.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei war insbesondere unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer seitens der belangten Behörde am 20.12.2023 zur Einsicht und Stellungnahme angebotenen Länderinformationsquellen (AS 40) festzustellen:
Politische Lage
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu, insbesondere als Folge der Teuerung und des damit verbundenen Kaufkraftverlustes und der einhergehenden, zunehmenden Verarmung von Teilen der Bevölkerung. Die Opposition versucht, die Regierung in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen, und fördert eine migrantenfeindliche Stimmung. Die einst gegenüber Flüchtlingen mehrheitlich freundlich eingestellte Bevölkerung ist mittlerweile nicht mehr bereit, weitere Menschen aufzunehmen (ÖB 30.11.2022, S. 4). Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert (WZ 7.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 4, EC 12.10.2022, S. 11) zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagierten ein "stolzes Türkentum", islamischen Wertvorstellungen wurde zusehends mehr Gewicht verliehen, Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpften um ihr Dasein (WZ 7.5.2023).
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 12.10.2022, S. 3, 11; vgl. WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 10.2022, S. 6; vgl. DE 31.12.2023, Günay 2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 10.2022, S. 6; vgl. Esen/Gumuscu 19.2.2016).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 12.10.2022, S. 11f.). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 12.10.2022, S. 6).
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2022, S. 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55; vgl. EC 12.10.2022, S. 4, 13). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. Das Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei der Türkei, der HDP, ist noch nicht abgeschlossen [Anm.: Stand Mai 2023], und es werden immer mehr parlamentarische Immunitäten der Mandatare der Opposition aufgehoben (EC 12.10.2022, S. 4, 13).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck. So wurden zwei stellvertretende Gouverneure und ein Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Zentralbank entlassen (EC 12.10.2022, S. 9, 14).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 12.10.2022, S. 13; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 5). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2022, S. 5) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Das Parlament hat 2021 nur 87 von 732 vorgeschlagenen Gesetzen verabschiedet. Dem gegenüber standen im April 2022 bereits wieder 98 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 12.10.2022, S. 13). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.4; vgl. PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (ZO 22.5.2023). Drei Tage vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hatte Muharrem İnce, Vorsitzender der Partei Memleket (Vaterland) seine Kandidatur zurückgezogen (ZO 11.5.2023; vgl. ARD 11.5.2023, Standard 19.5.2023), erhielt dennoch 0,43 % der Stimmen (Standard 19.5.2023).
Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" war, dass Erdoğan während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage zeigte, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023), und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" (ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (Anadolu 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023, taz 28.5.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S., 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische IYI-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023). Am 30.5.2023 bestätigte der Oberste Wahlrat in der Bekanntgabe des finalen Wahlergebnisses diese Mandatsverteilung, sodass die Regierungskoalition über eine Mehrheit von 268 Sitzen verfügt (BAMF 5.6.2023, S. 15).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S. 2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021). Entgegen der nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung von Selahattin Demirtaş, des seit November 2016 inhaftierten Parlamentariers und Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, zu veranlassen, kamen die türkischen Behörden dem Begehr bislang nicht nach [Stand Juni 2023] (CoE-CoM 2.12.2021).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15). Bis April 2022 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister inhaftiert und 39 Bürgermeister verhaftet. Derzeit befinden sich acht Ko-Bürgermeister der HDP [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] in Haft (EC 12.10.2022, S. 12, 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, insbesondere gegen jene der HDP, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern, und dies trotz Urteilen des EGMR zu deren Gunsten (EC 12.10.2022, S. 13).
Sicherheitslage
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SDZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 12.2022, S. 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (NL-MFA 18.3.2021, S. 12). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 2.3.2022, S. 13), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 12.10.2022, S. 5, 17). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis24, 24.11.2022).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023, S. 3, 29). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 12.10.2022, S. 17). Die häufigen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 16.5.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023, S.29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 16.5.2023).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2021 346 Personen, innerhalb und außerhalb [Anmerkung: Grenzgebiete zu Irak und Syrien] der Türkei bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon mindestens 69 Angehörige der Sicherheitskräfte 275 bewaffnete Militante und acht Zivilisten (İHD 6.11.2022, S. 40). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.7.2015 bis 3.3.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht (ICG 3.3.2023). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 12.10.2022, S. 18). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 12.5.2023; vgl. EDA 16.5.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis24, 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023, S. 29).
Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April 2022 die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vgl. ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Dohuk [aka Duhok] in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet (ICG 8.2022). Auch im September und Oktober 2022 stand das irakisch-kurdische Dohuk im Fokus türkischer Militäroperationen. So kamen am 11.9.2022 bei Zusammenstößen mit der PKK vier türkische Soldaten ums Leben und am 1. Oktober ein weiterer (ICG 9.2022, ICG 10.2022). Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). Nach einem Bombenanschlag in Istanbul begann das Militär am 20.11.2022 mit der "Operation Klauenschwert", bei der Luftangriffe in Nordsyrien und im Irak gegen zahlreiche mutmaßliche PKK- und YPG-Ziele durchgeführt wurden. Am nächsten Tag kündigte Präsident Erdoğan mögliche Bodenangriffe in beiden Ländern an. Die grenzüberschreitenden Vergeltungsangriffe aus Nordsyrien nahmen zu: Bei einem Raketenangriff am 21.11.2022 wurden in der Provinz Gaziantep drei Zivilisten getötet (ICG 11.2022). Auch im Dezember 2022 hielten die türkischen Militäraktionen gegen die PKK bzw. YPG in Nordsyrien und dem Nordirak an, obgleich mit geringerer Intensität als im Vormonat (ICG 12.2022). Gleiches galt für den Jänner 2023, wobei sich die Militäroperationen in der Türkei gegen die PKK auf die Provinzen Diyarbakır, Bingöl, Muş und Batman konzentrierten, bei gleichzeitigen Luftangriffen auf deren Stellungen im Nordirak und Syrien (ICG 1.2023).
Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS (Daesh) wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, ICG 7.2022), gefolgt von weiteren 90 Festnahmen im Oktober (ICG 10.2022) und rund ebenso vielen im November (ICG 11.2022) sowie 85 im Dezember 2022 (ICG 12.2022). Auch 2023 wurden die Verhaftungen vermeintlicher IS-Anhänger bzw. IS-Mitglieder fortgesetzt: - Von Jänner bis April wurde seitens der Behörden die Festnahme von in Summe rund 420 Personen vermeldet (ICG 4.2022). Für weitere Informationen und Daten siehe das Unterkapitel Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SDZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine jüngste Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AM 20.4.2022). Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26. September das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, Arab News 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (Arab News 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AM 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AM 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (Anadolu 18.11.2022).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).
Laut türkischem Innenminister hatten mit Ende November 2022 116 Personen infolge von Überzeugungsarbeit der Behörden 2022 freiwillig ihre Waffen niedergelegt (Anadolu 30.11.2022).
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei in Kraft, vorerst für drei Monate. Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind." (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Im Nachgang an die Erdbeben gilt in folgenden Provinzen der Ausnahmezustand (Stand Ende Mai 2023): Kahramanmaraş, Gaziantep, Malatya, Diyarbakır, Kilis, Sanlıurfa, Adiyaman, Hatay, Osmaniye, Adana (EDA 16.5.2023; vgl. GOV.UK 20.4.2023). Die türkische Regierung hat erklärt, dass nur Fahrzeuge, die Hilfsteams und Hilfsgüter transportieren, in die Städte fahren dürfen, die im Katastrophengebiet liegen (GOV.UK 20.4.2023).
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2022, S. 21). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIH 7.6.2022, S. 259; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 21). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2022, S. 21). Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel Sicherheitslage.
2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i.e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2022, S. 21). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2022, S. 21).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.3.2023 4.310 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d. h., diese wurden getötet oder festgenommen (ICG 3.3.2023).
Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S. 261).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen HDP, 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022). Im April 2022 nahmen die türkischen Behörden 46 Personen - von insgesamt 91 Verdächtigen - fest, darunter ehemalige lokale Funktionäre der HDP. Der Generalstaatsanwalt wirft ihnen vor, finanzielle Mittel im Namen PKK bereitgestellt zu haben und Teil der wirtschaftlichen Struktur der PKK zu sein, Geldwäsche zu betreiben und Anweisungen des PKK-Kommandeurs Murat Karayilan entgegengenommen zu haben (AP 12.4.2022). Ende November 2022 haben Sicherheitskräfte bei Razzien in 14 Provinzen im Rahmen von Ermittlungen gegen die PKK 19 Frauen festgenommen. Den Verdächtigten wird vorgeworfen seit 2014 in Syrien, Irak, Iran und in der Türkei Aktivitäten für die Fraueneinheiten der PKK durchgeführt zu haben. Die Aktivitäten sollen die Finanzierung von Terrorismus, die Verbreitung terroristischer Propaganda und Treffen mit mutmaßlichen Terroristen umfassen. Insgesamt wurde nach 50 Verdächtigen gefahndet. Unter ihnen befinden sich auch der HDP-Bürgermeister des Diyadin-Distrikts in der Provinz Ağrı und weitere HDP-Mitglieder (BAMF 6.12.2022, S. 9; vgl. DS 29.11.2022). Laut Jahresbilanz des Innenministeriums sollen 2022 gegen die PKK und syrische Schwesterorganisation YPG [der militärische Arm der PYD] 134.713 Operationen durchgeführt und dabei 8.410 Personen verhaftet worden sein. Bereits im Jänner 2023 folgten gemäß Innenministerium weitere 378 Festnahmen (BAMF 6.2.2023, S. 11; vgl. YŞ 31.1.2023). Drei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahl (14.5.2023) startete die türkische Polizei einen sogenannten Anti-Terror-Einsatz. In 21 Provinzen wurden 110 Personen gefasst, die der verbotenen Kurden-Organisation PKK nahestehen sollen (DW 25.4.2023; vgl. Standard 25.4.2023).
Am 9.2.2023 verkündete die PKK angesichts des Erdbebens in der Türkei einen einseitigen temporären Waffenstillstand (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023).
In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vgl. T24 18.7.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2022, S. 22).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkâri 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neun Monaten und 17,5 Jahren verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Zu 17,5 Jahren wurde Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV 26.1.2022).
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; BS 23.2.2022, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022), trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 2, 16).
Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, nebst jener der Demokratie sowie der Menschen- und Grundrechte, wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam sogar zu Rückschritten (EC 12.10.2022, S. 23; vgl. CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA vom Juni 2021 ergab, dass 64 % der Befragten kein Vertrauen in das Justizsystem haben. Unter den Befragten mit kurdischem Hintergrund lag der Wert sogar bei 85 % (USDOS 12.4.2022, S. 15).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 73 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 16 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2023). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB 30.11.2022, S. 7)
Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 8, AI 26.10.2020, HRW 10.4.2019). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB 30.11.2022, S. 8).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023, S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2022, S. 11; vgl. Turkish Tribunal 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S.12, Pt.15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).
Geheime bzw. anonyme Zeugen
Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz Dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person nicht gibt (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).
Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW[T] 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).
Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2020; vgl. TM 26.11.2022).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB 30.11.2022, S. 6). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S.18, Pt.29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).
Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44).
Politisierung der Justiz
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB 30.11.2022, S. 6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.) (ÖB 10.2019, S. 17).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).
Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2022 auf Rang 116 von 140 Ländern (2021: Platz 117 von 139 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator stagnierte auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 134 von 140) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 135 von 140) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,73, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 26.10.2022).
Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB 30.11.2022, S. 7). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 10.3.2023, F1).
Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission waren es 3.985 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch 2016, wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, entlassen wurden. Nur 515 wurden bislang wieder in ihre Ämter eingesetzt. Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, standardisierter und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 6, 26).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgehaltenen Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos (EC 12.10.2022, S. 26). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2022, S. 8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S. 6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (EC 19.10.2021, S. 23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2022, S. 8; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2022, S. 8).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S. 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S. 3). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 10.3.2023, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2022, S. 8).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2022, S. 6).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB 30.11.2022, S. 6f.). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht (AA 28.7.2022, S. 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).
Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten (ÖB 30.11.2022, S. 7).
Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 20.3.2023, S. 18). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2022, S. 9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2022, S. 9).
Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kultur-Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f). Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022). Trotzalledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (ZO 28.12.2022).
Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2022, S. 32).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2022, S. 32). Immer noch kommen Folter und Misshandlung in Haftzentren (der Polizei, Gendarmerie, des Militärs) sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, auf der Straße und insbesondere bei Demonstrationen vor (NL-MFA 2.3.2022, S. 32; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 32, EC 12.10.2022, S. 18, 33, İHD 6.11.2022, S. 11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Außerdem wird regelmäßig von Misshandlungen, einschließlich schwerer Schläge und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, sowie von Überbelegung in Abschiebezentren berichtet, in denen ausländische Staatsangehörige, darunter auch Asylbewerber und Migranten, bis zum Abschluss des Abschiebungsverfahrens in Verwaltungshaft genommen werden (HRW 12.1.2023). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022).
Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 20.3.2023, S. 5). Menschenrechtsvereinigungen wie Human Rights Watch, lokale Anwaltsvereinigungen sowie Menschenrechtsaktivisten aus den Reihen der oppositionellen HDP berichteten über einen Anstieg von Übergriffen der Polizei, der Gendarmerie und Spezialeinheiten in den vom Erdbeben im 2023 betroffenen Gebieten des Südens und Südostens, wobei es auch Vorwürfe von Folter mit Todesfolge gibt. Besonders vulnerabel sind hier wiederum die syrischen Flüchtlinge. Die Sicherheitskräfte argumentierten meist, dass es sich um Plünderer handelte, gegen die vorgegangen wurde (AM 21.2.2023; vgl. DW 16.2.2023).
Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2022, S. 32). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD 6.11.2022, S. 11; vgl. TİHV 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).
Reaktionen des Verfassungsgerichts und der Behörden auf Foltervorwürfe
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudsstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - TİHEK, eng.: HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S. 34; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2021 531 Personen, darunter zwölf Kinder, in offiziellen und 704 Personen (inklusive 25 Kinder) informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 1.414 weitere in den Gefängnissen. 2.835 Demonstranten wurden während 409 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 6.11.2022, S. 11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S. 26).
Beispiele:
Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Anfang Dezember 2021 starb Garibe Gezer in Einzelhaft in Kandıra, einem Hochsicherheitsgefängnis des Typs F außerhalb Istanbuls. Gezer, eine kurdische Politikerin der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der lokalen Schwesterpartei der HDP, war 2016 zu lebenslanger Haft wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK verurteilt worden. Nachdem Gezer enthüllt hatte, dass sie von Gefängniswärtern gefoltert und sexuell missbraucht worden war, forderten Ende Oktober 2021 sowohl die HDP als auch die Menschenrechtsvereinigung (İHD) von den Behörden Gezers Beschwerden zu untersuchen. Eine Untersuchung unterblieb, und als Gezer Anfang Dezember 2021 im Gefängnis starb, sprachen HDP und İHD von einem "Tod unter verdächtigen Umständen". Die Gefängnisbehörden erklärten jedoch, Gezer habe Selbstmord begangen (NL-MFA 2.3.2022, S. 33; vgl. TM 29.1.2022, Bianet 15.12.2021).
Augenzeugenberichten zufolge schlugen im April 2022 zahlreiche Wärter im Istanbuler Marmara-Gefängnis (ehemals Silivri-Gefängnis) auf Insassen ein und versuchten sie in den Selbstmord zu treiben. Der Häftling Ferhan Yılmaz starb im April 2022 im Krankenhaus, nachdem er mutmaßlich von Gefängniswärtern gefoltert und misshandelt worden war. Zehn weitere Gefangene sollen in verschiedene Gefängnisse im ganzen Land verlegt worden sein, nachdem auch sie angegeben hatten, dass Gefängniswärter sie geschlagen hätten (AI 28.3.2023).
Nach dem massiven Erdbeben im Februar 2023 gab es Vorwürfe von eskalierender Polizeigewalt in den betroffenen Gebieten, die in manchen Fällen auch Gegenreaktionen auslöste. So gab die HDP bekannt, dass sie Strafanzeige gegen den Gouverneur von Hatay und den Polizeichef von Iskenderun wegen "schwerer Folter" von zehn Bürgern erstattete, die bei den Erdbeben ihre Angehörigen und ihr Zuhause verloren hatten. Unter den Opfern war auch ein HDP-Funktionär. Laut HDP seien die Betroffenen geschlagen worden, sodass sie schwere Verletzungen im Gesicht und am Körper aufwiesen. Sie seien überdies beleidigt und erniedrigend behandelt worden (AM 21.2.2023). In den Tagen nach dem Erdbeben wurden viele Menschen gelyncht, weil sie angeblich geplündert hatten, was nach den schweren Erdbeben vom 6. Februar zu einem großen Problem wurde. Eine dieser Personen war Muhammet Gündüz, der in der südlichen, vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay von der Polizei verprügelt wurde. Er gab an, dass er und sein Freund sofort, ohne vorhergehende Leibesvisitation, zusammengeschlagen wurden. Nachdem sich herausstellte, dass Gündüz im Gegenteil an Rettungsaktionen teilnahm, erstattete dieser auf der Polizeiwache einer entfernteren Provinz Anzeige gegen die Beamten, die ihn geschlagen hatten (Duvar 18.2.2023).
Haftbedingungen
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2022, S. 11). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, S. 18; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in Ankara Sincan (Strafvollzugsanstalt für Frauen), Amasya, Aksaray, Kayseri, Malatya, Mersin Tarsus (geschlossene Strafvollzugsanstalt für Frauen) und Van (Hochsicherheitsgefängnis). Die Strafvollzugsanstalten in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa sind wiederum chronisch überbelegt (ÖB 30.11.2022, S. 11).
Die Gefängnisse erfüllten im Allgemeinen die Standards für die baulichen Bedingungen, d. h. Infrastruktur und Grundausstattung, aber erhebliche Probleme mit der Überbelegung führten in vielen Gefängnissen zu Bedingungen, die nach Ansicht des Europäisches Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, kurz: Anti-Folter-Komitee (Committee for the Prevention of Torture - CPT) des Europarats als unmenschlich und erniedrigend angesehen werden können (USDOS 20.3.2023, S. 9). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem CPT des Europarats besucht (ÖB 30.11.2022, S. 11), allerdings wurde der CTP-Bericht von 2021 nicht veröffentlicht (USDOS 20.3.2023). Im September 2022, beispielsweise, zeigten sich Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem Besuch besorgt über die Lebensbedingungen in Hafteinrichtungen, einschließlich der Überbelegung, sowie über die Situation von Migranten in Abschiebezentren (OHCHR 21.9.2022).
Die Regierung gestattet es unabhängigen NGOs nicht, Gefängnisse zu inspizieren (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. OMCT 2022). NGOs wie die World Organisation Against Torture (OMCT) orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (HREI bzw. TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Mängel bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt (EC 6.10.2020, S. 32). Im Allgemeinen sieht diese davon ab, die Gefängnisse zu besuchen, in denen die meisten Folter- und Misshandlungsvorwürfe erhoben werden (EC 12.10.2022, S. 32).
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S. 38). Zum 5.5.2023 gab es insgesamt 400 Strafvollzugsanstalten, darunter 279 geschlossene und 90 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und acht offene Frauenvollzugsanstalten, und neun geschlossene Jugendvollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 291.592 Plätze (ABC-TGM 5.5.2023). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium im Dezember 2022 336.315, davon waren 12,3 % Untersuchungshäftlinge (ICPR 12.2022). In der Gesamtzahl der Gefängnisinsassen für März 2022 sind die 426.647 Bewährungshäftlinge nicht enthalten. Das bedeutet, dass insgesamt 741.149 Menschen in Haft oder auf Bewährung waren (OMCT 2022). Die türkische Regierung hat 8,7 Mrd. Lira für den Bau von 36 neuen Gefängnissen in den nächsten vier Jahren bereitgestellt (SCF 15.3.2022). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13 % der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S. 31f). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S. 4f; S. 32 Tab.). Mit Dezember 2022 wurden 396 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 97; Deutschland: 67] (ICPR 12.2022). Die Belegung war (Februar 2022) mit 108,3 % ebenfalls überproportional. Innert zehn Jahren nahm die Zahl der Häftlinge in der Türkei um 89 % zu (UNILCRIM/CoE 6.4.2022).
Das Europäische Parlament zeigte sich im Juni 2022 "zutiefst besorgt über die Lage in den überfüllten Gefängnissen der Türkei, wodurch sich die ernste Bedrohung, die die COVID-19-Pandemie für das Leben der Gefangenen darstellt, weiter verschärft". Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, S. 19f., Pt. 32; vgl. EC 12.10.2022, S. 34, DFAT 10.9.2020). Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen aus verschiedenen Gründen, wie z.B. wegen Verweigerung der Leibesvisitation, ärztlicher Untersuchung in Handschellen, erzwungener Anwesenheit bei ständigen Appellen oder die Titulierung von Personen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert wurden, als "Terroristen" und das Verprügeln aus diesem Grund haben der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" İHD zufolge ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht (İHD 6.11.2022, S. 14). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt (DIS 31.3.2021, S. 1; İHD 6.11.2022, S. 14). NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S. 1). Die Hungerstreiks in einigen Gefängnissen wurden fortgesetzt, um ein Ende der Verletzungen der Rechte der Häftlinge zu erwirken (EC 12.10.2022, S. 34; vgl. İHD 6.11.2022, S. 15).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung sowie über den Umstand beschwert, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S. 1). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S. 32). Eines der prominentesten Beispiele ist der ehemalige Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker - HDP, der seit 2016 im Gefängnis von Edirne in der Westtürkei sitzt, dass sich über 1.700 von seiner Heimatstadt Diyarbakır befindet. Seine Frau Başak Demirtaş muss jede Woche 3.500 Kilometer für einen einstündigen Besuch zurücklegen (3Sat 6.5.2023; vgl. DTJ 4.12.2020).
Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 20.3.2023, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S. 29). Außerdem weisen zwei Quellen des niederländischen Außenministeriums darauf hin, dass einige Ärzte sich weigerten, tatsächliche oder angebliche Gülenisten und PKK-Mitglieder zu behandeln, aus Angst, mit der PKK oder der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden (NL-MFA 2.3.2022, S. 30; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 10). Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 20.3.2023, S. 10).
Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Gefängnis-Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 20.3.2023, S. 23). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S. 19), zuletzt z. B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).
Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, S. 17).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, S. 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).
Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD 6.2022, S. 10, 13).
Kurdische Häftlinge
Mit Beginn des Ausnahmezustands (2016) wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S. 16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S. 30, 68; vgl. İHD 6.2022, S. 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S. 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S. 30; 68; vgl. İHD 23.10.2020, S. 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S. 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).
Todesstrafe
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 12).
Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (Reuters 25.6.2022).
Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023, S. 85).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023, S. 85f.).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 12.10.2022, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Von Hassreden und Übergriffen sind insbesondere auch Aleviten und Nicht-Muslime betroffen (FH 10.3.2023, D2). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Im Jahr 2020 waren insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner militärischen Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vgl. USCIRF 12.2021, S. 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87).
Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft (EC 12.10.2022, S. 45). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch. Allerdings wirkt die limitierte Aufnahme oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 12.10.2022, S. 45).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022; S. 28).
Kurden
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2022, S. 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023, S. 29, 85). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 12.10.2022, S. 5). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]
Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S. 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 12.10.2022, S. 18, 45). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 12.10.2022, S. 18; vgl. CCRT 8.4.2021)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 18). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, S. 11; vgl. VOA 11.6.2022; ÖB 30.11.2022, S. 22f.). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, S. 10).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21).
Übergriffe
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (NL-MFA 2.3.2022, S. 43). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch im Jahr 2022 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden ÖB 30.11.2022, S. 27).
Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September 2021 wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar 2022 brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022). Im September 2022 wurde eine kurdische Familie, die im Dorf Arpadere in der westlichen Provinz Aydın ein Haus kaufen wollte, bei einem, von manchen Quellen als rassistisch eingestuften, Angriff der Dorfbewohner schwer misshandelt. Die Polizei reagierte nicht auf den Frauen-Notruf KADES, der von einem weiblichen Familienmitglied aktiviert wurde (Duvar 13.9.2022; vgl. Bianet 13.9.2022).
Verwendung der kurdischen Sprache
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2022, S. 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die bisherigen Bemühungen gewählter Gemeindevertretungen, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, blieben allerdings erfolglos. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, kurdische Medien und zahlreiche Kunsträume bleiben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Einschränkung der kulturellen Rechte beitragt (EC 12.10.2022; S. 43). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2022, S. 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2022, S. 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2022, S. 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 28). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022, S. 28). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S. 27).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Grundversorgung / Wirtschaft
Das starke Wirtschaftswachstum des Vorjahres mit 11,4 % hat sich 2022 halbiert. Die Wachstumsaussichten für 2023 haben sich auch infolge der Erdbebenkatastrophe eingetrübt, aktuell (Stand April 2023) wird mit einem Wachstum von 2,8 % des BIP gerechnet (WKO 4.2023, S. 4). Denn in wichtigen Absatzmärkten der türkischen Exporteure wie der Europäischen Union und den USA wird 2023 ein Konjunkturabschwung erwartet. Die reale Kaufkraft ist gesunken. Die positiven Effekte auf den Konsum durch die deutliche Senkung des Leitzinses seit September 2021 von 19 auf 9 % werden durch die horrende Inflation gedämpft. Die Konsumentenpreise legten im Oktober 2022 um durchschnittlich 86 % zu. Die meisten Unternehmen reagieren mit Gehaltserhöhungen, die die Einbußen aber nur abfedern. Neben der Inflation führt der stark schwankende Wechselkurs der türkischen Lira (TL) zu hoher Unsicherheit. Die Bevölkerung flüchtet in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien. Die Verschuldung der Bevölkerung ist bereits hoch. Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 30.11.2022). Während die offizielle Inflationsrate Ende 2022 bei rund 85 % lag, bezifferte das unabhängige Wirtschaftsinstitut "Ena Grup" die Teuerung bei knapp über 170 % (FR 23.12.2022). Besonders waren Lebensmittel von der Preissteigerung betroffen (Duvar 23.10.2022; vgl. AM 3.11.2022). Umfragen zeigten, dass die Türken die Inflation weit höher einschätzten, als die offiziellen Daten wiedergeben (Duvar 23.10.2022). Die Talfahrt der türkischen Lira setzte sich auch 2022 fort. Erhielt man im März 2021 für einen Euro noch 8,8 Lira, so stand der Wechselkurs im März 2023 bei 21,16 Lira für 1 Euro (WKO 4.2023, S. 4).
Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 30.11.2022), obschon sie 2022 leicht zurückging war. Im November 2022 verzeichnete das Statistikamt 10,2 % statt 12 % (2021) Arbeitslose und 17,8 % Jugendarbeitslosigkeit (2021: 21,4 %). Die Erwerbstätigenquote lag bei 54,1 % (WKO 4.2023, S. 5). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ging für 2023 in ihrer Berechnung von einer Arbeitslosenrate bei den über 15-Jährigen von 9,9 % aus, wobei sie bei Frauen mit 12,5 % etwas, und besonders in der Altersgruppe der 15 bis 24-Jährigen mit 18,8 % deutlich höher ausfiel (ILO 2023). Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Die Armutsgrenze in der Türkei ist im Jänner 2023 auf 28.875 Lira [Anm.: 1 Euro war Ende April 2023 fast 21,5 Lira wert.] ge stiegen, mehr als das Dreifache des Mindestlohns (8.506 Lira), wie Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) zeigen. - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag im Jänner 2023 bei 8.864 Lira. Damit lag der Mindestlohn bereits im Jänner 2023 unter der Hungerschwelle für eine vierköpfige Familie (Duvar 30.1.2023).
Präsident Erdoğan hat den Mindestlohn ab dem 1.1.2023 auf 8.500 Türkische Lira netto von zuvor 5.500 TL angehoben. Allerdings kritisierten sowohl die Gewerkschaften als auch die Opposition die Anhebung als zu gering, auch weil 60 % aller Arbeitenden nur den Mindestlohn verdienen (FR 23.12.2022). Mit der Steigerung um rund 55 % ist die Mindestlohnerhöhung weit unter der offiziell verkündeten Inflationsrate von rund 84 %. Private Unternehmen sind allerdings nicht verpflichtet, eine Lohnerhöhung von 55 % durchzuführen, solange die Löhne nicht unter dem Mindestlohn liegen. Laut inoffiziellen Quellen beträgt die tatsächliche Inflation sogar über 170 %. Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern durchschnittlich 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der damals 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB 30.11.2022, S. 41). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB 30.11.2022, S. 41).
Sozialbeihilfen / -versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von 24 Monaten über monatlich 150 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 1.416 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 315 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 1.124 TL und 1.687 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 3.340 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2022 monatlich Anspruch auf 875 TL (Auszahlung alle zwei Monate) aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 18.975 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2022, S. 42).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Arbeitslosenunterstützung
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR 2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 41).
Nach Erhöhung des Mindestlohns im Juli 2022 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 2.568 TL (rund € 141), der Maximalbetrag 5.123 TL (rund € 283) (ÖB 30.11.2022, S. 41). - Auf das Arbeitslosengeld werden keine Steuern oder Abzüge erhoben, mit Ausnahme der Stempelsteuer (İŞKUR 2022). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 41f., İŞKUR 2022).
Medizinische Versorgung
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc.. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2022, S. 42f.).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2022, S. 43). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).
Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022a). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022a).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S. 15).
Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2022, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.3.2023). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.3.2023). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.3.2023).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt (AA 24.3.2023).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2022, S. 10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2022, S. 40). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 40). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB 30.11.2022, S. 45). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2022, S. 41).
2.2. Das BVwG stützt sich im Hinblick auf diese Feststellungen auf folgende Erwägungen:
2.2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsakts des Bundesverwaltungsgerichts.
2.2.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den entscheidungsrelevanten Sachverhalt im Rahmen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens erhoben und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens sowie die aus seiner Sicht bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen klar und übersichtlich zusammengefasst. Das BVwG schließt sich im entscheidungswesentlichen Umfang diesen Ausführungen mit den nachstehenden Erwägungen an.
2.2.3. Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers ergeben sich aus der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Einklang mit dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben im gegenständlichen Verfahren in Zusammenschau mit einem (der belangten Behörde im Original) vorgelegten türkischen Personalausweis (AS 3 ff), welcher im Zuge einer Dokumentenüberprüfung durch die Landespolizeidirektion Oberösterreich als unbedenklich qualifiziert wurde (AS 1 f). Die belangte Behörde gelangte bereits zu dem Schluss, dass die Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers feststehe (AS 55).
Dass er sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden ist, sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer abgesehen von Bandscheibenproblemen gesund ist und weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung leidet, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer im bisherigen Verfahren diesbezüglich keinerlei Angaben getätigt hat. Zu Beginn der Erstbefragung verneinte der BF Beschwerden oder Krankheiten zu haben, die ihn an dieser Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigen würden (AS 15). In der Einvernahme vor dem BFA am 20.12.2023 bestätigte der BF - abgesehen von Bandscheibenproblemen - gesund zu sein. Gelegentlich würde er Medikamente zur Schmerzstillung einnehmen (AS 33). Es ist daher von keiner - schon gar keiner schwerwiegenden - Erkrankung des Beschwerdeführers auszugehen. Dass der Beschwerdeführer Gründe haben könnte, insofern wahrheitswidrige Aussagen zu tätigen, ist nicht im Geringsten ersichtlich.
Die Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers beruhen auf dessen Ausführungen im gegenständlichen Verfahren, insbesondere in der Einvernahme vor der belangten Behörde, im Hinblick auf die mehrjährige Schul- und Berufsausbildung sowie Berufserfahrung als Bauarbeiter und im IT-Bereich. Ferner brachte der Beschwerdeführer – wie zuvor erörtert – keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, welche die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen würden. In Anbetracht der Schulbildung und Berufserfahrung des BF sowie der Sprachkenntnisse geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar ist, durch Aufnahme einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Selbsterhaltung zu erwirtschaften.
Wann der Beschwerdeführer den Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt hat, ist in unbedenklichen Urkunden/Unterlagen dokumentiert. Es ist auch naheliegend, dass der Beschwerdeführer, kurz bevor er den Antrag auf internationalen Schutz stellte, in das Bundesgebiet eingereist ist. Die Feststellungen zur unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet ergeben sich aus dem diesbezüglich unbestrittenen Akteninhalt sowie aus der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in Umgehung der die Einreise regelnden Vorschriften ohne die erforderlichen Dokumente in Österreich einreiste.
Dass er illegal etwa Anfang bis Mitte September 2022 aus der Türkei ausgereist sei, sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus (AS 15 ff, 34).
Die Feststellungen zu seiner regionalen Herkunft, seinem etwa zweijährigen Aufenthalt in Istanbul, seinem Personenstand, seiner Kinderlosigkeit, seiner schulischen Ausbildung, seinen in der Türkei ausgeübten Erwerbstätigkeiten, seinen Familienangehörigen und zum sonstigen persönlichen Umfeld bzw. den Lebensumständen in der Türkei ergeben sich aus den diesbezüglichen Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde. Die Angaben des BF waren im Wesentlichen stringent und es ist kein Grund ersichtlich, warum der Beschwerdeführer etwa in Bezug auf seine privaten und familiären Verhältnisse oder seine beruflich ausgeübten Tätigkeiten vor seiner Ausreise falsche Angaben hätte machen sollen.
Die Feststellungen über die Lebenssituation des Beschwerdeführers in Österreich und die fehlenden Aspekte einer Integration in Österreich beruhen auf den bisherigen Angaben vor der belangten Behörde und im gegenständlichen Beschwerdeverfahren. Der BF verfügt - abgesehen von einem Onkel und Cousins - über keine „familiären“ Anknüpfungspunkte in Österreich. Sein privater und familiärer Lebensmittelpunkt lag zuletzt in der Türkei.
Die Feststellungen zu den in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland lebenden Verwandten (Onkel und Cousins in Österreich und eine Tante und ein Onkel in der Bundesrepublik Deutschland) folgen gleichfalls den Aussagen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und besteht kein Grund für das Bundesverwaltungsgericht an diesen Ausführungen zu zweifeln. Hinsichtlich der Beziehung zu diesen Verwandten finden sich keine Anhaltspunkte, die für eine besondere Beziehungsintensität und emotionale Nähe sprechen.
Dass der Beschwerdeführer private Kontakte in Österreich unterhält, stellt die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts insgesamt nicht in Abrede. Hinweise auf eine einem Familienleben entsprechende Beziehung gibt es – angesichts der Darstellung der Kontakte und der unterbliebenen Vorlage von Unterstützungserklärungen – nicht.
Negative Feststellungen dahingehend, dass der Beschwerdeführer keine Deutschkurse oder -prüfungen erfolgreich absolviert hat, dass er gegenwärtig nicht legal erwerbstätig ist, er weder über eine Einstellungszusage noch über einen gültigen arbeitsrechtlichen Vorvertrag verfügt, dass er keine Unterstützungserklärungen in Vorlage brachte, dass er keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit leistet und nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich ist und dass keine sonstigen Gründe für eine hinreichende Integration bestehen würden, ergeben sich daraus, dass der Beschwerdeführer im bisherigen Verfahren diesbezüglich keine entsprechenden Angaben getätigt oder Beweismittel in Vorlage gebracht hat. Auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 20.12.2023 hat der Beschwerdeführer, etwa die Fragen, ob er hier in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv sei, negiert (AS 39). Was den Besuch von Kursen, einer Schule oder einer Universität betrifft, so erklärte der BF, dass er momentan keinen Kurs oder eine derartige Einrichtung besuche. Er würde indes gerne einen Deutschkurs besuchen (AS 39). Da der Beschwerdeführer - wie bereits erwähnt - keine Deutschkurse oder -prüfungen erfolgreich absolviert hat und im Übrigen auch erst über einen relativ kurzen Aufenthalt (etwa 20 Monate) im Bundesgebiet verfügt, ist davon auszugehen, dass er aufgrund seines lediglich im Selbststudium erworbenen Wissens keine nennenswerten, sondern erst einfache Deutschkenntnisse besitzt. Gegenteiliges ist im Verfahren nicht hervorgekommen.
Dem BF wurde in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 20.12.2023 ausreichend Gelegenheit eingeräumt, alle für die Entscheidung wesentlichen Umstände vorzubringen. Dabei ist es dem BF jedoch nicht gelungen, durch konkrete und substantiierte Ausführungen darzulegen, warum entgegen der Ansicht des BFA dennoch vom Vorliegen eines schützenswerten Privat- und Familienlebens auszugehen sei. Auch in der Beschwerde vermochte der BF der Beurteilung des BFA nichts Konkretes entgegenzusetzen, was zu einer anderen Beurteilung der privaten Situation des BF in Österreich führen könnte. Es ist dem BF in einer Gesamtschau daher nicht gelungen, darzulegen, dass ihm zum Schutz des Privat- und Familienlebens ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen sei, wobei diesbezüglich auch auf die detaillierten Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung unter Punkt 3.3.4. verwiesen wird.
Das Bundesverwaltungsgericht hat einen Datenbankauszug zu den vom Beschwerdeführer eingegangenen Arbeitsverhältnissen bzw. den bezogenen Unterstützungsleistungen eingeholt, auf deren Grundlage die vorangehend angeführten Feststellungen zu treffen waren. Dass der Beschwerdeführer von 23.09.2022 bis 15.11.2022 Leistungen aus der Grundversorgung bezog, ist einem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem zu entnehmen.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit in Österreich entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich am 29.05.2024).
Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass sein weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder der Beschwerdeführer im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der § 382b oder § 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor und es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine dahingehenden positiven Feststellungen getroffen werden können.
2.2.4. Die Feststellungen zum Vorbringen des Beschwerdeführers bzw. dessen Fluchtgründen und zu seiner Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung und in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, den getroffenen Länderfeststellungen und auf den Ausführungen in der Beschwerde.
Die Feststellung zum Nichtvorliegen einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Gefährdung des Beschwerdeführers ergibt sich einerseits aus dem seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des Bundesverwaltungsgerichts als nicht glaubhaft erachteten Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich einer Bedrohung und Verfolgung sowie andererseits aus den detaillierten, umfangreichen und aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in der Türkei.
Hinweise auf asylrelevante die Person des Beschwerdeführers betreffende Bedrohungssituationen konnte dieser nicht glaubhaft machen.
2.2.4.1. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl basiert auf einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren und fasst in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung in der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammen. Das Bundesamt hat sich mit dem individuellen Vorbringen auseinandergesetzt und in zutreffenden Zusammenhang mit der Situation des Beschwerdeführers gebracht.
2.2.4.2. Im Ergebnis ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen im Hinblick auf die Veranlassung zur Ausreise glaubwürdig und in sich schlüssig darzulegen. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich den beweiswürdigenden Argumenten der belangten Behörde an. Im Einzelnen:
Die Feststellungen des Inhalts, dass der Beschwerdeführer der Gülen-Bewegung nicht angehört und nicht in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt war, beruhen auf dem Umstand, wonach der Beschwerdeführer ein diesbezügliches Vorbringen weder vor der belangten Behörde noch in der Beschwerde mit einem Wort erwähnte.
Der Vollständigkeit halber ist dennoch allgemein auf den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 sowie den daran anschließenden und bis zum 18.07.2018 verhängten Ausnahmezustand einzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht verweist diesbezüglich zunächst auf die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei, welche die wesentlichen Ereignisse seit dem versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 abbilden. Darüber hinaus ist eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von diesen Ereignissen und den daraus erwachsenden Folgen der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichts nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer hielt sich zur Zeit des versuchten Militärputsches in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 zwar in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch kann den Aussagen des Beschwerdeführers aber nicht entnommen werden. Der Beschwerdeführer gehört auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachte er weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung zum Ausdruck. Ausweislich der sonstigen beweiswürdigenden Erwägungen besteht demgemäß kein Anlass, aus diesen Gründen im Fall einer Rückkehr in die Türkei Strafverfolgung oder Inhaftierung befürchten zu müssen.
Die Feststellungen betreffend das in der Türkei bestehende politische Interesse des Beschwerdeführers beruhen - unter Berücksichtigung des Bildungshintergrundes - auf den diesbezüglichen glaubhaften Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde. So zeugen die Ausführungen des Beschwerdeführers von einem vorhandenen Interesse an der türkischen Innenpolitik und ist deshalb auch wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer für die Halkların Demokratik Partisi Sympathie zeigt(e). In Anbetracht der Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers erscheint dies zudem plausibel. Hingegen verneinte er vor der belangten Behörde am 20.12.2023 explizit die Fragen, ob er politisch tätig (gewesen) sei. Selbiges gilt für die Fragen, ob er Mitglied einer politischen Partei (gewesen) sei (AS 36 f). Insofern war keinerlei politische Exponiertheit des Beschwerdeführers zu erkennen, die ein Verfolgungsinteresse türkischer Behörden nahelegen könnte, wie dies an bekannten Beispielen von Vertretern der HDP, wie etwa deren Parteivorsitzenden, Inhabern von Bürgermeistersitzen, Parlamentsmitgliedern und anderen ranghohen Parteimitgliedern, ersichtlich wurde.
Vor dem Hintergrund der Länderinformationsquellen erscheint es angesichts der Sicherheitslage in der Türkei aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ferner plausibel, dass sich der Beschwerdeführer gelegentlich, etwa beispielsweise während der Schulzeit oder seines Erwerbslebens oder beim Verwenden der kurdischen Sprache, aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, schikanös behandelt erachtete. Allfällige Beschimpfungen/ Beleidigungen und mangelnde Akzeptanz des Beschwerdeführers aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, sind glaubhaft, wobei das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass diese Ereignisse vom Beschwerdeführer sehr allgemein geschildert wurden und kaum Konkretisierungen aufwiesen (vgl. etwa AS 38). Hinsichtlich dieser vom Beschwerdeführer geschilderten negativen Erfahrungen, insbesondere aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, ist jedenfalls festzuhalten, dass es sich dabei bloß um einfache Alltagsdiskriminierungen handelte, die nicht das Ausmaß asylrelevanter Verfolgung erreichten, was sich auch daran zeigt, dass die als Kurden ebenfalls von diesen Umständen betroffenen Familienangehörigen des Beschwerdeführers weiterhin problemlos in der Türkei leben können. Im Übrigen war es dem BF beispielsweise auch selbst in der Türkei jahrelang möglich, einer Beschäftigung nachzugehen und dort wohnhaft zu sein. Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit sind somit daraus nicht abzuleiten (siehe dazu unten in der rechtlichen Beurteilung).
Es gelang dem BF ebenso wenig eine individuelle Bedrohungssituation bezüglich einer Verfolgung und Bedrohung durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf aufzuzeigen, zumal es gegen eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers vor dem Verlassen der Türkei spricht, dass der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts davon sprach, dass er an kurdischen Veranstaltungen teilgenommen habe und sie die türkischen Spione nicht in Ruhe gelassen hätten. Diese hätten von ihnen verlangt, auch Spione zu werden, um gegen die eigenen Kurden tätig zu werden (AS 19). Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zufolge nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat und gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen Bedenken bestehen (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN). Dennoch fällt im gegenständlichen Fall ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung darlegte, von türkischen Spionen bedrängt worden zu sein, während er vor dem BFA auf sogenannte „Koruyucu“, vom BF auch Schützlinge oder Dorfschützer genannt, Bezug nahm, die ihn dazu überreden hätten wollen, dass er auch Dorfschützer werde und sich ihnen anschließe (AS 37 ff). Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts zu erwarten gewesen, dass vom Asylwerber zuerst – schon in der Erstbefragung – eine unmittelbar seine Person betreffende Gefährdungslage gleichbleibend dargelegt wird, anstatt zunächst von einer Bedrohung und/oder Verfolgung durch türkische Spione zu sprechen und erst in der Folge ein modifiziertes Vorbringen bei der Einvernahme vor der belangten Behörde oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erstatten. Der im gegenständlichen Fall nicht stringenten Darlegung solcher eigener Erlebnisse bei der Erstbefragung in Gestalt einer Bedrohung und/oder Verfolgung durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf kommt aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ein nicht unmaßgeblicher Beweiswert insofern zu, als dieser unterschiedlichen Darstellung der ausreisekausalen Ereignisse zumindest Indizcharakter dahingehend zuzumessen ist, als dies schon begründete Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Antragstellers dahingehend zulässt (zur Zulässigkeit derartiger Erwägungen bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Beschwerdeführer VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0143; zur Maßgeblichkeit solcher Erwägungen auch ohne mündliche Verhandlung siehe jüngst VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168).
Ungereimtheiten zwischen den Angaben eines Asylwerbers vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts und jenen vor einem Organwalter der belangten Behörde sind zwar mit Blick auf das Erkenntnis des VfGH vom 27.06.2012, U 98/12, differenziert zu beurteilen. In dieser Entscheidung hielt der VfGH im Zusammenhang mit einem psychisch angeschlagenen und von den Strapazen der Schleppung gezeichneten jugendlichen Afghanen, der über traumatische Ereignisse aus seiner Kindheit berichtete, fest, dass gerade diese Umstände besonders zu berücksichtigen sind. Konkret wurde festgehalten, dass das entscheidende Gericht bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zur umfassenden Auseinandersetzung mit allen relevanten Gesichtspunkten verpflichtet ist. Dazu gehört beispielsweise auch seine psychische Gesundheit, bei deren Beeinträchtigung ein großzügigerer Maßstab an die Detailliertheit seines Vorbringens zu legen ist (VfSlg. 18.701/2009). Auch das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers sind zu berücksichtigen.
Der erwachsene Beschwerdeführer hat jedoch keine gesundheitlichen Einschränkungen zum Zeitpunkt seiner Einvernahmen glaubhaft geltend gemacht, wobei festzuhalten ist, dass von einem volljährigen und im Wesentlichen gesunden Antragsteller grundsätzlich zu erwarten ist, dass er seine Ausreisegründe zumindest in den Eckpunkten und bei der ersten Möglichkeit sich hierzu zu äußern wahrheitsgemäß angibt und in weiterer Folge auch bei den jeweiligen Befragungen in den Grundzügen damit übereinstimmend vorträgt.
Der BF war auch weder in der Einvernahme vor dem BFA noch in der Beschwerde in der Lage, eine plausible Erklärung für diese Widersprüche zu erbringen. Auf einen entsprechenden Vorhalt beschränkte sich der BF in der Einvernahme vor dem BFA lediglich auf die Behauptung, dass er bei der ersten Aussage genau dasselbe gesagt und auch von den Schützlingen gesprochen hätte. Nach Vorhalt seiner ursprünglichen Angaben zum Fluchtgrund entgegnete der Beschwerdeführer dann wiederum – unter Ignorierung der Aufforderung, wonach dies etwas völlig Anderes sei und er sich erklären solle -, dass er bei einigen kurdischen Veranstaltungen dabei gewesen und dort diskriminiert worden sei. Zudem sei er kein Mitglied einer kurdischen Gruppe (AS 39). In der Beschwerde entgegnete der BF wiederum, dass er sich bei genauer Betrachtung seiner Angaben stets auf ein konkretes Vorbringen gestützt habe, nämlich auf die Tatsache, dass die türkischen Spione bzw. Schützlinge/“Koruyucu“ Spionagetätigkeiten durchführen und zu diesem Zweck nicht nur den BF, sondern auch die anderen Jugendlichen unter Druck setzen würden (AS 132 f). Diese Ausführungen vermögen jedoch ebenso wenig nachvollziehbar darzulegen, weshalb der BF in der Erstbefragung von türkischen Spionen und später in der Einvernahme vor dem BFA von Schützlingen/“Koruyucu“ spricht, zumal er sich auch nicht stets auf ein konkretes - gleichbleibendes - Vorbringen gestützt habe. Diesbezüglich erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht zur Vollständigkeit darauf hinzuweisen, dass der BF in der Einvernahme vor dem BFA – anders als in der Erstbefragung – auch schilderte, dass er an Waffen ausgebildet werden sollte (AS 379), was über bloße Spionagetätigkeiten jedenfalls zweifelsfrei hinausgeht. Nachvollziehbare Erklärungen für diese Ungereimtheiten sind hierin somit nicht zu erblicken.
Insoweit der BF schließlich noch ins Treffen führt, dass die Übersetzungsfähigkeiten des von der belangten Behörde beigezogenen Dolmetschers in Zweifel zu ziehen seien (AS 133), so ist dem zu entgegnen, dass sich aus dem Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme keine Anzeichen dafür ergeben, dass es zwischen dem BF und dem Dolmetscher am 20.12.2023 zu Verständigungsschwierigkeiten gekommen wäre. Auch wurde derartiges seitens des Leiters der Amtshandlung nicht dokumentiert. Vielmehr erweckt dieses Protokoll den Eindruck, dass die niederschriftliche Einvernahme ohne irgendwelche Probleme von statten ging. Auch bestätigte der BF seine Angaben auf jeder einzelnen Seite durch seine Unterschrift. Ebenfalls bestätigte dieser separat durch seine Unterschrift, mehrfach die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift, dass ihm die Niederschrift rückübersetzt wurde und er alles einwandfrei verstanden habe (AS 40 ff). Auch aus der zeitlichen Dauer der erfolgten Einvernahme ergibt sich keine andere Beurteilung, weshalb insgesamt festzustellen ist, dass die Behauptungen des BF hinsichtlich etwaiger Unregelmäßigkeiten im Zuge dieser Niederschrift nicht glaubwürdig sind. Es ist somit festzustellen, dass der BF dies offenbar aus verfahrenstaktischen Gründen im Asylverfahren ins Spiel bringt, zumal häufig der Versuch unternommen wird, beispielsweise Widersprüche im Vorbringen, auf die Übersetzungstätigkeit des Dolmetschers zu überwälzen.
Der belangten Behörde ist des Weiteren zuzustimmen, dass die Schilderungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der konkreten Bedrohung und/oder Verfolgung, die ihn zur Ausreise bewogen haben sollen, als im Ergebnis oberflächlich bzw. nicht detailliert zu qualifizieren sind, was als weiteres wesentliches Indiz für die Unglaubhaftigkeit des gesamten Fluchtvorbringens zu werten ist. Trotz der konkreten Aufforderung, seine persönlichen Beweggründe, die ihn zum Verlassen seines Herkunftstaats bewogen haben, vollständig, detailliert und wahrheitsgemäß zu schildern, machte der Beschwerdeführer von sich aus nur äußerst vage Angaben. Das Vorbringen des Beschwerdeführers blieb über weite Strecken im unverbindlichen Bereich. Die diesbezüglich rudimentären Angaben stellten für sich allein genommen zwar noch keine Unglaubwürdigkeit dar, allerdings sind sie doch als - wesentliches - Indiz dafür zu werten, dass der Beschwerdeführer diese von ihm geschilderten Ereignisse nicht tatsächlich erlebt hat. So beschränkte sich der BF im Zuge der freien Schilderung seiner Ausreisegründe auf folgende Sätze: „Wegen dem System der Dorfschützer. Diese Schützlinge habe versucht mich zu überreden, dass ich dort mitmache. Sie haben vorgeschlagen, dass ich über Waffen etwas lerne. Sie sind auch in den Bergen tätig. Sie sind dafür zuständig, dass kein Kampf zwischen den ethnischen Gruppen ausgelöst wird. Ich wollte nicht dabei sein und keine Waffen in der Hand haben. Wenn ich in der Türkei geblieben wäre, hätte ich diese Probleme immer und immer wieder gehabt. Ich müsste eine Lösung finden und wusste, dass ich nicht mehr in der Türkei leben könnte. Die kurdische Gruppe übte Widerstand gegen die Türken aus.“ (AS 37). Bereits zuvor beschränkte sich der BF auf die Frage „Wann haben Sie aufgrund von welchem Ereignis den Ausreiseentschluss gefasst?“ auf die Aussage „Bevor ich ausgereist bin, war ich in Bingöl bei meiner Familie. Es gab bei uns im Dorfschützer, ähnlich wie die Bekci, diese haben Druck ausgeübt bei den Jugendlichen, damit diese bei denen mitmachen und diese unterstützen.“ (AS 35). Selbst nach mehrfachem und konkretem Nachfragen erreichten die Antworten weiterhin keine inhaltliche Tiefe, blieben oberflächlich und vermittelten nicht den Eindruck, der BF habe tatsächlich Erlebtes geschildert. Hervorgehoben sei deshalb auch nachfolgender Auszug aus der Einvernahme vor dem BFA: „F: Gibt es noch weitere Gründe, weshalb Sie Ihr Herkunftsland verlassen haben? A: Nein, nur die Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppen und den Schützlingen. […] F: Erzählen Sie mir bitte mit allen Details was mit den Schützlingen passiert ist! A: Es war ein dauerhaftes Problem mit den Jugendlichen. Das Hauptaugenmerk war auf die Jugendlichen gerichtet. Wir sind sehr jung und können nicht ein Leben lang Waffen tragen. Ich wollte niemanden töten und traue mir das auch nicht zu. F: Erzählen Sie mir möglichst detailliert von den Problemen mit den Schützlingen. Welche Vorfälle gab es? A: Ich war ständig unter Druck. Ich wurde immer wieder angesprochen. Ich sollte dort mitwirken und mitmachen.“ (AS 37 f). Bis zum Ende der Einvernahme erweisen sich die Angaben des Beschwerdeführers daher derart oberflächlich, dass nicht davon ausgegangen werden kann, der Beschwerdeführer habe tatsächlich Erlebtes geschildert.
Die Angaben des Beschwerdeführers wirken relativ beliebig. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist nun davon auszugehen, dass ein Asylwerber, der bemüht ist, in einem Land Aufnahme und Schutz zu finden, in der Regel bestrebt ist, alles diesem Wunsch Dienliche vorzubringen und zumindest die Kernfluchtgeschichte möglichst umfassend schildert, sodass der Behörde erkennbar ist, welchen massiven Bedrohungen er im Herkunftsland ausgesetzt sei, die knappen und vagen Angaben des Beschwerdeführers waren jedoch nicht geeignet, eine derart schwere Verfolgung glaubhaft zu machen, die ihn dazu getrieben hätte, sein Heimatland zu verlassen oder nicht mehr dorthin zurückzukehren.
Aus diesen Auszügen ist ersichtlich, dass eine nachvollziehbar detaillierte oder umfassende Schilderung der Ereignisse nicht erfolgte. Auch unter Einbeziehung des Umstands, dass Menschen unterschiedliche Erzählstile, darunter auch sehr knappe, aufweisen, wäre bei derartigen Ereignissen, nämlich des Bedrängens der eigenen Person, sich einer Gruppierung im Herkunftsland anzuschließen, samt Drohungen und Handgreiflichkeiten, eine stärkere Personalisierung in Form eines größeren Detailreichtums zu erwarten gewesen.
Der Beschwerdeführer berichtete nicht von sich aus über die Geschehnisse im Rahmen einer narrativen und konkludenten Wiedergabe, so wie eben Menschen berichten, welche das Erzählte tatsächlich erlebt haben. Diese Feststellung kann insofern getroffen werden, als es aus der Praxis des BFA und des Bundesverwaltungsgerichts notorisch ist, dass detailreiche Aussagen mit Realkennzeichen in der Regel für die Glaubwürdigkeit des entsprechenden Vortrags sprechen. Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht als Aufgabe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gesehen werden, jede der vagen und pauschalen Angaben bzw. Andeutungen durch mehrmaliges Nachfragen zu konkretisieren, sondern liegt es am BF ein detailliertes und stimmiges Vorbringen zu erstatten, um die nötige Glaubwürdigkeit zu erlangen.
In Anbetracht dessen, dass diese Vorkommnisse durchaus das zentrale Element des Vorbringens darstellen, ist es bemerkenswert, dass der Beschwerdeführer keine nachvollziehbaren und detaillierten Angaben diesbezüglich tätigte und im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde am 20.12.2023 die Gelegenheit verstreichen ließ, sich zu den von ihm kryptisch vorgebrachten angeblichen Ereignissen näher zu äußern.
Dies lässt den Schluss zu, dass der Beschwerdeführer zur Situation deshalb nichts sagen konnte oder wollte, weil es sich um keine real erlebte Situation handelte. Der Beschwerdeführer erging sich im Wesentlichen in vagen und oberflächlichen Ausführungen, wie sie ohne Weiteres, also insbesondere ohne jemals tatsächlich verfolgt und/oder bedroht gewesen zu sein, gemacht werden können. Dies indiziert, dass es sich beim Vorbringen des Beschwerdeführers nicht um einen wahren Lebenssachverhalt, sondern ein Konstrukt handelt, zumal der BF diesen Überlegungen auch in der Beschwerde (vgl. AS 133 f) nichts Substantiiertes entgegenzusetzen hatte.
Darüber hinaus darf in diesem Zusammenhang richtigerweise nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass sich seine späteren Ausführungen im Rahmen der Einvernahme zu angeblichen Handgreiflichkeiten als Steigerung der Geschehnisse im Heimatland darstellen. Handgreiflichkeiten zwischen ihm und seinen Gegnern erwähnte der BF weder in der Erstbefragung oder im Zuge der freien Schilderung der ausreisekausalen Ereignisse vor dem BFA, sondern sprach er vielmehr einzig davon, dass er einem ständigen Druck ausgesetzt gewesen sei (AS 37 f). Erst gegen Ende der Einvernahme vor dem BFA führte er dann diese Handgreiflichkeiten ins Treffen. Ein plausibler bzw. glaubwürdiger Grund für die Steigerung des Vorbringens kann der Einvernahme oder dem Beschwerdeschriftsatz jedoch nicht entnommen werden und erweist sich das gesteigerte Vorbringen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts, jedenfalls auch als unglaubwürdig. Nach Ansicht der erkennenden Richterin ist diese Steigerung des Vorbringens in einem Kernpunkt der vorgebrachten Asylgründe – dem BFA folgend - ein zusätzliches Indiz für die Unglaubwürdigkeit der geltend gemachten Ausreisegründe, hatte doch der BF zumindest zu Beginn seiner Einvernahme vor dem BFA die umfassende Möglichkeit, sämtliche Fluchtgründe vorzubringen. Bei diesen erstmals gegen Ende der Einvernahme nachgeschobenen Angaben handelt es sich um eine klare Steigerung des Vorbringens des BF, vermutlich zu dem Zweck, um seinem Asylantrag mehr Substanz zu verleihen.
Für das Bundesverwaltungsgericht war - dem BFA folgend - zudem zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde nicht in der Lage war, plausibel übereinstimmende Angaben zu den ihm widerfahrenen Vorfällen zu tätigen. Einerseits schilderte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA, dass er die letzten beiden Jahre vor der Ausreise, konkret von November 2020 bis September 2022 in Istanbul gelebt und dort auch bis zur Ausreise gearbeitet hätte (AS 34, 36). Die Bedrohungen durch die Schützlinge/Dorfschützer sollten jedoch letztlich während eines Besuchs bei der Familie kurz vor der Ausreise erfolgt sein (AS 35). Da der BF bereits Anfang September 2022 ausgereist sein will (AS 34) und am 21.09.2022 schon in Österreich aufhältig war, lässt sich dies nur schwer miteinander in Einklang bringen, zumal der BF gegen Ende der Einvernahme auch noch erklärte, dass er nach der Bedrohung durch seine Gegner noch nach Istanbul zurückgekehrt wäre (AS 38). Auch in der Beschwerde war es dem BF im Übrigen nicht möglich, eine plausible Erklärung für diese zeitlichen Ungereimtheiten zu erbringen, sondern wiederholte er lediglich, dass er vor der Ausreise zwei Jahre in Istanbul gelebt habe und während eines kurzfristigen Aufenthalts in der Heimat von seinen Gegnern bedroht und später auch in Istanbul telefonisch kontaktiert worden sei (AS 134). In der Einvernahme vor dem BFA sprach der BF jedoch von einem dauerhaften Problem und dass er ständig unter Druck gewesen sei. Demnach sei er immer wieder angesprochen worden (AS 38). Diese Schilderungen sprechen ebenfalls zweifelsfrei dagegen, dass sich diese ausreisekausalen Ereignisse während eines kurzen Besuchs vor der Ausreise ereignet haben sollen. Somit traten im Ergebnis gravierende Divergenzen zu Tage. In dieses Bild passt es im Übrigen auch, dass der BF vor dem BFA erklärte, dass er innerhalb eines Monats oder zweier Monate vor der Ausreise – somit etwa im Juli oder August 2022 - zum ersten Mal daran gedacht habe, die Türkei zu verlassen (AS 35), während er in der Erstbefragung behauptete, den Entschluss zur Ausreise bei Erreichen des 18. Lebensjahres - somit etwa im August 2020 - gefasst zu haben (AS 15).
Ebenso ist dem BFA beizupflichten, dass ein Teil der Familie des Beschwerdeführers, konkret etwa dessen Eltern und dessen jüngerer Bruder, dessen Vorbringen zufolge weiterhin in der Türkei, insbeondere in der Provinz Bingöl, ansässig ist. Der Beschwerdeführer war in diesem Zusammenhang jedoch nicht in der Lage, eine plausible Erklärung dafür zu erbringen, weshalb dann ausgerechnet er, nicht aber auch die anderen Familienangehörigen, insbesondere sein 16-jähriger Bruder, seinen Herkunftsstaat verließen. Dies überrascht auch deshalb, zumal der BF an anderer Stelle ausführte, dass das Hauptaugenmerk seiner Widersacher bei den Rekrutierungsversuchen eben auf Jugendliche gerichtet gewesen sei (AS 38). Befragt, weshalb sein Bruder keine Probleme mit den Schützlingen in Bingöl habe, zumal dieser mit seinen 16 Jahren auch ein Jugendlicher sei, modifizierte der BF in der Folge sein Vorbringen dann überraschenderweise dahingehend, dass die Personen 18 Jahre alt sein und ein bestimmtes Bewusstsein haben müssten (AS 38), was seine Glaubwürdigkeit zustätzlich erschüttert und die Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens zusätzlich in Zweifel zieht, zumal der BF bezüglich dieser Argumentation des BFA in der Beschwerde ebenfalls lediglich ausführte, dass sein Bruder erst 16 alt gewesen sei, es sich bei diesem noch um ein Kind handle und er daher noch nicht ins Visier der Widerscher des BF geraten sei (AS 134). Insofern erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht nochmals auf die Schilderungen des BF hinzuweisen, wonach das Hauptaugenmerk seiner Widersacher bei den Rekrutierungsversuchen eben auf Jugendliche gerichtet gewesen sei (AS 35, 38), zu denen zweifelsfrei sehr wohl auch der 16-jährige Bruder des BF zu zählen ist.
Ferner ist ist dem belangten Bundesamt in diesem Zusammenhang nicht entgegenzutreten, wenn es festhielt, dass der BF zunächst in keiner Weise nachvollziehbar darlegen konnte, aus welchem Motiv heraus, er für eine Rekrutierung ausgewählt worden sein sollte, zumal er zu Protokoll gab, dass die möglichen neuen „Schützlinge“ ein bestimmtes Bewusstsein - in diesem Sinne eine gewisse Ideologie – aufweisen sollten, worüber der BF aber zweifelsfrei nicht verfügte, was er seinen Gegnern gegenüber auch klar zum Ausdruck brachte. Auf einen entsprechenden Vorhalt erwiderte der BF dann auch lediglich, dass er --bevor dieses System mit den Schützlingen begonnen habe - mit älteren Personen unterwegs gewesen sei, die dann Schützlinge geworden seien (AS 38). Abgesehen vom Umstand, dass der BF urspünglich mit keinem Wort erwähnte, dass er mit seinen Gegnern befreundet oder bekannt gewesen wäre, vermögen diese Ausführungen keine Erklärung dafür zu erbringen, weshalb es im Fall des BF keine Voraussetzung für eine Auswahl gewesen sein sollte, über ein entsprechendes Bewusstsein zu verfügen. Auch im Rechtsmittelschriftsatz war der BF nicht in der Lage, diesen Überlegungen etwas entgegenzusetzen. Abweichend vom Vorbringen in der Einvernahme behauptete der BF nunmehr lediglich, dass es für seine Gegner für das Anwerben der Jugendlichen als Spione keine Voraussetzung darstelle, dass diese Jugendlichen der HDP nahe stünden bzw. deren Ideologie aufweisen würden (AS 134 f). In der Einvernahme vor dem BFA erklärte der BF aber sehr wohl, dass die ausgewählten Personen ein „bestimmtes Bewusstsein“ aufweisen und 18 Jahre alt sein müssten (AS 38). Dass die möglichen neuen Mitglieder erwachsen sein müssen, erwähnte der BF im Übrigen in diesem Zusammenhang ebenso wenig, sondern spricht er in der Beschwerde von Jugendlichen, die rekrutiert werden sollen. Angesichts der sicher vorhandenen Freiwilligen, die über ein entsprechendes Bewusstsein verfügen, und der dargelegten direkten Rekrutierung in der Region kann das Bundesverwaltungsgericht indes nicht nachvollziehen, dass gerade im Hinblick auf die Person des Beschwerdeführers der Weg einer Zwangsrekrutierung verbunden mit unbestimmten Drohungen gewählt worden sein soll. Das Bundesverwaltungsgericht kann in diesem Zusammenhang nicht erkennen, inwieweit einer Organisation zwangsrekrutierte Personen von großem Nutzen sein sollten. Dies auch aus der Erwägung, dass die Motivation zwangsrekrutierter Personen mit Sicherheit geringer ist als jene von Freiwilligen und bei zwangsrekrutierten Personen auch damit gerechnet werden muss, dass sich diese bei sich bietender Gelegenheit entziehen werden. Nach Auffassung der belangten Behörde und des Bundesverwaltungsgerichts sind diese Schilderungen daher ebenso wenig zum Beweis dafür geeignet, dass der Beschwerdeführer bedroht und/oder verfolgt worden war. In Anbetracht der bereits vorstehend aufgezeigten Zweifel am Vorbringen des Beschwerdeführers ist im Hinblick auf dieses Vorbringen ebenso wenig von einer erfolgreichen Glaubhaftmachung auszugehen.
Insoweit ist abschließend festzuhalten, dass die erkennnende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts das im Verfahren vor der belangten Behörde geschilderte Vorbringen einer Bedrohung und/oder Verfolgung der Person des BF durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf aufgrund der vorangehend dargestellten Widersprüche und Ungereimtheiten sowie Unplausibilitäten und der Oberflächlickeit des Vorbringens als nicht glaubhaft erachtete. Die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts zweifelt in keiner Weise an, dass dieses Vorbringen des Beschwerdeführers zur Begründung seines Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Ereignisse in Form einer Bedrohung und Verfolgung durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf nicht der Wahrheit entspricht.
Vor dem Hintergrund, dass sich ein Onkel des BF mit dessen Familie in Österreich und eine Tante sowie ein weiterer Onkel in der Bundesrepublik Deutschland befinden, er in der Einvernahme vor dem BFA - abweichend von seinen Angaben in der Erstbefragung (AS 15) - Österreich wegen seines hier aufhältigen Onkels als Ziel seiner Reise bezeichnete und eine Einreise oder ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für den Beschwerdeführer für Österreich oder ein anderes Land der Europäischen Union nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war, was dem BF auch selbst bewusst war („Auf dem legalen Weg wäre dies jedoch schwierig gewesen.“, vgl. AS 37), bestätigt sich daher die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Asylantragstellung lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig (offensichtlich missbräuchlich) zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz eingebracht wurde.
Eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers vor seiner Ausreise oder im Fall seiner Rückkehr in die Türkei kann das Bundesverwaltungsgericht somit aufgrund dieser Ausführungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen.
Was eine in den Raum gestellte Bedrohung und/oder Verfolgung wegen der bloßen Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe betrifft, so machen nach den aktuellen Länderinformationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für die Türkei zu den ethnischen Minderheiten und der Situation der Kurden, AS 91 ff) die Angehörigen der kurdischen Volksgruppe ca. 13 bis 15 Millionen der türkischen Gesamtbevölkerung von etwa 83 Millionen Einwohnern aus. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südostanatolien, wo sie die Mehrheit bilden, und auf Nordostanatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen (siehe Seite 87 des bekämpften Bescheides). Aus den herangezogenen Länderberichten zur Lage der Kurden in der Türkei ist jedenfalls keine systematische Verfolgung (oder eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung) sämtlicher Angehöriger der kurdischen Minderheit in der Türkei durch staatliche Organe oder durch Dritte abzuleiten.
Der Beschwerdeführer verblieb darüber hinaus jedenfalls bis zu seinem 20. Geburtstag in der Türkei und führte seine Ausreise im Wesentlichen auf konkrete (wiewohl nicht glaubhafte) Vorfälle zurück. Dass ihm bereits zuvor aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit ein weiterer Verbleib im Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei, wurde von ihm nicht - glaubhaft - vorgebracht. Die zum Teil prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird weder von der belangten Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht in Abrede gestellt, im gegenständlichen Fall ist jedoch weder eine derart exponierte Stellung seiner Person in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass er aktuell von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wäre. Es ist zwar davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer auch die grundlegenden politischen Forderungen der PKK (Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen) möglicherweise inhaltlich teilt, in seinem Vorbringen finden sich jedoch keine Hinweise, dass er die terroristischen Aktivitäten der PKK nicht ablehnen würde und engagierte er sich auch nicht aktiv bei der PKK. Hinweise auf eine dem Beschwerdeführer aktuell allenfalls nur unterstellte Gesinnung im Hinblick auf die Aktivitäten der PKK sind im Verfahren ebenfalls nicht glaubhaft hervorgekommen. Insbesondere wurde der Beschwerdeführer in den letzten Jahren vor seiner Ausreise nie wegen einer ihm unterstellten Nähe zur PKK oder auch der Gülen-Bewegung von türkischen Behörden belangt. Darüber hinaus wurde kein Sachverhalt substantiiert vorgebracht, welcher auf eine Rückkehrgefährdung aufgrund eines tatsächlichen oder nur unterstellten Naheverhältnisses zur PKK oder der Gülen-Bewegung hindeuten würde, sodass eine solche Rückkehrgefährdung aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts auch auszuschließen ist.
2.2.4.3. Unter der theoretischen Annahme, dass das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers, insbesondere dass der BF von türkischen Spionen bzw. von Schützlingen/ Dorfschützern in seinem Heimatdorf bedroht und verfolgt worden sei, real wäre, müsste das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei einer derartigen Auseinandersetzung jedenfalls auch wegen des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative verneint werden. Es steht dem Beschwerdeführer frei, sich an einem anderen Ort in der Türkei - konkret bspw. Istanbul - niederzulassen und wird dies auch von Seiten des Bundesverwaltungsgerichts für zumutbar gehalten. Das Bundesverwaltungsgericht kann ferner nicht erkennen, dass dem Beschwerdeführer aus individuellen Erwägungen ein Aufsuchen Istanbuls nicht zumutbar wäre. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund, arbeitsfähig, verfügt über eine mehrjährige schulische Ausbildung sowie Berufserfahrung als Baurabeiter und Teamleiter im IT-Bereich und sollte im Falle seiner Rückkehr durch die Aufnahme einer Tätigkeit, selbst wenn es sich dabei um eine Hilfstätigkeit handelt, seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Zur Sicherheitslage in Istanbul ist auszuführen, dass diese nach der Quellenlage verglichen relativ stabil ist. Anschläge finden vereinzelt statt. Dass es vereinzelt zu Anschlägen kommt, ändert aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nichts daran, dass die Sicherheitslage insgesamt als annehmbar, wenn auch nicht ganz frei von gelegentlichen Terrorakten, anzusehen ist. Die im Verfahren herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen bringen jedenfalls hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die türkischen Sicherheitskräfte für eine ausreichend stabile Sicherheitslage sorgen.
Dass Istanbul im Luftweg erreichbar ist, ergibt sich aus der insoweit unbestritten gebliebenen Quellenlage. Gegenteiliges wurde im Verfahren nicht vorgebracht.
2.2.4.4. Die seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vorgenommene Beweiswürdigung ist im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig. Sie steht auch im Einklang mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wonach die Behörde einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubwürdig anerkennen kann, wenn der Asylwerber während des Verfahrens im Wesentlichen gleich bleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst sehr spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängten, dass sie nur der Asylerlangung um jeden Preis dienen sollten, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen. Als glaubhaft könnten Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650).
Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305, führen beispielsweise in Zitierung des Urteils des Obersten Gerichtshofs vom 29.02.1987, Zahl 13 Os 17/87, aus: "Die aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnene freie Überzeugung der Tatrichter wird durch eine hypothetisch denkbare andere Geschehensvariante nicht ausgeschlossen. Muss doch dort, wo ein Beweisobjekt der Untersuchung mit den Methoden einer Naturwissenschaft oder unmittelbar einer mathematischen Zergliederung nicht zugänglich ist, dem Richter ein empirisch-historischer Beweis genügen. Im gedanklichen Bereich der Empirie vermag daher eine höchste, ja auch eine (nur) hohe Wahrscheinlichkeit die Überzeugung von der Richtigkeit der wahrscheinlichen Tatsache zu begründen, (...)"; vgl. auch VwGH 18.06.2014, Ra 2014/01/0032, wonach der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 17 VwGVG 2014 in Verbindung mit § 45 Abs. 2 AVG auch für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht uneingeschränkt gelte.).
Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist unter Heranziehung dieser, von der höchstgerichtlichen Judikatur festgelegten, Prämissen für den Vorgang der freien Beweiswürdigung dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht entgegenzutreten.
2.2.4.5. In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet. Der Beschwerdeführer ist in der Beschwerde auch keinem der dargestellten beweiswürdigenden Argumente des BFA substantiiert entgegengetreten. Schließlich langte bislang auch kein ergänzender Schriftsatz beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Insoweit das in der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA erstattete Vorbringen in der Beschwerde wiederholt wird, wird damit die Beweiswürdigung des BFA nicht substantiiert angegriffen. Die bloße Wiederholung eines bestimmten Tatsachenvorbringens in der Beschwerde stellt weder ein substantiiertes Bestreiten der erstinstanzlichen Beweiswürdigung noch eine relevante Neuerung dar (vgl. VwGH 27.05.2015, Ra 2015/18/0021, mwN).
2.2.4.6. Was die in der Beschwerdeschrift allgemein geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens betrifft, so ist festzuhalten, dass das Protokoll der Einvernahme vom 20.12.2023 den Eindruck vermittelt, dass der Organwalter den Beschwerdeführer ausführlich und objektiv zu seinem behaupteten Herkunftsstaat und seinem Vorbringen befragt und ihn mit entscheidungswesentlichen Fragen konfrontiert hat. Bei Betrachtung der gegenständlichen Niederschrift kann dieser Vorwurf bezüglich eines mangelhaft durchgeführten Ermittlungsverfahrens daher nicht nachvollzogen werden. Die Asylbehörde hat die materielle Wahrheit von Amts wegen zu erforschen. Hierbei kann oftmals nur auf eine genaue Befragung des Asylwerbers zurückgegriffen werden. Hinsichtlich der Fragestellung lassen sich aber keine Besonderheiten feststellen und bei genauer Betrachtung hinterlässt die Niederschrift den Eindruck, dass sie den konkreten Verlauf wiedergibt. Der Niederschrift ist weiters nicht zu entnehmen, dass der BF während der Einvernahme seine nunmehrige Beanstandung kundtat, was aber seiner Mitwirkungsverpflichtung entsprochen hätte. Zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass der BF nach erfolgter Rückübersetzung am Ende der Einvernahme vor dem BFA keine Korrekturen an der Niederschrift vornehmen ließ und ansonsten keine Einwendungen gegen die Niederschrift vorbrachte (AS 41 f). Des Weiteren bestätigte der BF, dass er den Dolmetscher einwandfrei verstanden habe (AS 40). Schließlich bejahte er am Ende der Einvernahme die Frage, ob er Gelegenheit gehabt habe, alles vorzubringen, was ihm wichtig erscheine (AS 41).
Der Beschwerdeführer wurde im Rahmen des Asylverfahrens umfassend niederschriftlich vom BFA einvernommen, wobei er in dieser Einvernahme die Gelegenheit hatte, sich zu seinen Verfolgungsgründen und Rückkehrbefürchtungen zu äußern. Das BFA beließ es dabei nicht bei offenen Fragen, sondern versuchte auch durch konkrete Fragestellung den Grund seiner Furcht und zu erwartende Rückkehrprobleme zu erhellen, was nach Ansicht der erkennenden Richterin auch hinreichend geschehen ist. Die Verpflichtung der Behörde zur amtswegigen Ermittlungspflicht geht nicht so weit, dass sie in jeder denkbaren Richtung Ermittlungen durchzuführen hätte, sondern sie besteht nur insoweit, als konkrete Anhaltspunkte aus den Akten (etwa das Vorbringen der Partei (VwSlg 13.227 A/1990) dazu Veranlassung geben (VwGH 4.4.2002, 2002/08/0221).
Die Behörde ist auch im Rahmen der Refoulementprüfung nur in dem Umfang zu amtswegigen Ermittlungen verhalten, in dem ein ausreichend konkretes, eine maßgebliche Bedrohung aufzeigendes Vorbringen erstattet wird, nicht aber zur Prüfung, ob die Partei denkbarerweise irgendwelchen Gefährdungen ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 19.11.2002, 2002/21/0185, 03.09.1997, 96/01/0474, 30.09.1997, 96/01/0205).
2.2.4.7. Soweit der Beschwerdeführer nun im Asylverfahren erstmals in der Beschwerde behauptet, an Veranstaltungen der HDP teilgenommen zu haben (AS 130, 134), so wird damit gegen das in § 20 BFA-VG normierte Neuerungsverbot verstoßen.
Diese Bestimmung lautet:
„(1) In einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur vorgebracht werden,1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat;2. wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war;3. wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren oder4. wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen.
(2) Über die Zulässigkeit des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweise muss nicht entschieden werden, wenn diese für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht maßgeblich sind.
(3) Abs. 1 ist auf Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundesamtes auf Grund eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß dem 7. Hauptstück des AsylG 2005 nicht anzuwenden.“
Das gegenständliche Verfahren hat keinen hinreichenden Anhaltspunkt für das Vorliegen eines der in § 20 Abs. 1 leg cit normierten Ausnahmetatbestände hervorgebracht und wurden solche auch in der Beschwerdeschrift nicht substantiiert dargetan. Dem Beschwerdeschriftsatz mangelt es an jedweder - nachvollziehbareren - Begründung für dieses neue Fluchtvorbringen. Eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, die ursächlich dafür ist, dass er dies nicht schon im Verfahren vor dem BFA hätte darlegen können, ist nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer hat einen Ausnahmetatbestand auch in seiner Beschwerde nicht substantiiert aufgezeigt. Es ist somit nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschwerdeführer dies nicht schon im Verfahren vor dem BFA hätte vorbringen können, wenn es den Tatsachen entsprechen würde, zumal er dazu speziell in der Einvernahme am 20.12.2023 ausreichend Gelegenheit hatte. Auf das in der Beschwerde erstmals neu vorgebrachte Vorbringen in Zusammenhang mit der Teilnahme an Veranstaltungen der HDP brauchte daher nicht näher eingegangen werden.
2.2.4.8. Im Ergebnis ist es dem Beschwerdeführer weder gelungen eine wesentliche Unschlüssigkeit der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung aufzuzeigen, noch ist er dieser im Rahmen der Anfechtungsbegründung in substantiierter Form entgegengetreten. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, dass der Beschwerdeführer entweder in begründeter Form eine maßgebliche Unrichtigkeit der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung dargetan oder Argumente vorgebracht hätte, die einerseits zu einer anderen Gewichtung oder Bewertung der verfahrensgegenständlichen Beweismittel führen würden oder aus denen andererseits im Rahmen der allgemeinen Denklogik eine Prävalenz des von ihm dargestellten Geschehnisablaufs gegenüber jenem von der Verwaltungsbehörde angenommenen hervorleuchtet, was im Ergebnis zu einer anders gelagerten Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des der weiteren rechtlichen Würdigung zugrunde zu legenden historisch-empirischen Sachverhalts führen würde.
2.2.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:
2.2.5.1. Die von der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Verfahren getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid bzw. Erkenntnis angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die belangte Behörde hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat) ergibt.
Bei Berücksichtigung der soeben angeführten Überlegungen hinsichtlich des Inhalts der Quellen unter Berücksichtigung der Natur der Quelle und der Intention derer Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin um ausreichend ausgewogenes Material.
Angesichts der erst kürzlich ergangenen Entscheidung der belangten Behörde, weisen die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit auf. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Der BF trat den Quellen und deren Kernaussagen zu den herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage in der Türkei weder im Zuge der Einvernahme noch in der Beschwerde substantiiert entgegen. Die maßgeblichen Länderinformationen, die die Behörde und daran anknüpfend die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts den Feststellungen als Beweismittel zugrunde gelegt hat, erscheinen schlüssig, richtig und vollständig. Die belangte Behörde brachte diese Länderinformationen in das Verfahren ein und räumte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme bezüglich des von ihm herangezogenen - aktuellen - Länderinformationsblatts zur Türkei ein. Der Beschwerdeführer verzichtete auf eine Stellungnahme (AS 40).
Auf die Ausführungen, die der Beschwerdeführer im Beschwerdeschriftsatz zur sogenannten „Güvenlik Köy Koruyuculari“ getroffen hat, und den diesbezüglich erfolgten Verweisen auf die allgemeinen Informationen auf der Internetplattform „Wikipedia“ und einen Bericht, wonach die Jugendlichen von dieser „zivilen Miliz“ gezwungen werden würden, als Spione für den Staat tätig zu werden (AS 133), ist nicht näher einzugehen, weil sie auf der Prämisse einer tatsächlichen Bedrohung und/oder Verfolgung durch diese Organisation bzw. deren Mitgliedern basieren. Dies liegt, wie das BFA und die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts ausführlich und unter umfassender Bedachtnahme auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers sowie die aktuelle Situation in der Türkei begründet haben, nicht vor.
Die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts hält zudem fest, dass eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen nur dann erforderlich ist, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da der Beschwerdeführer jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hatte, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers nicht geboten.
Die Situation im Herkunftsland hat sich auch seit der Erlassung des verwaltungsbehördlichen Bescheides im Februar 2024 in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert. Hierbei ist anzumerken, dass es sich bei der Türkei um einen Staat handelt, der zwar im Hinblick auf menschenrechtliche Standards Defizite aufweist, darüber hinaus aber nicht - etwa im Vergleich zu Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien u.v.a. - als Staat mit sich rasch ändernder Sicherheitslage auffällig wurde, sondern sich im Wesentlichen über die letzten Dekaden als relativ stabil erwiesen hat (vgl. dazu etwa VfGH 21.09.2017, Zl. E 1323/2017-24, VwGH 13.12.2016, Zl. 2016/20/0098).
2.2.5.2. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Behörde beziehungsweise das Verwaltungsgericht verpflichtet ist, sich aufgrund aktuellen Berichtsmaterials ein Bild über die Lage in den Herkunftsstaaten der Asylwerber zu verschaffen (vgl. VwGH 30.10.2020, Ra 2020/19/0298). In Ländern mit besonders hoher Berichtsdichte, wozu die Türkei zweifelsfrei zu zählen ist, liegt es in der Natur der Sache, dass die Behörde nicht sämtliches existierendes Quellenmaterial verwenden kann, da dies ins Uferlose ausarten würde und den Fortgang der Verfahren zum Erliegen bringen würde. Vielmehr wird den oa. Anforderungen schon dann entsprochen, wenn es einen repräsentativen Querschnitt des vorhandenen Quellenmaterials zur Entscheidungsfindung heranzieht (vgl. VwGH 11.11.2008, 2007/19/0279). Die der Entscheidung zu Grunde gelegten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers können somit zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, jedoch - entgegen den Ausführungen in der Beschwerde (AS 133, 135) - als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation des Beschwerdeführers in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann. Die vom BFA und dem Bundesverwaltungsgericht getroffene Auswahl des Quellenmaterials ist aus diesem Grunde daher ebenso wenig zu beanstanden.
Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.
2.2.6. Insoweit das Bundesamt den Grundsatz des Parteiengehörs gem. § 45 Abs. 3 AVG verletzt haben mag, so ist dazu wie folgt auszuführen: Auch wenn das BFA dem Beschwerdeführer das Parteiengehör versagt haben mag, ist gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 27.02.2003, Zl. 2000/18/0040) eine solche Verletzung des Parteiengehörs saniert, wenn im Bescheid die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens dargelegt werden und die Partei die Möglichkeit hat, in ihrer Beschwerde dagegen Stellung zu nehmen - Voraussetzung einer solchen Sanierung ist aber, dass in der verwaltungsbehördlichen Bescheidbegründung tatsächlich alle Beweisergebnisse dargelegt werden, da ansonsten die Berufungsbehörde [nunmehr: das Verwaltungsgericht] das Parteiengehör einräumen müsste (VwGH 10.09.2015, Ra 2015/09/0056). Diese Anforderungen an den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sind erfüllt, eine allfällige Verletzung des Parteiengehörs ist daher durch die Stellungnahmemöglichkeit in der Beschwerde als saniert anzusehen.
2.2.7. Der Beschwerdeführer beantragte in seiner Beschwerdeschrift eine mündliche Verhandlung bzw. persönliche Einvernahme. Hierbei wurde aber nicht angeführt, was bei einer weiteren - persönlichen Einvernahme im Asylverfahren - konkret an entscheidungsrelevantem und zu berücksichtigendem Sachverhalt noch hervorkommen hätte können. Das Vorbringen hinsichtlich der Alltagsprobleme wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe in Form schikanöser Behandlung wurde ohnehin dem Verfahren zugrunde gelegt und handelt es sich dabei um eine Rechtsfrage in Bezug auf die Asylrelevanz bzw. den Verfolgungsbegriff und keine Thematik der Beweiswürdigung. Das Fluchtvorbringen hinsichtlich der Bedrohung und/ oder Verfolgung durch türkische Spione bzw. die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf wurde aufgrund einer schlüssigen Beweiswürdigung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid als nicht glaubhaft qualifiziert und ist des Weiteren auf eine Alternativbegründung in Form des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative hinzuweisen, weshalb die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben konnte.
2.2.8. Der Beschwerdeschriftsatz enthält im Übrigen keine konkreten Ausführungen, die zu einer anders lautenden Entscheidung führen könnten und vermag daher die erkennende Richterin auch nicht zu weiteren Erhebungsschritten und insbesondere auch nicht zur Abhaltung einer mündlichen Verhandlung veranlassen, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu keinem anderen Verfahrensausgang geführt hätte.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit, Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung". Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069; VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 15.03.2015, Ra 2015/01/0069; VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472).
Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 09.04.1997, Zl. 95/01/055; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, Zl. 95/20/0239; VwGH 16.02.2000, Zl. 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 22.01.2021, Ra 2021/01/0003)
Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; jüngst VwGH 23.02.2021, Ra 2020/18/0500).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 28.04.2015, Ra 2014/19/0177; VwGH 12.06.2020, Ra 2019/18/0440); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183, VwGH 08.06.2000, 99/20/0203).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 18.11.2015; Ra 2015/18/0220; VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann weiters nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht (VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203, VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0291, VwGH 07.09.2000, Zl. 2000/01/0153, VwGH 20.05.2015, Ra 2015/20/0030; VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, ua.)
3.1.2. Im gegenständlichen Fall sind nach Ansicht der erkennenden Richterin die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund, nicht gegeben.
Der Beschwerdeführer vermochte nämlich keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen (vgl. Punkt 2 ff des gegenständlichen Erkenntnisses).
3.1.3. Selbst wenn man das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich einer individuell, gezielt gegen ihn gerichteten Verfolgung durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf für glaubhaft erachten würde und der rechtlichen Beurteilung zugrunde legt, konnte der Beschwerdeführer keine Umstände dartun, die die Annahme rechtfertigen würden, dass er in seinem Heimatstaat einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt sei, und konnten daher die von ihm geltend gemachten Fluchtgründe nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Es ist dem Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang nicht gelungen, eine gezielt und konkret gegen ihn gerichtete, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende, Asylrelevanz erreichende Verfolgung darzutun.
3.1.3.1. Demnach ist bezüglich des Vorbringens einer Bedrohung und/oder Verfolgung bei kurdischen Veranstaltungen durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative hinzuweisen, auch wenn eine solche Prüfung nur eine hypothetische darstellt, ohne hierdurch das Vorbringen des Beschwerdeführers bezüglich einer gezielten Verfolgung durch türkische Spione bzw. durch die Schützlinge/Dorfschützer in seinem Heimatdorf als glaubhaft qualifizieren zu wollen:
Sollte sich der Beschwerdeführer in seiner Heimatregion – in der Provinz Bingöl - unsicher fühlen, so stünde es ihm jederzeit frei seinen Wohnsitz in einen anderen Teil der Türkei (z.B. Istanbul) zu verlegen.
Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaats, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine so genannte innerstaatliche Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.03.1999, Zl. 98/01/0352). Nach der Rechtsprechung des VwGHs muss sich die Verfolgungsgefahr auf das gesamte Staatsgebiet beziehen. Nach einer in der älteren Rechtsprechung verwendeten Formulierung darf in keinem Teil des Herkunftsstaats Verfolgungssicherheit bestehen (VwGH 10.3.1993, Zl. 03/01/002). Nach der jüngeren Rechtsprechung ist mit dieser Formulierung jedoch nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, die Formulierung sei dahingehend zu verstehen, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeiten innerhalb des Herkunftsstaats - im gesamten Herkunftsstaat auswirken müsse (VwGH 9.11.2004, Zl 2003/01/0534; VwGH 24.11.2005, 2003/20/0109).
Nur im Hinblick auf nichtstaatliche Verfolgung ist das Bestehen einer innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht zu ziehen und ist von der Behörde stets zu prüfen, ob die verfolgende Organisation als mächtig eingestuft werden könne beziehungsweise ob eine lokale Begrenztheit des Wirkungskreises dieser Organisation angenommen werden könne (VwGH 15.05.2003, 2002/01/0560).
Um vom Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, müssen die Asylbehörden über Ermittlungsergebnisse verfügen, die die Sicherheit der Asylwerber dartun (vgl. etwa VwGH 8.9.1999, Zl. 99/01/0126; VwGH 16.2.2000, Zl 99/01/0149). Es muss konkret ausgeführt werden, wo der Beschwerdeführer tatsächlich Schutz vor der von ihm geltend gemachten Bedrohung finden könnte. Entsprechend dem „Ausschlusscharakter“ der internen Schutzalternative müsse es Sache der Behörde sein, die Existenz einer internen Schutzalternative aufzuzeigen und nicht umgekehrt Sache des Asylwerbers, die Annahme einer theoretisch möglichen derartigen Alternative zu widerlegen und nimmt der Verwaltungsgerichtshof mit dieser Rechtsprechung jedenfalls eine Beweislast der Asylbehörden an (VwGH 09.09.2003, 2002/01/0497 und 08.04.2003, 2002/01/0318 sowie zur Ermittlungspflicht VfGH 02.10.2001, B 2136/00).
Aufgrund des sich Versteckthaltens kann noch nicht von einer innerstaatlichen Fluchtalternative gesprochen werden (etwa VwGH 18.4.1996, Zl.95/20/0295; VwGH 20.3.1997, Zl 95/20/0606; in diesem Sinne ebenfalls VwGH 29.10.1998, Zl. 96/20/0069).
Ebenso darf der Betroffene im sicheren Landesteil nicht in eine aussichtslose Lage gelangen und jeglicher Existenzgrundlage beraubt werden. Solcherart wird dem Kriterium der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative Beachtung geschenkt (VwGH 8.9.1999, Zl. 98/01/0614, VwGH 6.10.1999, Zl. 98/01/0535, VwGH 8.6.2000, 99/20/0597; VwGH 19.10.2006, Zl. 2006/0297-6; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529; VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; VwGH 24.1.2008, Zl. 2006/19/0985-10). Auch wirtschaftliche Benach-teiligungen können asylrelevant sein (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529; VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; VwGH 08.11.2007, 2006/19/0341). Dem gegenüber seien gemäß ständiger Rechtsprechung allfällige aus der Situation des Asylwerbers ableitbare wirtschaftliche beziehungsweise soziale Benachteiligungen nicht geeignet, zu einer Verneinung der inländischen Fluchtalternative zu führen, zumal alleine in allgemeinen schlechten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen keine staatliche Verfolgung gesehen werden könne (VwGH 08.09.1999, 98/01/0620; VwGH 24.10.1996, 95/20/0321; VwGH 10.12.1996, 06/20/0753).
Maßgebliche Faktoren zur persönlichen Zumutbarkeit können das Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse, soziale und andere Schwächen, ethnische, kulturelle oder religiöse Überlegungen, politische und soziale Verbindungen und Vereinbarkeiten, Sprachkenntnisse, Bildungs-, Berufs- und Arbeitshintergrund und -möglichkeiten, sowie gegebenenfalls bereits erlittene Verfolgung und deren psychische Auswirkungen sein. Es wird jedoch die Ansicht vertreten, dass schlechte soziale und wirtschaftliche Bedingungen in dem betreffenden Landesteil die innerstaatliche Fluchtalternative nicht grundsätzliche ausschließen (siehe VwGH 8.9.1999, 98/01/0620; VwGH 26.6.1996, 95/20/0427). Ein bloßes Absinken des Lebensstandards durch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative, welches jedoch noch über dem Niveau der aussichtslosen Lage ist daher bei Bestehen einer Existenzgrundlage hinzunehmen.
In der Regel wird eine innerstaatliche Fluchtalternative für unbegleitete Minderjährige zu verneinen sein, weil es vielfach nicht legal möglich ist oder zumutbar wäre, ohne Eltern und gesetzlichen Vertreter in einem Teil des Landes den Wohnsitz zu nehmen, in dem der Minderjährige einer individuellen Verfolgung nicht ausgesetzt gewesen wäre (VwGH 26.06.1996, 95/20/0427). Im Falle der Annahme einer innerstaatliche Fluchtalternative müsse aber jedenfalls auf das Zumutbarkeitskalkül besonders Bedacht genommen werden und seien konkrete Feststellungen über die im Fall eines solchen Ortswechsels zu erwartende konkrete Lage des Minderjährigen zu treffen (VwGH 19.10.2006, 2006/19/0297).
Zu den bereits getroffenen Ausführungen kommt noch hinzu, dass das verfolgungssichere Gebiet eine gewisse Beständigkeit in dem Sinne aufweisen muss, dass der Betroffene nicht damit rechnen muss, jederzeit auch in diesem Gebiet wieder die Verfolgung, vor der er flüchtete, erwarten zu müssen (VwGH 21.3.2002, Zl. 99/20/0401, in diesem Sinne auch VwGH 19.2.2004, Zl. 2002/20/0075; VwGH 24.6.2004, Zl. 2001/20/0420).
Ebenso muss das sichere Gebiet für den Betroffenen erreichbar sein, ohne jenes Gebiet betreten zu müssen, in welchem er Verfolgung befürchtet bzw. muss im Rahmen der Refoulementprüfung feststehen, dass eine Abschiebung in dieses sichere Gebiet möglich ist (VwGH 26.6.1997, Zl.95/21/0294; in diesem Sinne auch VwGH 11.6.1997, Zl. 95/21/0908, 6.11.1998, Zl. 95/21/1121; VwGH 21.11.2002, 2000/20/0185; VwGH 10.6.1999, 95/21/0945, ähnlich VwGH 17.2.2000, 9718/0562).
Darüber hinaus muss es dem Asylsuchenden auch möglich sein, seine politischen oder religiösen Überzeugungen, sowie seine geschützten Merkmale beizubehalten (VwGH 19.12.2001, 98/20/0299).
Zum Wesen und den Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative siehe weiters: UNHCR, Richtlinie zum internationalen Schutz: „Interne Flucht- oder Neuansiedlungs- alternative“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 23.07.2003, HCR/GIP/03/04; Artikel 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, Amtsblatt der Europäischen Union L 304 vom 30.09.2004 (Qualifikations- oder Statusrichtlinie) und § 11 AsylG 2005 (bei der Prüfung des „internen Schutzes“ geht es nicht mehr um die Frage, ob im Zeitpunkt der Flucht innerhalb des Herkunftsstaates interne Schutzzonen als Alternative zur Flucht bestanden haben, sondern darum, ob im Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe a) der Richtlinie) derartige Zonen, also interne Schutzzonen, nicht mehr als Alternative zur Flucht, sondern als Alternative zum internationalen Schutz bestehen), sowie Herzog-Liebminger, Die innerstaatliche Fluchtalternative, 69 bis 114.
Aus den oa. Ausführungen ergibt sich im gegenständlichen Fall Folgendes:
Aus den länderkundlichen Feststellungen oben ergibt sich zweifelsfrei, dass der Beschwerdeführer im hypothetischen Fall einer Rückkehr nach Istanbul in der Türkei, nicht der Gefahr einer individuellen Verfolgung aus religiösen oder ethnischen Gründen, sei es ausgehend von staatlichen Organen oder von Dritten, oder allenfalls aus anderen Gründen ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer ist kein sog. "high-profile-target", das sich in einer so exponierten Lage befindet, dass es in der ganzen Türkei gefunden werden würde bzw. in der ganzen Türkei Verfolgung drohen würde. Dass seine Gegner in der ganzen Türkei enstprechende Kontakte und Möglichkeiten haben, hat der Beschwerdeführer jedenfalls nicht glaubhaft dargelegt, was sich auch daran zeigt, dass etwa die Eltern und ein Bruder weiterhin in seinem Elternhaus in Bingöl in der Türkei leben können und der BF nicht vorbrachte, dass diese Familienangehörigen einer Bedrohung oder Verfolgung - etwa im Rahmen von Nachforschungen - ausgesetzt seien. Der BF war auch in der Einvernahme vor dem BFA nicht in der Lage, näher zu begründen, weshalb es ihm nicht möglich gewesen wäre, seinen Wohnsitz zum Schutz vor seinen Gegnern nach Istanbul zu verlegen. Abgesehen vom Verweis auf dort erlittene einfache Diskriminierungen aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, wie des Zeigens des Wolfsgrußes gegenüber seiner Person, beschränkte sich der BF auf die Ausführungen, wonach er dort von seinen Gegnern telefonisch kontaktiert worden sei (AS 38), worin jedoch keine tatsächliche Ausfindigmachung seiner Person in Istanbul erblickt werden kann. Tatsächlich erweist sich die persönliche Ausfindigmachung des Beschwerdeführers am ausgewählten Ort der IFA als nur schwer möglich. Der erkennenden Richterin erschließt sich in keiner Weise, weshalb ein Leben in einer der vielen Großstädte seines Herkunftslandes, insbesondere in Istanbul, für ihn als jungen, gesunden, mobilen und arbeitsfähigen Mann unmöglich wäre, zumal er bei einer Rückkehr auf Rückkehrunterstützung und auf die Unterstützung vor Ort durch spezielle Programme, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen, für die erste Zeit nach seiner Ankunft zurückgreifen und sich zumindest einen Gelegenheitsjob besorgen könnte und so jedenfalls in der Lage wäre, für sein eigenes Auskommen zu sorgen.
Es wird zwar nicht verkannt, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative im Falle staatlicher Verfolgung grundsätzlich zu verneinen ist, im gegenständlichen Fall waren die vom Beschwerdeführer behaupteten persönlichen Kontakte/Drohungen/Handgreiflichkeiten durch die örtlichen Widersacher - falls man diese Gruppierung überhaupt als staatliche Verfolger qualifizieren sollte - aber stets auf seine Heimatregion beschränkt, weshalb - insbesondere auch mangels Exponiertheit des Beschwerdeführers und mangelndem staatlichen Interesse an der konkreten Person des Beschwerdeführers - eine solche bejaht werden kann. Landesweite Nachforschungen durch seine Widersacher führte er nicht ins Treffen.
Mag der Beschwerdeführer auch der kurdischen Volksgruppe angehören, so wurde nicht zuletzt aus den länderkundlichen Informationen des Bundesverwaltungsgerichts erkennbar, dass ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen ist. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Kurden in der Türkei sind zwar aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen indes von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Angehörige der Volksgruppe der Kurden werden auch nicht allein aufgrund ihrer Volksgrupppenzugehörigkeit verfolgt oder staatlichen Repressionen unterworfen.
Auch war zweifelsfrei feststellbar, dass dieses Gebiet für den Beschwerdeführer ohne wesentliche Schwierigkeiten auf direktem Wege erreichbar wäre. Die sichere Erreichbarkeit dieser Stadt ergibt sich aufgrund der Vielzahl der Einreisemöglichkeiten in die Türkei auf dem Land-, Wasser- und Luftweg. Auch Istanbul verfügt über eine vergleichsweise gute Infrastruktur mit dem Bestehen eines Flughafens, der für den zivilen Flugverkehr geeignet ist. Istanbul ist daher eine für Normalbürger über den Flughafen gut erreichbare Stadt. Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach Istanbul einzureisen, ohne jenes Gebiet betreten zu müssen, in dem er die befürchtete Verfolgung behauptet.
In der Türkei herrscht Reise- und Niederlassungsfreiheit. Der Beschwerdeführer kann daher aufgrund der bestehenden Reisefreiheit in der Türkei auch jederzeit seinen Wohnsitz nach Istanbul verlegen.
Dass die Millionenmetropole Istanbul für den BF ohne wesentliche Schwierigkeiten direkt erreichbar ist, wurde bereits in den vorhergehenden Absätzen geklärt.
Die für eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative ebenfalls geforderte Beständigkeit der im fraglichen Gebiet herrschenden Umstände, insbesondere auch hinsichtlich einer Verfolgungsfreiheit, war im Lichte der in den letzten Jahren in Istanbul im Wesentlichen unverändert gebliebenen Lage ebenso feststellbar. Die Sicherheitslage in Istanbul ist besser als in anderen Regionen. Istanbul liegt deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach nicht anzunehmen. Ferner geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass Istanbul überhaupt von Kampfhandlungen und/oder Ausgangssperren betroffen war. Es herrscht dort kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre. Weder stellt der Beschwerdeführer dort eine besonders exponierte Persönlichkeit dar, noch liegen Hinweise vor, dass sich die lokal begrenzte Verfolgung auf das gesamte Staatsgebiet erstreckt.
Dass der Beschwerdeführer in der genannten Stadt frei von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung leben kann, bedarf in Anbetracht der Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keiner weiteren Erörterung.
Etwaige entscheidungserhebliche, gesundheitliche Einschränkungen wurden vom Beschwerdeführer nicht dargetan.
Was die zu erwartenden generellen Lebensumstände im Falle einer Einreise in dieses Gebiet angeht, war aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen länderkundlichen Informationen und in Anbetracht der vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen zu gewinnen, dass die Möglichkeiten, sich in der Türkei eine Existenzgrundlage zu schaffen, sehr stark von den individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen und der körperlichen Verfassung abhängen und durch Unterstützung seitens Verwandter und Freunde deutlich erhöht werden können. Der Beschwerdeführer hat bislang bereits etwa zwei Jahre in Istanbul gelebt und verfügt dort über familiäre Anknüpfungspunkte. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der BF durch seine Familie mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaats und zwei dort gesprochenen Sprachen vertraut ist. Der Beschwerdeführer könnte zudem etwa auf die finanzielle Unterstützung durch seine sonstigen in der Türkei und in Europa lebenden Verwandten zurückgreifen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb seine Familienangehörigen nicht in der Lage sein sollten, ihn finanziell zu unterstützen. Insbesondere erschließt sich nicht, weshalb eine räumliche Trennung die Familienangehörigen des Beschwerdeführers außer Stande setzen sollte, ihn (finanziell) zu unterstützen. Der Beschwerdeführer verfügt daher in Istanbul über genügend Rückhalt in Form von (finanzieller) Unterstützung durch Familienangehörige. Deshalb ist nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt und eine Unterkunft zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte. Selbst wenn seine Familie nicht in der Lage wäre, ihn (finanziell) zu unterstützen, so wird es für unqualifizierte aber gesunde Menschen in der Regel möglich sein, sich durch Gelegenheitsjobs (im schlechtesten Falle als Lagerarbeiter, LKW-Beifahrer oder Tellerwäscher) ihren Lebensunterhalt zu sichern. Im Lichte dieser Ausführungen erscheint es dem Beschwerdeführer aufgrund der Feststellungen zu seiner Person vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage in der Türkei als Kurde möglich und zumutbar, dort seine dringendsten Lebensbedürfnisse auch in Istanbul zu decken und wird der Beschwerdeführer somit auch an diesem Orte über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügen. Die genannte Großstadt weist eine Einwohnerzahl von mehreren Millionen Personen auf, sodass von einem entsprechend dynamischen Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgegangen werden kann. Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen gesunden, mobilen, erwachsenen, arbeitsfähigen und anpassungsfähigen Mann, welcher seine Mobilität und seine Fähigkeit, sich auch in einer fremden Umgebung zurecht zu finden, bereits durch seine Reise nach Österreich unter Beweis stellte. Er könnte in Istanbul wiederum eine Beschäftigung, wie etwa als Lagerarbeiter, LKW-Beifahrer oder Tellerwäscher bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten, annehmen. Beim Beschwerdeführer handelt es sich nicht um eine vulnerable Person, sondern um eine solche, die auch durch Anbietung ihrer Arbeitskraft zu ihrem Lebensunterhalt beitragen kann, was der BF auch bereits vor seiner Ausreise durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter Beweis gestellt hat.
Auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Merkmale als Kurde ergibt sich aus dem zitierten Quellenmaterial, dass für Angehörige dieser Gruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative existent ist.
Im Lichte dieser Erwägungen war zur maßgeblichen Einschätzung zu gelangen, dass der Beschwerdeführer zwar bei einer Rückkehr in die betreffende Region mit gewissen Anfangsschwierigkeiten und mit Einschränkungen des Lebensstandards konfrontiert sein würde. Diese Einschränkungen des Lebensstandards erreichen jedoch aus Sicht des Gerichts nicht jenes Ausmaß, bei dem davon auszugehen wäre, dass diese Person Gefahr laufen würde in eine ausweglose Lage zu geraten. Alleine ein solches Risiko würde eine Inanspruchnahme der in Istanbul bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative für den Beschwerdeführer unzumutbar machen, was jedoch nach Abwägung aller relevanten Umstände zu verneinen war.
Trotz der teilweise als prekär zu bezeichnenden Sicherheitslage in der Türkei ist aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falls und unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat und eine Neuansiedlung in dem soeben erwähnten Gebiet im Hinblick auf die regional und innerhalb der Provinzen unterschiedliche Sicherheitslage nicht grundsätzlich ausgeschlossen und auf Grund der individuellen Situation des Beschwerdeführers insgesamt auch zumutbar. Zu allfälligen wirtschaftlichen Problemen bei einer Neuansiedlung in einem anderen Landesteil ist überdies darauf hinzuweisen, dass ein voraussichtlich niedrigerer Lebensstandard oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation kein ausreichender Grund sein kann, um ein vorgeschlagenes Gebiet als unzumutbar abzulehnen (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz – „Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, vom 23.07.2003).
3.1.4. Des Weiteren ist bezüglich einer Rückkehrgefährdung aufgrund des bloßen Interesses für die kurdischen Belange und der Sympathie für die Halkların Demokratik Partisi zur Vollständigkeit darauf zu verweisen, dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügt (vgl. VwGH 15.3.2016, Ra 2015/01/0069). Im Übrigen kann ausweislich der im Verfahren herangezogenen Erkenntnisquellen zur Lage in der Türkei nicht erkannt werden, dass bereits die bloße Sympathie für die kurdischen Belange und die HDP mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahr begründet und beispielsweise zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder gar zur Festnahme mit einer anschließenden Anklage wegen angeblich begangener terroristischer Straftaten führt. Die HDP ist ungeachtet der Repressalien gegen ihre leitenden Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker eine in der Türkei erlaubte politische Partei, die im türkischen Parlament und auch auf kommunaler Ebene vertreten ist. Selbst die Mitgliedschaft bei der HDP stellt demgemäß keine Straftat dar und ergibt sich aus den herangezogenen Quellen ebenso wenig eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuelle Gefährdung oder drohende strafrechtliche Verfolgung alleine aufgrund des bloßen Interesses für die kurdischen Belange und der Sympathie für die Halkların Demokratik Partisi. Die zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern und sind damit nicht geeignet, eine gegenwärtige individuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgung bloßer Sympathisanten der HDP in der Türkei darzutun. Entscheidungswesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass der Beschwerdeführer weder in leitender Stellung bei dieser Partei tätig war, noch deren Abgeordneter, Bürgermeister oder anderweitiger Funktionsträger war bzw. ist. Vielmehr kann in keiner Weise erkannt werden, dass sich der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise oder gar aktuell politisch exponiert(e). Dass andere Personen als leitende Funktionäre, Abgeordnete oder Kommunalpolitiker der HDP verstärkt von Strafverfolgung betroffen wären, lässt sich aus den vorliegenden Berichten nicht ableiten. Eine Verfolgung des Beschwerdeführers alleine aufgrund seiner Sympathie für die HDP ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Eine Verfolgung des Beschwerdeführers ist auf Basis der getroffenen Länderfeststellungen daher nicht maßgeblich wahrscheinlich. Eine asylrelevante Verfolgungsgefahr ist nämlich nur dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 24.11.1999, 99/01/0280).
3.1.5. Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Darüber hinaus leben mehrere Familienangehörige des Beschwerdeführers nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in der Provinz Bingöl, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb dem Beschwerdeführer aufgrund seiner kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen seine Eltern, zwei Brüder, vier Tanten väterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits, drei Tanten mütterlicherseits und drei Onkel mütterlicherseits nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Begegnung in der Türkei, ist der Beschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).
Was seine Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft eben nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die vom Beschwerdeführer thematisierten allgemeinen Schwierigkeiten (Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa während der Schulzeit oder des Erwerbslebens oder beim Verwenden der kurdischen Sprache) erfüllen dieses Kriterium nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist als Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Dass der Beschwerdeführer Opfer derart gravierender Diskriminierungen aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit wurde, hat er nicht substantiiert vorgebracht, zumal es keinesfalls einleuchtet, dass der BF nach derartigen Vorfällen jahrelang zuhause in der Provinz Bingöl oder in der Millionenmetropole Istanbul - und damit an Orten, an denen sich diese Vorfälle ereignet hatten - verharrte und erst später im Jahre 2022 tatsächlich ausreiste.
3.1.6. Auch das Vorliegen eines Nachfluchtgrunds ist im gegenständlichen Fall zu verneinen. Nach den getroffenen Feststellungen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass türkische Staatsangehörige, die aus dem Ausland in ihre Heimat zurückkehren, nunmehr asylrelevanten Verfolgungshandlungen beispielweise wegen ihrer illegalen Ausreise oder ihrer mehrjährigen Abwesenheit aus der Türkei ausgesetzt wären.
3.1.7. Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).
3.1.8. In einer Gesamtschau sämtlicher Umstände und mangels Vorliegens einer aktuellen Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA abzuweisen.
3.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei
3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hat die Behörde einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z1), wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine "reale Gefahr" einer Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben), Art 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 (Abschaffung der Todesstrafe) zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung nach § 7 zu verbinden (Abs 2 leg cit). Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht (Abs 3 leg cit).
Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).
Unter "realer Gefahr" ist in diesem Zusammenhang eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH 99/20/0573 v. 19.2.2004 mwN auf die Judikatur des EGMR. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller "Beweise" zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).
3.2.2. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Beweisverfahrens kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland einer existentiellen Gefährdung noch einer sonstigen Bedrohung ausgesetzt sein könnte, sodass die Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten würde. Eine Gefährdung durch staatliche Behörden bloß aufgrund des Faktums der Rückkehr ist nicht ersichtlich, auch keine sonstige allgemeine Gefährdungslage durch Dritte.
Der Beschwerdeführer hat weder eine lebensbedrohende Erkrankung noch einen sonstigen auf seine Person bezogenen "außergewöhnlichen Umstand" behauptet oder bescheinigt, der ein Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG darstellen könnte.
In der Türkei erfolgen weder grobe, massenhafte Menschenrechtsverletzungen unsanktioniert, noch ist nach den seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl getroffenen Feststellungen von einer völligen behördlichen Willkür auszugehen ist, weshalb auch kein "real Risk" (VwGH vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582; VwGH 09.04.2008, 2006/19/0354) einer unmenschlichen Behandlung festzustellen ist.
Da sich der Herkunftsstaat des Beschwerdeführers nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konflikts besteht.
Die Sicherheitslage in der Türkei ist zwar als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich indes nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Bingöl in Ostanatolien. Betreffend die Sicherheitslage in der Provinz Bingöl ist mit Blick auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 in der Türkei verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, ihres mutmaßlichen Ablegers [TAK], des sog. Islamischen Staates und im geringen Ausmaß der DHKP-C. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak können den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den angrenzenden türkischen Gebieten haben, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April 2022 die sog. Operation "Claw Lock"). Im Südosten der Türkei startete das Militär am 08.08.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.07.2015 bis 03.03.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht.
Vorab ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Millionenmetropole Istanbul, in welchem der Beschwerdeführer die letzten Jahre vor der Ausreise lebte, deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach – schon in Anbetracht seines Aufenthalts in Istanbul weit weg von den unsicheren Provinzen in der Osttürkei – nicht anzunehmen. Ferner brachte der Beschwerdeführer auch ansonsten nicht vor, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein bzw. geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass Istanbul überhaupt von Kampfhandlungen und/ oder Ausgangssperren betroffen war. Mehrere Familienangehörige, insbesondere seine Eltern und ein Bruder, leben wiederum weiterhin problemlos in seiner Heimatprovinz Bingöl, was unter anderem auch belegt, dass die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Spätsommer 2016 doch deutlich nachgelassen hat. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in Istanbul oder seiner Heimatprovinz Bingöl mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.
Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang abschließend auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137-14 zur Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, in welchem sich der VwGH mit der Frage einer Rückkehrgefährdung iSd Art. 3 EMRK aufgrund der bloßen allgemeinen Lage (hier: Irak), insbesondere wegen wiederkehrenden Anschlägen und zum anderen einer solchen wegen – kumulativ mit der allgemeinen Lage – zu berücksichtigenden individuellen Faktoren, befasst hat und die Revision gegen das Erkenntnis des BVwG als unbegründet abgewiesen wurde.
Es ist unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation (gesunder junger Mann mit sozialem Netz durch seine Familienangehörigen, Freunde und Bekannten, Sprachkenntnisse in Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch), mehrjährige Schulausbildung auf Maturaniveau sowie mehrjährige Berufserfahrung als Bauarbeiter und im IT-Bereich) nicht ersichtlich, warum dem Beschwerdeführer eine Existenzsicherung in der Türkei, auch an anderen Orten bzw. in anderen Landesteilen der Türkei, zumindest durch Gelegenheitsarbeiten, nicht möglich und zumutbar sein sollte. Es wäre dem Beschwerdeführer letztlich zumutbar, durch eigene und notfalls wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. ihn schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen - erforderlichenfalls unter Anbietung seiner gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung - jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können. Gründe, weshalb eine wirtschaftliche Absicherung des BF nicht gegeben wäre, sind weder den Angaben des BF vor der belangten Behörde noch dem vorliegenden Verwaltungsakt zu entnehmen.
Es gibt auch keine entsprechenden Hinweise darauf, dass eine existenzielle Bedrohung des Beschwerdeführers im Hinblick auf seine Versorgung und Sicherheit in der Türkei gegeben ist.
Im Fall des erwachsenen Beschwerdeführers kann bei einer Gesamtschau nicht davon ausgegangen werden, dass er im Fall einer Rückkehr in die Türkei gegenwärtig einer spürbar stärkeren, besonderen Gefährdung ausgesetzt wäre. Familienangehörige, Freunde und Bekannte des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Türkei und ist somit ein soziales Netz gegeben, in welches er bei seiner Rückkehr wieder Aufnahme finden wird. Es ist somit nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in der Türkei völlig allein und ohne jede soziale Unterstützung wäre. Es sind zudem keine Gründe ersichtlich, warum er als Erwachsener in der Türkei - wie bereits vor seiner Ausreise - nicht einer Erwerbstätigkeit nachgehen können sollte. Er ist in der Türkei aufgewachsen, hat dort die überwiegende Zeit seines Lebens verbracht, wurde dort sozialisiert und es kam nicht hervor, dass er in der Türkei keine familiären und privaten Anknüpfungspunkte mehr hat.
Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von 24 Monaten über monatlich 150 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 1.416 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 315 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 1.124 TL und 1.687 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 3.340 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag).
Das vor kurzem stattgefundene Erdbeben und die dabei entstandenen Schäden an Wohngebäuden und Infrastruktur stehen einer Rückkehr des BF in die Türkei ebenso wenig entgegen. Es handelt sich um keinen landesweiten Katastrophenzustand, der im gesamten Staatsgebiet der Türkei zu einer Gefährdungslage im Hinblick auf die Art. 2 und 3 EMRK führen
würde, sondern lediglich um ein lokal begrenztes Phänomen, wobei auf die große internationale Solidarität sowie das junge Alter und die Anpassungs- sowie Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers hingewiesen wird. Es wurde jedenfalls vom BF im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nicht konkret vorgebracht, dass es für diesen allein aus diesem Grund ausgeschlossen wäre, sich im Herkunftsstaat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Hingewiesen wird zudem darauf, dass sich der der BF zuletzt ohnehin mehrere Jahre in Istanbul aufgehalten hat, dort seinen Lebensunterhalt bestritten hat und ebenso dort wohnhaft war. Diese Möglichkeit stünde dem BF jedenfalls erneut offen, wie etwa auch seinen Wohnsitz überhaupt in einen anderen Landesteil der Türkei zu verlegen, zumal eine Unterkunftnahme in einem anderen Landesteil jedenfalls problemlos möglich ist, wenn auch gewisse Startschwierigkeiten (mit welchen sich jedoch jedermann in vergleichbarer Situation konfrontiert sähe) nicht ausgeschlossen werden können.
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen ansonsten nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhalts gem. Art. 2 und/ oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.
Aufgrund der Ausgestaltung des Strafrechts des Herkunftsstaats des Beschwerdeführers (die Todesstrafe wurde im Jahr 2004 abgeschafft) scheidet das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Art. 2 EMRK, oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe aus.
Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in wesentlichen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechts-verletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch, jeder der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthalts aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein. Ebenso betreffen die festgestellten Problemfelder zu einem erheblichen Teil Bereiche, von denen der Beschwerdeführer nicht betroffen ist.
Aus der sonstigen allgemeinen Lage im Herkunftsstaat kann ebenfalls bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Bestehen eines unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalts abgeleitet werden.
Weitere, in der Person des Beschwerdeführers begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.
Somit war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl als unbegründet abzuweisen.
3.3. Zur Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung (§ 57 AsylG sowie § 52 FPG):
3.3.1. Gemäß § 10. Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.
3.3.2. Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.3.2.1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit September 2022 im Bundesgebiet und sein Aufenthalt ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren vor dem BFA noch in der Beschwerde behauptet wurde.
3.3.3. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
3.3.3.1. Der Beschwerdeführer ist als türkischer Staatsangehöriger kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da mit der erfolgten Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
3.3.4. § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0037; VwGH 09.09.2021, Ra 2020/22/0174; vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0037 mwN; auch Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).
3.3.4.1. Der Beschwerdeführer hat - abgesehen von einem Onkel, der die östereichische Staatsangehörigkeit besitzt, und mehreren Cousins - keine Verwandten oder sonstige nahen Angehörigen in Österreich. Zum Verhältnis zu den Cousins wurden keine näheren Ausführungen getätigt. Ein aktueller gemeinsamer Haushalt mit dem Onkel liegt nicht vor. Was die vor der belangten Behörde angesprochene gelegentliche finanzielle Unterstützung durch seinen Onkel und den gelegentlichen persönlichen Kontakt zu dieser Person betrifft, so ist festzuhalten, dass diese Umstände keinen Ausdruck einer besonderen Verbundenheit darstellen. Vielmehr ist dies eine logische Folge, der verwandtschaftlichen Beziehung. Nach allgemeiner Lebenserfahrung versuchen erwachsene Verwandte, wie im gegenständlichen Fall Onkel und Neffe, in einer derartigen Situation, sich zu helfen. Gesamthaft betrachtet ist die Beziehung des Beschwerdeführers zu diesem in Österreich lebenden Onkel und den anderen in Europa und in der Türkei lebenden Onkeln und Tanten als relativ gleichwertig anzusehen, wobei anzumerken ist, dass derzeit zwangsläufig - auf Grund des örtlichen Naheverhältnisses - der Kontakt zu dem in Österreich lebenden Onkel intensiver ist. Hinsichtlich der Beziehung zu diesem Onkel finden sich ansonsten keine weiteren Anhaltspunkte, die für eine besondere Beziehungsintensität und emotionale Nähe sprechen.
Insofern eine Tante und ein Onkel des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik Deutschland leben, ist schon deshalb mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme keine Trennung von einer im Bundesgebiet zurückbleibenden Person verbunden, was eine Berücksichtigung der Beziehungen in der Interessenabwägung freilich nicht obsolet macht (vgl. VwGH 26.03.2015, 2013/22/0284). Zum Verhältnis zu diesen Personen wurden – abgesehen von der Erwähnung telefonischen Kontakts – ebenso wenig nähere Ausführungen getätigt. Der Beschwerdeführer legte nicht dar, dass es mit den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Verwandten beispielsweise zu Begegnungen bei gelegentlichen Besuchen kommt. Folglich liegt in Ansehung dieser Personen auch kein schützenswertes Familienleben im Sinn der zitieren Rechtsprechung vor.
Es ist daher im Ergebnis nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Österreich ein schützenswertes Familienleben führt, wobei die Klärung dieser Frage aber ohnehin dahingestellt bleiben kann, da vom Vorliegen eines Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich auszugehen ist, diese Beziehungen einen Aspekt des Privatlebens darstellen und die sodann vorzunehmende Interessenabwägung zwischen den Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich und den öffentlichen Interessen an einer Außerlandesschaffung beim Recht auf Privat- und beim Recht auf Familienleben im Übrigen gleich verläuft.
Sohin blieb zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf ein Privatleben in Österreich darstellt.
3.3.4.2. Im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts wurde in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert.
In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylweber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.
Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da - abseits familiärer Umstände - eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541).
Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191; VwGH 25.04.2018, Ra 2018/18/0187; vgl. auch VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN). Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN).
Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 10.04.2019 Ra 2019/18/0049, mwN). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 16.02.2021, Ra 2019/19/0212 sowie VwGH vom 19.03.2021, Ra 2019/19/0123, mwN). Allerdings nimmt das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN; dort auch zur Bedeutung einer Lehre iZm Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK).
Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013; vgl. zum unsicheren Aufenthaltsstatus auch die Entscheidungen des VwGH vom 27.06.2019, Ra 2019/14/0142, vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0015, vom 06.05.2020, Ra 2020/20/0093 vom 27.02.2020, Ra 2019/01/0471 und zuletzt vgl. VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0428).
Für den gegenständlichen Fall ergibt sich Folgendes:
Der Beschwerdeführer ist seit September 2022 in Österreich aufhältig. Der BF bezog von 23.09.2022 bis 15.11.2022 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und lebte von staatlicher Unterstützung. Im Zeitraum von 16.01.2023 bis 31.12.2023 ging der BF einer Beschäftigung als Arbeiter nach und zuletzt bezog er von 01.01.2024 bis 02.04.2024, von 04.04.2024 bis 14.04.2024, am 16.04.2024 und von 19.04.2024 bis 24.04.2024 Arbeitslosengeld. Der BF ist gegenwärtig nicht legal erwerbstätig. Die bisherige Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers beträgt erst rund 20 Monate, womit diese zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweifelsfrei noch zu kurz ist, um bereits jetzt von einer außergewöhnlichen schützenswerten dauernden Integration zu sprechen. In Anbetracht des Umstands, dass der Antrag auf internationalen Schutz unbegründet ist, er versuchte diesen mit einem nicht glaubhaften Sachverhalt zu begründen und der Beschwerdeführer zur Antragstellung illegal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist war, sind gravierende öffentliche Interessen festzustellen, die für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung sprechen. Diese Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit das private Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib, selbst wenn er im Bundesgebiet und in der Bundesrepublik Deutschland über Familienangehörige und soziale Kontakte verfügt, er von 16.01.2023 bis 31.12.2023 einer Beschäftigung als Arbeiter nachging und er sein zukünftiges Leben hier gestalten will. Private und familiäre Interessen von Fremden am Verbleib im Gastland sind jedenfalls weniger stark zu gewichten, wenn diese während eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz begründet werden, da der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt nicht von vornherein von einem positiven Ausgang des Verfahrens ausgehen konnte und sein Status bis zum Abschluss des Verfahrens ungewiss ist. Auch nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bewirkt in Fällen, in denen das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art. 8 EMRK (vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055 mwN). Der Beschwerdeführer reiste im September 2022 in das Bundesgebiet ein und am 14.02.2024 erging im Verfahren des BF der - abweisende - Bescheid des BFA. Der Beschwerdeführer durfte daher gemäß der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach der erstinstanzlichen Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz rund 17 Monate nach seiner Einreise seinen zukünftigen Aufenthalt nicht mehr als gesichert betrachten und nicht mehr darauf vertrauen, in Zukunft in Österreich verbleiben zu können (vgl. VwGH 29.04.2010, 2010/21/0085).
Der Beschwerdeführer befindet sich hier noch in keiner Lebensgemeinschaft und hat abgesehen von einem Onkel und mehreren Cousins keine Verwandten in Österreich.
Der BF besitzt einen normalen Freundes- und Bekanntenkreis und geht üblichen Freizeitaktivitäten nach. Unterstützungsschreiben konnte der Beschwerdeführer nicht vorlegen. Es bestehen keine über übliche Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse hinausgehende innige Verhältnisse, geschweige denn Abhängigkeitsverhältnisse. Diese Bekanntschaften und Freundschaften sind jedenfalls erst während des unsicheren Aufenthalts entstanden und macht er hiermit keine Umstände geltend, die seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet maßgeblich verstärken könnten (vgl. etwa das Erkenntnis des VwGH vom 26. November 2009, Zl. 2007/18/0311).
Bezüglich der privaten Bindungen (Verwandte und Freundes-/Bekanntenkreis) in Österreich ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wäre, den Kontakt zu den betreffenden in Österreich lebenden Personen gänzlich abzubrechen. Es steht ihm insbesondere frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0235). Ebenso wäre dem Beschwerdeführer im Falle der Aufenthaltsbeendigung auf diese Weise die Aufrechterhaltung des Kontakts zu den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Verwandten möglich. Der Vollständigkeit halber weist das Bundesverwaltungsgericht auch darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer generell freisteht, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen, zumal gegen ihn kein Einreiseverbot besteht (vgl. die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs VwGH 22.01.2013, 2012/18/0201, 29.06.2017, Ro 2016/21/0007, 17.03.2016, Ro 2016/21/0007, und insbesondere 30.07.2015, Ra 2014/22/0131, sowie § 11 Abs. 1 Z 3 NAG und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa nach der Verordnung (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) und nach dem FPG).
Der Beschwerdeführer hat sich in der Zeit, in der er sich im Bundesgebiet aufhält, ansonsten auch nicht nennenswert integriert. Diese Schlussfolgerung ist insbesondere angesichts der allenfalls einfachen Deutschkenntnisse und der Tatsache, dass er bislang nie einen Deutschkurs besucht oder eine Deutschprüfung abgelegt hat, der fehlenden Mitgliedschaft in hiesigen Organisationen und Vereinen und den relativ wenig ausgeprägten privaten Beziehungen zu österreichischen Staatsangehörigen und in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigten Personen zu ziehen. Unterstützungsschreiben konnte der Beschwerdeführer nicht vorlegen. Ferner hat der Beschwerdeführer während seines gesamten Aufenthalts keine gemeinnützige oder ehrenamtliche Arbeit geleistet. Schließlich geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass selbst die perfekte Beherrschung der deutschen Sprache sowie eine vielfältige soziale Vernetzung und Integration noch keine über das übliche Maß hinausgehende Integrationsmerkmale bedeuten (vgl. VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029).
Der Beschwerdeführer war von 16.01.2023 bis 31.12.2023 in einem Unternehmen für Fenster, Türen und Fassadenelementen aus Holz, Kunststoff und Aluminium erwerbstätig. Aber auch der Umstand, dass der BF für etwa ein Jahr versuchte, seinen Lebensunterhalt in Österreich durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu bestreiten, kann seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht maßgeblich verstärken (vgl. VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.06.2010, 2010/18/0226). Im Übrigen hat der Beschwerdeführer bisher auch keine besondere Ausbildung oder Berufsausbildung in Österreich genossen. Zwar kommt dieser Tätigkeit des BF im Rahmen der Interessensabwägung eine gewisse Bedeutung zu, dieser Umstand ändert jedoch nichts daran, dass sich der BF während der Aufnahme dieser Tätigkeit seines unsicheren Aufenthalts in Österreich bewusst sein musste und er aktuell keiner Beschäftigung mehr nachgeht. Zudem bezog er von 23.09.2022 bis 15.11.2022 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und von 01.01.2024 bis 02.04.2024, von 04.04.2024 bis 14.04.2024, am 16.04.2024 und von 19.04.2024 bis 24.04.2024 Arbeitslosengeld. Insofern fällt seine Erwerbstätigkeit - insbesondere auch in Verbindung mit seinen allenfalls einfachen Deutschkenntnissen und seinen sonstigen fehlenden Integrationsbemühungen - bei der gegenständlichen Abwägungsentscheidung nicht besonders stark ins Gewicht.
Diesbezüglich ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, dass der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612 und VwGH 29.06.2010, 2010/18/0195 jeweils mit weiteren Nachweisen).
Der persönliche und familiäre Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers liegt in der Türkei, wo seine engsten Familienangehörigen, Bekannten und Freunde leben und er somit über ein soziales Netz verfügt, zumal der BF in Bezug auf sein Lebensalter erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich aufhältig ist und kann auch aufgrund der nicht übermäßig langen Abwesenheit (etwa 20 Monate) aus seinem Heimatland Türkei nicht davon ausgegangen werden, dass bereits eine völlige Entwurzelung vom Herkunftsland stattgefunden hat und somit bestehen nach wie vor Bindungen des BF zur Türkei.
Der Umstand, dass der Beschwerdeführer in Österreich nicht straffällig geworden ist, bewirkt keine Erhöhung des Gewichts der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel und die Begehung von Straftaten eigene Gründe für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellen (VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).
Letztlich ist die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthalts der beschwerdeführenden Partei in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu verneinen, zumal sich der BF im gegenständlichen Verfahren erst seit etwa 20 Monaten in Österreich befindet. Zwischen der Antragstellung durch den Beschwerdeführer und der gegenständlichen Entscheidung durch die belangte Behörde liegen rund 17 Monate. Von der Vorlage der Beschwerde bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vergingen rund zwei Monate.
Auch der Verfassungsgerichtshof erblickte in einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen kosovarischen (ehemaligen) Asylwerber keine Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl dieser im Laufe seines rund achtjährigen Aufenthaltes seine Integration u.a. durch gute Kenntnisse der deutschen Sprache, Besuch von Volkshochschulkursen in den Fachbereichen Rechnen, Computer, Deutsch, Englisch, Engagement in einem kirchlichen Verein, erfolgreiche Kursbesuche des Ausbildungszentrums des Wiener Roten Kreuzes und ehrenamtliche Mitarbeit beim Österreichischen Roten Kreuz sowie durch die Vorlage einer bedingten Einstellungszusage eines Bauunternehmers unter Beweis stellen konnte (VfGH 22.09.2011, U 1782/11-3, vgl. ähnlich auch VfGH 26.09.2011, U 1796/11-3).
Das Bundesverwaltungsgericht kann aber auch keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr des Beschwerdeführers erkennen: Der Beschwerdeführer beherrscht nach wie vor die Sprachen Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch), sodass auch seine Resozialisierung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an keiner Sprachbarriere scheitert und von diesem Gesichtspunkt her möglich ist. Im Hinblick auf den Umstand, dass der erwachsene Beschwerdeführer den überwiegenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat verbracht hat, ist davon auszugehen, dass anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat bestehen, zumal dort seine engsten Familienangehörigen, Freunde und Bekannten leben. Insoweit kann - insbesondere aufgrund der erst kurzen Abwesenheit (etwa 20 Monate) aus seinem Heimatland Türkei - nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer seinem Kulturkreis völlig entrückt wäre und sich in seiner Heimat überhaupt nicht mehr zurecht finden würde, zumal der BF vor seiner Ausreise auch als Bauarbeiter und im IT-Bereich tätig gewesen ist. Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz in der Türkei - letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlands ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0076; jüngst VwGH 07.07.2021, Ra 2021/18/0167). Zur Resozialisierung im Heimatland hat der Verwaltungsgerichtshof wie folgt festgestellt: Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in mehreren (mit dem vorliegenden vergleichbaren) Fällen zum Ausdruck gebracht, die von Fremden geltend gemachten Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern seien vielmehr - letztlich auch als Folge des seinerzeitigen, ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen.
Würde sich darüber hinaus ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Überdies würde dies dazu führen, dass Fremde, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten oder sogar rechtsmissbräuchlichen Asylantrags erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. dazu auch das Erkenntnis VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass "eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde.").
Angesichts der - somit in ihrem Gewicht erheblich geminderten - Gesamtinteressen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf (vgl. dazu im Allgemeinen und zur Gewichtung der maßgeblichen Kriterien VfGH 29.09.2007, B 1150/07).
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Die Verfügung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und erscheint auch nicht unverhältnismäßig.
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt somit, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.
3.3.5. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.3.5.1. Die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat ist gegeben, da nach den die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.
3.3.6. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
3.3.6.1. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.
4. Entfall einer mündlichen Verhandlung
Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben.
Der Verwaltungsgerichtshof (Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017 und 0018) hielt in diesem Zusammenhang fest, dass sich die bisher zu § 67d AVG ergangene Rechtsprechung auf das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten erster Instanz insoweit übertragen lässt, als sich die diesbezüglichen Vorschriften weder geändert haben noch aus systematischen Gründen sich eine geänderte Betrachtungsweise als geboten darstellt.
Die in § 24 Abs. 4 VwGVG getroffene Anordnung kann nach dessen Wortlaut nur zur Anwendung gelangen, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist. Schon deswegen kann - entgegen den Materialien - nicht davon ausgegangen werden, diese Bestimmung entspräche (zur Gänze) der Vorgängerbestimmung des § 67d Abs. 4 AVG. Zudem war letztgenannte Norm nur auf jene Fälle anwendbar, in denen ein verfahrensrechtlicher Bescheid zu erlassen war. Eine derartige Einschränkung enthält § 24 Abs. 4 VwGVG nicht (mehr).
Für den Anwendungsbereich der vom BFA-VG 2014 erfassten Verfahren enthält § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 eigene Regelungen, wann - auch: trotz Vorliegens eines Antrags - von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann. Lediglich "im Übrigen" sollen die Regelungen des § 24 VwGVG anwendbar bleiben. Somit ist bei der Beurteilung, ob in vom BFA-VG erfassten Verfahren von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann, neben § 24 Abs. 1 bis 3 und 5 VwGVG in seinem Anwendungsbereich allein die Bestimmung des § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014, nicht aber die bloß als subsidiär anwendbar ausgestaltete Norm des § 24 Abs 4 VwGVG, als maßgeblich heranzuziehen.
Mit Blick darauf, dass der Gesetzgeber im Zuge der Schaffung des § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 vom bisherigen Verständnis gleichlautender Vorläuferbestimmungen ausgegangen ist, sich aber die Rechtsprechung auch bereits damit auseinandergesetzt hat, dass sich jener Rechtsrahmen, in dessen Kontext die hier fragliche Vorschrift eingebettet ist, gegenüber jenem, als sie ursprünglich geschaffen wurde, in maßgeblicher Weise verändert hat, geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich sind:
der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und
bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen
die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und
das BVwG diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen
in der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht bleibt wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.
Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das BFA vorangegangen. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben sich aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr wurde im Verfahren den Grundsätzen der Amtswegigkeit, der freien Beweiswürdigung und der Erforschung der materiellen Wahrheit entsprochen. Eine Verletzung des Rechts auf Parteiengehör ist durch die Stellungnahmemöglichkeit in der Beschwerde als saniert anzusehen. Der Sachverhalt wurde daher nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung des BFA festgestellt.
Im gegenständlichen Fall hat das Bundesverwaltungsgericht keinerlei neue Beweismittel beigeschafft und sich für seine Feststellungen über die Person des Beschwerdeführers und zur Lage in der Türkei auf jene des angefochtenen Bescheides gestützt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes löst das Aufzeigen weiterer, von der Verwaltungsbehörde nicht aufgegriffener und somit erstmals thematisierter Aspekte die Verhandlungspflicht nur dann aus, wenn damit die tragenden verwaltungsbehördlichen Erwägungen nicht bloß unwesentlich ergänzt werden (vgl. VwGH 26.07.2022, Ra 2022/20/0146, mwN). Wie dargelegt, wurde den Argumenten im angefochtenen Bescheid nicht substantiiert entgegengetreten und es wurde auch in der Beschwerde kein konkretes Vorbringen hinsichtlich eines potentiell asylrelevanten Sachverhaltes erstattet.
Das BFA hat die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt und das Bundesverwaltungsgericht teilt die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung (vgl. diesbezüglich die auch unter Punkt 2.2.4. wiedergegebene Argumentation des BFA).
Die Beschwerde ist der Richtigkeit dieser Feststellungen und der zutreffenden Beweiswürdigung der Behörde nicht substantiiert entgegengetreten (VwGH vom 20.12.2016, Ra 2016/01/0102) und hat keine neuen Tatsachen vorgebracht.
Die Beschwerde hat die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zwar beantragt, aber es nicht konkret aufzuzeigen unternommen, dass eine solche Notwendigkeit im vorliegenden Fall bestehen würde (vgl. etwa VwGH 04.12.2017, Ra 2017/19/0316-14).
Bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts weist die Entscheidung des BFA vom 01.02.2024 immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit auf.
Was das Vorbringen des BF in der Beschwerde betrifft, so findet sich in dieser kein neues bzw. ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen hinsichtlich allfälliger sonstiger Fluchtgründe. Auch tritt der BF in der Beschwerde den seitens der belangten Behörde getätigten beweiswürdigenden Ausführungen nicht in ausreichend konkreter Weise entgegen.
Nach Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (in der Folge als Charta bezeichnet) hat zwar jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Die in § 21 Abs. 7 BFA-VG vorgesehene Einschränkung der Verhandlungspflicht iSd des Art. 52 Abs. 1 der Charta ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts allerdings zulässig, weil sie eben - wie in der Charta normiert - gesetzlich vorgesehen ist und den Wesensgehalt des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Rechts achtet. Die möglichst rasche Entscheidung über Asylanträge ist ein Ziel der Union, dem ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. etwa Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes). Das Unterbleiben der Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt festgestellt werden kann, ohne dass der Entfall der mündlichen Erörterung zu einer Verminderung der Qualität der zu treffenden Entscheidung führt, trägt zur Erreichung dieses Zieles bei. Damit erfüllt die in § 21 Abs. 7 BFA-VG vorgesehene Einschränkung auch die im letzten Satz des Art. 52 Abs. 1 der Charta normierte Voraussetzung (vgl. dazu zur im Ergebnis inhaltsgleichen Vorgängerbestimmung des § 21 Abs. 7 BFA-VG, nämlich § 41 Abs. 7 AsylG 2005, auch VfGH 27.09. 2011, U 1339/11-3). Daher ist auch aus europarechtlicher Sicht eine Verhandlung im Asylverfahren nicht zwingend vorgesehen.
Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das ausreisekausale Vorbringen des Beschwerdeführers selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung unter Verweis auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative als nicht asylrelevant zu qualifizieren wäre und die getroffenen Feststellungen auf den Angaben des Beschwerdeführers selbst sowie auf den in das Verfahren einbezogenen Länderberichten, denen der Beschwerdeführer auch nicht substantiiert entgegengetreten ist, basieren, hat sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keine Notwendigkeit ergeben, den als geklärt erscheinenden Sachverhalt mit dem Beschwerdeführer im Rahmen einer Verhandlung neuerlich zu erörtern. Im Ergebnis bestand daher kein Anlass für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, wobei im Übrigen darauf hinzuweisen ist, dass auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zu keinem anderen Verfahrensausgang geführt hätte.
Letztlich ist auch nochmals auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.06.2014, Zl. Ra 2014/20/0002-7 hinzuweisen, in welchem dieser auch explizit festhält, dass, insoweit das Erstgericht die die Beweiswürdigung tragenden Argumente der Verwaltungsbehörde teilt, das im Rahmen der Beweiswürdigung ergänzende Anführen weiterer - das Gesamtbild nur abrundenden, aber nicht für die Beurteilung ausschlaggebenden - Gründe, nicht dazu führt, dass die im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 28.05.2014, Zlen. Ra 2014/20/0017 und 0018 dargestellten Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung der Verhandlung gemäß dem ersten Tatbestand des § 21 Abs. 7 BFA-VG nicht erfüllt sind (zur aktuelleren Judikatur in Bezug auf die Thematik der Unterlassung der Verhandlungspflicht siehe etwa VwGH vom 20.12.2016, Ra 2016/01/0102, VwGH vom 04.12.2017, Ra 2017/19/0316-14, VwGH vom 26.07.2022, Ra 2022/20/0146, VwGH vom 11.07.2023, Ra 2023/20/0285, mwN, VwGH vom 24.01.2024, Ra 2023/20/0186-12 sowie VwGH vom 10.05.2024, Ra 2024/01/0146-7).
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht vertritt, dass im Falle einer tragfähigen Alternativbegründung bzw. dem Verweis auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative, das Revisionsvorbringen hinsichtlich der festgestellten Unglaubwürdigkeit und dem Erfordernis der Verhandlungspflicht nicht von Relevanz sein kann (vgl. etwa die aktuellen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.11.2016, Ra 2016/20/0245-5, vom 28.10.2016, Ra 2016/20/0235-5, im weiteren Sinne vom 22.06.2017, Ra 2017/20/0052-8, vom 25.04.2018, Ra 2017/18/0311, vom 07.05.2018, Ra 2018/18/0088-7 sowie vom 23.04.2024, Ra 2024/18/0187-7)
Zu B) Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab (vgl. die unter Punkt 2. bis 4. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, dem Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben, abgeht. Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
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