BVwG W247 2263763-1

BVwGW247 2263763-114.4.2023

AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
IntG §10 Abs2 Z5
VwGVG §28

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W247.2263763.1.00

 

Spruch:

 

W247 2263697-1/16E

W247 2263763-1/22E

W247 2263764-1/25E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. am XXXX und 2.) XXXX , geb. am XXXX , beide StA. Russische Föderation und 1.) vertreten durch XXXX , 2.) vertreten durch die XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl vom 27.10.2022 1.) Zl. XXXX und 2.) XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.03.2023, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides von XXXX wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser lautet: „Der Ihnen mit Bescheid vom 20.12.2006, Zl. XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005, BGBl Nr. 100/2005, idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 wird festgestellt, dass Ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt“.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides von XXXX wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser lautet: „Der Ihnen mit Bescheid vom 06.06.2012, Zl. XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005, BGBl Nr. 100/2005, idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 wird festgestellt, dass Ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt“.

III. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. und III. werden gemäß §§ 8 Abs. 1 Z 2 und 57 Asylgesetz 2005, BGBl Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

IV. In Erledigung der Beschwerden hinsichtlich der Spruchpunkte IV. der angefochtenen Bescheide, wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, idgF., auf Dauer unzulässig ist.

V. Gemäß §§ 54 und 55 Abs. 2 iVm 58 Abs. 2 AsylG 2005, BGBl. Nr. 100/2005, idgF., wird 1.) XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

VI. Gemäß §§ 54 und 55 Abs. 1 iVm 58 Abs. 2 AsylG 2005, BGBl. Nr. 100/2005, idgF., iVm § 10 Abs. 2 Z 5 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, idgF., wird 2.) XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

VII. Die Spruchpunkte V. und VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von 3.) XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.10.2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.03.2023, zu Recht:

 

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser lautet: „Der Ihnen mit Bescheid vom 20.10.2005, Zl. XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005, BGBl Nr. 100/2005, idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 wird festgestellt, dass Ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt“.

II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VI. wird gemäß §§ 8 Abs. 1 Z 2, 10 Abs. 1 Z 4 und 57 Asylgesetz 2005, BGBl Nr. 100/2005, idgF., § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012, idgF., und §§ 52, 55 Abs. 1 bis 3 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., als unbegründet abgewiesen.

III. Der Beschwerden gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass dieser lautet: „Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Absatz 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., wird gegen Sie ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen“.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

Entscheidungsgründe:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) ist der Vater des volljährigen Zweitbeschwerdeführers (BF2). Der Drittbeschwerdeführer (BF3) ist der Bruder des BF1. Die BF1-BF3 sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe, sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zugehörig.

I. Verfahrensgang:

1. Der BF3 reiste am 20.09.2005 als Minderjähriger gemeinsam mit seiner Mutter und einem weiteren minderjährigen Bruder rechtmäßig im Rahmen einer Familienzusammenführung von Polen legal nach Österreich ein und stellte die Mutter des BF3 für diesen als gesetzliche Vertreterin am 20.09.2005 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Die Mutter des BF3 wurde am 26.09.2005 vor dem ehemaligen Bundesasylamt im Beisein eines ihr einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH niederschriftlich einvernommen, wobei sie angab, bereits in Polen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben. Ebendort habe sie jedoch einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihrem in Österreich lebenden Ehemann gestellt. Diesem sei entsprochen worden, weshalb die Mutter des BF3 mit ihren beiden minderjährigen Söhnen nach Österreich reisen habe dürfen. Nur ihr volljähriger Sohn habe in Polen bleiben müssen.

Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die Mutter des BF3 an, mit ihren Söhnen wegen der Probleme ihres Ehemannes von zu Hause (Anm.: Tschetschenien) fortgegangen zu sein. XXXX hätten sie dann verlassen, als sie erfahren hätten, dass ihr Ehemann in Österreich lebe. Die Mutter des BF3 und ihre Söhne seien nie bedroht oder attackiert worden.

3. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.10.2005, Zl. XXXX , wurde dem Antrag des BF3 auf internationalen Schutz gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und diesem in Österreich Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG wurde festgestellt, dass dem BF3 kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Vater des BF3 mit rechtskräftigem Bescheid vom 06.05.2004 gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt worden sei und gegenständlich ein Familienverfahren vorliege.

4. Der zum damaligen Zeitpunkt bereits volljährige BF1 reiste zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt, spätestens am 13.11.2005, unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an ebendiesem ebenfalls Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

5. Am 23.11.2005 wurde der BF1 vor dem ehemaligen Bundesasylamt, im Beisein eines ihm einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH niederschriftlich einvernommen, wobei er zu seinen Fluchtgründen befragt angab, im November 2001 von maskierten Männern mitgenommen worden zu sein. Der BF1 sei 8 oder 9 Tage festgehalten und geschlagen worden. Die Männer hätten gewollt, dass sich der Vater des BF1 stelle, weil er gesucht worden sei. Wo sich sein Vater stellen sollte, wisse der BF1 nicht und habe er nicht verraten, wo sich sein Vater befinde. Auch wo der BF1 festgehalten worden sei, wisse er nicht, er sei am Rande eines Dorfes rausgeschmissen worden. Danach habe der BF1 mit seiner Familie in XXXX gelebt.

6. Am 28.11.2005 wurde der BF neuerlich vor dem ehemaligen Bundesasylamt, im Beisein eines ihm einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH niederschriftlich einvernommen, wobei dem BF lediglich Gelegenheit gegeben wurde zur Dublin Zuständigkeit Polens Stellung zu nehmen.

7. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 06.12.2005, Zl. XXXX wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 1997 als unzulässig zurückgewiesen. Für die Prüfung des Antrags wurde Polen zuständig erklärt. Der BF1 wurde gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des ehemaligen Unabhängigen Bundesasylsenats (UBAS) vom 16.02.2006, Zl. XXXX , stattgegeben, der Antrag des BF1 auf internationalen Schutz zugelassen, der bekämpfte Bescheid behoben und der Antrag zur Durchführung eines materiellen Asylverfahrens an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

8. Am 06.04.2006 wurde der BF1 neuerlich vor dem ehemaligen Bundesasylamt im Beisein eines ihm einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der BF1 zunächst an, dass ein Verwandter vs. jemanden getötet habe, wobei der BF1 nicht genau wisse, wie das passiert sei. Aus diesem Grund bestehe für die gesamte Familie eine von der Familie des Getöteten ausgehende Gefahr. Den Familiennamen des Getöteten kenne der BF1 nicht und habe er selbst nichts gesehen. Er habe nur die Alten der Familie davon reden hören und sei der Vorfall schon lange her. Der BF1 gab zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass sein Vater als Grenzwachebeamter zwischen Tschetschenien und Dagestan gearbeitet habe. Wegen seines Vaters habe der BF1 nicht in Tschetschenien bleiben können, weil dieser im ersten Krieg gekämpft habe und während seines Dienstes an der Grenze viele Verbrecher gefangen habe. Der BF1 sei Anfang November 2001 von 4 unbekannten Maskierten festgenommen und an einen unbekannten Ort gebracht worden. Dort sei der BF1 ca. 8 oder 9 Tage festgehalten worden. Sie hätten wissen wollen, wo sich der Vater des BF1 befinde. Sie hätten gewusst, dass der Vater des BF1 verwundet gewesen sei und hätte der BF1 verraten sollen, wo sein Vater sei. Der BF1 habe nicht gewusst, wo sein Vater gewesen sei, weil dieser ihr zu Hause schon verlassen habe, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Der BF1 sei von den Unbekannten geschlagen worden. Er habe von den Schlägen zwar keine Spuren, doch habe der BF1 seitdem Albträume. Der BF1 habe auch mit einem Psychologen gesprochen und bekomme ein Medikament. Die Männer seien immer maskiert gewesen und seien jeden Tag gekommen, um den BF1 zu befragen. Sie hätten gesagt, dass sie den BF1 umbringen würden, wenn er ihnen nicht sage, wo sein Vater sei. Wenn der BF1 es ihnen sage, würde er freigelassen. Sie hätten den BF1 bei der Befragung immer wieder geschlagen und mit Füßen getreten. Der BF1 habe nicht gewusst, wer diese Männer seien. Nach ca. 9 Tagen sei der BF1 kommentarlos am Ortsrand seines Heimatdorfes freigelassen worden und sei er nach Hause gegangen. Ende 2001 sei der BF1 mit seiner Mutter, seinen 2 Brüdern und seiner Schwester nach XXXX zu Verwandten gegangen. Auch der Onkel des BF sei 2004 in XXXX von russischen Soldaten, welche mit Tschetschenen zusammenarbeiten würden, festgenommen und nach XXXX gebracht worden, wo er festgehalten und geschlagen worden sei. Das sei auch wegen des Vaters des BF gewesen.

9. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.12.2006, Zl. XXXX , wurde dem Antrag des BF1 auf internationalen Schutz gemäß § 7 AsylG stattgegeben, dem BF Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Im Zuerkennungsbescheid des BF1 wurde begründend festgehalten, dass der BF1 einen unter § 7 AsylG zu subsumierenden Sachverhalt vorgebracht habe, dem keine Ergebnisse des amtswegigen Ermittlungsverfahrens entgegenstehen würden.

10. Mit Urteil des LG XXXX vom 26.01.2009, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

11. Mit Urteil des LG XXXX vom 19.05.2010, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen §§ 127, 130 (1.Fall) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt.

12. Mit Urteil des LG XXXX vom 21.12.2010, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 136 Abs. 1 zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen á EUR 4,- verurteilt.

13. Am 17.08.2011, spätestens jedoch am 18.08.2011, reiste der BF2 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 18.08.2011 durch den BF1 als seinen gesetzlichen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz.

14. Bei der Erstbefragung am 18.08.2011 gab der BF1 im Beisein eines ihm einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH an, sein Sohn verfüge im Herkunftsstaat noch über seine Mutter, seine Großmutter, bei welcher er gewohnt habe und seine Halbschwester. In Österreich befände sich der BF1, die beiden Onkel des BF2, seine Tante und seine Halbschwester (weitere Tochter des BF1). Der BF2 sei glaublich am 12.08.2011 mit dem Zug von XXXX nach XXXX gereist, wobei ihn eine Tante ms. begleitet habe. Mit dem Zug seien sie weiter nach Brest gefahren und seien sie bei XXXX nach Polen eingereist. Im Zug seien sie von der Polizei kontrolliert und auf die Wache gebracht worden. Der BF2 sei dann von seiner Tante zu Verwandten gebracht worden, von wo aus der BF2 mit einem Auto nach Österreich gebracht worden sei. Am Westbahnhof sei der BF2 von seinem Vater abgeholt worden.

Zu seinen Fluchtgründen befragt wurde ausgeführt, dass der BF2 nicht mehr bei seiner Mutter leben habe können, weil diese einen anderen Mann geheiratet und eine neue Familie gegründet habe. Nach tschetschenischem Recht seien die Väter zur Erziehung ihrer Kinder verpflichtet. Aus diesem Grund sei mit den Verwandten ms. vereinbart worden, dass der BF2 zu seinem Vater nach Österreich gebracht werde.

15. Mit Urteil des LG XXXX vom 28.10.2011, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB und wegen §§ 12 3. Fall, 127, 129 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt.

16. Mit Urteil des LG XXXX vom 23.11.2011, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 270 Abs. 1 StGB verurteilt, wobei von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen wurde.

17. Mit Urteil des LG XXXX vom 01.02.2012, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 83 Abs. 1 StGB verurteilt, wobei von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen wurde.

18. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 09.02.2012 im Beisein eines dem BF1 einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH gab dieser an, die Mutter des BF2 Ende 2002 oder Anfang 2003 kennengelernt zu haben. 2003 habe er die Mutter seines Sohnes geheiratet und sei der BF2 im April 2004 zur Welt gekommen. Mit der Mutter seines Sohnes habe der BF1 nicht lange zusammengelebt, lediglich ein paar Monate. Als er damals nach Österreich gekommen sei, habe er nicht angegeben verheiratet zu sein, es sei jedoch in seinem Pass gestanden, weshalb der BF1 danach gefragt worden sei. Danach habe er sich nicht offiziell scheiden lassen, sondern hätten sie sich nach muslimischen Bräuchen getrennt. Normalerweise heirate man bei ihnen gar nicht standesamtlich. Sie hätten jedoch Dokumente benötigt, deswegen hätte sie eine Heiratsurkunde besorgt und den Stempel bekommen. Der BF1 habe zum Zeitpunkt der Trennung nicht gewusst, dass seine Ehefrau ein Kind habe bzw. erwarte.

19. Mit medizinischen Sachverständigengutachten vom 05.03.2012 wurde festgestellt, dass die Vaterschaft des BF1 zum BF2 als praktisch erwiesen gilt.

20. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 06.06.2012, Zl. XXXX , wurde dem Antrag des BF2 auf internationalen Schutz gemäß § 3 iVm § 34 AsylG 2005 stattgegeben und diesem der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass dem BF2 die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

21. Mit Urteil des LG XXXX vom 06.03.2015, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen §§ 127, 129 Z 1 und 2, 15 StGB, wegen § 136 Abs. 1 StGB und wegen § 231 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten verurteilt.

22. Mit Urteil des LG XXXX vom 27.04.2015, Zl. XXXX , wurde der BF1 wegen §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

23. Mit Urteil des LG XXXX vom 05.12.2016, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 5, 129 Abs. 1 Z 1 und Z 2, 130 Abs. 2 zweiter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren verurteilt.

24. Mit Urteil des LG XXXX vom 05.12.2019, Zl. XXXX , wurde der BF1 wegen § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

25. Mit Urteil des BG XXXX vom 30.01.2020, Zl. XXXX wurde der BF3 wegen § 50 Abs. 1 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

26. Mit Aktenvermerk vom 23.03.2021 (BF1) bzw. vom 08.10.2021 (BF2-BF3) wurde gegen die BF1-BF3 ein Asylaberkennungsverfahren wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat eingeleitet.

27. Mit Urteil des LG XXXX vom 02.03.2022, Zl. XXXX , wurde der BF2 wegen §§ 83, 84 Abs. 5 Z 2 StGB teils als Beteiligter nach § 12 2. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

28. Mit Urteil des BG XXXX vom 15.03.2022, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

29. Mit Urteil des BG XXXX vom 01.07.2022, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 125 StGB zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt.

30. Mit Urteil des LG XXXX vom 27.10.2022, Zl. XXXX , wurde der BF2 wegen § 142 Abs. 1 StGB und § 241e Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, wobei 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden.

31. Eine niederschriftliche Einvernahme der BF1-BF3 vor der belangten Behörde zu ihren eingeleiteten Asylaberkennungsverfahren fand nicht statt.

32.1. Mit den angefochtenen Bescheiden der belangten Behörde (BFA) vom 27.10.2022 wurde den BF1-BF3 der zuerkannte Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen die BF1-BF3 wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF1-BF3 gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise der BF1-BF3 mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gegen den BF3 wurde ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt VII.)

32.2. In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zu den Personen der BF1-BF3, zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten, zur Situation im Falle ihrer Rückkehr, zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich und dabei zu den strafgerichtlichen Verurteilungen der BF1-BF3 im Bundesgebiet, zur Lage in ihrem Herkunftsstaat und führte aus, dass sich die Lage im Herkunftsstaat der BF1-BF3 seit Zuerkennung des Status der Asylberechtigten maßgeblich geändert habe. Die ursprünglich schlechte Lage im Herkunftsstaat der BF1-BF3 habe sich nachhaltig gebessert und sei der Kriegszustand überwunden, sowie ein Wiederaufbau eingeleitet worden. Es gäbe auch nach dem LIB keine Hinweise darauf, dass die russischen Behörden - nach wie vor - Kämpfer der beiden Tschetschenienkriege suchen würden. Im Übrigen sei der Asylstatus bereits dem Vater des BF1 und des BF3, der Ex-Ehefrau des BF1, einem Bruder des BF1 und dessen 3 Töchtern aberkannt worden. Die BF1-BF3 seien im Falle einer Rückkehr nicht (mehr) gefährdet. Hinweise auf das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 AsylG hätten nicht glaubhaft gemacht werden können bzw. würden nicht vorliegen und sei die Erlassung einer jeweiligen Rückkehrentscheidung zulässig. Die BF1-BF3 würden zwar über mehrere Familienangehörige im Bundesgebiet verfügen, doch bestehe mit keinem davon ein gemeinsamer Haushalt, weshalb kein schützenswertes Familienleben vorliege. Der BF1 verfüge über seine Eltern und Geschwister, sowie über seine Ex-Frau und seine 5 Kinder im Bundesgebiet. Der BF2 verfüge über seine Großeltern, seine Eltern und seine Geschwister im Bundesgebiet und verfüge der BF3 ebenfalls über seine Eltern, sowie Geschwister im Bundesgebiet. Der BF1-BF3 hätten keinen Schulabschluss, die BF1-BF2 hätten derzeit keine Arbeit und während ihres langen Aufenthalts in Österreich erst ein paar Monate lang gearbeitet. Der BF3 sei seit Juni 2022 beschäftigt, zuvor habe er ebenfalls erst für ein paar Monate im Bundesgebiet gearbeitet. Die BF1-BF3 würden über gute Deutschkenntnisse verfügen, doch seien sie bereits mehrfach im Bundesgebiet straffällig geworden und würden sie gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückkehren, weshalb insgesamt die Erlassung einer jeweiligen Rückkehrentscheidung gerechtfertigt sei.

33.1. Mit eingebrachtem Schriftsatz per E-Mail vom 24.11.2022, eingelangt bei der belangten Behörde per Post am 28.11.2022, wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF1 für diesen gegen den gegenständlichen Bescheid des BFA, zugestellt am 04.11.2022, in vollem Umfang Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften erhoben. Begründend wurde beschwerdeseitig im Wesentlichen zunächst der Sachverhalt und der Verfahrensgang erneut dargelegt, sowie insbesondere ausgeführt, dass die belangte Behörde die Erlassung des angefochtenen Bescheides mit den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF1 aus den Jahren 2015 und 2019 begründe. Dabei habe die belangte Behörde den Sachverhalt nicht umfassend ermittelt und diesen auch rechtlich falsch subsumiert. Die belangte Behörde habe sich auch nicht mit dem Strafakt ausreichend auseinandergesetzt. In der Folge wurde die Rechtslage zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ausführlich dargelegt und ausgeführt, dass sich der BF1 seit dem Jahr 2005 durchgehend in Österreich befinde. Er verfüge über seine Eltern, zwei Brüder und eine Schwester im Bundesgebiet. Der BF1 spreche sehr gut Deutsch und sei integriert, weil sich seine Familie in Österreich aufhalte. Zum Herkunftsstaat bestehe keine Bindung und habe eine solche auch nie bestanden, weil der BF1 in sehr jungen Jahren nach Österreich gekommen sei. Bei eingehender Prüfung hätte die belangte Behörde zum Ergebnis kommen müssen, dass die privaten Interessen des BF1 höher zu werten sind, als die öffentlichen Interessen an seiner Außerlandesbringung. Die belangte Behörde hätte prüfen müssen, ob der BF1 den Tatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG, welches durch das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2018 aufgehoben worden sei, erfülle. Nach der Judikatur sei dieser im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiterhin beachtlich. Dem BF1 hätte vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen werden können und habe sich daher die Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung auf gravierende Straffälligkeit zu beschränken, welcher gegenständlich nicht erfüllt sei. Hätte sich die belangte Behörde näher mit dem Strafakt befasst, so wäre sie zum Ergebnis gekommen, dass der Unrechtsgehalt der Straftaten des BF1 minimal gewesen sei, zumal er in beiden Fällen zu bedingten Strafen verurteilt worden sei und sei die letzte Straftat aus dem Jahr 2019, damit bereits vor 3 Jahren, gewesen. Von einer permanenten und gravierenden Gefährdung seitens des BF1 sei daher nicht auszugehen.

Darüber hinaus würde die Ausweisung des BF1 die Trennung von seinen 5 minderjährigen Kindern bedeuten, für welche der BF1 das gemeinsame Sorgerecht habe und für welche er eine essentielle, sowie dauerhafte Vaterfigur darstelle. Die Kindesmutter und Ex-Lebensgefährtin des BF1, ebenso wie seine mj. Kinder, seien legal im Bundesgebiet aufhältig. Als Beweis wurde der Vater des BF1 und seine Ex-Lebensgefährtin, sowie die gemeinsamen 5 mj. Kinder angeführt.

Der BF1 habe keine Wohnmöglichkeit im Heimatland und sei die Erlassung einer Rückkehrentscheidung insgesamt unverhältnismäßig.

In der Beschwerde wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge 1.) der Beschwerde Folge geben und den angefochtenen Bescheid aufheben; 2.) in eventu den Bescheid beheben und an die belangte Behörde zur neuerlichen Entscheidung zurückverweisen; 3.) eine mündliche Verhandlung anberaumen.

33.2. Mit eingebrachtem Schriftsatz vom 24.11.2022 wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF2 Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid des BFA, zugestellt am 03.11.2022, in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften, erhoben. Zunächst wurde ausgeführt, dass der „Bescheid“ vom 27.10.2022, weder eine Unterschrift des Genehmigenden noch eine Amtssignatur aufweise, weshalb ein Nichtbescheid vorliege. Begründend wurde beschwerdeseitig im Wesentlichen zunächst der Sachverhalt und der Verfahrensgang erneut dargelegt, sowie insbesondere ausgeführt, dass das rechtliche Gehör des BF2 verletzt worden sei. Dem BF2 sei keinerlei Möglichkeit gegeben worden sich zum vorliegenden Verfahren zu äußern. Die belangte Behörde habe außerdem gegen ihre Ermittlungspflichten verstoßen, zumal diese zwar die aktuellen Länderberichte der Staatendokumentation vom 01.09.2022 zitiert habe, sich jedoch damit nicht erkennbar auseinandergesetzt habe. Insbesondere habe es die belangte Behörde verabsäumt sich mit der aktuellen Lage in der Russischen Föderation im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg auseinanderzusetzen. Der BF2 befürchte im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation, als Mann im wehrpflichtigen Alter auf der Seite der russischen Streitkräfte für den Ukraine-Krieg gegen seinen Willen eingezogen zu werden. Er verurteile den Angriff Russlands auf die Ukraine und lehne es vehement ab, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Dazu wurden in der Folge mehrere Medienberichte und eine ACCORD Anfragebeantwortung vom 14.11.2022 zitiert, wonach in sozialen Netzwerken ein Erlass über die Organisation der Einberufung der Geburtenjahrgänge 1995-2004 zum Militärdienst zwischen Oktober und Dezember 2022 auf dem Gebiet der Republik Tschetschenien verbreitet werde und dies damit begründet werde, dass diese Einberufung mit der Spezialoperation in der Ukraine in Verbindung stehe. Es sei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass auch jüngere Geburtenjahrgänge einberufen würden. Insgesamt könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Teilmobilmachung bereits abgeschlossen sei. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat drohe dem BF2 daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zum Wehrdienst und in weiterer Folge die unfreiwillige Teilnahme an Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg. Die belangte Behörde hätte zum Ergebnis kommen müssen, dass dem BF2 der Status des Asylberechtigten nicht abzuerkennen sei. In eventu hätte dem BF2 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen. Das ergäbe sich aus den Länderberichten. Der BF2 sei in Österreich aufgewachsen, habe die meiste Zeit seines Lebens in Österreich verbracht und habe keine Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation. Aufgrund der derzeitigen Lage in der Russischen Föderation sei davon auszugehen, dass der BF2 im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation – ganz auf sich alleine gestellt – mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Lage geraten würde.

Zur Erlassung der Rückkehrentscheidung sei auszuführen, dass der BF2 von klein auf in Österreich aufgewachsen sei und diesem vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen werden hätte können. Zwar sei der § 9 Abs. 4 BFA-VG mit dem FrÄG 2018 aufgehoben worden, doch seien nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dessen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiterhin beachtlich. Folglich wurde die Rechtsprechung dazu näher dargelegt und ausgeführt, dass der BF2 im Alter von 7 Jahren nach Österreich gekommen sei und damit den Tatbestand des § 9 Abs. 4 BFA-VG erfülle. Der BF2 sei ausschließlich wegen Jugendstraftaten und Straftaten als junger Erwachsener verurteilt worden. Die Straftaten des BF2 seien nicht zu bagatellisieren, jedoch würden sie bei Weitem nicht die Schwere erreichen, welche trotz Vorliegens des Tatbestands des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde. Die erlassene Rückkehrentscheidung entbehre jeder Verhältnismäßigkeit. Die gegenständliche Interessenabwägung erschöpfe sich in wenigen, in der Beschwerde näher zitierten, Sätzen, welche vor dem Hintergrund der langen Aufenthaltsdauer des BF2 grotesk erscheinen. Zum Teil seien die Ausführungen auch faktenwidrig. Der BF2 habe nämlich bis zu seiner Festnahme im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter gelebt und sei von dieser finanziell abhängig gewesen. Bei der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens hätte die belangte Behörde dies auch leicht in Erfahrung bringen können. Der BF2 sei in Österreich aufgewachsen, in Österreich zur Schule gegangen, in Österreich sozialisiert worden, habe ausgezeichnete Deutschkenntnisse, viele Freunde und Bekannte im Bundesgebiet und sei in Österreich sozial fest verankert. Dass der BF2 beruflich noch nicht Fuß gefasst habe, könne ihm angesichts seines jungen Alters von 18 Jahren nicht angelastet werden. Der BF2 sei bemüht den Schulabschluss nachzuholen. Er sei kaum mit seinem Herkunftsstaat vertraut und verfüge er nur über rudimentäre russische, sowie ausbaufähige tschetschenische Sprachkenntnisse. Auf Russisch könne sich der BF2 nicht verständigen, Tschetschenisch könne er weder lesen noch schreiben. Die Kernfamilie des BF2 lebe in Österreich und habe dieser in der Russischen Föderation nur entfernte Verwandte, zu denen er kaum Kontakt habe. Tatsächlich würde der BF2 im Falle einer Rückkehr in der Russischen Föderation in eine aussichtslose Lage geraten und sei allein deswegen die gegenständliche Rückkehrentscheidung rechtswidrig.

In der Beschwerde wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge 1.) eine mündliche Verhandlung anberaumen; 2.) den angefochtenen Bescheid zur Gänze beheben und feststellen, dass der Status des Asylberechtigten nicht abzuerkennen ist und dem BF daher der Status des Asylberechtigten weiterhin zukommt; 3.) in eventu den angefochtenen Bescheid bezüglich Spruchpunkt II. beheben und dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; 4.) in eventu feststellen, dass die erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) vorliegen, dem BF2 daher eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen ist; 5.) in eventu den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit zur Gänze beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt zurückverweisen.

33.3. Mit eingebrachtem Schriftsatz vom 17.11.2022 wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF3 für diesen gegen den gegenständlichen Bescheid des BFA, zugestellt am 07.11.2022, in vollem Umfang Beschwerde wegen unrichtiger Sachverhaltsfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung, erhoben. Begründend wurde beschwerdeseitig ausgeführt, es sei nicht richtig, dass der BF3 im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keiner Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Es sei notorisch, dass sich die Russische Föderation seit dem Frühjahr 2022 in einer völkerrechtswidrigen kriegerischen Auseinandersetzung mit der Ukraine befinde. Der von der Russischen Föderation beabsichtigte „schnelle militärische Sieg“ habe nicht errungen werden können. Vielmehr sei nicht absehbar, wie lang dieser Krieg noch dauern werde. Auf beiden Seiten dürften bislang 100.000 Todesopfer zu beklagen sein und hätten die russischen Behörden bereits vor einigen Monaten mit Zwangsrekrutierungen begonnen. Gerade im Falle einer Abschiebung des BF3 würden die russischen Behörden zwangsläufig auf diesen aufmerksam, sodass dieser, noch dazu als Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, ernsthaft Gefahr laufen würde, sofort zum Militärdienst eingezogen und an die Front geschickt zu werden. Dem BF3 drohe mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK. Die politische Lage in Tschetschenien sei außerdem nur deshalb „stabil“, als dort ein autoritäres Unrechtsregime herrsche, welches nicht scheue zum Zweck der Machterhaltung auch schwere Grundrechtsverletzungen zu begehen, worauf im angefochtenen Bescheid sogar ausdrücklich hingewiesen werde. Objektiv gesehen könne keine Rede davon sein, dass die Asylgründe geendet hätten.

Der BF3 halte sich seit seinem 9. Lebensjahr, damit seit 20 Jahren, ununterbrochen und legal in Österreich auf. Er habe seinen Pflichtschulabschluss gemacht und sei als Leasingarbeiter beschäftigt, wobei er als Produktionshilfskraft überlassen sei. Der BF3 erziele ein monatliches Bruttoeinkommen von EUR 2.600,-. Seit über einem Jahr lebe der BF3 in einer Beziehung mit einer im Beschwerdeschriftsatz näher genannten österreichischen Staatsbürgerin, mit welcher er auch seit 01.10.2022 nach traditionell islamischen Ritus verheiratet sei. Mit dieser lebe der BF3 in einer Mietwohnung in XXXX , wo der BF3 auch nebenwohnsitzlich gemeldet sei. Formell sei die Ehefrau des BF3 Mieterin der Wohnung, doch würden beide zu gleichen Teilen zu den Kosten der Wohnung beitragen. Im angefochtenen Bescheid seien die letztjährig und nun dargestellten Entwicklungen nicht berücksichtigt worden. Vielmehr sei allein auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF3 Bezug genommen worden, wobei darauf hinzuweisen sei, dass es sich seit dem Jahr 2016 lediglich um Bagatelldelikte handle.

Als Beweis angeführt wurden mehrere Unterlagen, welche mit der Beschwerde vorgelegt wurden und wurde beantragt die Lebensgefährtin des BF3 als Zeugin einzuvernehmen.

In der Beschwerde wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge 1.) die angebotenen Beweise aufnehmen, insbesondere eine mündliche Verhandlung durchführen; 2.) den angefochtenen Bescheid aufheben und; 3.) in eventu dahingehend abändern, dass dessen Vollzug jedenfalls bis zum Ende des Krieges zwischen Russland und der Ukraine suspendiert wird.

34. Die Beschwerdevorlagen vom 30.11.2022 (BF1) bzw. vom 02.12.2022 (BF2-BF3) und die Verwaltungsakte langten beim Bundesverwaltungsbericht (BVwG) am 02.12.2022 (BF1) bzw. am 06.12.2022 (BF2-BF3) bei der Gerichtsabteilung W247 (BF1) bzw. der Gerichtsabteilung W103 (BF2-BF3) ein.

35. Mit Schriftsatz vom 16.11.2022 (wohl gemeint 16.12.2022), übermittelte die rechtsfreundliche Vertretung des BF2 den angefochtenen amtssignierten Bescheid vom 27.10.2022 und führte aus, dass die Vorbemerkung auf S. 2 des Beschwerdeschriftsatzes, wonach es sich um einen Nichtbescheid handle, unrichtig sei. Die Amtssignatur befinde sich auf einer eigenen, nicht nummerierten Seite, weshalb sie von der Rechtsvertreterin des BF2 übersehen worden sei. Der Rechtsvertreterin des BF2 sei darüber hinaus gegenüber einem mit diesem Schriftsatz übermittelten Bescheid, inhaltlich abgeänderter Bescheid mit Amtssignatur vom 17.11.2022 übermittelt worden.

36. Mit Unzuständigkeitsanzeige vom 20.12.2022 erklärte sich der Leiter der Gerichtsabteilung W103 hinsichtlich der ihm zugewiesenen Rechtssachen der BF2-BF3 infolge Annexität zur Rechtssache des BF1 für unzuständig, weshalb diese am 20.12.2022 ebenfalls bei der Gerichtsabteilung W247 einlangten.

37. Mit Schriftsatz vom 10.02.2023 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den BF1-BF3 aktuelle Feststellungen zur Situation in ihrem Herkunftsstaat (Beweismittelliste zur Lage in der Russischen Föderation, insbesondere Länderinformationsblatt vom 03.02.2023, Version 11) und wurde ihnen Gelegenheit eingeräumt, dazu innerhalb von 10 Tagen hg. einlangend Stellung zu nehmen, wovon der BF1 und der BF3 keinen Gebrauch machten. Gleichzeitig wurde den BF1-BF3 die Ladung für die mündliche Verhandlung am 06.03.2023 vor dem Bundesverwaltungsgericht übermittelt, wobei der BF2 per Videokonferenz in der JA XXXX einvernommen werden sollte.

38. Am 17.02.2023 wurde das BVwG vom Rechtsvertreter des BF2 darüber in Kenntnis gesetzt, dass dieser am 02.03.2023 aus der Haft entlassen werde, dieser daher nicht wie geladen an der Videokonferenz teilnehmen könne. Der BF2 wurde daher mit Schriftsatz vom 17.02.2023 neuerlich zur mündlichen Verhandlung am 06.03.2023 persönlich geladen.

39. Mit Schriftsatz vom 01.03.2023 wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF2 neuerlich zum Thema der Wehrpflicht Stellung genommen und insbesondere auf einem EUAA Bericht von Dezember 2022 verwiesen, sowie daraus auszugsweise zitiert.

40. Am 06.03.2023 fand vor dem BVwG unter der Beiziehung eines Dolmetschers für die russische Sprache (von welchem die BF2-BF3 auf eigenen Wunsch keinen Gebrauch machten, sondern auf Deutsch vernommen wurden) eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu welcher die BF1-BF2 ordnungsgemäß geladen wurden und an welcher diese auch teilnahmen. Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…]

RI: Bevor wir mit der Befragung beginnen, sagen Sie mir bitte, ob Sie mit D oder ohne D die Befragung durchgeführt haben wollen?

BF1: Ich kann Deutsch, ich tue mir aber leichter in der russischen Sprache.

RI: Es werden auch später Fragen an Sie gestellt in deutscher Sprache ohne Übersetzung und dann können Sie ihre Deutschkenntnisse unter Beweise stellen.

BF1: Ich spreche zwar Deutsch aber nicht ausreichend.

RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort in der Russischen Föderation (RF) an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise zuletzt aufgehalten haben.

BF1: Ich heiße XXXX , StA. Russische Föderation, ich wurde in Russland, in der Stadt XXXX , am XXXX geboren. Bevor ich nach Österreich kam, lebte ich in einer Nachbarrepublik XXXX . Als ich von dort weggefahren bin, hat es dort keine richtige Adresse gegeben. Es war Krieg und es hat eine Unordnung geherrscht. Zuletzt war ich in XXXX .

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volksgruppe- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF1: Tschetschene.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an? Und wenn ja, welcher?

BF1: Sunnitischer Moslem.

RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?

BF1: Ich habe eine Geburtsurkunde und einen Inlandspass.

RI: Haben Sie Ihre Geburtsurkunde bereits im Verfahren vorgelegt?

BF1: Nein, ich habe sie irgendwo zuhause.

RI an RV: Der BF1 möge bitte binnen einer Wochefrist diese dem Gericht vorlegen.

BF1: Ich müsste meine Mutter fragen, ob sie diese hat oder nicht, aber ich werde meiner Anwältin Bescheid geben.

RI an RV: Dann bitte lassen Sie nachforschen und falls es diese gibt und binnen eine Woche Frist vorlegen.

RI: Wo befindet sich Ihr russischer Auslandsreisepass?

BF1: Der Reisepass? Er ist abgelaufen.

RI: Wo ist er?

BF1: Ich habe ihn schon vor langer Zeit weggeschmissen.

RI: Besitzen Sie zur Zeit einen gültigen Auslandsreisepass?

BF1: Was meinen Sie unter Auslandsreisepass?

RI wiederholt die Frage.

BF1: Ja, den Auslandspass habe ich. Nachgefragt: Dieser ist gültig.

RI: Haben Sie diesen mit?

BF1: Nein.

RI an RV: Bitte diesen gültigen russischen Auslandsreisepass binnen einer Woche in Kopie vorlegen.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie?

BF1: Russisch, Tschetschenisch, Deutsch.

RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Welche Schulausbildung haben Sie abgeschlossen? Welchen Beruf haben Sie gelernt und welchen Beruf haben Sie ausgeübt? Gemeint ist, sowohl im Herkunftsstaat als auch im Bundesgebiet?

BF1: Ich wurde in Russland geboren. Als wir nachhause zurückgekommen sind, hat der Krieg begonnen. Mein Vater hat die Hand verloren, wegen des ersten Krieges.

RI wiederholt die Frage.

BF1: Ich wollte sagen, dass es keine Zeit für die Ausbildung gegeben hat, weil der Krieg geherrscht hat. Ich habe neun Jahre die Schule besucht.

RI: Von wann bis wann?

BF1: Ich habe mit der Schule begonnen als ich sieben Jahre alt war. Ich habe nur die Schule abgeschlossen sonst nichts. Ich habe nicht gearbeitet. Als ich nach Österreich kam war ich 20 Jahre alt.

RI: Welche Ausbildungen oder Berufe sind Sie im Bundesgebiet nachgegangen?

BF1: Hier habe ich Kurse besucht. Ich hatte zuhause einen Unfall, da war ich noch klein und seitdem habe ich Probleme mit meinem Gedächtnis.

RI: Welcher Unfall?

BF1: Dort ist ein Motorrad gestanden, ich war klein und ich wollte mich darauf draufsetzen. Es ist auf mich gefallen und hier habe ich überall die Narben (BF1 zeigt auf die linke Schläfe der Stirn und auf die rechte Schläfe).

RI: Welche Kurse haben Sie besucht und als was haben Sie in Österreich gearbeitet?

BF1: Ich habe Deutschkurse besucht, ich wollte dann eine Schweißerausbildung abschließen, aber es hat sich herausgestellt, dass ich eine Metallallergie habe. Ich habe in einem Lager gearbeitet, als Helfer. Nachgefragt: Ich kann mich nicht mehr erinnern von wann bis wann diese Arbeit war.

RI: Gehen Sie zur Zeit einer angemeldeten beruflichen Beschäftigung im Bundesgebiet nach? Wenn ja, welcher? Wenn nein, warum nicht?

BF1: Ja, ich habe jetzt einen Job gefunden. Die Arbeit beginnt ab dem 13. März 2023. Meine Anwältin hat diesbezüglich Unterlagen.

RV legt vor: ein Informationsblatt betreffend den BF1 über den Eintritt in die Vorbereitungsmaßnahme der XXXX . Dieses wird in Kopie zum Akt genommen.

RV: BF1 wird als Fahrer arbeiten.

BF: Ich kann nichts schweres heben, ich hatte eine OP an der Wirbelsäule.

RI: VORHALTUNG: Laut aktuell eingeholtem AJ-Web-Auszug sind Sie im Bundesgebiet seit zumindest 01.01.2015 keiner angemeldeten Berufstätigkeit nachgegangen und haben bisher nur von Arbeitslosengeldbezug und Mindestsicherung gelebt. Wieso haben Sie die Möglichkeit einer beruflichen Integration im Bundesgebiet bisher nicht entsprechend genützt?

BF1: Ich bekomme das Geld nicht, wenn ich keine vorgeschriebenen AMS Kurse besuche. Man schickt mir Kursangebote, die ich besuchen sollte und wenn ich diese nicht besuche, dann zahlt man mir kein Geld. Ich bin immer den Forderungen vom AMS nachgegangen und zwar seit 2015. Ich habe immer das gemacht was das AMS von mir gefordert hat.

RI: Sie sind aber keiner Berufstätigkeit seit 2015 in Österreich nachgegangen? Wieso nicht?

BF1: Ich bin immer dorthin gegangen, wo man mich hingeschickt hat. Ich habe auch Bewerbungen geschrieben, aber man hat mich nicht genommen. Manchmal habe ich überhaupt keine Antwort bekommen –meistens keine Antwort.

RI: Sie waren im Bundesgebiet im Zeitraum 16.07.2009 bis 11.09.2017 wiederholt und teils mehrjährig im Bundesgebiet obdachlos gemeldet. Wie kam es dazu?

BF1: Ich habe früher in XXXX gelebt. Dann bin ich von dort nach XXXX übersiedelt. Ich hatte keine Möglichkeit hier eine Wohnung zu mieten, also habe ich mir eine Postadresse eingerichtet, deswegen war ich obdachlos gemeldet.

RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zur Zeit in der RF und in welcher Stadt? Bi geben Sie Namen und Geburtsdaten Ihrer Verwandten in der RF an.

BF1: Meine Eltern, meine Brüder und meine Schwester leben hier.

RI wiederholt die Frage.

BF1: Mütterlicherseits und väterlicherseits leben alle Verwandten in Tschetschenien. Ich weiß weder ihre Geburtsdaten noch ihre genaue Adresse. Das ist nicht eine Person, das sind über 10 Personen.

RI: Sind das Onkel, Tanten, Cousine?

BF1: Ja, sie leben dort aber ich weiß ihre Geburtsdaten nicht. Ich habe drei Onkel vs und drei Tanten vs. Meine Mutter hat lediglich nur noch eine Schwester. Ansonsten sind noch die Kinder von denen dort.

R: Können Sie mir die Namen nennen?

BF1: Meine Onkel heißen mit Familiennamen XXXX , das ist der älteste Onkel. XXXX und die Tanten namens: XXXX .

R: Und die Schwester der Mutter?

BF1: XXXX .

RI: Haben Sie noch Kontakt zu Ihren im Herkunftsstaat lebenden Verwandten? Wenn ja, wie oft?

BF1: Nein. Nachgefragt: Sie kontaktieren mich nicht und ich sie nicht. Wenn meine Eltern zuhause wären, dann gäbe es Kontakt.

RI: Haben Ihre Eltern Kontakt zu ihren Geschwistern?

BF1: Ja.

RI: Wovon leben Ihre im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten?

BF1: Ehrlich gesagt arbeiten sie nur im Garten, andere Arbeiten gibt es dort nicht. Es gibt zwar andere, aber man muss viel Geld zahlen, damit man wo aufgenommen wird.

RI: Verfügen Ihre im Herkunftsstaat lebenden Verwandten über Vermögenwerte (z.B.: Haus, Eigentumswohnung, Auto, Grundstück,…)?

BF1: Auto, ja –sie werden schon eines haben. Sie leben ja dort. Jeder hat ein Haus. Bei uns ist das üblicherweise so, dass in einem Hof die Brüder jeweils ein Haus bauen, so dass auf einem zwei, der Häuser stehen wo die Brüder mit ihrer Familie leben.

RI: Verfügen Sie im Herkunftsstaat noch über Vermögenswerte (z.B.: Haus, Eigentumswohnung, Auto, Grundstück,…)?

BF1: Nein.

RI: Leben diese im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten noch am gleichen Ort, wie zu dem Zeitpunkt als Sie ausgereist sind?

BF1: Sie haben sonst keine andere Bleibe.

RI: Leben diese im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten bislang unbehelligt von russischen Behörde und privaten Dritten oder haben diese die gleichen Probleme, wie Sie vor Ihrer Ausreise?

BF1: Jetzt ist es so, dass wenn jemand 18 Jahre wurde, dann wird niemand mehr gefragt –auch die Eltern nicht, auch wenn jemand krank ist oder wenn jemand die Familie ernährt. Trotzdem werden solche Leute in die Ukraine geschickt.

RI: Sie reden jetzt von der Situation mit dem Ukrainekrieg.

BF1: Ich habe nur gesagt, was in Tschetschenien vor sich geht. Was in der Ukraine ist weiß ich nicht.

RI wiederholt die Frage: Leben diese im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten bislang unbehelligt von russischen Behörde und privaten Dritten oder haben diese die gleichen Probleme, wie Sie vor Ihrer Ausreise?

BF1: Ich hatte ein Problem, weil mein Vater gegen Russland gekämpft hat.

RI wiederholt die Frage erneut.

BF1: Ich bin wegen meinem Vater ausgereist. Nicht nur die von mir genannten Verwandten hatten Probleme, alle hatten Probleme. Früher war es so, dass es Krieg gegeben hat und dass es Bombardierungen gegeben hat. Jetzt kämpfen die Leute untereinander.

RI: Verfügen Sie über Freunde oder Bekannte aus dem Herkunftsstaat, mit welchen Sie noch in Kontakt stehen?

BF1: Freunde habe ich dort noch, aber keinen Kontakt.

RI: Verfügen Sie über Verwandte, die außerhalb Ihres Herkunftsstaates leben? Wenn ja, welche? Zählen Sie bitte alle auf?

BF1: In Schweden, dort lebt der Sohn einer Cousine meines Vaters.

RI: sonst noch Verwandte in Drittstaaten?

BF1: Nein.

RI: Sind Sie mit der Cousine Ihres Vaters im Kontakt?

BF1: Ja. Nachgefragt: Einmal im Monat haben wir Kontakt. Seine Mutter ist krank und meine Mutter ist auch krank. Wir rufen uns gegenseitig an und fragen, wie es mit der Gesundheit ausschaut.

RI: Verfügen Sie über Verwandte im Bundesgebiet? Wenn ja, welche? Bitte zählen Sie alle mit Namen und Geburtsdaten auf.

BF1: Meine Familie, zwei Brüder, eine Schwester, Vater und Mutter.

RI: Von wann bis wann waren Sie mit XXXX verheiratet?

BF1: Das war 2002, da haben wir geheiratet und 2003 oder 2004 haben wir uns scheiden lassen.

RI: Wieviele gemeinsame Kinder haben Sie mit Frau XXXX ? Nennen Sie bitte Namen und Geburtsdaten.

BF1: Das ist der Sohn der heute hier ist, XXXX . Er ist der Sohn von XXXX . Weitere Kinder habe ich nicht mit XXXX .

RI: Was war der Grund der Trennung und seit wann sind sie beide geschieden?

BF1: Der Grund war, dass sie nicht auf mich gehört hat. Nach der Geburt meines Sohnes 2004.

RI: Wo befindet sich XXXX momentan?

BF1: Das weiß ich nicht.

RI: Ist sie hier oder in der russischen Föderation?

BF1: Vielleicht, sie war dort, ob sie in der Zwischenzeit hierhergekommen ist oder wo anders ist, dass weiß ich nicht.

RI: Von wann bis wann waren Sie mit Fr. XXXX verheiratet?

BF1: 2009.

RI: Bis wann?

BF1 denkt nach: Bis vor einem Jahr.

RI: Waren Sie standesamtlich oder traditionell verheiratet?

BF1: Das war eine traditionelle Eheschließung.

RI: Wieviele gemeinsame Kinder haben Sie? Nennen Sie bitte Namen und Geburtsdaten.

BF1: Ich habe vier Kinder, einen Sohn und drei Töchter. Die Daten hat meine Vertretung.

RV legt vor: eine Kopie von Ausweisen der Aufenthaltstitel der Kinder mit Frau XXXX . Diese wird in Kopie zum Akt genommen.

Tochter: XXXX , Tochter: XXXX , Tochter: XXXX , Sohn: XXXX .

RI: Was war der Grund der Trennung und seit wann leben sie getrennt?

BF1: Das war vor einem Jahr, ich hatte eine zweite Frau. Ich meine, ich war mit ihr auch nach dem muslimischen Ritual verheiratet.

RI: Ist es die heutige Zeugin XXXX ?

BF1: Ja.

RI: Der Trennungsgrund zu Frau XXXX war, dass Sie eine zweite Frau geheiratet haben?

BF1: Ja, XXXX ist auch nicht gesund. Sie wollte auch die Trennung, sie hat gesagt, dass sie nicht mehr jung ist und sich von mir trennen will.

RI: Seit wann sind Sie mit Frau XXXX verheiratet?

BF1: Im August werden es drei Jahre.

RI: Sind Sie standesamtlich oder traditionell verheiratet?

BF1: Traditionell.

RI: Haben Sie gemeinsame Kinder mit Frau XXXX ?

BF1: Nein.

RI: Haben Sie von den abgesehen oben fünf erwähnten Kindern noch andere Kinder?

BF1: Nein, sonst keine.

RI: Weder hier noch im Bundesgebiet?

BF1: Nein.

RI: Zahlten Sie in der Vergangenheit bzw. zahlen Sie jetzt Unterhalt für ihre im Bundesgebiet lebenden leiblichen Kinder?

BF1: Wie heißt denn das? BF denkt nach: Alimente. Ich und XXXX waren bei Gericht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es 25 oder 30 Euro waren im Monat, für jedes Kind. Jetzt sind es 30 Euro.

RI: Mit welchen Verwandten leben Sie derzeit in einem gemeinsamen Haushalt?

BF1: Ich lebe alleine.

RI: Sie leben mit keinen Ihrer Kinder und nicht mit Ihrer Frau im gemeinsamen Haushalt?

BF1: Ich lebe in einer eigenen Gemeindewohnung. Die Kinder leben bei der Mutter, aber ich besuche sie und nehmen sie auch zu mir.

RI: Wie oft besuchen Sie Ihre Kinder und wie oft übernachten diese bei Ihnen?

BF1: Meistens nehme ich die Kinder am Samstag zu mir, sie bleiben dann Samstag und Sonntag bei mir und am Montag bringe ich sie in die Schule. Während der Woche, wenn sie in der Schule sind, kümmert sich die Mutter der Kinder um sie, da sie weiß, was die Kinder brauchen und was sie anziehen sollen.

RI: Wovon leben Sie im Bundesgebiet?

BF1: Ich bekomme eine Mindestsicherung.

RI: Haben Sie in Zeiten der Obdachlosigkeit bei Verwandten gewohnt und/ oder wurden Sie von diesen materiell unterstützt?

BF1: Ich habe bei XXXX gelebt.

RI: Befinden Sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Ihren im Bundesgebiet lebenden Verwandten?

BF1: Abhängig? Ich weiß nicht, ob ich abhängig bin, aber meine Eltern haben einen Invaliditätsgrad und ich kümmere mich um sie.

RI: In wie weit kümmern Sie sich um Ihre Eltern?

BF1: Ich besuche sie, bringe ihnen etwas zum Essen und verbringe auch Zeit mit ihnen.

RI: Wie oft in der Woche besuchen Sie Ihre Eltern?

BF1: Am Wochenende gehe ich mit meinen Kindern dorthin, damit sie auch die Kinder sehen, mit ihnen spielen können usw. Meine Eltern lieben meine Kinder sehr.

RI: Wann sind Sie das erste Mal nach Österreich eingereist?

BF1: 2005.

RI: Haben Sie vor dieser erstmaligen Einreise in Österreich auch in einem anderen Land gelebt bzw. in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt?

BF1: Ich war in Polen.

RI: Haben Sie dort einen Antrag gestellt auf internationalen Schutz?

BF1: Wenn man das polnische Territorium betritt, machen das alle.

RI: Sind Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich im Jahr 2005 wieder einmal im Herkunftsstaat gewesen, sei es auf Besuch oder auf Urlaub?

BF1: Nein.

RI: Sie waren in Österreich straffällig. Wie oft sind Sie in Österreich strafrechtlich verurteilt worden?

BF1: Zwei Mal.

RI: Wissen Sie noch, welchen Taten diesen strafrechtlichen Verurteilungen jeweils zu Grunde liegen?

BF1: Ja, ich kann mich erinnern was es war aber ich weiß nicht wann. Ich meine, nicht genau wann.

RI: Womit hat Ihre kriminelle Laufbahn begonnen und was war der Grund für die Straftaten? Etwa Langeweile, finanzielle Not, zerrüttete Familienverhältnisse, schlechter Umgang oder anderes? Können Sie mir erklären, wie es bei Ihnen soweit gekommen ist?

BF1: Ehrlich gesagt, es war deswegen so, weil ich jung und dumm war.

RI: Wie stehen Sie heute zu diesen Straftaten im Bundesgebiet?

BF1: Ich wäre nicht beim Gericht, wenn ich es damals nicht gemacht hätte.

RI: VORHALTUNG: Im Strafregister der Republik Österreich sind zwei strafrechtliche Verurteilungen zu Ihrer Person eingetragen. Es geht vor allem um teils versuchten, teils vollendeten schweren Betrug, wie auch um gefährliche Drohung. Was sagen Sie zu Ihrem im Bundesgebiet zur Schau getragenen kriminellen Verhalten?

BF1: Das Erste, das war der Betrug –damals wurde ich selber betrogen. Das war für mich eine Lehre. Das Zweite, das war ein alter Mann. Ich habe den Mann nicht bedroht, ich war wie ein Sohn zu ihm. Die Polizei ist dann dorthin gekommen. Die Polizei hat dort auch erklärt, dass ich mich entschuldigen soll. Es ging nur darum, dass das Auto falsch geparkt war und man hat ihm gesagt, dass es noch kein Grund für eine Anzeige ist, aber er hat es trotzdem gemacht. Die Polizei hat gesagt, dass sie verpflichtet ist, dass sie eine Anzeige entgegennehmen, wenn eine Anzeige gemacht wird.

RI: Welcher Schritte haben Sie seit Ihrer Straffälligkeit im Bundesgebiet gesetzt um zu verhindern, dass Sie wieder in die Kriminalität abgleiten?

BF1: Ich habe den Kontakt zu vielen Leuten abgebrochen und versuche möglichst viel Zeit mit meinen Kindern und den Eltern zu verbringen.

RI: Laut einem aktuellen KPA-Auszug ist für Ihre Person ein vorläufiges Waffenverbot am 06.02.2023 eingetragen, welches am 06.03.2023 außer Kraft tritt. Außerdem ist für Ihre Person für den 03.02.2023 das Delikt der Körperverletzung eingetragen. Es geht hierbei um Gewalt in der Privatsphäre der Wohnung. Erzählen Sie bitte in beiden Fällen, was genau geschehen ist.

BF1: Das war keine Gewalt. Das ist die Tochter von XXXX . Sie hat das Haus verlassen und ich bin nachhause gekommen. Ich habe die Tochter gefragt, warum sie rausgegangen ist –das war in der Nacht. Das ist nicht meine Tochter, sondern die Tochter von XXXX . Sie hat dann viel zu reden begonnen, das waren Sachen dies sie nicht hätte sagen soll. Ich habe ihr dann gesagt, dass sie das Maul halten soll. Dann ist sie zur Polizei gegangen und hat eine Anzeige erstattet.

RI: Wie kam das vorläufige Waffenverbot zu Stande?

BF1: Das weiß ich nicht. Die Polizei hat mir gesagt, dass ein Betretungsverbot habe für zwei Wochen. Dann ist sie wieder zur Polizei gegangen und hat gesagt, dass sie die Anzeige zurückzieht.

RI: Zu Ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat im Jahr 2005: Wann hat die Gefährdungslage für Sie konkret begonnen und was war das fluchtauslösende Ereignis?

BF1: Der Grund? Den Grund hat es eigentlich mit dem Eintritt der neuen Obrichkeit gegeben sie sind 2000 oder 2001 an die Macht gekommen. Aus dem Grund habe ich damals schon in XXXX gelebt.

RI: Was war das fluchtauslösende Ereignis?

BF1: Mein Vater war hier und ich bin auch hierhergekommen.

RI: Bitte erklären Sie mir wieso Sie im Herkunftsstaat in den Fokus Ihrer Verfolger gekommen sind und was der konkrete Grund für die seinerzeitige Verfolgung Ihrer Person war?

BF1: Wegen meines Vaters.

RI: Wissen Sie grob, welche Person oder Personengruppe, welche Mitglieder Ihrer Familie, wann bedroht haben und was damals vorgefallen ist?

BF1: Es wurden die verfolgt die gekämpft haben und die gegen Russland sind. Nicht nur wir und unser Vater hatten das Problem, alle hatten das Problem.

RI: Stand die Gefährdungslage für Sie und Ihre Familie mit den zwei Tschetschenienkriegen irgendwie im Zusammenhang? Wenn ja, wie war der konkrete Zusammenhang mit Ihnen?

BF1: Mein Vater hat beim ersten tschetschenischen Krieg gekämpft und dort seine Hand verloren. Als der Krieg zu Ende war, begann der zweite Krieg. Die Leute die gegen Russland gekämpft haben, wurden umgebracht oder inhaftiert. Ich hatte Angst, als Sohn meines Vaters. Mein Vater hatte Angst um mich und bat mich zu ihm zu kommen.

RI: Waren Sie oder Ihre Familie im Herkunftsstaat jemals politisch aktiv?

BF1: Nein.

RI: Sind Sie seit Ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat politisch aktiv gewesen?

BF1: Nein.

RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation?

BF1: Möglicherweise, ich meine ich habe jetzt gesehen, dass viele Leute aus Europa abgeschoben wurden. Die Informationen darüber gibt es im Internet bzw. auf Youtube. Was diese Leute anbelangt, hört man nichts von denen. Ich meine man hört nicht, dass sie normal ihr Reiseziel erreicht haben oder wo leben oder arbeiten. Ich denke, wenn ich jetzt nachhause geschickt werde, dann wird mir die Polizei möglichweise etwas unterschieben. Aber zu 90 Prozent werde ich in die Ukraine geschickt werden.

RI: Warum sollten Sie heute - fast 18 Jahre nach der Ausreise aus der Russischen Föderation - noch von irgendjemanden gesucht werden?

BF1: Es geht nicht um die Suche, wenn jemand von Europa nachhause abgeschoben wird, werden alle diese Leute kontrolliert und überprüft. Im Computer steht, dass mein Vater gekämpft hat und ich habe den gleichen Familiennamen wie er. Man wird mich fragen, warum ich geflüchtet bzw. ausgereist bin. Was ich gemacht habe und warum ich weggefahren bzw. geflüchtet bin, wenn ich nichts gemacht habe.

RI: Haben Sie irgendeinen Nachweis, dass Sie als Person bei Rückkehr nach Tschetschenien einer Verfolgung ausgesetzt wären? Ladungen, Haftbefehle etc.?

BF1: Nein, so etwas habe ich nicht. Aber die Leute die zurückgeschickt werden, werden überprüft, befragt und einfach mitgenommen.

RI: Könnten Sie in einem anderen Teil der Russischen Föderation leben?

BF1: Ich sehe dort eine Gefahr, eine Gefahr überhaupt in das Land zu kommen.

RI: Haben Sie in der russischen Föderation Ihren Grundwehrdienst absolviert?

BF1: Nein.

RI: Wie nehmen Sie am sozialen Leben in Österreich teil (Mitgliedschaften bei Vereinen, Clubs,…)?

BF1: Nein.

RI: Haben Sie österreichische Freunde?

BF1: Manche schon.

RI: Sind das Freunde mit überwiegend tschetschenischen Wurzeln?

BF1: Ich habe verschiedene Freunde, auch die die aus Tschetschenien gekommen sind. Ich filtere die Freunde nicht nach dem Prinzip.

RI: Haben Sie in Österreich Sprachkurse besucht?

BF1: Ich kann nicht sagen auf welchem Level ich Deutsch gelernt habe, aber ich kann sagen, dass ich Deutschkurse besucht habe.

RI: Haben Sie Sprachprüfungen abgelegt?

BF1: Nach den Kursen habe ich meistens so ein Dokument bekommen. Nach der Beendigung eines Kurses bekommt man ein Dokument.

RI: Haben Sie Sprachprüfungen abgelegt?

BF1: Nein, ein Sprachzertifikat habe ich nie bekommen.

RI (ohne Übersetzung): Was gefällt Ihnen an Österreich?

BF1 (ohne Übersetzung): Mir gefällt in Österreich ich kann nicht auf Deutsch sagen .. kann ich zu Dolmetscherin ein Wort fragen? Jede Mensch hat frei. Bei uns ist nicht so, dass mir das gefällt. Ich liebe Österreich.

RI (ohne Übersetzung): Was machen Sie in Ihrer freien Zeit? Was sind Ihre Hobbies?

BF1 (ohne Übersetzung): Mein Freizeit ich Kinder nehme Spielplatz gehe, mit Kinder spiele und Mc Donlads gehe. Ich spiele viel mit Kindern.

RI (ohne Übersetzung): Was haben Sie letztes Wochenende gemacht?

BF1 (ohne Übersetzung): Letztes Wochenende ich war zuhause (BF lacht).

RI: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor? Haben Sie vor in Österreich zu arbeiten?

BF1: Ehrlich gesagt möchte ich ein gesetzestreuer Bürger sein. Ich möchte eine Arbeit finden, die für mich passend ist und ich möchte in Ruhe leben.

RI: Welcher Berufstätigkeit möchten Sie gerne nachgehen?

BF1: Ehrlich gesagt ist es für mich gefährlich schwere Arbeiten zu verrichten wegen meiner Wirbelsäule, aber ansonsten möchte ich gerne arbeiten. Dort wo man mich jetzt aufnehmen wird, hat man mir gesagt, dass ich als Fahrer arbeiten kann, ich habe nämlich den österreichischen Führerschein.

RI: Waren Sie in Österreich bislang ehrenamtlich tätig?

BF1: Nein.

RI: Haben Sie in Österreich sonst eine Fort-, Aus- oder Weiterbildung betrieben? Wenn ja, welcher Art?

BF1: Nein, ansonsten nicht. Mein größtes Problem ist mein Gedächtnisproblem, weil ich so vieles vergesse.

RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?

BF1: Ja, ich bin gesund, aber ich darf nichts schweres tragen, wegen meiner Wirbelsäule.

RI: Was sind die konkreten Probleme mit Ihrer Wirbelsäule?

BF zeigt auf seinen Lendenwirbelbereich: Ich hatte dort eine Beule und diese wurde entfernt. Seitdem habe ich die Probleme mit der Wirbelsäule. Wenn man jetzt zum Beispiel das Fenster aufmachen würde, ich sitze hier nur in einem T-Shirt, dann würde ich nicht mehr gerade aufstehen können.

RI: Haben Sie medizinische Unterlagen darüber?

BF1: Ja, das ich dort war und das Röntgenbilder angefertigt wurden.

RI: Haben Sie einen medizinischen Bericht zu Ihrem Wirbelsäulenzustand?

BF1: Mit den Röntgenbilder bekommt man auch einen Befund, darauf steht welche Probleme ich habe.

RI an RV: Bitte sofern vorhanden die medizinischen Unterlagen binnen einer Wochenfrist dem Gericht übermitteln.

RI: Nehmen Sie Medikamente?

BF1: Nein, aber ich habe einen hohen Blutdruck.

RI: Nehmen Sie dagegen Medikamente?

BF1: Ich habe zwar Arzneimittel verschrieben bekommen, aber sie haben nicht geholfen.

RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?

BF1: Derzeit nicht.

RI: Sind Sie arbeitsfähig?

BF1: Ja, außer dem ältesten.

RI: Was machen Ihre Kinder im Bundesgebiet konkret?

BF1: Meine Kinder? Sie besuchen die Schule. Das jüngste Kind XXXX ist im Kindergarten, alle andren sind in der Schule.

RI: In welcher Sprache unterhalten Sie sich mit Ihren Kindern?

BF1: Sie bringen mir Deutsch bei. Für sie ist es leichter Deutsch zu sprechen und ich bringe ihnen tschetschenisch bei.

RI an RV1: Haben Sie Fragen an den BF1?

RV1: Wie alt sind Ihre Kinder?

BF1: XXXX und XXXX Jahre.

RV1: Der Größte?

BF1: XXXX .

RV1: Sind die Kinder alle in Österreich geboren?

BF1: Ja.

RV1: Wie oft sehen sie Ihre Lebensgefährtin?

BF1: Oft.

RV1: Können Sie das näher ausführen?

BF1: Sie ist bei mir auch unter der Woche.

RV1: Übernachtet auch bei Ihnen?

BF1: Ja.

RV1: Verbringt sie auch Zeit mit Ihnen und den Kindern am Wochenende?

BF1: Ja.

RV1: Machen Sie sonst noch was mit den Kindern außer im Park zu spielen? Machen Sie Ausflüge zum Beispiel?

BF1: Es gibt Plätze wo man Eintrittsgeld zahlt, da kann man was essen und die Kinder können spielen.

BF1 verlässt den Saal und BF2 betritt den Saal.

Ende der Befragung von BF1 um 10:50 Uhr.

BF1 verlässt den Saal, Z1 betritt den Saal.

Die Verhandlung wird um 10:50 Uhr bis 10:58 Uhr unterbrochen.

___________________________________________________________________________

Befragung der Zeugin 1:

[…]

Z1 gibt an auf Deutsch befragt werden zu wollen.

[…]

RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsangehörigkeit, den letzten Aufenthaltsort in der Russischen Föderation und Ihren derzeitigen Aufenthaltsstatus in Österreich?

Z1: Mein Name ist XXXX , ich wurde am XXXX in XXXX . 2018 war ich das letzte Mal in der RF in XXXX , seit August 2018 bin ich in XXXX . Ich habe eine Aufenthaltskarte. Ich bin seit 2001 in Österreich und 2014 bin ich aus Österreich ausgereist und 2016 wurde mir ein Asylstsatus aberkannt. 2018 bin ich wieder nach Österreich geflogen und habe einen neuen Asylantrag gestellt, das Aslylverfahren ist noch offen.

RI: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zum BF1?

Z1: Ich bin die Lebensgefährtin.

RI: Seit wann kennen Sie den BF1 und seit wann leben sind Sie beide zusammen?

Z1: Ich kenne ihn sein August 2020 und zusammen sind wir fast zwei Jahre.

RI: Sind Sie mit ihm traditionelle verheiratet und wenn ja seit wann?

Z1: Ja, traditionell schon aber nicht standesamtlich. Seit September 2020 sind wir traditionell verheiratet.

RI: Leben Sie mit dem BF1 in einem gemeinsamen Haushalt?

Z1: Ich lebe mit dem BF1 und mit den eigenen Kindern zusammen, aber ich lebe nicht immer mit dem Bf1 zusammen. Ich habe eine eigene Wohnung und er auch.

RI: Haben Sie mit dem BF1 gemeinsame Kinder?

Z1: Nein, ich habe fünf eigene Kinder.

RI: Wie oft sehen Sie den BF1 in der Woche?

Z1: Fast jeden Tag.

RI: Stehen Sie mit dem Vater Ihrer Kinder im Kontakt?

Z1: Ja, aber selten. Nur wenn es mit den Kindern etwas zu tun hat.

RI: Bei welcher Gelegenheit haben Sie den BF kennengelernt?

Z1: Bei einer Hochzeit hier in Österreich.

RI: War es bei einer arrangierten Hochzeit?

Z1: Nein, es war zufällig.

RI: Kennen Sie die eigenen Kinder von BF1 und stehen Sie im Kontakt?

Z1: wir sehen uns jedes Wochenende, manchmal ein oder zwei Tage. Sie übernachten bei uns, in der Wohnung beim BF1.

RI: Wo übernachten Sie am Wachende auch beim BF1?

Z1: ja, ich und mein kleiner Sohn der ist 5 Jahre und die Kinder vom BF1. Am Wochenende sind wir alle quasi zusammen.

RI: Und unter der Woche?

Z1: Die Kinder sind in der Schule. Ich und BF1 sind auch zusammen, aber unter der Woche ergibt sich das spontan wenn meine älteren Kinder bei ihrem Vater sind, dann sind wir immer zusammen unter der Woche.

RI: Nach einem aktuellen KPA Auszug ist zur Person des BF1 ein vorläufiges Waffenverbot und auch ein Vorfall zu Gewalt in der Privatsphäre in einer Wohnung am 03.02.2023. Können Sie mir dazu näher erzählen?

Z1: An diesem Abend war ich, sein kleiner Sohn und sein andere Sohn XXXX und der Onkel (BF3), wir waren beim Vater des BF1 und zwischen 22-23 Uhr, wir haben gedacht, dass wir den kleinen Sohn bei uns lassen, aber er hatte die Patschen für den Kindergarten zuhause gehabt, dann haben wir gedacht wir holen die Patschen diese waren bei der Frau XXXX . XXXX ist in die Wohnung gegangen und wir haben im Auto gewartet. XXXX hat angerufen und gesagt, dass keiner die Tür aufmacht aber die drei Mädchen zuhause sind. Dann sagte ich zu meinem Lebensgefährten er solle hinaufgehen und schauen, weil die Mädchen alleine sind und sie Angst haben. Der BF1 ging hinauf und ich habe ihn angerufen und gefragt, ob alles in Ordnung ist und warum das so lange dauert. Er sagte dann, dass die älteste Tochter nicht da ist, sie hat die Tür zugesperrt und ist hinausgegangen. Dann habe ich zu ihm gesagt er soll die Kinder beruhigen und nach 20 Minuten ist die Frau XXXX nachhause gekommen. Nach 30-40 Minuten kam er raus und ich fragte was los ist, er sagte sie war nicht zuhause und sie hat die Kinder weggesperrt. Er hat ihr gesagt, dass sie die Kinder nicht einsperren soll und einfach rausgehen soll. Sie solle Bescheid sagen, wenn die Kinder alleine zuhause sind und zumindest den Schlüssel drinnen lassen soll. Dann sind wir nachhause gegangen und haben geredet und er meinte dann, dass er sie geschupst hat. Es hat uns dann eine unbekannte Nummer gegen 2 Uhr bzw. 3 Uhr nachts angerufen und wir haben überlegt, wer das sein kann. Dann hat der BF1 gemeint, dass es die Polizei sein kann, weil die älteste Tochter der Frau XXXX sehr emotional geworden ist und sie hat sich sehr unschön ausgedrückt, dann hat er gemeint sie soll den Mund halten und hat ihr den Mund zugehalten. Er erzählte mir, dass er dann weggegangen ist und ich fragte ihn, warum er das überhaupt gemacht hat, da sie ein Mädchen ist und er einte sie hätte ihn provoziert. Sie hat dann auch die anderen Mädchen aufgeweckt und war sehr emotional. Sie hat so emotional reagiert, weil er erfahren hat, dass sie überhaupt draußen war. In der Früh wurde er von der Polizei angerufen und man hat ihm gesagt, dass er zu Polizei kommen soll. Dann waren wir zusammen dort und haben die Sache erklärt und eine Aussage gemacht. Danach wurde er zu XXXX eingeladen und da waren wir auch schon zwei Mal dort. Ich komme immer als Dolmetscherin.

RI: Wie erklären Sie sich das vorläufige Waffenverbot?

Z1: Das haben wir nicht mitbekommen und das wurde uns auch nicht bei der Polizei gesagt.

RI: Gehen Sie zur Zeit einer angemeldeten Arbeit nach? Wenn ja, welcher?

Z1: Nein, ich habe keine Arbeitserlaubnis.

RI: Was wissen Sie vom seinerzeitigen Fluchtgrund des BF1 und dessen Familie?

Z1: Ich habe das so verstanden, dass er wegen der Probleme seines Vaters geflüchtet ist. Ich kann mich erinnern, dass er erzählt hat das er sich öfters versteckt gehalten hat. Nach ihm wurde immer gesucht.

RI: Beschreiben Sie mir mit Ihren eigenen Worten den Grad der Integration des BF1 in Österreich bzw. die Integrationsschritte, die der BF1 in Österreich bereits gesetzt hat.

Z1: Ihm fällt alles sehr schwer, aber er bemüht sich sehr. Er steht mit vielen Leuten im Kontakt. Ich bemühe mich, dass er sich an diese Kultur hier gewöhnt. Erst ist in den letzten zwei Jahren hat er sich sehr gebessert und sehr geändert.

RI: In wie fern hat er sich geändert oder gebessert?

Z1: Früher hat er keine Musen besucht, er ist nirgendwo hingefahren. Jetzt interessiert es ihn wo hinzufahren, er hat sogar begonnen ein Buch zu lesen.

RI an RV1: Haben Sie noch Fragen an die Zeugin?

RV1: Was machen Sie mit dem BF1 in Ihrer Freizeit?

Z1: Meistens gehen wir spazieren, wir fahren an den Wörtersee. Sonst gehen wir einkaufen, essen oder ins Kino.

RV1: Was können Sie zum Verhältnis zu den zwei Kindern sagen?

Z1: Die Kinder sind sehr nahe zum Vater, ich würde sogar sagen, dass sie näher zum Vater als zur Mutter sind. Die Kinder fühlen sich sehr wohl mit ihm. Sie sind sehr eng mit dem Vater, aber er ist auch ein sehr guter Vater. Er macht sich sehr viele Sorgen um die Kinder. Sie sind sehr oft bei uns. Vor zwei Monaten war die Mutter wegen ihrer OP weggereist und die Kinder waren drei Wochen bei uns. Wir haben sie jeden Tag zur Schule hingebracht, der Vater hat sie zur Schule gebracht. Ich habe die Kinder meistens abgeholt.

Z verlässt den Saal um 11:28 Uhr.

BF2 betritt den Saal.

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Beginn der Befragung des BF2:

RI an BF2: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie kein Russisch verstehen aber Sie sind einverstanden mit der Befragung in deutscher Sprache?

BF2: Ja.

RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort in der Russischen Föderation (RF) an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise zuletzt aufgehalten haben.

BF2: Mein Name ist XXXX , geb. XXXX in XXXX , StA Russische Föderation, letzter Wohnort in der russischen Föderation: XXXX .

RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?

BF2: Nein habe ich nicht.

RI: Besitzen Sie zur Zeit einen gültigen Reisepass?

BF2: Nein.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie?

BF2: Deutsch und Tschetschenisch.

RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Welche Schulausbildung haben Sie abgeschlossen? Welchen Beruf haben Sie gelernt und welchen Beruf haben Sie ausgeübt? Gemeint ist, sowohl im Herkunftsstaat als auch im Bundesgebiet?

BF2: Ich war in der Volksschule bis zur 4. Klasse von 2011 bis 2016. Danach bin ich in der vierten Klasse gefallen, weil ich nicht in Deutsch so gut war. Danach war ich vier Jahre in der Sonderschule und danach habe ich Kurse besucht im XXXX . Ich weiß den genauen Namen nicht mehr und da bin ich auch wegen den Prüfungen durchgefallen und jetzt will ich an der VHS und mache meinen Pflichtschulabschluss nachholen und bin im Kontakt mit meiner Beraterin. Ich habe am 9.3.23 meinen Termin zwecks Nachholung meines Pflichtschulabschlusses.

RI: Sind Sie zu irgendeiner Zeit einer angemeldeten beruflichen Beschäftigung im Bundesgebiet nach? Wenn ja, welcher? Wenn nein, warum nicht?

BF2: Nein, ich habe nur Schnuppertage gemacht und habe nicht gearbeitet.

RI: Sie waren im Bundesgebiet im Jahr 2012 fast sechs Monate, sowie von 18.03.2013 bis 16.05.2014 durchgehend im Bundesgebiet obdachlos gemeldet. Wie kam es dazu?

BF2: Ich weiß nicht.

RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zur Zeit in der RF und in welcher Stadt? Bi geben Sie Namen und Geburtsdaten Ihrer Verwandten in der RF an.

BF2: Ich habe Verwandte in Tschetschenien, aber ich kenne diese nicht und ich habe auch keinen Kontakt zu diesen.

RI: Sie haben diese noch nie gesehen oder gehört?

B2: Mit denen wo ich Kontakt habe sind alle in Österreich.

RI: Es hat nie einen Anruf gegeben?

BF2: Mit dem Onkel ms hatte ich Kontakt per Handy meiner Mutter aber sonst nicht.

RI: Wie heißt der Onkel?

BF2: XXXX (phonetisch).

RV: Wen meinen Sie mit Mutter? Ihre leibliche Mutter oder von Frau XXXX ?

BF2: Ich meine von Frau XXXX .

RI: Verfügen Sie über Freunde oder Bekannte aus dem Herkunftsstaat mit welchen Sie noch in Kontakt stehen?

BF2: Nein.

RI: Verfügen Sie über Verwandte, die außerhalb Ihres Herkunftsstaates leben? Wenn ja, welche? Zählen Sie bitte alle auf?

BF2: In Deutschland, von meiner Stiefmutter die Schwester lebt in Deutschland in der Nähe von XXXX . Nachgefragt: Ihr Name ist XXXX .

RI: Haben Sie Kontakt mit Ihr?

BF2: Ich bin nach XXXX gefahren, sie hat einen Sohn in meinem Alter, aber nahen Kontakt habe ich nicht.

RI: Verfügen Sie über Verwandte im Bundesgebiet? Wenn ja, welche? Bitte zählen Sie alle mit Namen und Geburtsdaten auf.

BF2: Vater, Stiefmutter, Opa, Oma, mein Onkel XXXX , meine Tante XXXX .

RI: Wie heißt Ihre leibliche Mutter und wo befindet diese sich?

BF2: Ihr Name ist XXXX . Sie ist in Tschetschenien.

RI: Sagt Ihnen der Name XXXX etwas?

BF2: Nein.

RV: Sind Sie bei Ihrer leiblichen Mutter aufgewachsen?

BF2: Nein.

RV: Wo haben Sie in Tschetschenien gelebt?

BF2: Bei meiner Oma.

RI: Wie heißt Ihre Oma?

BF2: XXXX .

RI: Wissen Sie den Grund der Trennung Ihrer Eltern?

BF2: Nein.

RI: Sind Sie zur Zeit im Bundesgebiet in einer Beziehung oder Partnerschaft? Wenn ja, seit wann und mit wem?

BF2: Ja, seit drei Jahren mit XXXX .

RI: Wie haben sie sich kennengelernt?

BF2: Draußen angesprochen auf der Straße.

RI: Sind Sie mit dieser Person traditionell verheiratet?

BF2: Nein.

RI: Verfüge Sie über leiblichen Kinder im Bundesgebiet?

BF2: Nein.

RI: Hat Ihrer derzeitigen Partnerin Kinder?

BF2: Nein.

RI: Mit welchen Verwandten leben Sie derzeit in einem gemeinsamen Haushalt?

BF2: Ich lebe mit meiner Stiefmutter und den Geschwistern im gemeinsamen Haushalt.

RI: Wovon leben Sie im Bundesgebiet?

BF2: Ich bin erst letzten Donnerstag aus der Haft entlassen worden. Vor meiner Haft habe ich einen AMS Kurs besucht.

RI: Wo haben Sie sich in Zeiten der Obdachlosigkeit gewohnt und/ oder wurden Sie von diesen materiell unterstützt?

BF2: Von meiner Stiefmutter wurde ich unterstützt.

RI: Befinden Sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Ihren im Bundesgebiet lebenden Verwandten?

BF2: Ja, von meiner Stiefmutter.

RI: Wann sind Sie das erste Mal nach Österreich eingereist?

BF2: Ich bin mit sieben Jahren hergekommen, ich weiß aber nicht mehr genau in welchem Jahr.

RI: Haben Sie vor dieser erstmaligen Einreise in Österreich auch in einem anderen Land gelebt bzw. in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt?

BF2: Nein.

RI: Sind Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich wieder einmal im Herkunftsstaat gewesen, sei es auf Besuch oder auf Urlaub?

BF2: Nein.

RI: Sie waren in Österreich straffällig. Wie oft sind Sie in Österreich strafrechtlich verurteilt worden?

BF2: Zwei Mal glaube ich.

RI: Wissen Sie noch, welchen Taten diesen strafrechtlichen Verurteilungen jeweils zu Grunde liegen?

BF2: Einmal wegen Körperverletzung und einmal wegen Raub.

RI: Womit hat Ihre kriminelle Laufbahn begonnen und was war der Grund für die Straftaten? Etwa Langeweile, finanzielle Not, zerrüttete Familienverhältnisse, schlechter Umgang oder anderes? Können Sie mir erklären, wie es bei Ihnen soweit gekommen ist?

BF2: Das war nur, weil ich mich nicht mit den richtigen Freunden abgehangen bin und was sie gemacht haben, habe ich auch gemacht. Ich bin jetzt rausgekommen und habe mit keinem mehr Kontakt. Ich versuche jetzt meinen Pflichtschulabschluss nachzuholen und danach als Elektriker eine Lehre zu beginnen.

RI: Wie stehen Sie heute zu diesen Straftaten im Bundesgebiet?

BF2: Ich finde es nicht so gut was ich gemacht habe und ich beraue das und ich würde sagen, dass ich aus meinen Fehlern gelernt habe. Meine Strafe habe ich auch abgesessen und ich bereue das jetzt.

RI: VORHALTUNG: Im Strafregister der Republik Österreich sind zwei strafrechtliche Verurteilungen zu Ihrer Person eingetragen. Es geht vor allem um Delikte gegen das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit Dritter und Sie zuletzt das Haftübel verspürt. Wie gedenken Sie ernsthaft diesen Teufelskreis ihres im Bundesgebiet bisher zu Schau getragenen hochkriminellen Verhaltens künftig zu durchbrechen?

BF2: Ich will jetzt wie gesagt den Pflichtschulabschluss machen und eine Lehre machen, heiraten und mich fern halten von solchen Sachen.

RI: Sind Sie mit gerade mal 19 Jahren nicht noch ein wenig jung für eine derart kriminelle Laufbahn?

BF2: Ja.

RI: Wie gedenken Sie sich in Zukunft von Ihrem bisherigen Freundeskreis zu distanzieren?

BF2: Einfach wenn man nicht wieder den Kontakt aufbaut mit diesen Personen und sich fernhaltet.

RI: Was sagen Ihre Eltern und Geschwister zu Ihrem bisherigen Verhalten im Bundesgebiet?

BF2: Meiner Mutter (Stiefmutter) hat es nicht gefallen. Sie war sehr traurig.

RI: Was können Sie mir zu der Gefährdungslage sagen, der Ihr Vater im Herkunftsstaat ausgesetzt war? Was wissen Sie darüber Bescheid?

BF2: Ich weiß, dass es Krieg war zu dem Zeitpunkt. Mein Opa ist danach nach Österreich gekommen und dann sind auch mein Vater und der jüngere Bruder meines Vaters nach Österreich gekommen.

RI: Wissen Sie warum Ihre Familie im Herkunftsstaat in den Fokus der Behörden gekommen ist und was der fluchtauslösende Grund für Ihren Vater war? Ihr Vater bzw. Großvater wird Ihnen sicher davon erzählt haben?

BF2: Nein.

RI: Stand die Gefährdungslage für Sie und Ihre Familie mit den zwei Tschetschenienkriegen irgendwie im Zusammenhang? Wenn ja, wie war der konkrete Zusammenhang mit Ihnen?

BF2: Nein.

RI: Sind Sie seit Ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat politisch aktiv gewesen?

BF2: Nein.

RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation?

BF2: Ich habe gehört, wenn man nach Tschetschenien geht, dass man als Soldat eingezogen wird und in den Krieg in die Ukraine geht und ich kenne auch niemandem, ich habe keine Bekannte dort den ich persönlich kenne. Ich stelle mir kein gutes Leben dort vor.

RI: Könnten Sie in einem anderen Teil der Russischen Föderation leben, außerhalb von Tschetschenien?

BF2: Nein.

RI: Sind Sie jemals persönlich bedroht, misshandelt oder verfolgt worden? Wenn ja, beschreiben Sie bitte die Misshandlungen bzw. die Bedrohungen.

BF2: Nein.

RI: Wie nehmen Sie am sozialen Leben in Österreich teil (Mitgliedschaften bei Vereinen, Clubs,…)?

BF2: Nein ich bin in keinem Verein.

RI: Haben Sie österreichische Freunde?

BF2: Ja.

RI: Sind das Freunde mit überwiegend tschetschenischen Wurzeln?

BF2: Nein.

RI: Haben Sie in Österreich Sprachkurse besucht?

BF2: Ich war in der Schule und in der Volksschulzeit habe ich auch Deutschkurse besucht.

RI: Sie haben vorhin angegeben, dass Sie nach Ihrem Pflichtschulabschluss eine Elektrikerlehre machen wollen. Sie wollen künftig als Elektriker arbeiten. Haben Sie schon genauere Pläne?

BF2: Ich habe mein Ziel gesetzt, dass ich meinen Pflichtschulabschluss nachholen möchte.

RI: Waren Sie in Österreich bislang ehrenamtlich tätig?

BF2: Nein.

RI: Haben Sie in Österreich sonst eine Fort-, Aus- oder Weiterbildung betrieben? Wenn ja, welcher Art?

BF2: Nein, habe ich nicht.

RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?

BF2: Ja ich bin gesund.

RI: Nehmen Sie Medikamente?

BF2: Nein.

RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?

BF2: Nein.

RI: Sind Sie arbeitsfähig?

BF2: Ja.

RI: In welcher Sprache unterhalten Sie sich mit Ihrem Vater und Ihrer Steifmutter?

BF2: Deutsch und Tschetschenisch.

RI an RV2: Haben Sie Fragen an den BF2?

RV2: Sie wurden vorhin gefragt, ob Sie in Russland leben könnten und da haben Sie nein gesagt, warum nicht?

BF2: Nein, weil ich die Sprache nicht spreche und in Tschetschenien habe ich Angst in den Krieg geschickt zu werden. Ich bin hier aufgewachsen und fühle mich in Österreich zuhause.

RV2: Können Sie tschetschenisch lesen und schreiben?

BF2: Nein.

RV2: In der Zeit wo Sie obdachlos gemeldet waren, wo haben Sie da geschlafen?

BF2: Ich habe bei meiner Mutter (Stiefmutter) geschlafen.

RV2: Wie ist das Verhältnis zu Ihren kleinen Geschwistern?

BF2: Sehr gut. Ich gehe mit ihnen in den Park und im Sommer gehen wir auch ab und zu mal Eis essen, in den Mc Donalds oder in den Prater. Mein Verhältnis ist sehr gut mit meinen Geschwistern.

RV2: Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Stiefmutter?

BF2: Auch sehr gut, ich helfe ihr auch im Haushalt wie Müll wegschmeißen oder Staubsaugen. Ich höre auf sie was sie sagt. Einkaufen gehe ich auch.

RV2: Wo leben Sie nach der Haftentlassung?

BF2: Ich lebe bei meiner Stiefmutter.

RV2: Das heißt Sie sind der Stiefmutter etwa näher als dem Vater, weil Sie bei ihr leben?

BF2: Ich verstehe mich sehr gut mit meiner Stiefmutter und was mir am Herzen liegt kann ich mit ihr reden.

RV2: Wer war der obsorgeberchtigte für Sie bevor Sie 18 Jahre alt geworden sind?

BF2: Meine Stiefmutter.

RV2: Sie erzählten vorhin, dass Sie sich für den Pflichtschulabschluss angemeldet haben. Sie waren bis letzte Woche in Haft, wann bzw. wo haben Sie sich das organisiert?

BF2: Ich im Rahmen meines Ausgangs mit meiner Sozialarbeiterin organisiert. Ich habe einen Zettel geschrieben, damit ich mich auf meinen Kurs vorbereiten kann. Ich habe diese Termine auch wahrgenommen im Rahmen meines Ausganges.

RV2: Sind Sie bei Ihrer Stiefmutter gemeldet?

BF2: Ich habe online einen Meldezettel geschickt und ich warte auf die Antwort.

RV2: Wer war Sie aller im Gefängnis besuchen?

BF2: Meine Mutter, Stiefmutter, meine Oma vs, meine Geschwister und meine Freunde.

RV2: Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Oma?

BF2: Ja, ich gehe öfters meine Oma mit meinem kleinen Bruder XXXX besuchen. Ich habe ein gutes Verhältnis mit meiner Oma.

RV2: Was ist für Sie Ihr zuhause?

BF2: Ich fühle mich hier in Österreich zuhause.

RV2: Können Sie sich an die Zeit in Tschetschenien erinnern?

BF2: Nicht so, die Menschen sind anders als hier. Man kann nicht mit jedem reden und es gibt auch strengere Regeln in Tschetschenien.

RI: Welche strengen Regeln meinen Sie?

BF2: Der tschetschenische Präsident sagt zum Beispiel, dass man den Oberlippenbart wegmachen muss. Es sind halt persönliche Sachen. Die Regeln die es hier nicht gibt, gibt es in Tschetschenien.

BF2 verlässt um 12:11 Uhr den Saal und verlässt den Verhandlungssaal.

Z2 betritt den Saal.

Die Verhandlung wird um 12:11 Uhr bis 12:20 Uhr unterbrochen.

___________________________________________________________________________

Befragung der Zeugin 2:

[…]

RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsangehörigkeit, den letzten Aufenthaltsort in der Russischen Föderation und Ihren derzeitigen Aufenthaltsstatus in Österreich?

Z2: Mein Name ist XXXX , geb. XXXX , StA.: Russische. Bevor ich nach Österreich kam lebte ich in Tschetschenien. Ich lebte in XXXX . Mein Geburtsort heißt XXXX . Ich habe ein Visum hier in Österreich.

RI: Sind Sie die leibliche Mutter des BF2?

Z2: XXXX ? Nein, ich bin nicht die leibliche Mutter. Die leibliche Mutter ist in Tschetschenien.

RI: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zum BF2? Haben Sie ihn adopiert?

Z2: Nein, ich habe geheiratet. Er wurde zu mir gebracht als er sieben Jahre alt war.

RI: Von wann bis wann haben Sie mit dem B2 im selben Haushalt gelebt?

Z2: Er war bei mir als er sieben Jahre alt war. Voriges Jahr hat er ein paar Monate beim Onkel XXXX gelebt. Jetzt lebt er wieder bei mir.

RI: Wann haben Sie den Vater des BF2, den BF1, kennen gelernt und von wann bis wann waren Sie mit dem BF1 in einer Beziehung?

Z2: Von 2009 –es werden jetzt zwei Jahre sein.

RI: Waren Sie mit dem BF1 jemals verheiratet?

Z2: Nur eine religiöse Ehe.

RI: Von wann bis wann haben Sie mit dem BF1 in einem gemeinsamen Haushalt gelebt?

Z2: Von 2009 bis 2018.

RI: Was war der Grund für die Trennung von XXXX ?

Z2: Der Grund war, dass er wieder geheiratet hat. Ein halbes Jahr war es so, dass er hier als auch dort gelebt hat, aber dann wollte ich es nicht mehr und ich habe mich von ihm getrennt.

RI: Diese Trennung von XXXX hat aber keine Auswirkung gehabt zum persönlichen Verhältnis zum Sohn XXXX ? Sie hatten auch weiterhin intensiv mit XXXX zu tun?

Z2: Natürlich, er hat begonnen bei mir zu leben als er sieben Jahre alt war. XXXX will jetzt auch nicht wo anders leben, er will bei mir und den Kindern leben.

RI: Haben Sie gemeinsame Kinder mit dem BF1?

Z2: Ja, vier.

RI: Stehen Sie noch in regelmäßigem Kontakt mit dem BF1 und wenn ja wie oft?

Z2: Ja, er ruft mich und die Kinder jeden Tag an. Am Freitag und manchmal am Samstag holt er sie ab.

RI: Mit welchen Verwandten von Ihnen leben Sie in einem gemeinsamen Haushalt?

Z2: Ich und fünf Kinder, meine vier und XXXX .

RI: Sind Sie seit der Trennung von XXXX wieder in einer Partnerschaft? Wenn ja, mit wem und seit wann?

Z2: Nein, das will ich nicht.

RI: Wovon leben Sie und Ihre Kinder im Bundesgebiet? Woher beziehen Sie Ihren Lebensunterhalt?

Z2: Ich arbeite nicht, weil ich ein kleines Kind habe. Wir bekommen soziale Unterstützung.

RI: Was wissen Sie vom seinerzeitigen Fluchtgrund des BF1 und dessen Familie?

Z2: Zuerst ist sein Vater gekommen und dann ist die Mutter mit den Kindern hierhergekommen.

RI: Wissen Sie etwas über den Fluchtgrund?

Z2: Das weiß ich nicht, der Vater hatte Probleme. Genau weiß ich es nicht.

RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr des BF2 in die Russische Föderation?

Z2: XXXX hat dort niemanden. Die Mutter ist verheiratet. Er hat keinen Kontakt zu seiner Mutter seitdem er neun Monate alt ist. Es gibt dort nur die alte Großmutter.

RI: Könnte Ihrer Meinung nach der BF2 in einem anderen Teil der Russischen Föderation leben?

Z2: Er kann die Sprache nicht. Dort gibt es keine Arbeit. Jetzt gibt es auch eine Gefahr wegen der Ukraine, das ist ein großes Problem.

RI: Der BF2 ist im Bundesgebiet zweimal strafgerichtlich verurteilt worden wegen Delikten, die gegen das Eigentum und die körperliche Integrität Dritter gerichtet ist. Womit hat Ihrer Meinung nach seine kriminelle Laufbahn begonnen und was war der Grund Ihrer Meinung nach, für die Straftaten? Etwa Langeweile, finanzielle Not, zerrüttete Familienverhältnisse, schlechter Umgang oder anderes? Können Sie mir erklären, wie es beim BF2 soweit kommen konnte?

Z2: Er ist ein ruhiger Mensch er beschäftigt sich nicht mit solchen Sachen. Er raucht nicht. Ich glaube es ist wegen den Freunden so passiert –wegen dem Umgang. Es waren keine guten Freunde die er hatte.

RI: Beschreiben Sie mir mit Ihren eigenen Worten den Grad der Integration in Österreich bzw. die Integrationsschritte, die Ihr Stiefsohn in Österreich bereits gesetzt hat.

Z2: Ich verstehe die Frage nicht. In welchem Sinn?

RI: Sie haben gesagt, dass Sie ein sehr intensives Verhältnis mit dem BF2 haben und dass er seit seinem siebten Lebensjahr bei Ihnen im Haushalt lebt. Erklären Sie mir bitte wie sich der BF2 hier in Österreich integriert hat bzw. welche Schritte er dafür gemacht hat?

Z2: Er hat die Schule noch nicht abgeschlossen. Ich bitte ihn das dritte Mal, dass er die Schule abschließt, aber er sagt jetzt, dass er weiterlernen will –also hat sich das zum Guten gewendet. Vorher habe ich nicht gesehen, dass er sehr dafür war seine Schulausbildung fortzusetzen.

RI: Was meinen Sie hat diesen Gesinnungswandel bewirkt?

Z2: Er will nicht zurück nachhause, er sagt, dass er mit uns leben will und das es ein großes Problem für ihn ist. Er sagte auch, dass er in den sechs Monate im Gefängnis über alles nachgedacht hat. XXXX hört zu, er ist nicht aggressiv, er macht zuhause, dass was man ihm sagt. Ich war sehr verwundert, als ich erfahren habe, dass er auf der Straße irgendjemanden irgendetwas angetan hat.

RI: Sie haben einen sehr engen Kontakt zu ihm. Was veranlasst Sie zu glauben, dass er nicht wieder in ein kriminelles Verhaltensmuster zurückfallen wird?

Z2: Weil ich an ihn glaube, ich habe viel mit ihm gesprochen. Ich bin ja selber krank. Ich hoffe sehr, dass er das nicht mehr machen wird.

RI: Was meinen Sie, dass Sie selber krank sind?

Z2: Ich habe Probleme mit der Lunge, ich habe Termine in den Spitälern.

RI: Welche Probleme haben Sie?

Z2: Man hat mir gesagt, dass ich an einer Krebserkrankung leide und am 14.03.2023 gibt es eine Laboruntersuchung.

RI an RV2: Haben Sie noch Fragen an die Zeugin?

RV2: Sie haben gesagt, dass XXXX zuhause keine Probleme macht. Heißt das, dass er immer respektvoll ist oder gab es zuhause auch Probleme?

Z2: Er ist ehrlich gesagt besser, als die Kinder die ich zur Welt gebracht habe. Deswegen wird das für mich ein sehr großer Stress sein, wenn man XXXX zurückschicken wird. Das ist für mich genauso, als wenn man eines von meinen eigenen Kindern zurückschicken würde.

RV2: Sagt XXXX Mama zu Ihnen?

Z2: Seit dem ersten Tag, weil er zuhause nicht mit der Mutter aufgewachsen ist.

RV2: Haben Sie eine emotionale Abhängigkeit zu XXXX ? Haben Sie ein so enges Emotionales Band zu ihm?

Z2: Natürlich, er ist ja bei mir seit seinem siebten Lebensjahr, da würde man sogar leiden, wenn man die Katze nach so einer langen Zeit verliert.

RV2: Heißt das, XXXX ist so viel Wert für Sie wie eine Katze?

Z2: Nein, ich habe nur gemeint, dass man selbst eine Katze nach so vielen Jahren vermissen würde, aber hier geht es ja um ein Kind.

RV2: Unterstützt Sie XXXX im Haushalt oder zuhause?

Z2: Ja, er bringt die Kinder in den Kindergarten und holt sie ab wenn ich keine Zeit habe. Zuhause geht er mit dem Mist weg oder tut Staubsaugen, das was ich ihm sage tut er.

RV1: Können Sie mir kurz erklären, wie das Verhältnis zwischen Ihrem Ex-Mann und den Kindern ist?

Z2: Sehr gut. Weder ich noch meine Kinder haben Problem mit dem Ex-Mann.

RV1: Kümmert er sich um die Kinder? Wie ist es am Wochenende? Bringt er sie in die Schule?

Z2: Er nimmt sie am Wochenende, manchmal bringt er sie am Sonntag und manchmal bringt er sie am Montag in die Schule. Wenn ich ihm sage, dass ich die Kinder schon vermisse dann bringt er sie schon am Sonntag.

RV1: Ist er der Ex-Mann auch verlässlich, dass er Sie unterstützt, wenn Sie Hilfe brauchen?

Z2: Auch, wenn ich Hilfe brauche, dann weiß ich, dass er mir helfen wird.

Z2 verlässt den Saal um 12:50 Uhr.

Z2 verlässt den Saal. BF3 betritt den Saal.

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Befragung des BF3:

RV3 legt vor: ein Schreiben des BFA vom 11.01.2017, aus welchen hervorgeht, dass gegen den BF3 bereits in der Vergangenheit ein Aberkennungsverfahren eingeleitet wurde aber offenbar wieder eingestellt wurde. Es hat dann eine handschriftliche Stellungnahme des BF3 gegeben aus der JA Josefstadt und aufgrund dessen dürfte das seinerzeitige Aberkennungsverfahren eingestellt worden sein. RV legt auch die seinerzeitige handschriftliche Stellungnahme vor welche in Kopie zum Akt genommen wird. Dieses wird in Kopie zum Akt genommen.

RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort in der Russischen Föderation (RF) an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise zuletzt aufgehalten haben.

BF3: XXXX , geb. XXXX in XXXX , StA. Russische Föderation, mein letzter Wohnort war in Tschetschenien, es gab keine Adresse.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volksgruppe- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF3: Tschetschene.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an? Und wenn ja, welcher?

BF3: Sunnitischer Moslem.

RV3 legt vor: Eine Kopie einer russischen Geburtsurkunde des BF3, plus eine deutsche Übersetzung. Beides wird zum Akt genommen.

RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?

BF3: Geburtsurkunde.

RI: Besitzen Sie zur Zeit einen gültigen Reisepass?

BF3: Nein.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie?

BF3: Tschetschenisch, bisschen Russisch und Deutsch und ein bisschen Englisch.

RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Welche Schulausbildung haben Sie abgeschlossen? Welchen Beruf haben Sie gelernt und welchen Beruf haben Sie ausgeübt? Gemeint ist, sowohl im Herkunftsstaat als auch im Bundesgebiet?

BF3: Ich habe die Volks und Hauptschule in Österreich abgeschlossen. Ich habe einen Pflichtschulabschluss.

RV3 legt vor: eine Kopie Schulnachricht der 4. Klasse Hauptschule und ein Kopie Jahresabschlusszeugnis der 4. Klasse Hauptschule. Diese werden zum Akt genommen.

RI: Gehen Sie zur Zeit einer angemeldeten beruflichen Beschäftigung im Bundesgebiet nach? Wenn ja, welcher?

BF3: Ja, ich bin über eine Leasingfirma in der Textilbranche tätig.

RV3 legt vor: ein Dienstzeugnis vom 09.11.2022, der XXXX sowie Lohn und Gehaltsabrechnungsauszüge von Juni 2022 bis Jänner 2023. Diese werden in Kopie zum Akt genommen.

RI: VORHALTUNG: Laut aktuell eingeholtem AJ-Web-Auszug gehen Sie im Bundesgebiet seit 21.06.2022 einer angemeldeten Berufstätigkeit als Arbeiter nach. Davor sind Sie von 08.06.2021 bi 18.06.2021 und 18.12.2020 bis 04.02.2021 einer Berufstätigkeit als Arbeiter und von 19.02.2021 bis 15.03.2021 als geringfügig beschäftigter Arbeiter nachgegangen. Dazwischen habe Sie immer wieder Notstandshilfe und Arbeitslosengeld bezogen. Wieso haben Sie die Möglichkeit einer beruflichen Integration im Bundesgebiet bisher nicht entsprechend genützt und sind immer nur wenige Tage, Wochen oder Monate am Stück einer Beschäftigung im Bundesgebiet nachgegangen?

BF3: Ich war selber ganz ehrlich nicht so bereit und verlässlich gewesen. Ich hatte schlechte Freunde und bin einen schlechten Weg gegangen.

RI: Sie waren im Bundesgebiet im Zeitraum 28.03.2013 bis 20.08.2020 wiederholt und mehrmonatig im Bundesgebiet obdachlos gemeldet. Wie kam es dazu?

BF3: Ja da ich von Kärnten nach XXXX gezogen bin, es war einfach schwer, dass ich mir alleine eine Wohnung miete. Ich habe mich daher obdachlos gemeldet und habe bei meinen Verwandten gewohnt.

RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zur Zeit in der RF und in welcher Stadt? Bi geben Sie Namen und Geburtsdaten Ihrer Verwandten in der RF an.

BF3: Ich habe zu keinen Kontakt. Manche leben nicht mehr und manche leben.

RI: Haben Sie noch Kontakt zu Ihren im Herkunftsstaat lebenden Verwandten? Wenn ja, wie oft?

BF3: Nein, zu niemanden.

RI: Verfügen Sie im Herkunftsstaat noch über Vermögenswerte (z.B.: Haus, Eigentumswohnung, Auto, Grundstück,…)?

BF3: Nein.

RI: Verfügen Sie über Freunde oder Bekannte aus dem Herkunftsstaat, mit welchen Sie noch in Kontakt stehen?

BF3: Nein.

RI: Verfügen Sie über Verwandte, die außerhalb Ihres Herkunftsstaates leben? Wenn ja, welche? Zählen Sie bitte alle auf?

BF3: Ich habe einen Cousin in Schweden, das ist mein Cousin zweiten Grades. Ich habe langte keinen Kontakt zu ihm. Der letzte Kontakt war vor zwei Jahren.

RI: Verfügen Sie über Verwandte im Bundesgebiet? Wenn ja, welche? Bitte zählen Sie alle mit Namen und Geburtsdaten auf.

BF3: Meine ganze Familie ist hier. Ich habe drei Geschwister und meine Eltern. Nachgefragt: Kinder habe ich nicht.

RI: Wie oft waren Sie bisher verheiratet, mit wem und von wann bis wann?

BF3: Ich war islamisch verheiratet von 2020 bis 2021 mit XXXX . Den Nachnamen habe ich vergessen. Derzeit bin ich mit XXXX traditionell verheiratet seit 1. Oktober 2022.

RI: Verfügen Sie über leibliche Kinder. Wenn ja, nennen Sie bitte Namen und Geburtsdaten und die Kindesmutter.

BF3: Ich habe keine leiblichen Kinder. Meine Lebenspartnerin hat auch keine Kinder.

RI: Mit welchen Verwandten leben Sie in einem gemeinsamen Haushalt und seit wann?

BF1: Ich lebe mit meiner Lebensgefährtin in XXXX zusammen. Meine Familie ist in XXXX .

RI: Wann sind Sie das erste Mal nach Österreich eingereist?

BF3: Im Jahr 2005.

RI: Haben Sie vor dieser erstmaligen Einreise in Österreich auch in einem anderen Land gelebt bzw. in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt?

BF3: Nein, weiß ich nicht.

RI: Sind Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich im Jahr 2005 wieder einmal im Herkunftsstaat gewesen, sei es auf Besuch oder auf Urlaub?

BF3: Nein.

RI: Sie waren in Österreich straffällig. Wie oft sind Sie in Österreich strafrechtlich verurteilt worden?

BF3: 10 oder 11 Mal.

RI: Wissen Sie noch, welchen Taten diesen strafrechtlichen Verurteilungen jeweils zu Grunde liegen?

BF3: Ja. Das erste war Raub dann Körperverletzung, Einbruch, Diebstähle, Sachbeschädigungen und verstoß gegen das Waffengesetz.

RI: Womit hat Ihre kriminelle Laufbahn begonnen und was war der Grund für die Straftaten? Etwa Langeweile, finanzielle Not, zerrüttete Familienverhältnisse, schlechter Umgang oder anderes? Können Sie mir erklären, wie es bei Ihnen soweit gekommen ist?

BF3: Ich bin vom Krieg geflüchtet mit 11 Jahren, es hat einfach so begonnen. Ich bin mit Gewalt hierhergekommen. Ich war zwar ein Kind, aber in mir was ich gesehen habe, war Gewalt. Die Sachen die ich vom Herkunftsstaat mitgenommen habe, das war in mir. Die Bilder waren im Kopf.

RI: Wie stehen Sie heute zu diesen Straftaten im Bundesgebiet?

BF3: Ich würde es viel besser machen, wenn ich noch einmal die Möglichkeit hätte.

RI: VORHALTUNG: Im Strafregister der Republik Österreich geht hervor, dass bereits elf strafrechtliche Verurteilungen zu Ihrer Person eingetragen, wegen Delikten, die vorwiegend gegen das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit Dritter gerichtet sind und sie haben bereits mehrjährige Freiheitsstrafen ausgefasst. Wie gedenken Sie ernsthaft diesen Teufelskreis ihres im Bundesgebiet bisher zu Schau getragenen hochkriminellen Verhaltens künftig zu durchbrechen?

BF3: Mein Plan ist weiter arbeiten zu gehen und mich von solchen Sachen fern zu halten.

RI: Was sagen Ihre Eltern und Geschwister zu Ihrem bisherigen Verhalten im Bundesgebiet?

BF3: Ja ihnen ist es genauso schlecht gegangen.

RI: VORHALTUNG: Sie sind zwischen Jänner 2009 und Juli 2022, also binnen etwas mehr als 13 Jahren, in Österreich elfmal strafrechtlich verurteilt worden und haben trotz bereits verbüßter Haftstrafen in 2011/2012, 2013, 2014/2015 Ihr Verhalten nicht geändert und sind 4 Mal erneut straffällig geworden. Begründen Sie mir bitte glaubhaft, wieso Sie nach Entlassung aus Ihrer Haft nicht wieder in das bisherige kriminelle Verhaltensmuster zurückfallen werden?

BF3: Die Delikte was ich nach meiner letzten Warnung vom BFA erhalten habe, waren zwei Sachbeschädigungen und einmal ist ein Messer in meinem Handschuhfach im Auto gefunden worden und wegen dem wurde ich verurteilt. Was mache ich, wenn ich einen Unfall habe und meinen Gurt nicht aufbekomme. Es geht nicht nur um den Gurt, man kann es ja auch für andere Dinge gebrauchen, wenn man Menschen helfen will oder man braucht es selber wenn man zum Beispiel ein Problem mit dem Auto hat.

RI: Welche Schritte haben Sie seit Ihrer Straffälligkeit im Bundesgebiet gesetzt um zu verhindern, dass Sie wieder in die Kriminalität abgleiten?

BF3: Ich habe die meiste Problem im Bundesland XXXX gehabt, ich wohne nicht mehr hier. Ich habe meine Lebensgefährtin kennengelernt und wegen ihr bin ich von hier weggezogen, ich habe zu arbeiten begonnen. Ich arbeite schon seit 9/10 Monaten. In meiner Freizeit mache ich Sport. Ich habe ein paar Therapien besucht. Auf Nachfrage: Ich war bei der Männerberatung. Ich war bei ein paar Terminen dort und dann habe ich die Nachweise dieser Teilnahme an das Gericht geschickt. Nachgefragt: Ich habe mit denen geredet, was mir schwerfällt oder wo ich mir schwer tue. Auch über die Drogenproblematik haben wir geredet.

RI: Hatten Sie ein Drogenproblem?

BF3: Ja, ich hatte Probleme mit Kokain und Gras. Ich habe auch eine Drogentherapie gemacht. Ich war im XXXX , sechs Monate auf stationärer Therapie und dann 18 Monate auf Ambulantertherapie.

RI an RV3: Haben Sie Dokumente darüber?

RV3 legt vor: ein Schreiben des Zentrums für Familientherapie und Männerberatung vom 08. November 2022, eine Bestätigung des XXXX vom 10.03.2022 über ein Erstgespräch und eine Beratungsdokumentation vom BMI über die Teilnahme an Beratungen zu XXXX aus welchem ersichtlich ist, dass der BF3 zwischen 25.03.2022 und 12.04.2022 an fünf Beratungen teilgenommen hat.

Des weiteren legt RV3 vor: einen Beschluss des LG XXXX vom 12.08.2015, aus welchem hervorgeht, dass dem BF3 die stationäre Aufnahme zwecks stationärer psychischen Behandlung (notwendige gesundheitsbezogene Maßnahmen nach § 11 Abs. 2 Suchmittelgesetz) auferlegt worden ist. Diese Unterlagen werden zum Akt genommen.

RI: Laut einem aktuellen KPA-Auszug ist für Ihre Person das Delikt des schweren Raubes eingetragen. Es geht hierbei um Gewaltanwendung an einem öffentlichen Ort, am 18.03.2022. Es soll um ein Handy gegangen sein. Erzählen Sie bitte was genau geschehen ist.

BF3: Ich war schon bei der Polizei wegen dem und dann habe ich einen Brief bekommen, dass es eingestellt worden ist.

RI: Zu Ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat in 2005: Wann hat die Gefährdungslage für Sie konkret begonnen und was war das fluchtauslösende Ereignis?

BF3: Ja, das war wegen meinem Vater. Er war auf der Flucht, er hat am ersten Tschetschenien Krieg teilgenommen und wegen ihm sind wir hierhergekommen.

RI: Sind Sie seit Ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat politisch aktiv gewesen?

BF3: Nein.

RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation?

BF3: Das ich in den Krieg ziehen muss, das ist meine Befürchtung und außerdem habe ich dort niemanden, mit dem ich zurzeit sein könnte. Ich weiß nicht wer lebt und wer nicht lebt und ich beherrsche auch nicht die amtliche Sprache Russisch.

RI: Könnten Sie in einem anderen Teil der Russischen Föderation leben?

BF3: Tschetschenien ist Russland und Russland ist Tschetschenien.

RI: Wie nehmen Sie am sozialen Leben in Österreich teil (Mitgliedschaften bei Vereinen, Clubs,…)?

BF3: Ich war in einem Club, jetzt aber nicht mehr. Ich war in einem Sportclub. Jede Art von Kampfsport oder Fitness, das war aber noch in XXXX . In XXXX gehe ich in einen Fittensclub.

RI: Haben Sie österreichische Freunde?

BF3: Ja, natürlich.

RI: Sind das Freunde mit überwiegend tschetschenischen Wurzeln?

BF3: Nein, ich habe mehr österreichische Freunde als tschetschenische Freunde.

RI: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor?

BF3: Ja, natürlich ich habe mehr Zeit. Ich fühle mich hier einfach zuhause, ich bin hier zur Schule gegangen, ich habe hier Freunde und vor allem meine Lebensgefährtin ist da und meine Familie ist da. Hier ist die bessere Möglichkeit zum Leben und zum Arbeiten gehen. Hier ist ein freies Land und die freie Meinung, was wir im Herkunftsstaat nicht haben. Hier ist die Demokratie.

RI: Waren Sie in Österreich bislang ehrenamtlich tätig?

BF3: Ja, das war für zwei Wochen bei der XXXX habe ich geholfen. Ich musste im Lager mit dem Stapler fahren.

RI: Haben Sie in Österreich sonst eine Fort-, Aus- oder Weiterbildung betrieben? Wenn ja, welcher Art?

BF3: Nein.

RV3: Ich habe hier eine Teilnahmebestätigung des BFI über eine Bildungsveranstaltung als Staplerführer, ein Arbeitszeugnis von XXXX vom 13.10.2020, betreffend Mitarbeit in der Fahrradwerkstatt. Diese werden in Kopie zum Akt genommen.

RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?

BF3: Ja.

RI: Nehmen Sie Medikamente?

BF3: Nein.

RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?

BF3: Nein.

RI: Sind Sie arbeitsfähig?

BF3: Ja.

RI: In welcher Sprache unterhalten Sie sich mit Ihrer Familie im Bundesgebiet?

BF3: In meiner Muttersprache. Mit meinen Eltern und Geschwistern in meiner Muttersprache, mit meinen Neffen und Nichten gemischt –Deutsch und Muttersprache.

RI an RV: Haben Sie Fragen an den BF3?

RV3: Ich habe Ihr Dienstzeugnis vorgelegt, da wurden Sie als äußert Kollegial und sehr beliebt beschrieben. Schildern Sie ein bisschen?

BF3: Seit ich in Oberösterreich bin, ich bin nicht mehr in meinen alten kreisen. Ich versuche mich zu bemühen und zu arbeiten und pünktlich zu sein. Ich versuche auch in einem Team klar zu kommen.

RV3: Gelingt Ihnen das?

BF3: Ja, das sehen Sie.

RV3: Warum der Sinneswandel?

BF3: Der Grund ist meine Lebensgefährtin, sie hat mir geholfen den richtigen Weg zu gehen. Sie unterstützt mich überall, dass ich es auch schaffe. Sie steht immer hinter mir und sie ist auch ein Grund, warum ich derzeit brav arbeiten gehe und mich von schlimmen oder schlechten Sache entferne und dass man auch anders und besser leben kann ohne kriminell zu sein und ohne das man Drogen nimmt. Es gibt auch andere schönen Sachen im Leben. Die Frau hat mich wirklich verändert.

RV3: Wollen Sie heiraten?

BF3: Ja, ich konnte bisher nicht heiraten, weil ich keinen Pass hatte und ich habe mir auch bei der Arbeitssuche schwer getan mit der Identitätskarte die ich vom BFA bekommen habe. Jetzt habe ich einen Konventionsreisepass nach meiner Entlassung, nach über drei Jahren bekommen und möchte bald als nächsten Schritt heiraten.

RV3: Sie wurden 2022 verurteilt. Schildern Sie uns darüber.

BF3: Das war in einem Hotel, wir haben uns ein Zimmer gemietet und wir sind irgendwie in Konflikt gekommen mit dem Sicherheitsdienst. Dort war eine Drehtür und wir haben draußen gestritten und ich wollte nicht im Streit vom Hotel weggehen und die Sicherheitsleute waren drinnen und ich war draußen. Sie hatten schon die Polizei angerufen. Ich bin in diese Tür hineingegangen, der Securitymann hat mich eingeklemmt –ich konnte weder rein noch raus und ich habe ihm gesagt, entweder macht er auf oder ich komme aus dem Loch selber irgendwie raus, das ist eine Freiheitsberaubung.

RV3 zitiert aus dem seinerzeitigen Strafantrag und führt aus, dass die Sache mit einem Abwesenheitsurteil geendet hat, der BF3 für schuldig empfunden wurde und der BF3 eine bedingte Freiheitsstrafe von drei Monaten bekommen hat. Dabei hätte man ernsthaft diskutieren können, ob ihn überhaupt ein Vorsatz trifft, man hätte auch mit einem Freispruch argumentieren müssen.

RV3: Die letzte Verurteilung am 05.05.2022, um was ist es hierbei gegangen?

BF3: Da muss ich sagen, da bin ich schuld. Ich habe auf das Auto eingeschlagen –ich war natürlich betrunken und habe zwei Monate Freiheitsstrafe bekommen und eine Fußfessel und musste 3.500 Euro Sachschaden, welche ich bereits gezahlt habe.

BF3 verlässt den Saal um 13:49 Uhr.

Z3 betritt den Saal.

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Befragung der Zeugin 3:

[…]

RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsangehörigkeit.

Z3: Mein Name ist XXXX , geb. XXXX , StA.: Österreich.

RI: Seit wann kennen Sie den BF3 den Herrn XXXX . Ich kenne ihn seit dem Sommer 2021.

RI: Wie haben Sie ihn kennengelernt?

Z3: Über das Internet.

RI: Seit wann sind Sie ein paar?

Z3: Eigentlich kurz danach.

RI: Sind Sie mit dem BF3 auch verheiratet.

Z3: Muslimisch sind wir verheiratet, aber es war uns standesamtlich nicht möglich da der BF3 keinen Reisepass hatte.

RI: Sie sind auch Muslim?

Z3: Wir haben muslimisch geheiratet aber ich bin ohne Bekenntnis?

RI: Seit wann leben Sie im gemeinsamen Haushalt mit dem BF3?

Z3: Seit Ende August, Anfang September 2022 leben wir zusammen, aber damals noch getrennte Wohnanschriften. Der BF3 hat noch immer seine Wohnung in XXXX , falls wir die Eltern besuchen aber die übereignende Zeit lebt er nun in XXXX an meiner Andresse.

RI: Verfügen Sie über leibliche Kinder im Bundesgebiet?

Z3: Nein.

RI: Wann haben Sie vor den BF3 zu heiraten?

Z3: So schnell wie möglich.

RI: Steht schon der Hochzeitstermin fest?

Z3: Nein, weil der BF3 erst seit kurzem seinen Konventionspass erhalten hat. Mir ist es wichtig, diese Sicherheit. Mir hat es die Füße unter dem Boden gerissen, als der Brief vom BFA gekommen ist.

RI: Sie meinen den angefochtenen Bescheid?

Z3: Ja, es war wirklich sehr schlimm für mich.

RI: Wie häufig stehen Sie im Kontakt mit der Familie des BF3?

Z3: Sehr häufig. Mein Mann telefoniert täglich mit der Familie. Mit dem Vater telefoniere ich auch. Zurzeit ist es schwierig, da wir in meinem Elternhaus, das Haus renovieren, wo meine Eltern wohnen, da ich es geerbt bekommen habe und deswegen ist es nicht so oft möglich nach XXXX zu kommen zu seinen Eltern.

RI: Sie wissen, dass Ihr Lebensgefährte 11 Mal in Österreich bereist strafgerichtlich verurteil worden ist. Wissen Sie auch um welche Straftaten es sich gehandelt hat und was meinen Sie dazu?

Z3: Ja, ich finde es schlimm. Wirklich ich habe es ihm auch gesagt. Ich bin ein Mensch, ich arbeite auch selbst im sozialen Bereich. Jeder hat eine zweite Chance verdient und seitdem er mich kennengelernt hat, weiß ich, dass er sich zu 100 Prozent verändert hat.

RI: Würden Sie Ihren Lebensgefährten als einen impulsiven Menschen beschreiben der leicht die Fassung verliert?

Z3: Nein.

RI: Hat es im Privatleben jemals in Ihrer Beziehung einen Moment gegeben, wo der BF3 gegenüber Ihnen die Fassung verloren hat?

Z3: Nein.

RI: Beschreiben Sie mir bitte welche Integrationsschritte der BF3 Ihrer Kenntnis nach, im Bundesgebiet gesetzt hat bzw. welche Anstrengungen er bisher unternommen hat um sich in Österreich zu integrieren.

Z3: Ich kann nur von den letzten zwei Jahren sprechen. Er hat es durch seine Straftaten und seinen Ausweis schwer gehabt einen Job zu finden. Er ist jeden Tag früh aufgestanden, obwohl er (Z3 weint) hunderte Absagen bekam, aber dann hat er einen Staplerführerschein gemacht und durch Glück haben wir eine Leasingfirma gefunden, die ihm eine Chance gegeben hat. Das ist die wo er jetzt arbeitet. Des Weiteren ich bin Österreicherin, meine Eltern wohnen am Land –er wird von meiner Familie, von meinem Vater behandelt wie als ob es sein Sohn wäre und die beiden stehen in einem ausgezeichneten Verhältnis zueinander. Des Weiteren unternehmen wir sehr viel mit meinen Arbeitskollegen und in der Firma wird er auch positiv und freundlich angenommen. Wir leben auch nicht nach den muslimischen oder tschetschenischen Regeln, wir leben wie es uns passt.

RI: Sie kennen den BF3 jetzt doch einige Zeit und können Ihn auch somit persönlich beurteilen. Wie sehr hat er sich seit er sich mit Ihnen in einer Beziehung befindet persönlich geändert und wie treten diese Veränderungen für Sie erkennbar zu Tage?

Z3: Er hatte einen falschen Freundeskreis. Ich selber habe nichts dazu gesagt, weil es sollte von ihm kommen, dass er diese Änderungen annehmen möchte. Ich habe ihm mein Leben in XXXX gezeigt und er ist von selber zu mir gekommen und hat selbst gesagt, er möchte etwas in seinem Leben verändern. Ich habe ihm dabei unterstützt und so sind wir dann auch nach XXXX gezogen und wir haben gemeinsam nach einer Arbeit gesucht.

RI: Wo arbeiten Sie?

Z3: Ich arbeite bei der XXXX . Mein Schwerpunkt sind Betreuung von Familien und momentan auch schwererziehbarer Kinder die ich versuche auf den richtigen Weg zu bringen.

RI: Sie haben angegeben, dass sich der BF3 in der Zeit seit er sich mit Ihnen in einer Beziehung befindet persönlich verändert hat. Gefühlsmäßig wie nachhaltig empfinden Sie diese Veränderung?

Z3: Er hat den alten Freundeskreis abgebrochen –alles abgebrochen. Er hebt nicht mal ab wenn sie anrufen und er hat Abstand genommen von allen negativen was er früher gemacht hat.

RI an RV: Haben Sie noch Fragen an die Zeugin?

RV3: Wie ist der BF3 bei der Firma angekommen Ihrer Meinung nach?

Z3: Sehr gut, er ist nur einmal zu spät gekommen, weil er verschlafen hat und war dann aufgewühlt, weil er nicht gewusst hat wie er mit dieser Situation umgeht, es war ihm unangenehm zu spät zu kommen.

RV3: Er war dann jeden Samstag arbeiten?

Z3: Ja, er hat mehr gearbeitet als in einem normalen Arbeitsverhältnis.

RV3: Er verdient überdurchschnittlich gut. Leistet er auch einen Beitrag zur Haushaltsführung?

Z3: Ja.

RV3: Haben Sie Angst, dass er wieder in alte Verhältnisse zurückfällt? Sprich Job aufgibt, Freundeskreis usw.?

Z3: Nein, gar keine Angst. Weil wenn es ihm nicht gut geht dann kommt er zu mir und redet mit mir über seine Probleme, was ihn gerade belastet oder so.

RV3: Was macht er in seiner Freizeit.

Z3: Er geht liebend gerne ins Fitnessstudio. Vor einem dreiviertel Jahr hatte er nur noch 68 kg und jetzt wiegt er 85 kg. Er hat zugenommen, es geht im gut. Man merkt daran, dass es ihm gut geht. Er ist sehr diszipliniert und hat auch mich zum Sport bewegt.

Ende der Befragung von Z3 um 14:15 Uhr.

RI an RV1: Haben Sie noch eine Stellungnahme abzugeben?

RV1: Entgegen der Feststellung der belangten Behörde hat der BF1 keine Verbrechen, sondern gegen die zwei Vergehen begangen und wurde dafür beide Male bedingt verurteilt. Mittlerweile ergibt sich daraus ein Wohlverhaltenszeitraum von drei bis vier Jahren. Betreffend die vermeintliche Körperverletzung vom 03.02.2023 ist hervorzuheben, dass in Österreich gem. § 8 STPO die Unschuldsvermutung gilt und somit bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Person als unschuldig gilt. Jedenfalls hatte der BF1 keinesfalls ein schweres Verbrechen begangen, weswegen auch kein Aberkennungsgrund vorliegt. Sollte das Gericht trotz alle dem von einer rechtmäßigen Aberkennung ausgehen, wird hervorgehoben, dass die gesamte Kernfamilie des BF1 mit welcher er einen engen Kontakt pflegt, in Österreich lebt, er seit fast 18 Jahren im Bundesgebiet sesshaft ist und seine Kinder über einen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügen und somit ist jedenfalls von einen besonders schützendeswerten Familien und Privatleben gem. § 8 MRK auszugehen: Weitere Gründe die gegen die rechtmäßige Erlassung einer Rückkehrentscheidung sprechen sind einerseits die „10 Jahresgrenze“ nach der höchstgerichtlichen Judikatur, wonach gegen den BF nur dann eine Rückehrentscheidung erlassen werden dürfte, wenn er eine besonders verwerfliche Straftat begangen hätte. Anderseits spricht gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, dass gem. der höchstgerichtlichen Judikatur dem Kindeswohl eine besondere Stellung zukommt und besonders Kleinkindern, wie insbesondere der kleinste Sohn des BF, der zwei Jahre alt ist, nicht zugemutet werden kann einen Kontakt über Medien aufrecht zu erhalten. Aus diesen Gründen ist dem BF zumindest ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren.

RI an RV2: Haben Sie noch eine Stellungnahme abzugeben?

RV2: Der BF2 ist in Österreich aufgewachsen und sozialisiert worden. Er kann weder Russisch sprechen noch lesen und schreiben. Auch die tschetschenische Sprache beherrscht er nicht in Wort und Schrift. Er hat keinerlei Bindungen zu seinem Herkunftsstaat und befindet sich auch schon längst nicht mehr im Anpassungsfähigen Alter. (vgl. hierzu VwGH vom 21.03.2018 Ra/2017/18/0333) Der BF2 ist gerade einmal volljährig und hat ein intensives Familienleben mit seiner Stiefmutter und seinen minderjährigen Geschwistern mit denen er durchgehend –ausgenommen die 6 Monate in Haft –in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Die vorgehaltenen Obdachlosenmeldungen waren zu einem Zeitraum, wo der BF gerade einmal 8 Jahre alt war und liegen somit nicht in seiner Sphäre. Der VwGH spricht in seiner Rechtsprechung aus, dass eine familiäre Beziehung zwischen Eltern und deren erwachsenen Kinder auch nach der Volljährigkeit fortbesteht und jedenfalls schützenswert ist (vgl. VwGH vom 21.04.2011, 2011/01/0093). Der BF hat zwei Jugendstraftaten in Österreich begangen und einmal das Haftübel verspürt und hat ihm vor allem das zu einem Sinneswandel gebracht. Er möchte in Österreich seinen Pflichtschulabschluss nachholen und eine Lehre beginnen und sich wohl verhalten. Eine Rückkehrentscheidung in seinem Heimatstaat würden jeden falls seinen Art. 8 MRK gewährleisteten Rechte verletzen. Bezugnehmen zur weiteren Rückkehrsituation wird auf die Stellungahme vom 01.03.2023 verwiesen und auf die Ausführungen in der Beschwerde. Die Anträge werden aufrecht erhalten.

RV3: Auf meine Ausführungen darf ich in der Beschwerde verweisen. Im Übrigen treffen die Ausführungen der beiden Rechtsvertreter auch auf meinen Beschwerdeführer zu und schließe mich diesen Ausführungen an und erhebe diese Ausführungen zu meinem eigenen Vorbringen. Über den BF3 wurde bereits 2017 ein Verfahren zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaften eingeleitet. Obwohl zum damaligen Zeitpunkt die maßgeblichen Verurteilungen (in Summe 6) bereits vorgelegen habe, wurde das Verfahren eingestellt. Zwischenzeitlich hat der BF3 sein Leben geändert. Es ist von einer positiven Prognose auszugehen. Der BF3 lebt in einer Lebensgemeinschaft. Eine Heirat ist demnächst zu erwarten. Der BF geht einer geregelten Arbeit nach, ist seit 18 Jahren in Österreich integriert und spricht akzentfrei Deutsch. Von einer Aberkennung der Flüchtlingseigenschaften und einer Rückführung ist daher Abstand zu nehmen, jedenfalls überwiegend die Argumente nach Art. 8 MRK, es wird beantragt der Beschwerde folge zu geben und dem Bescheid in allen Punkten aufzuheben. Nach dem Verfahren wegen Aberkennung Der Flüchtlingseigenschaften im Jahr 2017 hat der BF3 drei Bagatelldelikte begangen. Ein Delikt wegen § 50 Waffen Gesetz dem zugrunde liegt, dass der BF3 in seinem Handschuhfach ein Messer transportiert hätte. Weiters eine Sachbeschädigung mit dem Strafantrag, dass er eine Drehtür mit der rechten Schulter beschädigt hätte und eine weitere Sachbeschädigung nachdem er ein Auto beschädigt hätte. Diese Verurteilungen die jeweils mit Strafen im unteren Bereich des Strafrahmens geahnt wurden, rechtfertigen nicht die Aberkennung seiner Flüchtlingseigenschaften und auch keine Rückkehrentscheidungen.

RI: Das Protokoll wird der Beschwerdeseite nun zurückübersetzt und zur Durchsicht vorgelegt. Der Z wird der sie betreffende Teil des Protokolls rückübersetzt/ zur Durchsicht vorgelegt.

[…]“

41. Mit Urkundenvorlage vom 13.03.2023 wurde durch den Rechtsvertreter des BF1 ein Konvolut an medizinischen Unterlagen und eine Kopie seines Inlandsreisepasses vorgelegt. Ausgeführt wurde darüber hinaus, dass der BF1 seine Geburtsurkunde nicht mehr gefunden habe. Außerdem habe er die Frage nach einem gültigen Reisepass in der mündlichen Verhandlung am 06.03.2023 nicht korrekt verstanden. So gab der BF1 zunächst richtig an, dass er über keinen Auslandsreisepass verfüge, habe jedoch nach mehrfachem nachfragen fälschlicherweise gedacht, dass der Inlandsreisepass gemeint sei, weshalb er angab einen gültigen zu besitzen. Der BF1 verfüge nämlich über einen gültigen Inlandsreisepass, jedoch keinen gültigen Auslandsreisepass.

42. Mit Dokumentenvorlage vom 14.03.2023 wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF2 für diesen ein ZMR-Auszug vorgelegt, welcher bestätige, dass der BF2 mit seiner Stiefmutter und seinen Geschwistern im gemeinsamen Haushalt lebe. Außerdem wurden diverse Schulzeugnisse für den BF2 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Anträge der BF1-BF3 auf internationalen Schutz vom 20.09.2005 (BF3) bzw. vom 13.11.2005 (BF1) bzw. vom 18.08.2011 (BF2), der niederschriftlichen Einvernahme der Mutter des BF1 und des BF3 vor dem ehemaligen Bundesasylamt am 26.09.2005, der niederschriftlichen Einvernahme des BF1 vor dem ehemaligen Bundesasylamt am 23.11.2005, am 28.11.2005, am 06.04.2006 und am 09.02.2012 (im Verfahren des BF2 als dessen gesetzlicher Vertreter), der Erstbefragung des BF1 im Verfahren des BF2 als dessen gesetzlicher Vertreter am 18.08.2011, sowie den Zuerkennungsbescheiden des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.10.2005, Zl. XXXX (BF3), 20.12.2006, Zl. XXXX (BF1) und vom 06.06.2012, Zl. XXXX (BF2), der Beschwerden vom 24.11.2022 (BF1-BF2 bzw. vom 17.11.2022 (BF3) gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.10.2022, der Stellungnahme hinsichtlich des BF2 vom 01.03.2023, sowie der Einsichtnahme in die Verwaltungsakte, der Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Fremden- und Grundversorgungs-Informationssystem, dem Strafregister der Republik Österreich und dem AJ-Web, sowie den im Akt befindlichen Strafurteilen gegen die BF1-BF3 und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.03.2023, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer (BF1-BF3):

Die BF1-BF3 sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, der Volksgruppe der Tschetschenen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zugehörig. Der BF1 ist der Bruder des BF3 und der BF2 ist der volljährige Sohn des BF1. Die Identitäten der BF1-BF3 stehen fest. Der BF1 spricht muttersprachlich Tschetschenisch, sehr gut Russisch und verfügt über grundlegende Deutschkenntnisse. Der BF2 spricht muttersprachlich Tschetschenisch und sehr gut Deutsch. Der BF2 versteht kein Russisch. Der BF3 spricht muttersprachlich Tschetschenisch und sehr gut Deutsch. Der BF3 spricht ein wenig Russisch.

Der BF1 ist seit September 2020 nach traditionell muslimischen Ritus mit XXXX , einer russischen Staatsangehörigen, verheiratet. Zuvor war der BF1 mit XXXX , einer ebenfalls russischen Staatsangehörigen, welche in Österreich über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ verfügt, seit 2009 nach traditionell muslimischen Ritus verheiratet. Sie haben sich etwa ein halbes Jahr, nachdem der BF1 neuerlich geheiratet hat, getrennt. Etwa ein halbes Jahr lang, bis zur Trennung mit XXXX , hat der BF1 abwechselnd bei seinen beiden Lebensgefährtinnen gelebt. Mit XXXX hat der BF1 4 gemeinsame noch minderjährige Kinder, XXXX , geb. am XXXX , XXXX , geb. am XXXX , XXXX , geb. am XXXX und XXXX , geb. am XXXX . Bereits zuvor war der BF1 in Tschetschenien seit 2002 mit XXXX , der Mutter des BF2, verheiratet. Von ihr ließ sich der BF1 spätestens im Jahr 2004 scheiden. Der BF2 ist ledig und kinderlos. Der BF3 ist mit XXXX , einer österreichischen Staatsbürgerin, seit 01.10.2022 nach traditionell muslimischen Ritus verheiratet. Der BF3 ist kinderlos.

Der BF1 ist in XXXX in der Russischen Föderation geboren und hat in Tschetschenien ab dem Alter von 7 Jahren 9 Jahre lang die Grundschule besucht. Der BF1 hat keine Berufsausbildung im Herkunftsstaat abgeschlossen und nicht gearbeitet. Er hat im Herkunftsstaat seinen Grundwehrdienst nicht absolviert.

Der BF2 ist in XXXX , in Tschetschenien, geboren und hat im Herkunftsstaat noch keine Schule besucht. In Tschetschenien hat der BF2 bei seiner Großmutter ms. gelebt.

Der BF3 ist in XXXX , in Tschetschenien, geboren, wo er von 1999 bis 2001 die Grundschule besucht hat. Der BF1 und der BF3 haben zuletzt von 2001 bis zu ihrer Ausreise 2005 gemeinsam mit ihrer Mutter und den beiden weiteren Geschwistern in XXXX gelebt. Im Jahr 2005 reisten die BF1 und der BF3 gemeinsam mit ihrer Mutter sowie einem weiteren Bruder nach Polen aus, wo sie Anträge auf internationalen Schutz stellten.

Am 20.09.2005 reiste der damals mj. BF3 gemeinsam mit seinem älteren ebenfalls mj. Bruder, XXXX , und seiner Mutter rechtmäßig im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Österreich ein und stellten diese am 20.09.2005 Anträge auf internationalen Schutz. Der Vater des BF1 und des BF3 hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich auf und wurde diesem bereits mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 06.05.2004, Zl. XXXX , der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Begründend wurde darin lediglich festgehalten, dass das ehemalige Bundesasylamt vor dem Hintergrund des amtswegigen Ermittlungsverfahrens und der Angaben des Vaters des BF1 und des BF3 bei seiner niederschriftlichen Einvernahme, zur Ansicht gelange, dass die Voraussetzung der Asylgewährung vorliegen würden. In einem Aktenvermerk des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.04.2000 wurde festgehalten, dass der Vater des BF1 und des BF3 sein Fluchtvorbringen (zum Krieg sowie zur Teilnahme an diesem und die Unterstützung von Freiheitskämpfern) schlüssig geschildert habe. Dem BF3 kam folglich mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.10.2005, Zl. XXXX , im Familienverfahren die Flüchtlingseigenschaft zu. Begründend wurde im Wesentlichen im Zuerkennungsbescheid des BF3 festgehalten, dass das ehemalige Bundesasylamt aufgrund des amtswegigen Ermittlungsverfahrens zur Ansicht gelange, dass alle Voraussetzungen der Asylgewährung vorliegen würden, weil dem Vater des BF3 bereits der Status eines Asylberechtigten zuerkannt worden sei.

Der BF1 reiste ebenfalls von Polen kommend zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt, spätestens am 13.11.2005, unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an ebendiesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem BF1 wurde mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.12.2006, Zl. XXXX , ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Begründend wurde darin im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF1 einen unter § 7 AsylG zu subsumierenden Sachverhalt vorgebracht habe, dem keine Ergebnisse des amtswegigen Ermittlungsverfahrens entgegenstünden, sodass dieser Sachverhalt als Feststellung dem vorliegenden Verfahren zugrunde gelegt werden könne.

Der BF1 brachte bei seinen Einvernahmen vor dem ehemaligen Bundesasylamt vor, sein Vater sei Kämpfer im ersten Tschetschenienkrieg gewesen und habe als Grenzwachebeamter zwischen Tschetschenien und Dagestan gearbeitet. Im November 2001 sei der BF1 wegen seines Vaters 8-9 Tage von unbekannten Maskierten mitgenommen, misshandelt und nach dem Aufenthaltsort seines Vaters befragt worden. Der BF1 habe nicht gewusst, wo sein Vater sei und sei der BF1 kommentarlos am Ortsrand seines Heimatdorfes freigelassen worden.

Dem Vater des BF1 und des BF3 wurde der Status eines Asylberechtigten mit Bescheid vom 31.03.2020, Zl. XXXX , rechtskräftig am 30.05.2020, gemäß § 7 Absatz 1 Z 2 AsylG aberkannt. Der Vater des BF1 und des BF3 hat sich am 24.04.2019 einen russischen Auslandsreisepass, Nr. XXXX , ausstellen lassen.

Der BF2 reiste spätestens am 18.08.2011 im Alter von 7 Jahren unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte der BF1 für diesen an ebendiesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 06.06.2012, Zl. XXXX , wurde dem BF2 der Status eines Asylberechtigten im Familienverfahren zuerkannt.

Die BF1-BF3 sind seit ihrer Einreise bis zum jetzigen Zeitpunkt in Österreich aufhältig.

Mit gegenständlichen Bescheiden vom 27.10.2022 wurde den BF1-BF3 der Asylstatus gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt und festgestellt, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status eines subsidiär Schutzberechtigten wurde ihnen nicht erteilt (Spruchpunkt II.) und wurde auch ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG gegen die BF1-BF3 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise der BF1-BF3 wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gegen den BF3 wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein Einreiseverbot in der Dauer eines Jahres erlassen (Spruchpunkt VII.).

Der BF1 hat keine Deutschprüfungen abgelegt, im Bundesgebiet jedoch Deutschkurse besucht und verfügt über einfache Deutschkenntnisse. Der BF1 war in der Vergangenheit mehrmals, nämlich von 16.07.2009 bis 02.02.2011, von 14.02.2011 bis 22.08.2011, von 31.05.2012 bis 07.12.2012, von 17.01.2013 bis 14.04.2014, von 14.04.2014 bis 19.01.2015, von 17.03.2016 bis 30.03.2016, von 30.03.2016 bis 21.06.2016, von 23.06.2016 bis 23.03.2017 und von 10.08.2017 bis 11.09.2017 obdachlos gemeldet. Von 10.06.2009 bis 16.07.2009, von 03.02.2011 bis 14.02.2011, von 08.12.2012 bis 17.01.2013, von 20.01.2015 bis 21.01.2015 und von 04.09.2015 bis 14.09.2015 verfügte der BF1 über keine aufrechte Meldeadresse im Bundesgebiet.

Der BF1 war ab dem Jahr 2010 von 12.03.2010 bis 13.05.2010, von 25.08.2011 bis 11.11.2011, von 30.11.2012 bis 31.01.2013 und von 21.11.2014 bis 19.12.2014 als Arbeiter angestellt. Zwischenzeitig bezog der BF1 überwiegend Arbeitslosengeld und Notstandshilfe. In den letzten 8 Jahren war der BF1 im Bundegebiet zu keinem Zeitpunkt erwerbstätig. Er bezog in diesem Zeitraum, mit Ausnahme weniger Monate, Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Derzeit befindet sich der BF1 seit 13.03.2023 in einer Vorbereitungsmaßnahme (VMB) der XXXX und bezieht er seit diesem Zeitpunkt wieder Arbeitslosengeld. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig. Zuvor hat der BF1 Notstandshilfe bezogen. Er ist nicht Mitglied in einem Verein und war bzw. ist auch nicht ehrenamtlich tätig. Sonstige Aus-, Fort- oder Weiterbildungen im Bundesgebiet hat der BF1 nicht absolviert.

Der BF2 hat im Bundesgebiet die Volksschule und 4 Jahre Sonderschule absolviert, wobei er daher keinen Pflichtschulabschluss hat. Er hat im Bundesgebiet bis dato keinen Beruf erlernt und war lediglich von 08.05.2022 bis 13.05.2022 im Bundesgebiet geringfügig beschäftigt. Seit Oktober 2020 hat der BF2 überwiegend Arbeitslosengeld bezogen. Der BF2 war von 29.06.2012 bis 06.12.2012, von 18.03.2013 bis 14.04.2014 und von 14.04.2014 bis 16.05.2014 ebenfalls obdachlos im Bundesgebiet gemeldet. Der BF2 verfügte ebenfalls von 07.12.2012 bis 18.03.2013 und von 19.01.2015 bis 22.01.2015 über keine aufrechte Meldung im Bundesgebiet.

Die BF3 hat im Bundesgebiet zunächst die Volksschule und dann die Hauptschule besucht, welche er im Juli 2009 erfolgreich abgeschlossen hat, womit der BF3 seinen Pflichtschulabschluss absolviert hat. In den letzten 8 Jahren war der BF3 von 18.12.2020 bis 04.02.2021, sowie von 08.06.2021 bis 18.06.2021 als Arbeiter angestellt und war dieser auch von 21.06.2022 bis zum 07.03.2023 als Schlichter in der Produktion einer Weberei erwerbstätig. Der BF3 erzielte ein monatliches Nettoeinkommen zwischen EUR 1.500,- und 1.900,-. Zuletzt hat der BF3 von 12.03.2023 bis 06.04.2023 im Bundesgebiet Arbeitslosengeld bezogen. Von 19.02.2021 bis 15.03.2021 war der BF3 darüber hinaus geringfügig beschäftigt. In den letzten 8 Jahren hat der BF3 insgesamt etwa 3 Jahre lang Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe bezogen. Von Jänner bis Februar 2020 befand sich der BF3 in einem Arbeitstraining des Vereins XXXX im Rahmen dessen er in der Fahrradwerkstatt eingeteilt war. Im Jahr 2022 hat der BF3 5 Termine bei der „ XXXX “ wahrgenommen. Der BF3 vereinbarte einen Termin bei der Männerberatung am 07.12.2022, wobei nicht festgestellt werden kann, dass der BF3 diesen Termin tatsächlich wahrgenommen hat. Der BF3 hat von 24.04.2015 bis 16.10.2015 eine stationäre Drogentherapie beim XXXX “ absolviert. Der BF3 hat sich am 10.03.2022 für einen stationären Therapieplatz im XXXX beworben. Dort befand er sich dann jedoch lediglich von 14.04.2022 bis 06.05.2022. Von 18.05.2022 bis 20.05.2022 hat der BF3 den Staplerführerschein gemacht. Der BF3 war von 30.11.2010 bis 06.05.2011, von 24.09.2012 von 15.01.2013, von 28.03.2013 bis 17.07.2013, von 12.09.2013 bis 25.04.2014, von 30.10.2014 bis 29.12.2014, von 29.10.2015 bis 21.06.2016 und von 26.06.2019 bis 20.08.2020 ebenfalls im Bundesgebiet obdachlos gemeldet. Von 03.11.2010 bis 30.11.2010, von 07.05.2011 bis 10.06.2011, von 18.08.2012 bis 24.09.2012, von 28.08.2013 bis 12.09.2013, von 26.04.2014 bis 04.06.2014 und von 20.06.2019 bis 26.06.2019 verfügte der BF3 über keine aufrechte Meldung im Bundesgebiet. Der BF3 besucht einen Fitnessclub und war einmal für 2 Wochen bei der XXXX ehrenamtlich tätig, wobei er Lagerarbeiten mit dem Stapler erledigt hat. Der BF3 ist darüber hinaus nicht Mitglied in einem Verein und ist auch nicht ehrenamtlich tätig. Sonstige Aus-, Fort- oder Weiterbildungen im Bundesgebiet hat der BF3 nicht absolviert.

Im Bundesgebiet leben die Eltern des BF1 und des BF3 bzw. die Großeltern des BF2, XXXX , geb. am XXXX , und XXXX , geb. am XXXX , welche jeweils im Besitz des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ sind. Außerdem leben in Österreich eine Schwester des BF1 und des BF3 (die Tante des BF2), XXXX , welche ebenfalls im Besitz des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ ist. Den Eltern und der Schwester des BF1 und des BF3 wurde der Asylstatus bereits rechtskräftig aberkannt. Ein Bruder des BF1 und des BF3, der Onkel des BF2, XXXX , geb. am XXXX , befindet sich ebenfalls im Bundesgebiet. XXXX wurde der Status eines Asylberechtigten bereits mit Bescheid vom 28.10.2016 rechtskräftig aberkannt. Ein neuerlicher Antrag auf internationalen Schutz aus dem Stande der Strafhaft am 11.12.2017 wurde ebenfalls mit Bescheid vom 26.05.2019, Zl. XXXX vollinhaltlich abgewiesen und erwuchs am 19.06.2019 in Rechtskraft. Am 29.05.2017 erließ das Bundesamt eine weitere Rückkehrentscheidung gegen ihn und wurde festgestellt, dass eine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist. Gemäß § 53 Abs. 1 FPG wurde ein auf 10 Jahre befristetes Einreiseverbot gegen XXXX erlassen. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 21.06.2017, XXXX als unbegründet ab. Der Verwaltungsgerichtshof wies eine dagegen erhobene Revision mit Beschluss vom 31.08.2017, XXXX zurück. XXXX wurde nach Verhängung der Schubhaft am 12.12.2019 in den Herkunftsstaat abgeschoben. Am 23.08.2020 stellte er neuerlich nach seiner Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid vom 14.12.2020 zurückgewiesen wurde und mit Erkenntnis des BVwG vom 10.02.2021, Zl. XXXX , vollinhaltlich negativ entschieden wurde. Am 13.08.2021 reiste XXXX freiwillig aus dem Bundesgebiet in die Russische Föderation aus. Nach seiner Wiedereinreise stellte er am 08.06.2022 neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und ist das Verfahren derzeit noch laufend. Mit Verfahrensanordnung vom 18.08.2022 wurde XXXX gemäß § 13 AsylG mitgeteilt, dass er sein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verloren hat. Er hält sich daher unrechtmäßig in Österreich auf.

Darüber hinaus leben die Ex-Lebensgefährtin des BF1, die Stiefmutter des BF2, XXXX , geb. am XXXX , und die 4 gemeinsamen Kinder des BF1 mit dieser in Österreich. Diese verfügen allesamt über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ im Bundesgebiet. XXXX hat den BF2 ab seinem 7. Lebensjahr im Bundesgebiet gemeinsam mit dem BF1 aufgezogen. Auch derzeit wohnt der BF2 im gemeinsamen Haushalt mit seiner Stiefmutter und seinen Geschwistern. Der BF1 lebt an einer von ihnen verschiedenen Adresse. Der BF2 wird und wurde in der Vergangenheit von seiner Stiefmutter finanziell unterstützt. Der BF1 hat regelmäßigen Kontakt zu seinen Kindern. Das Wochenende verbringen die Kinder des BF1 bei ihm und übernachten sie auch beim BF1. Unter der Woche leben die Kinder des BF1 bei XXXX . Der BF1 telefoniert täglich mit seiner Ex-Lebensgefährtin, sowie seinen Kindern und bezahlt Alimente.

Im Bundesgebiet befindet sich darüber hinaus die Lebensgefährtin des BF1, XXXX . Mit ihr besteht kein gemeinsamer Haushalt, sondern verfügen sie jeweils über eine eigene Wohnung. XXXX hat 5 eigene Kinder und ist ihr jüngster Sohn 5 Jahre alt. Am Wochenende übernachtet sie gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn beim BF1 und seinen Kindern. Auch unter der Woche sieht XXXX den BF1 regelmäßig und übernachten sie beieinander. XXXX verfügt über keinen aufrechten Aufenthaltsstatus in Österreich. Sie kam im Jahr 2002 nach Österreich und verfügte seit 27.04.2004 über den Status einer Asylberechtigten in Österreich. Im Juni 2014 reiste XXXX in die Türkei aus. In der Folge war sie in der Türkei, Ägypten, der Russischen Föderation, Aserbaidschan und der Ukraine aufhältig. Am 19.03.2015 reiste sie wieder nach Österreich ein. Von 29.04.2015 bis 08.05.2015 befand sie sich neuerlich in der Türkei. Im Juli 2015 reiste XXXX neuerlich aus dem Bundesgebiet aus und hielt sich in der Russischen Föderation auf. Mit Bescheid vom 23.02.2017 wurde XXXX der Status einer Asylberechtigten aberkannt, welcher in erster Instanz in Rechtskraft erwuchs. Im Sommer 2018 reiste XXXX neuerlich in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 14.09.2022, Zl. XXXX zweitinstanzlich vollinhaltlich abgewiesen. Die dagegen erhobene Revision ist derzeit beim VwGH anhängig.

Der BF3 lebt mit seiner Lebensgefährtin, XXXX , einer österreichischen Staatsbürgerin, im gemeinsamen Haushalt in XXXX , wo er nebenwohnsitzlich gemeldet ist. Hauptwohnsitzlich ist er an einer Adresse in XXXX gemeldet, wo er sich aufhält, wenn er seine Familie in XXXX besucht.

In Schweden lebt der Sohn einer Cousine des Vaters des BF1 und des BF3. Mit ihm hat der BF1 einmal im Monat Kontakt.

Im Herkunftsstaat leben 3 Onkel sowie 3 Tanten des BF1 und des BF3 vs. sowie eine Tante ms. und deren Kinder. Die Familienangehörigen der BF1-BF3 im Herkunftsstaat verfügen jeweils über ein eigenes Haus und ein Auto. Die Eltern des BF1 und des BF3 haben Kontakt zu ihren Geschwistern im Herkunftsstaat. Die BF1-BF3 sind mit ihnen selbst nicht in Kontakt. Darüber hinaus lebt ein Onkel der Stiefmutter des BF2 im Herkunftsstaat, mit welchem der BF2 in der Vergangenheit telefonischen Kontakt hatte. Der BF2 hat keinen Kontakt zu seiner leiblichen Mutter. Sie hält sich vermutlich in Tschetschenien auf, ihr genauer Aufenthalt ist jedoch unbekannt.

Dem BF1 wurde am 21.12.2020 ein Lipom (gutartiger Tumor) am Rücken im Bereich der Lendenwirbelsäule rechts operativ entfernt. Darüber hinaus leidet der BF1 im Bereich des Lendenwirbelkörpers 4/5 an einer Discusbulging (Bandscheibenvorwölbung) und einer Discusextrusion (Bandscheibenvorfall). Im November 2021 hat sich der BF1 den Oberarmkopf gebrochen, weshalb er einen Gips erhalten hat. Im Übrigen leidet der BF1 an Bluthochdruck. Der BF1 ist derzeit nicht in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung und nimmt keine Medikamente. Daraus ergibt sich noch keine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung des BF1. Abgesehen davon ist der BF1 gesund und arbeitsfähig.

Der BF2 ist gesund, befindet sich nicht in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung und nimmt keine Medikamente. Er ist arbeitsfähig.

Der BF3 war drogenabhängig. Derzeit ist er weder in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung und nimmt keine Medikamente. Er ist gesund und arbeitsfähig.

Der BF1 wurde in Österreich straffällig, im Strafregister der Republik Österreich sind folgende Verurteilungen ersichtlich:

01) LG F. XXXX vom 27.04.2015 RK 04.05.2015

§§ 146, 147 (1) Z 1 StGB § 15 StGB

Datum der (letzten) Tat 03.05.2014

Freiheitsstrafe 8 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Vollzugsdatum 04.05.2015

zu LG F. XXXX RK 04.05.2015

(Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig

Vollzugsdatum 04.05.2015

LG F. XXXX vom 09.11.2018

02) LG F. XXXX vom 05.12.2019 RK 10.12.2019

§ 107 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 07.10.2019

Freiheitsstrafe 4 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Der zweiten und letzten strafgerichtlichen Verurteilung des BF1 lag zugrunde, dass er am 07.10.2019 einen Dritten gefährlich bedroht hat, indem der BF1 sinngemäß äußerte, er bringe den Dritten um, habe Freunde und falls er (Anm.: der BF1) eine Strafe bekomme, würde er den Dritten umbringen und seinen Fotoapparat zerstören. Der BF1 hat sich somit des Vergehens der gefährlichen Drohung schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als erschwerend keinen Umstand.

Der ersten strafgerichtlichen Verurteilung des BF1 lag zugrunde, dass er mit dem Vorsatz, sich unrechtmäßig zu bereichern, Nachgenannten durch Täuschung über Tatsachen zu Handlungen, die das Unternehmen XXXX bzw. die XXXX in einem EUR 3.000,- übersteigenden Betrag am Vermögen schädigten bzw. schädigen sollten, nämlich indem der BF1 zur Täuschung eine gefälschte Verdienstabrechnung und einen gefälschten Meldezettel, daher falsche Urkunden, benützte und diese Urkunden einen Dritten zur Übergabe eines näher genannten PKW im Wert von EUR 22.400,- durch die Vorspiegelung der Kreditwürdigkeit des BF1, welche eine Finanzierung des Fahrzeugskaufs durch die XXXX gewährleisteten sollte, verleitet hat durch die Vorgabe vor Angestellten der XXXX kreditwürdiger Darlehensnehmer zu sein, zur Finanzierung des genannten PKWs zu verleiten versucht hat, wobei es beim Versuch bleib, weil der Darlehensvertrag wegen fehlender Unterlagen und mangelnder Kreditwürdigkeit nicht zustande kam.

Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als mildern die bisherige Unbescholtenheit und, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, als erschwerend hingegen keinen Umstand.

Der BF2 wurde in Österreich straffällig, im Strafregister der Republik Österreich sind folgende Verurteilungen ersichtlich:

01) LG F. XXXX vom 02.03.2022 RK 08.03.2022

§§ 83 (1), 84 (5) Z 2 StGB § 12 2. Fall StGB

Datum der (letzten) Tat 07.05.2021

Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

Jugendstraftat

zu LG F. XXXX RK 08.03.2022

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

LG XXXX vom 27.10.2022

02) LG XXXX vom 27.10.2022 RK 27.10.2022

§ 142 (1) StGB

§ 241e (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 10.08.2022

Freiheitsstrafe 24 Monate, davon Freiheitsstrafe 16 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

Junge(r) Erwachsene(r)

Der ersten strafgerichtlichen Verurteilung des BF2 lag zugrunde, dass er mit 3 weiteren Mittätern am 07.05.2021 in verabredeter Verbindung einen Dritten am Körper verletzt hat, indem der BF2 mit seinen Mittätern vereinbarte dem Dritten eine Abreibung zu verpassen und diesem in der Folge Faustschläge, sowie Fußtritte gegen den Körper und Schläge mit einem Regenschirm versetzte, wodurch das Opfer eine Prellung des linken Jochbeins sowie eine Schnittwunde im Bereich des linken Ohrläppchens erlitt. Darüber hinaus hat der BF2 5 weitere Mittäter dazu bestimmt einen Dritten am Körper zu verletzen, indem der BF2 zunächst einen weiteren Mittäter aufforderte das Opfer unter der Vorgabe ein Mädchen zu sein, das sich mit ihm treffen wolle, zum Tatort zu locken und der BF2 in weiterer Folge in einem Chat mit ca. 30 Personen sämtliche Teilnehmer aufforderte sich bereit zu machen, weil die Zeit gekommen sei, der BF2 den Typen habe und am nächsten Tag gemeinsam zum geplanten Treffpunkt zu kommen, um einen tätlichen Angriff auf das Opfer auszuführen. In der Folge haben 3 Mittäter das Opfer am Treffpunkt durch Faustschläge gegen das Gesicht und Fußtritte gegen den Körper verletzt, indem das Opfer eine Prellung der linken Gesichtshälfte und Schürfwunden an der linken Gesichtshälfte erlitt.

Der BF2 hat sich damit des Verbrechens der schweren Körperverletzung, teils als Beteiligter schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als mildernd das (zwar mäßig reumütige) Geständnis und den bisher ordentlichen Lebenswandel, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen von Verbrechen.

Der zweiten und letzten strafgerichtlichen Verurteilung des BF2 lag zugrunde, dass er im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit 3 Mittätern am 10.08.2022 einem Dritten dessen Smartphone, dessen Kopfhörer, dessen Bauchtasche samt Geldbörse, dessen Pullover und insgesamt EUR 580,- an Bargeld abnötigte und dessen Hose abzunötigen versuchte, indem zunächst ein Treffen mit dem Dritten vereinbart wurde und der BF2 diesen aufforderte seine Wertsachen herauszugeben, ansonsten werde er ihn zusammenschlagen, während die übrigen Mittäter das Opfer umringten, sodass dieser sein Smartphone, seine Kopfhörer und seine Bauchtasche herausgab. Einer der Mittäter versetzte dem Dritten sodann einen Faustschlag und forderte ein weiterer Mittäter das Opfer auf, den Pullover herzugeben, widrigenfalls es neuerlich geschlagen würde, sodass der Dritte auch den Pullover übergab. Anschließend forderte ein weiterer Mittäter die Übergabe der Hose des Opfers, was dieses verweigerte und gingen alle in der Folge über Aufforderung des BF2 in eine Bankfiliale, wobei einer der Täter das Opfer am Hemd festhielt, zwei der Täter das Opfer in das Bankfoyer begleiteten und durch die weitere Drohung ihn sonst zusammenzuschlagen zur Preisgabe seines PIN-Codes veranlassten und EUR 570,- von seinem Konto behoben, sowie versuchten weiteres Bargeld zu beheben, wobei es aufgrund des erreichten Tageslimits beim Versuch blieb.

Der BF2 hat sich darüber hinaus mit zwei weiteren Mittätern am 10.08.2022 durch die oben dargestellte Tat ein unbares Zahlungsmittel verschafft, über das er nicht verfügen durfte, nämlich die Bankomatkarte des Opfers, welche der BF2 aus dessen Geldbörse entnahm.

Der BF2 hat sich dadurch des Verbrechens des Raubes und des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als mildernd das volle und reumütige Geständnis, sowie die Tatbegehung unter 21 Jahren, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen eines Verbrechens mit einem Vergehen, eine einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall und die teilweise Tatbegehung während anhängigem Verfahren.

Der BF2 wurde am 20.09.2022 festgenommen und befand sich von 21.09.2022 bis 27.10.2022 in Untersuchungshaft. Ab diesem Zeitpunkt bis zu seiner Entlassung am 02.03.2023 befand sich der BF2 in Strafhaft.

Der BF3 wurde in Österreich straffällig, im Strafregister der Republik Österreich sind folgende Verurteilungen ersichtlich:

01) LG XXXX vom 26.01.2009 RK 06.02.2009

PAR 142/1 U 2 StGB

Datum der (letzten) Tat 22.11.2007

Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

Jugendstraftat

Vollzugsdatum 19.06.2019

zu LG XXXX RK 06.02.2009

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

LG XXXX vom 19.05.2010

zu LG XXXX RK 06.02.2009

Bedingte Nachsicht der Strafe wird widerrufen

LG XXXX vom 20.09.2011

zu LG XXXX RK 06.02.2009

Aufhebung der Bewährungshilfe

LG XXXX vom 24.11.2011

02) LG XXXX vom 19.05.2010 RK 26.05.2010

PAR 127 130 (1. FALL) StGB

Datum der (letzten) Tat 08.02.2010

Freiheitsstrafe 3 Monate

Jugendstraftat

Vollzugsdatum 20.08.2011

zu LG XXXX RK 26.05.2010

Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 20.08.2011, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

LG XXXX vom 07.07.2011

zu LG XXXX RK 26.05.2010

Aus der Freiheitsstrafe entlassen, endgültig

Vollzugsdatum 20.08.2011

LG XXXX vom 21.01.2016

03) LG XXXX vom 21.12.2010 RK 25.12.2010

PAR 136/1 StGB

Datum der (letzten) Tat 18.08.2010

Geldstrafe von 160 Tags zu je 4,00 EUR (640,00 EUR) im NEF 80 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Jugendstraftat

Vollzugsdatum 27.07.2011

04) LG XXXX vom 28.10.2011 RK 01.11.2011

§ 12 3. Fall StGB, § 15 StGB § 129 Z 1 StGB

§ 83 (1) 84/1 StGB

Datum der (letzten) Tat 10.06.2011

Freiheitsstrafe 12 Monate

Jugendstraftat

Vollzugsdatum 19.06.2019

zu LG XXXX RK 01.11.2011

zu LG XXXX RK 06.02.2009

Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 15.08.2012, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

LG XXXX vom 29.06.2012

zu LG XXXX RK 01.11.2011

zu LG XXXX RK 06.02.2009

Probezeit der bedingten Entlassung verlängert auf insgesamt 5 Jahre

LG F. XXXX vom 06.03.2015

zu LG XXXX RK 01.11.2011

zu LG XXXX RK 06.02.2009

Bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe wird widerrufen

LG F. XXXX vom 05.12.2016

05) LG F. XXXX vom 23.11.2011 RK 23.11.2011

§ 270 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 04.03.2011

Keine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX RK 01.11.2011

Jugendstraftat

Vollzugsdatum 23.11.2011

06) BG XXXX vom 01.02.2012 RK 07.02.2012

§ 83 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 13.11.2010

Keine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX RK 01.11.2011

Jugendstraftat

Vollzugsdatum 07.02.2012

07) LG F. XXXX vom 06.03.2015 RK 10.07.2015

§§ 127, 129 Z 1,2 StGB § 15 StGB

§ 231 (1) StGB

§ 136 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 28.12.2014

Freiheitsstrafe 22 Monate

zu LG F. XXXX RK 10.07.2015

(Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, bedingt, Probezeit 3 Jahre

LG F. XXXX vom 11.01.2017

08) LG F. XXXX vom 05.12.2016 RK 05.12.2016

§§ 127, 128 (1) Z 5, 129 (1) Z 1, 129 (1) Z 2, 130 (2) 2. Fall StGB

Datum der (letzten) Tat 10.05.2016

Freiheitsstrafe 2 Jahre 6 Monate

Vollzugsdatum 20.12.2018

09) BG XXXX vom 30.01.2020 RK 03.02.2020

§ 50 (1) WaffG

Datum der (letzten) Tat 19.11.2019

Freiheitsstrafe 4 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

zu BG XXXX RK 03.02.2020

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

BG XXXX vom 01.07.2022

10) BG XXXX vom 15.03.2022 RK 19.05.2022

§ 125 StGB

Datum der (letzten) Tat 03.11.2021

Freiheitsstrafe 3 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

11) BG XXXX vom 01.07.2022 RK 05.07.2022

§ 125 StGB

Datum der (letzten) Tat 04.02.2022

Freiheitsstrafe 2 Monate

Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf BG XXXX RK 19.05.2022

Vollzugsdatum 10.01.2023

Der 11. und letzten Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er am 04.02.2022 zwei verschiedene PKWs beschädigte, indem er gegen diese trat, wodurch jeweils ein Schaden von EUR 251,65,- und von EUR 3.571,05 entstand. Der BF3 hat sich dadurch des Vergehens der Sachbeschädigung schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde als mildern das umfassende und reumütige Geständnis in Hinblick auf die Sachbeschädigung gewertet, als erschwerend hingegen die 8 einschlägigen Vorstrafen (bei 10 Verurteilungen).

Der 10. und vorletzten Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er am 03.11.2021 die Glastüre eines bekannten Hotels beschädigte, indem der BF3 dieser einen Stoß mit der Schulter versetzte, wodurch diese zerbrach und ein Reparaturschaden von EUR 619,20,- entstand. Der BF3 hat sich dadurch des Vergehens der Sachbeschädigung schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde als mildern das reumütige Geständnis, als erschwerend hingegen die 4 einschlägigen Vorstrafen gewertet.

Der 9. Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er, wenn auch nur fahrlässig, von 17.11.2019 bis 19.11.2019 ein Springmesser, somit eine Waffe besessen hat, obwohl ihm dies gemäß § 12 WaffG verboten war. Der BF hat somit ein Vergehen nach dem WaffenG begangen.

Im Zuge der Strafbemessung wurde das Geständnis und die Betreuung bei XXXX (Arbeitstraining) als mildernd gewertet, als erschwerend hingegen der rasche Rückfall.

Der 8. Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er (im Jahr 2016 in mehreren Tathandlungen) in einem EUR 5.000,- übersteigenden Wert durch Einbruch in ein Gebäude fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen hat, sich unrechtmäßig zu bereichern in der Absicht sich durch die wiederkehrende Begehung längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges Einkommen zu verschaffen, indem der BF3 mit zwei weiteren Mittätern Verfügungsberechtigten eines Wettbüros EUR 4.000,- Bargeld, Verfügungsberechtigten eines weiteren Wettbüros EUR 400,- Bargeld und Verfügungsberechtigten eines Cafés EUR 800,- Bargeld wegnahm. Der BF hat sich dadurch des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde als mildernd das umfassende Geständnis, als erschwerend hingegen die 5 einschlägigen Vorstrafen gewertet.

Der 7. Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er, gemeinsam mit Mittätern (im Dezember 2014) Verfügungsberechtigten eines Unternehmens durch Aufbrechen der Eingangstüre einen Laptop der Marke XXXX in einem nicht mehr festzustellenden Wert, weggenommen hat, sowie Verfügungsberechtigten eines Unternehmens durch Aufbrechen der Eingangstüre einen Laptop der Marke XXXX in einem nicht mehr festzustellenden Wert und Verfügungsberechtigten eines weiteren Unternehmens durch Aufbrechen der Eingangstür und einer Handkasse, einen Tresor, sowie Bargeld in einem nicht mehr festzustellenden Gesamtwert wegzunehmen versucht hat. Darüber hinaus hat der BF3 im November 2014 einen PKW ohne Einwilligung des Berechtigten in Betrieb genommen und sich dadurch, dass er sich bei einer Verkehrskontrolle mit dem Führerschein des Berechtigten ausgewiesen hat, einen amtlichen Ausweis, der für jemand anderen ausgestellt war, für sich selbst im Rechtsverkehr gebraucht. Der BF3 hat sich damit des Verbrechens des Diebstahls durch Einbruch, des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen und des Vergehens des Gebrauchs fremder Ausweise schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und das reumütige Geständnis als mildern gewertet, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und die einschlägigen Vorstrafen.

Hinsichtlich dieser Verurteilung wurde dem BF3 mit Beschluss des LG XXXX vom 12.08.2015 gemäß § 39 Abs. 1 SMG ein Strafaufschub bis vorerst 01.03.2015 (gemeint wohl 01.03.2016) gewährt, um sich der notwendigen gesundheitsbezogenen Maßnahme, nämlich einer stationären psychotherapeutischen Behandlung von der Maximaldauer eines halben Jahres und anschließend weiteren ambulanten Behandlung mit begleitenden Harnkontrollen, gewährt.

Der 6. Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er gemeinsam mit einem weiteren Mittäter einen Dritten durch Tätlichkeiten am Körper verletzt hat, indem der Dritte eine Nasenbeinfraktur, eine Prellung des Augenlides und der Periokularregion, eine oberflächliche Verletzung der Nase, eine Verletzung des linken Augapfels, sowie einen Haarriss im Daumen der linken Hand erlitt. Der BF3 hat sich dadurch des Vergehens der Körperverletzung schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde kein Umstand als mildernd und kein Umstand als erschwerend gewertet.

Der 5. Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er gemeinsam mit 2 Mittätern Polizeibeamte während einer fremdenpolizeilichen Kontrolle tätlich angriffen hat, indem der BF3 einem Polizeibeamten einen Stoß gegen die Brust versetzte. Der BF3 hat sich dadurch des Vergehens des tätlichen Angriffs auf einen Beamten schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde als erschwerend die einschlägige Vorstrafe und als mildernd das reumütige Geständnis gewertet.

Der 4. Verurteilung lag zugrunde, dass der BF3 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter einen Dritten durch Schläge gegen den Körper verletzt hat, wodurch das Opfer eine Platzwunde, Schwellungen, Hämatome und Prellungen im Gesichtsbereich erlitten hat. Darüber hinaus hat der BF3 einen weiteren Dritten durch versetzen eines Faustschlages in dessen Gesicht, wodurch dieser zu Boden stürzte und eine Platzwunde am Hinterkopf erlitt, am Körper verletzt. Weiters hat der BF3 einen Dritten im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit weiteren Mittätern einen Kopfstoß und Faustschläge ins Gesicht versetzt, wodurch dieser eine Prellung des Augapfels sowie des Orbitagewebes und eine Blutung in die Vorderkammer des Auges erlitt. Im Übrigen hat der BF3 Verfügungsberechtigten eines Elektrogeschäfts diverse Elektrogeräte durch Einbruch mit dem Vorsatz sich unrechtmäßig zu bereichern wegzunehmen versucht und zwar, indem der BF3 und ein weiterer Täter die beiden unmittelbaren Täter zum Tatort fuhren und im Fahrzeug auf die unmittelbaren Täter warteten, um sich von der Tatörtlichkeit wieder abzusetzen, während die unmittelbaren Täter die Eingangstüre mit einem Schraubenzieher sowie einer Eisenstange aufbrachen.

Der BF3 hat sich dadurch zweimal des Vergehens der Körperverletzung, des Vergehens der schweren Körperverletzung und des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch als Beitragstäter schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurde kein Umstand als erschwerend und kein Umstand als mildernd gewertet.

Der 3. Verurteilung lag zugrunde, dass der BF3 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem weiteren Mittäter das nicht zum Verkehr zugelassenes Motorrad eines Dritten ohne die Einwilligung des Berechtigten in Gebrauch genommen hat. Der BF3 hat sich sohin des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurden als erschwerend die beiden Vorstrafen, der rasche Rückfall und die Begehung einer Straftat während laufender Probezeit, als mildernd hingegen das Geständnis gewertet.

Der 2. Verurteilung lag zugrunde, dass der BF3 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit 2 weiteren Mittätern in der Absicht sich durch die wiederkehrende Begehung von Diebstählen eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, Verfügungsberechtigten eines Lebensmittelgeschäftes zwei Flachbildschirmfernseher im Gesamtwert von EUR 698,- mit dem Vorsatz weggenommen haben sich unrechtmäßig zu bereichern. Der BF3 hat sich damit des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls schuldig gemacht.

Der 1. Verurteilung des BF3 lag zugrunde, dass er im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei Strafunmündigen einem Dritten durch Schläge und Stöße ein Handy mit nicht genau feststellbarem Wert von etwa EUR 100,- weggenommen hat. Der BF3 hat sich somit des Verbrechens des Raubes schuldig gemacht.

Im Zuge der Strafbemessung wurden die geringfügigen Verletzungen des Opfers als erschwerend gewertet, als mildernd hingegen das reumütige umfassende Geständnis und die Unbescholtenheit.

Der BF3 befand sich von 10.06.2011 bis 17.08.2012, von 17.07.2013 bis 27.08.2013, von 29.12.2014 bis 15.04.2014 und von 21.06.2016 bis 19.06.2019 in Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Gegen den BF3 besteht ein aufrechtes, bis 02.06.2027 gültiges, Waffenverbot. Am 08.03.2022 wurde der BF3 im Rahmen eines freiwilligen Drogenschnelltestes positiv auf THC getestet. Am 02.05.2022 wurde beim BF3 im Zuge einer Fahrzeuganhaltung ein Päckchen mit 7,1 Gramm Cannabiskraut sichergestellt.

Der BF3 hat auch mehrfach Verwaltungsübertretungen begangen. Mit Straferkenntnis vom 22.03.2021, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 99 Abs. 1 lit b iVm § 5 Abs. 5 letzter Satz und Abs. 9 StVO, sowie wegen § 37 Abs. 1 iVm § 1 Abs. 3 FSG zu einer Geldstrafe von EUR 5.500,- verurteilt, weil der BF3 am 19.03.2020 einen PKW in einem vermutlich durch Suchtgift beeinträchtigten Zustand gelenkt hat und sich nach Vorführung zu einem im öffentlichen Sanitätsdienst stehenden Arzt geweigert hat, sich der ärztlichen Untersuchung zum Zweck der Feststellung des Grades der Beeinträchtigung zu unterziehen. Der BF3 hat den PKW darüber hinaus auf einer Straße mit öffentlichem Verkehr gelenkt, obwohl er nicht im Besitz einer gültigen Lenkberechtigung war. Mit Straferkenntnis vom 22.07.2021, Zl. XXXX , wurde der BF3 wegen § 37 Abs. 1 iVm § 1 Abs. 3 FSG, § 97 Abs. 5 StVO, § 9 Abs. 5 StVO, § 11 Abs. 2 StVO, § 20 Abs. 2 StVO, § 102 Abs. 4 KFG, § 52 lit. A Z 11a StVO, § 38 Abs. 5 StVO iVm § 38 Abs. 1 lit a StVO, § 20 Abs. 2 StVO, § 97 Abs. 5 StVO, § 102 Abs. 10 KFG, § 102 Abs. 10 KFG, § 102 Abs. 5 lit 5 KFG und wegen § 102 Abs. 10 KFG zu einer Geldstrafe von EUR 3.668,- verurteilt, weil der BF3 am 18.06.2021 einen PKW auf einer Straße mit öffentlichem Verkehr gelenkt hat, obwohl er nicht im Besitz einer gültigen Lenkberechtigung war, der BF3 dem von einem Straßenaufsichtsorgan mittels erhobenen Armes deutlich sichtbar gegebenen Zeichens zum Anhalten nicht Folge geleistet hat, zumal die Fahrt ununterbrochen fortgesetzt wurde, der BF3 den PKW nicht entsprechend für das Einordnen angebrachten Bodenmarkierungen eingeordnet hat, zumal er auf dem Geradeausstreifen fuhr und entgegen der Bodenmarkierung nach rechts abgebogen ist, der BF3 die bevorstehende Änderung der Fahrtrichtung nicht angezeigt hat, der BF3 die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erheblich überschritten hat, der BF3 mit dem PKW mehr Lärm verursacht hat, als bei ordnungsgemäßem Zustand und sachgemäßen Betrieb, zumal die Räder aufgrund zu hoher Kurvengeschwindigkeit beim Abbiegen quietschten, der BF3 die in der Zonenbeschränkung zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h erheblich überschritten hat, der BF3 trotz Rotlicht der Verkehrssignalanlage nicht angehalten hat, sondern weitergefahren ist, der BF3 im Ortsgebiet neuerlich die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erheblich überschritten hat, der BF3 die von einem Straßenaufsichtsorgan am Dienstwagen montierten und mit Lautsprecher deutlich hörbar erfolgten Aufforderung „Stopp Polizei“, der Anhaltung nicht Folge geleistet, zumal dieser die Fahrt ununterbrochen fortgesetzt hat, der BF3 kein geeignetes Verbandszeug mitgeführt hat, keine geeignete Warnkleidung mit reflektierenden Streifen mitgeführt hat, den Zulassungsschein und keine Warneinrichtung mitgeführt hat.

1.2. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer (BF1-BF3) in den Herkunftsstaat:

Die Lage im Herkunftsstaat der BF1-BF3 hat sich seit Zuerkennung des Status der Asylberechtigten maßgeblich und nachhaltig geändert. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF1-BF3 nach einer Rückkehr in die Russische Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit (noch) asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt sind. Die BF1-BF3 unterliegen in der Russischen Föderation keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung seitens der Behörden oder privater Personen. Die Gefährdungslage der BF1-BF3 und deren Familie stand in der Vergangenheit mit den Tschetschenienkriegen in Verbindung.

Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass die BF1-BF3 bei Rückkehr in die Russische Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Bei Verbringung der BF1-BF3 in ihren Herkunftsstaat droht diesen kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Die BF1-BF3 liefen dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.3. Zur entscheidungsrelevanten Situation in der Russischen Föderation:

1.3.1. Die Lage im Herkunftsstaat der BF1-BF3 hat sich seit Zuerkennung des Status des Asylberechtigten maßgeblich und nachhaltig geändert.

1.3.2. Auszug aus dem Informationsblatt der Staatendokumentation aus dem COI-CMS vom 03.02.2023, Version 11;

„COVID-19-Situation

Letzte Änderung: 01.09.2022

In Teilen der Russischen Föderation bestehen aufgrund der Regionalisierung von COVID-19-Schutzmaßnahmen noch Einschränkungen (AA 5.8.2022; vgl. RAD 15.2.2021). Die Hygienemaßnahmen wurden großteils zurückgenommen (WKO 25.7.2022). Für öffentlich zugängliche Räume ist das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes empfohlen (AA 5.8.2022; vgl. RFE/RL 1.7.2022). In Einzelfällen bestehen noch Zugangsvoraussetzungen (mit QR-Code) für Restaurants oder Hotels (AA 5.8.2022). Es müssen keine verpflichtenden Temperaturmessungen oder COVID-Tests am Arbeitsplatz mehr durchgeführt werden. Auch die teilweise Fernarbeitspflicht ist beendet (WKO 25.7.2022).

Zu den Impfstoffen, welche in der Russischen Föderation entwickelt wurden und dort eingesetzt werden, zählen: Gam-COVID-Vac (Sputnik V), EpiVacCorona, Sputnik Light, EpiVacCorona-N, Covivac, Salnavac, Konwasel und Ad5-nCoV (CWRR o.D.b). Vollständig geimpft sind 89.423.801 Personen (CWRR 12.8.2022). COVID-Impfungen sind ab einem Alter von 12 Jahren möglich (RFE/RL 9.2.2022; vgl. CWRR o.D.a) und für russische Staatsbürger kostenlos (Iswestija 1.7.2022; vgl. ÖB 30.6.2021). Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger, die mit einem in Russland zugelassenen Impfstoff geimpft sind, sowie genesene russische Staatsbürger dürfen ohne PCR-Test und Quarantäne nach Russland einreisen. Impfnachweise dürfen max. 12 Monate alt sein und Genesungsnachweise max. 6 Monate (WKO 25.7.2022). Der europäische Impfnachweis wird nicht anerkannt (AA 5.8.2022).

Moskau:

In der Hauptstadt Moskau sowie im Moskauer Gebiet wurden die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske auf öffentlichen Plätzen sowie die Abstandsregelungen abgeschafft (Russland-Analysen 11.4.2022).

Tschetschenien:

In Tschetschenien wurden alle COVID-Beschränkungen aufgehoben (Ria.ru 11.3.2022).

Dagestan:

Das Tragen einer Maske wird empfohlen. An öffentlichen Orten gilt Maskenpflicht für Personen über 60 Jahren, chronisch Kranke und Ungeimpfte. Es wird empfohlen, die Teilnehmeranzahl bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen auf 500 Personen zu beschränken (KK 13.8.2022). Die Verpflichtung zur Durchführung einer Desinfektion besteht weiterhin (KK 7.6.2022). Insgesamt wurden in Dagestan bislang 1.576.793 Personen (50,19 % der Gesamtbevölkerung) geimpft (E-dag.ru 25.7.2022).

[…]

Politische Lage

Letzte Änderung: 06.10.2022

Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 1.10.2021a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vgl. Economist 9.2.2022, UG 3.2022, FH o.D., Russland-Analysen 1.10.2021a). Der in der Verfassung vorgesehenen Gewaltenteilung steht in der Praxis die alle Bereiche dominierende zentrale Rolle des Staatspräsidenten gegenüber. Dieser kann die Regierung entlassen und hat weitreichende Vollmachten in der Außen- und Sicherheitspolitik (AA 1.10.2021b). Der Staatspräsident ernennt (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Vorsitzenden der Regierung und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte sowie anderer Gerichtshöfe vor. Der Präsident ernennt nach Beratung mit dem Föderationsrat den Generalstaatsanwalt und Staatsanwälte und entlässt sie. Darüber hinaus ernennt und entlässt er die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (RI 4.7.2020). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird für eine Amtszeit von 6 Jahren von den Bürgern direkt gewählt (RI 4.7.2020). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSZE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 28.2.2022). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSZE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 28.2.2022). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSZE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender sowie Stellvertreter des Staatsoberhaupts ist Michail Mischustin (AA 1.10.2021a).

Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 28.2.2022). Unter anderem erhält durch die jüngste Verfassungsreform das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten in Russland und international für Kritik (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).

Der Einfluss des Zweikammerparlaments, bestehend aus der Staatsduma (Unterhaus) und dem Föderationsrat (Oberhaus), ist beschränkt (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 28.2.2022, RI 4.7.2020). Die Mitglieder des Föderationsrates werden normalerweise für eine Amtszeit von 6 Jahren ernannt (mit Ausnahme der auf Lebenszeit ernannten Mitglieder). Zu den Kompetenzen des Föderationsrats gehören: Bestätigung des präsidentiellen Erlasses (Ukas) über die Verhängung des Ausnahmezustands und des Kriegszustands; Amtsenthebung des Präsidenten (RI 4.7.2020). Die 450 Mitglieder der Duma werden für eine Amtszeit von 5 Jahren direkt gewählt (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 28.2.2022, RI 4.7.2020). Es gibt eine Fünfprozenthürde (OSZE 25.6.2021; vgl. Ria.ru 6.10.2021). Duma-Wahlen beruhen auf einem gemischten Wahlsystem. Die Hälfte der Duma-Mitglieder wird durch Verhältniswahlsystem (Parteilisten), die andere Hälfte durch Einerwahlkreise (Direktmandat) gewählt (FH 28.2.2022; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021a, KAS 21.9.2021). Die letzten Dumawahlen fanden im September 2021 statt und waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 28.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021a, KAS 21.9.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Laut der Zentralen Wahlkommission betrug die Wahlbeteiligung 52 % (FH 28.2.2022; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021a, Ria.ru 6.10.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 28.2.2022). Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament, welche allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet werden (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021a). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021). Aktuell sieht die Sitzverteilung der Parteien in der Staatsduma folgendermaßen aus (Duma o.D.):

 Einiges Russland (Edinaja Rossija): 325 Sitze (Parteivorsitzender Wladimir Wasilew)

 Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF): 57 Sitze (Parteivorsitzender Gennadij Sjuganow)

 sozialistische Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' (Sprawedliwaja Rossija - Patrioty - Sa Prawdu): 28 Sitze (Parteivorsitzender Sergej Mironow)

 Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR): 23 Sitze (Parteivorsitzender Leonid Sluzkij)

 Neue Leute (Nowye Ljudi): 15 Sitze (Parteivorsitzender Aleksej Netschaew)

 2 Duma-Abgeordnete gehören keiner Fraktion an (Duma o.D.).

Die LDPR ist antiliberal-nationalistisch-rechtspopulistisch ausgerichtet (SWP 14.10.2021; vgl. KAS 21.9.2021). Die Partei Neue Leute wurde im Jahr 2020 gegründet und ist eine liberale Mitte-Rechts-Partei. Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' vertritt sozialpatriotische Inhalte (KAS 21.9.2021).

Die föderale Struktur der Russischen Föderation ist in der russischen Verfassung festgeschrieben. Der Status von Föderationssubjekten kann in beiderseitigem Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und dem betreffenden Föderationssubjekt im Einklang mit dem föderalen Verfassungsgesetz geändert werden (Art. 66 der Verfassung) (RI 4.7.2020). Russland besteht aus 83 Föderationssubjekten. Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive, sind aber weitgehend vom föderalen Zentrum abhängig (AA 1.10.2021b). Es besteht ein Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates. Moskau sichert sich die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse (ZOIS 3.11.2021). Im September 2021 fanden parallel zur Parlamentswahl regionale Wahlen statt. Die Bürger wählten Gouverneure von neun Subjekten sowie 39 Regionalparlamente (Russland-Analysen 1.10.2021b; vgl. Tass 20.9.2021).

Die 2014 erfolgte Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol durch Russland ist international nicht anerkannt (AA 1.10.2021b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Lugansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (EU-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Lugansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Lugansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vgl. Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und unter Zeitdruck (Rat 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Lugansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/Tagesschau.de 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vgl. RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Lugansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kremlin.ru 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).

Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (OHCHR 5.7.2022; vgl. HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf diese Vorgänge verhängte die EU Sanktionen gegen Russland, nämlich: Wirtschaftssanktionen; Aussetzung der Visaerleichterungen für russische Diplomaten sowie andere russische Beamte und Geschäftsleute; Sanktionen gegen Mitglieder der Staatsduma, gegen Putin, den Außenminister Sergej Lawrow, gegen Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats und gegen weitere Personen (EU-Rat 16.8.2022). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem u. a. die USA, Kanada, Großbritannien, Japan (WZ 27.6.2022) und die Schweiz (SW 3.8.2022).

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Tschetschenien

Letzte Änderung: 29.08.2022

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen (FR o.D.b). Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrov sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil dieser Personen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB 30.6.2021).

Kadyrov ist seit dem Jahr 2007 in Tschetschenien an der Macht (Dekoder 10.2.2022). Er kämpfte im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) aufseiten der Unabhängigkeitsbefürworter. Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) wechselte Kadyrov die Seite (ORF 30.3.2022). In Tschetschenien gilt Kadyrov als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB 30.6.2021; vgl. AA 21.5.2021, FH 28.2.2022, RFE/RL 3.2.2022, HRW 9.2.2022). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt (ÖB 30.6.2021). Kadyrov bekundet jedoch immer wieder seine absolute Treue gegenüber dem Kreml (ÖB 30.6.2021; vgl. SZ 3.3.2022). Beobachter stufen Tschetschenien zunehmend als Staat im Staat ein, in dem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam ist (Dekoder 10.2.2022). Kadyrov besetzt hohe Posten in Tschetschenien mit Familienmitgliedern (KK 15.3.2022). Das Republikoberhaupt ist für die Regierungsbildung zuständig. Die Regierung ist dem Republikoberhaupt gegenüber rechenschaftspflichtig (FR o.D.b). Premierminister Tschetscheniens ist Muslim Chučiev (KR 9.5.2022). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022).

Die Gesetzgebung wird vom Parlament Tschetscheniens ausgeübt. Das Parlament besteht aus 41 Abgeordneten, welche mittels Verhältniswahl gewählt werden (FR o.D.b). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 96,13 % der Stimmen. Die Partei "Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit" errang 0,93 %, die Kommunistische Partei (KPRF) 0,75 %, Neue Leute 0,24 %, und die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) gewann 0,11 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 94,42 % (Russland-Analysen 1.10.2021c; vgl. Ria.ru 6.10.2021). Zeitgleich fand in Tschetschenien die Direktwahl des Republikoberhauptes statt (Ria.ru 21.9.2021; vgl. FR o.D.b). Dessen reguläre Amtszeit beträgt fünf Jahre (FR o.D.b). Kadyrov, welcher die Partei Einiges Russland präsentierte, gewann 99,7 % der Stimmen. Der Kandidat der Kommunistischen Partei errang 0,12 % und der Kandidat der Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 0,15 % (Ria.ru 21.9.2021). Vor allem im Nordkaukasus ist Wahlbetrug weitverbreitet (BS 2022).

Tschetschenische Sicherheitskräfte gehen rigoros gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige vor (ÖB 30.6.2021). Prekär ist auch die Lage von Regimekritikern und Oppositionspolitikern (AA 21.5.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrov unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 28.2.2022; vgl. AA 21.5.2021, ER 3.6.2022). Solche Handlungen finden manchmal auch außerhalb Russlands statt. Kadyrov wird verdächtigt, die Ermordung von beispielsweise politischen Gegnern, welche im Exil leben, angeordnet zu haben (FH 28.2.2022). Kadyrov wurde von der Schweiz, Kanada, der EU und den USA mit Sanktionen belegt (KK 15.3.2022; vgl. OFAC 8.8.2022, EUR-Lex 25.7.2014).

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Sicherheitslage

Letzte Änderung: 01.09.2022

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 5.8.2022). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Metro, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 4.5.2022).

Für die Russische Föderation stellen Terrorismusbekämpfung und der Umgang mit extremistischen islamischen Gruppen (darunter Gruppen mit Verbindung zum sogenannten Islamischen Staat (IS) sowie Kämpfer, die aus Syrien zurückkehren) eine Priorität dar (USDOS 16.12.2021). Seit November 2020 wurden wegen angeblicher Zugehörigkeit zu Hizb ut-Tahrir mindestens acht Personen verurteilt und mehrere Dutzend Personen festgenommen. Hizb ut-Tahrir ist eine islamistische Bewegung, welche gewaltlos ein Kalifat errichten will. Russland hat Hizb ut-Tahrir aufgrund von Terrorismusvorwürfen im Jahr 2003 verboten (HRW 13.1.2022). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2022), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 44. Rang von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf mittlerem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2022). Russland ist ein Mitglied des Globalen Forums zur Terrorismusbekämpfung (Global Counterterrorism Forum) (USDOS 16.12.2021; vgl. GCTF o.D.).

Am 24.2.2022 begann Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Rat 16.8.2022). In russischen Regionen nahe der Ukraine kam es in letzter Zeit zu mehreren Vorfällen, darunter größere Brände in Belgorod und bei einem Öldepot in Brjansk im April 2022 (Gov.uk 25.8.2022). In fünf russischen Regionen nahe der Ukraine (Rostow, Krasnodar, Saratow, Woronesch und Wolgograd) wurde der Notstand ausgerufen (AA 5.8.2022). In der russischen Region Kursk, welche an die Ukraine grenzt, werden mehrere grenzüberschreitende Artilleriebeschüsse von ukrainischer und russischer Seite sowie Sabotageakte gegen Infrastruktureinrichtungen gemeldet. Die Situation in Kursk wird zunehmend volatil (ACLED 18.8.2022). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (MT 8.6.2022). Stattdessen spricht Russland von einer 'Spezialoperation' in der Ukraine (Presse 11.8.2022). Die folgenden zwei Karten stellen sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 24.2.-12.8.2022 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (schwarz) und Explosionen/Ferngewalt (rot).

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Nordkaukasus

Letzte Änderung: 01.09.2022

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich dies nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB 30.6.2021; vgl. Gov.uk 25.8.2022, RUSI 30.7.2021). Im Allgemeinen ist die Sicherheitslage im Nordkaukasus schwer einzuschätzen (ER 3.6.2022). Niederschwellige militante terroristische Aktivitäten sowie vermehrte Anti-Terror-Aktivitäten und Bemühungen um eine politische Konsolidierung sind feststellbar (OSAC 8.2.2021). Ein Risikomoment für die volatile Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat (ÖB 30.6.2021). Das Kaukasus-Emirat und außerdem der Kongress der Völker Itschkerijas und Dagestans gehören zu denjenigen Organisationen, welche von der Russischen Föderation als Terrororganisationen eingestuft werden (NAK o.D.a). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist (ÖB 30.6.2021). Gemäß dem Online-Medienportal 'Kaukasischer Knoten' fielen zwischen Juli 2021 und Juli 2022 insgesamt 12 Personen dem bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus zum Opfer. Vier dieser Personen wurden in Dagestan getötet, zwei in Karatschai-Tscherkessien, fünf in Kabardino-Balkarien und eine Person in Tschetschenien (KK 4.8.2022; vgl. KK 6.7.2022, KK 5.4.2022, KK 4.1.2022, KK 11.10.2021). Terroranschläge ziehen staatlicherseits u.a. kollektive Bestrafungsformen nach sich. Dies bedeutet, Familienangehörige werden für die Taten ihrer Verwandten zur Verantwortung gezogen (RUSI 30.7.2021) und müssen gemäß gesetzlichen Vorgaben Schadenersatz leisten (USDOS 12.4.2022).

Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung (Dekoder 10.2.2022) und gehen rigoros gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige vor (ÖB 30.6.2021). Tschetschenische Strafverfolgungsorgane werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021). Regelmäßig wird aus Tschetschenien über Sabotage- und Terrorakte gegen Militär und Ordnungskräfte, über Feuergefechte mit Mitgliedern bewaffneter Gruppen, Entführungen von sowie Druck auf Familienangehörige von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen berichtet. In verschiedenen Teilen der Republik Tschetschenien werden in regelmäßigen Abständen Anti-Terror-Operationen durchgeführt (KK 10.7.2021). Tschetschenische Behörden wenden kollektive Bestrafungsformen bei Familienangehörigen vermeintlicher Terroristen regelmäßig an, beispielsweise indem Familienangehörige dazu gezwungen werden, die Republik zu verlassen (USDOS 12.4.2022). In Tschetschenien gibt es eine Anti-Terrorismus-Kommission, deren Vorsitzender das Republikoberhaupt Kadyrow ist (NAK o.D.c). Im September 2018 wurde ein Grenzziehungsabkommen zwischen Tschetschenien und der Nachbarrepublik Inguschetien unterzeichnet, was in Inguschetien zu Massenprotesten der Bevölkerung führte und in der Gegenwart noch für gewisse Spannungen zwischen den beiden Republiken sorgt (KK 15.11.2021).

In Dagestan sind bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der instabilen sozioökonomischen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB 30.6.2021). In Dagestan nimmt der Widerstand immer mehr die Form von Sabotageakten und von Partisanen-Aktivitäten an (KK 18.5.2022). Es gibt in Dagestan eine Anti-Terrorismus-Kommission, welche vom Republikoberhaupt Melikow geleitet wird (NAK o.D.b).

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Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.04.2022

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2021). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020).

Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2021). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs- und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto 'Schuldvermutung' im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Anwälte im Menschenrechtsbereich beklagen ungleiche Spielregeln in Gerichtsverfahren und steigenden Druck gegen die Anwälte selbst (ÖB Moskau 6.2021).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2021). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Weiters wurde mit der Verfassungsänderung, die am 4.7.2020 in Kraft trat, das Recht des Föderationsrats, Richter des Verfassungsgerichtshofs auf Vorschlag des Präsidenten zu entlassen, verankert (ÖB Moskau 6.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 waren beim EGMR 13.650 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2020 wurde die Russische Föderation in 173 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2021).

Wegen Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hatte der Europarat Russlands Mitgliedschaft zunächst suspendiert. Russland gab kurz darauf seinen Austritt aus dem Europarat nach 26 Jahren Mitgliedschaft bekannt und kam damit einem Beschluss der übrigen Mitgliedsstaaten zuvor. Nach dem endgültigen Ausschluss Russlands aus dem Europarat hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) alle Verfahren gegen Russland vorerst ausgesetzt. Nach Angaben des Gerichts vom Jänner 2022 wurden 24 % der rund 70.000 beim EGMR anhängigen Verfahren von Russen und Russinnen angestrengt. Russland gehört nun nicht länger zu den Unterzeichnerstaaten der EMRK, und seine Bürger können sich nicht mehr an den EGMR wenden (ORF.at 17.3.2022).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020). Im Juli 2017 trat eine weitere neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der 'Absicht' angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann. Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).

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Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 02.03.2022

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetschenien und Dagestan. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art 'alternative Justiz'. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2021). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Ein neueres Beispiel betrifft die Familie eines ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof in Tschetschenien. Kadyrow hat die Familie zu 'Terroristen' erklärt, da die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal vermutet werden (Snob 10.2.2022).

Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Es gibt ein Gesetz, welches die Verwandten von Terroristen verpflichtet für Schäden zu haften, die bei Angriffen entstanden sind. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2021). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2021) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Dissens und Kritik werden in Tschetschenien weiterhin rücksichtslos unterdrückt (HRW 13.1.2022).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).

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Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 01.09.2022

Das Innenministerium, der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee, die Generalstaatsanwaltschaft und die Nationalgarde sind für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Staatssicherheit, Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, Korruptionsbekämpfung sowie Bekämpfung des organisierten Verbrechens befasst. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist für Verbrechensbekämpfung zuständig. Die Nationalgarde unterstützt den Grenzwachdienst des FSB bei der Grenzsicherung, ist für Waffenkontrolle sowie den Schutz der öffentlichen Ordnung verantwortlich, bekämpft Terrorismus und das organisierte Verbrechen und bewacht wichtige staatliche Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (USDOS 12.4.2022). Koordiniert werden die Maßnahmen im Bereich Terrorismusbekämpfung vom Nationalen Anti-Terrorismus-Komitee (USDOS 16.12.2021). Zivilbehörden halten im Allgemeinen eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Gegen Beamte, die missbräuchliche Handlungen setzen und in Korruption verwickelt sind, werden selten strafrechtliche Schritte unternommen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führt (USDOS 12.4.2022). Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 21.5.2021).

Die Polizei wendet häufig übermäßige Gewalt an (FH 28.2.2022). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen 'fremdländischen' Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Polizei und der Untersuchungsbehörden (AA 21.5.2021). Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht (ÖB 30.6.2021).

Laut gesetzlichen Vorgaben dürfen Verdächtige für die Dauer von maximal 48 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung inhaftiert werden - vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Anderenfalls ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete werden von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Inhaftierten muss die Möglichkeit gegeben werden, Angehörige telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt ordnet die Geheimhaltung der Inhaftierung an. Verhaftete müssen von der Polizei innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor haben sie das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu sehen. Spätestens 12 Stunden nach der Festnahme muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Polizei muss Festgenommene nach 48 Stunden gegen Kaution freilassen - es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, die Inhaftierungsdauer auszudehnen. Zuvor (mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haftdauer) muss die Polizei einen diesbezüglichen Antrag eingereicht haben. Im Allgemeinen werden von den Behörden die rechtlichen Beschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus. Angeklagte und deren Rechtsvertreter müssen bei der Gerichtsverhandlung persönlich oder über einen Videolink anwesend sein (USDOS 12.4.2022).

Die Zivilbehörden auf nationaler Ebene üben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien aus. Diese sind nur dem Republikoberhaupt Kadyrow gegenüber rechenschaftspflichtig (USDOS 12.4.2022; vgl. ÖB 30.6.2021). Mit den sogenannten Kadyrowzy verfügt Kadyrow über eine persönliche Armee (FPRI 15.6.2022). Bei den Kadyrowzy handelt es sich formal um Einheiten der tschetschenischen Nationalgarde, deren zahlenmäßige Stärke geheim ist. Russische Quellen nennen Zahlen zwischen 10.000 und 18.000 Soldaten (Heise 9.7.2022). Die tschetschenische Sondereinheit der Kadyrowzy existierte bereits unter Kadyrows Vater, der sich im Tschetschenienkrieg ab 1999 auf die Seite Russlands gegen die Separatisten gestellt hatte und im Jahr 2004 getötet worden war. Seit der Machtübernahme Kadyrows im Jahr 2007 werden die Kadyrowzy von Menschenrechtsorganisationen für zahlreiche Morde politischer Gegner sowie für Folter verantwortlich gemacht (Euronews 20.3.2022). Die Kadyrowzy kommen im Ukraine-Krieg zum Einsatz (Heise 9.7.2022). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem langen Arm des Regimes von Republikoberhaupt Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen von anderen russischen Regionen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 21.5.2021).

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Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 29.08.2022

Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (RI 4.7.2020). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von max. 3 Jahren oder Zwangsarbeit von max. 3 Jahren oder Freiheitsentzug von max. 3 Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person, kommt Folter zur Anwendung oder wird die Tat aus politischen, ideologischen, religiösen usw. Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge (RI 25.3.2022). Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der inneren Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2021). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Sicherheitsbeamte Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen (USDOS 12.4.2022). Folter und andere Misshandlungen in Haftanstalten sind weitverbreitet und werden selten geahndet (AI 29.3.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter. Gemäß Berichten kommt es außerdem vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 12.4.2022). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 21.5.2021).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen. Diese richtet sich gegen Zivilisten, islamistische Aufständische, Bedienstete von Behörden usw. (FH 28.2.2022). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 28.2.2022; vgl. AA 21.5.2021). Solche Handlungen finden manchmal auch außerhalb Russlands statt (FH 28.2.2022).

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NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung: 21.04.2022

Der russische Staat wünscht sich, dass NGOs vor allem im sozialen Bereich tätig sind. Das Engagement in Bezug auf andere, politische Aktivitäten, wird mit Misstrauen betrachtet (BTI 2020). Somit geraten NGOs zunehmend unter Druck. Auf Basis des sog. NGO-Gesetzes aus 2012 werden russische NGOs, die politisch aktiv sind und aus dem Ausland Finanzmittel erhalten, in ein vom Justizministerium geführtes Register 'ausländischer Agenten' eingetragen, was mit verstärkten Berichts- und Kennzeichnungspflichten und bürokratischer Kontrolle der Tätigkeit der NGO einhergeht (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021, BTI 2020). Die Bezeichnung als 'Agent' provoziert unter der russischen Bevölkerung eine negative Konnotation mit den Tätigkeiten dieser NGOs im Sinne von Spionagetätigkeiten (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021). Organisationen, die sich nicht eintragen lassen, haben mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. können aufgelöst werden. 2016 wurde die NGO Agora, eine Vereinigung von Menschenrechtsanwälten, als erste Organisation aufgrund von Nichtbefolgung des NGO-Gesetzes aufgelöst (ÖB Moskau 6.2020). Mit 1. März 2021 trat eine Verschärfung des Strafgesetzes in Kraft, wonach eine 'mutwillige Umgehung' der Verpflichtungen einer 'NGO, welche die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt', mit Strafen von 300.000 Rubel (ca. 3.310 Euro) bis zu Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren geahndet werden kann (ÖB Moskau 6.2021). Die international bekannte NGO Memorial ist aktuell mit Geldstrafen in Höhe von 6,1 Mio Rubel (ca. 68.000 Euro) wegen fehlender Kennzeichnungen u.a. auf Social-Media-Kanälen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021). Ende Dezember 2021 hat das Oberste Gericht in Moskau entschieden, Memorial aufzulösen (Tagesschau.de 28.12.2021). Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Schließungspläne mit mehrfachen Verstößen gegen das umstrittene Gesetz zu 'ausländischen Agenten' (Standard Online 25.11.2021). Das Oberste Gericht folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die NGO Memorial habe in ihren Publikationen auf den Hinweis verzichtet, dass sie als 'ausländischer Agent' eingestuft wird (Arte.tv 29.12.2021). Memorial wurde in der Vergangenheit aus denselben Gründen bereits mehrfach zu teils hohen Geldstrafen verurteilt (Standard Online 25.11.2021). Mit Ende 2020 waren beim Justizministerium 75 NGOs als ausländische Agenten registriert (FH 3.3.2021). Ende 2019 wurde zudem die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, auch natürliche Personen als 'ausländische Agenten' zu listen, sofern diese Medieninhalte von solchen verbreiten oder erarbeiten und dafür Geld erhalten (AA 2.2.2021; vgl. Standard Online 3.12.2019).

Um eine Alternative zu ausländischer Finanzierung russischer NGOs zu schaffen, werden seit 2017 sogenannte präsidentielle Subventionen vergeben, größtenteils an NGOs mit patriotischer bzw. sozialer Ausrichtung; in einigen Fällen erhielten auch als 'ausländische Agenten' deklarierte Einrichtungen staatliche Zuwendungen. Die Kehrseite der staatlichen Unterstützung ist, dass die Empfänger sich im Gegenzug einer intensiven behördlichen Kontrolle ihrer Geschäftstätigkeit unterwerfen müssen (ÖB Moskau 6.2021). In einem Bereich hat der Staat Interesse an Zusammenarbeit und Beratung gezeigt, insbesondere in ländlichen Regionen: Wenn Aktivitäten auf Sozialpolitik ausgerichtet sind, nicht auf politisches Engagement (BTI 2020).

Im Mai 2015 wurde ein Gesetz angenommen, um die Tätigkeit von ausländischen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen, die eine Bedrohung für die verfassungsmäßigen Grundlagen, für die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die Sicherheit des Staates darstellen, auf dem Territorium der Russischen Föderation für unerwünscht zu erklären (ÖB Moskau 6.2021; vgl. BTI 2020, FH 3.3.2021). Die Klassifizierung als unerwünschte Organisation zieht ein Verbot der Gründung bzw. die Liquidierung bereits bestehender Strukturen der ausländischen NGO in Russland nach sich, sowie ein Verbot der Verteilung von Informationsmaterialien bzw. der Durchführung von Projekten. Weiters ist es russischen Banken verboten, Finanzoperationen durchzuführen, wenn ein Kunde als unerwünschte NGO eingestuft wurde (ÖB Moskau 6.2021). Die Verbote betreffen nicht nur die NGO selbst, sondern auch Personen, die sich an ihrer Tätigkeit beteiligen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021). Das Gesetz sieht Geldstrafen sowie bei wiederholter Verletzung auch Freiheitsstrafen von mehreren Jahren vor (ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 gelten 29 ausländische NGOs als unerwünschte Organisationen, da sie die nationale Sicherheit gefährden würden. Die Bezeichnung gibt den Behörden die Möglichkeit, eine Bandbreite an Sanktionen gegen diese Gruppierungen zu verhängen (FH 3.3.2021). Russland verschärft im Zuge des Ukrainekriegs die Repression und schloss Anfang April 2022 15 ausländische NGOs. Betroffen sind neben Amnesty International und Human Rights Watch unter anderem alle politischen Stiftungen aus Deutschland. Zu den Gründen der Verbote wurde auf unbestimmte „Gesetzesverstöße“ verwiesen (FAZ 10.4.2022).

Die Gesetzeslage zu NGOs hat sich in den vergangenen Jahren signifikant verändert, mit dem Ergebnis, dass derzeit unpolitische bzw. Pro-Regierungs-NGOs, die etwa im sozialen Bereich tätig sind, eher unterstützt werden und im Gegensatz dazu kritische NGOs, Medien und Einzelpersonen, vor allem jene, die sich öffentlich kritisch zu Themen wie Menschenrechte, Umweltschutz und dergleichen äußern, mit Einschränkungen und Repression konfrontiert sind (ÖB Moskau 6.2021). In Dagestan können NGOs tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee zur Verhinderung von Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Gemeinnützige Stiftungen sind in Dagestan der am weitesten entwickelte Teil der Zivilgesellschaft. Dies sind die stärksten, stabilsten und zahlreichsten NGOs in der Republik und umfassen Stiftungen wie 'Hope and Pure Heart'. Diese Organisationen sind äußerst professionell, verfügen über gut entwickelte IT-Plattformen und verwenden eine gemeinsam nutzbare Datenbank aller Bedürftigen in Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien. Die Zielgruppen ihrer Aktivitäten sind alleinerziehende Mütter, Waisen und Senioren, die alleine leben. Da sie sich nicht mit politischen und bürgerrechtlichen Themen befassen, passt ihre Tätigkeit in den aktuellen politischen Kontext und die konservative Wertebasis und wird von den Behörden nicht kontrolliert. Dagestan hat die am weitesten entwickelte, vielfältigste und unabhängigste Zivilgesellschaft der drei nordkaukasischen Republiken (Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan). Dagestan unterliegt nicht der erhöhten staatlichen Kontrolle und dem Druck Tschetscheniens oder dem Konservativismus und der traditionellen Lebensweise Inguschetiens. Stattdessen gibt es viele verschiedene Gruppen, die sich aktiv für ihre zivilgesellschaftlichen Positionen einsetzen. Dagestan ist auch die erste Region, die die Umwelt aktiv auf die öffentliche Tagesordnung setzt. Aufgrund regelmäßiger Machtwechsel auf Republiks- und lokaler Ebene hat sich in Dagestan kein ausschließliches Zentrum gebildet, das Unterdrückung und Kontrolle über NGOs und Basisinitiativen ausüben würde (CSIS 1.2020).

Unbestrafte und nicht untersuchte, grobe Menschenrechtsverletzungen und Druck auf Menschenrechtsorganisationen haben die Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft in Tschetschenien stark eingeschränkt. Trotzdem konnten viele lokale NGOs dem Druck standhalten und sich an die neuen Regeln anpassen. Die Popularität von gemeinnützigen Aktivitäten und sozialen Projekten zur Unterstützung von einkommensschwachen und schutzbedürftigen Gruppen wächst, ebenso die Anzahl sozialer Initiativen für Kinder und Jugendliche. Auch das Thema Menschen mit Beeinträchtigungen wird de-stigmatisiert. Ein weiterer wichtiger positiver Trend ist, dass immer mehr junge Menschen an Freiwilligenarbeit interessiert sind. Die Reduzierung der Auslandsfinanzierung (nach Angaben des Justizministeriums erhalten derzeit nur 16 NGOs in Tschetschenien Geld aus dem Ausland) wird teilweise durch das Programm der Präsidentenzuschüsse kompensiert, von dem mehrere lokale NGOs profitieren. Insbesondere die Abteilungen für öffentliche Angelegenheiten und religiöse Organisationen arbeiten im Rahmen des Zuschussprogramms des Präsidenten eng zusammen (CSIS 1.2020).

Die NGO Memorial zählte Ende 2020 349 Menschen als politische (61) oder religiöse Gefangene (288). Darunter waren Teilnehmer der Moskauer Wahlproteste 2019, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte ethnischer Minderheiten (FH 3.3.2021).

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Ombudsperson

Letzte Änderung: 28.05.2021

Für die Russische Föderation gibt es wie für jedes der Föderationssubjekte einen Menschenrechtsbeauftragten [Ombudsperson]. Die Amtsinhaberin Tatjana Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. In ihrem Jahresbericht vom April 2020 gibt sie gleichwohl an, dass die meisten Beschwerden das Verhalten von Polizei und Justiz betreffen. Andere wichtige Beschwerdegründe waren die Nicht-Genehmigung von Versammlungen und – mit großem Abstand – die Behandlung von Häftlingen (AA 2.2.2021). Die Effektivität der regionalen Ombudspersonen variiert erheblich, und lokale Behörden unterminieren manchmal die Unabhängigkeit (US DOS 11.3.2020).

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Wehrdienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 02.02.2023

Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 27 Jahren der Einberufung zum Wehrdienst (RF 24.9.2022). Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium (ÖB 30.6.2022). Es gibt in Russland zweimal jährlich eine Stellung. Im Frühling 2022 wurden russlandweit 134.500 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen. Ein Jahr zuvor waren 134.650 Personen eingezogen worden (Spiegel 31.3.2022). Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Kreml 30.9.2022). Die Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen ist relativ gering, im Durchschnitt 500 Einberufene pro Einberufungsperiode (ÖB 25.1.2023). Die Zustellung von Einberufungsbefehlen hat gemäß § 31.2 des Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' persönlich zu erfolgen (RF 24.9.2022; vgl. ÖB 9.1.2023).

Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, welche ein Studium absolvieren oder einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Auch Angehörige bestimmter Berufsgruppen können einen Aufschub des Wehrdienstes beantragen. Die Ableistung des Grundwehrdienstes ist Voraussetzung für bestimmte (v. a. staatliche) berufliche Laufbahnen (ÖB 30.6.2022).

Ab einem Alter von 16 Jahren ist der freiwillige Besuch einer Militärschule möglich (EBCO 21.3.2022). Frauen dürfen freiwillig Militärdienst leisten (CIA 24.1.2023). Nach dem Grundwehrdienst gibt es die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (ÖB 30.6.2022). Seit mehreren Jahren sind Bemühungen im Gang, die Armee in Richtung eines Berufsheeres umzugestalten (ISW 5.3.2022; vgl. SWP 7.12.2022, GS o.D.). Wie viele Zeit- bzw. Vertragssoldaten (Kontraktniki) es aktuell in Russland gibt, ist unklar (BBC 14.4.2022). Für 2020 wurde deren Anzahl offiziell mit 405.000 angegeben (SWP 7.12.2022). Damals plante man eine Aufstockung auf 500.000 Vertragssoldaten (BBC 14.4.2022). Bislang kamen als Vertragssoldaten russische Staatsbürger im Alter von 18-40 Jahren sowie Ausländer zwischen 18 und 30 Jahren infrage. Im Mai 2022 wurden diese Altersgrenzen bis zum Pensionsalter angehoben (Duma 25.5.2022; vgl. NZZ 25.5.2022).

Im Militärbereich ist Korruption weitverbreitet (USDOS 12.4.2022; vgl. SWP 7.12.2022). 2015 wurden die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert. Seitdem zählt hierzu ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte. Auch die sogenannte Dedowschtschina ('Herrschaft der Großväter') – ein System der Erniedrigung bis hin zur Vergewaltigung von sich ausgeliefert fühlenden Rekruten durch dienstältere Mannschaften in Verbindung mit abgelegenen Standorten und kein Ausgang bzw. kaum Urlaub - dürfte eine maßgebliche Ursache sein (AA 28.9.2022). Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Delikten kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 28.9.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). NGOs gehen von Hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt bzw. geduldet (ÖB 30.6.2022). Gemäß einer Liste, welche der Föderale Sicherheitsdienst (FSB) im September 2021 veröffentlichte, werden Personen, die auf Straftaten in der Armee aufmerksam machen, als 'ausländische Agenten' eingestuft (AI 29.3.2022). Die Diskreditierung der Armee ist gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches strafbar (RF 29.12.2022a). Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, welche in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie übliche Freiheitsstrafen in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch bis zu zwei Jahre in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 28.9.2022).

Gemäß einem präsidentiellen Erlass vom 25.8.2022 ist mit 1.1.2023 die russische Armee auf einen Personalstand von 2.039.758 Bediensteten aufgestockt worden, davon 1.150.628 Militärbedienstete und der Rest Zivilpersonal wie Verwaltungsangestellte usw. (RI 25.8.2022; vgl. ORF 25.8.2022). Für den Zeitraum 2023-2026 ist eine Erhöhung der Anzahl der Militärbediensteten auf 1,5 Millionen geplant (Iswestija 17.1.2023). Im Jahr 2021 betrugen die Militärausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (SIPRI o.D.). Gemäß Art. 87 der Verfassung ist der Präsident der Russischen Föderation Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Duma 6.10.2022).

Mobilmachung / Ukraine-Krieg

Gemäß rechtlicher Vorgaben müssen Wehrpflichtige eine mindestens viermonatige Ausbildung absolviert haben, um zu Kampfeinsätzen im Ausland entsandt werden zu können. Jedoch zu Kriegszeiten oder im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts ist es möglich, Wehrpflichtige früher heranzuziehen. Innerhalb Russlands dürfen Wehrpflichtige sofort (auch unausgebildet) herangezogen werden (ISW 30.10.2022). Aktuell gibt es keine Hinweise auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine (EUAA 16.12.2022; vgl. ÖB 8.11.2022, ÖB 25.1.2023). Wehrpflichtige werden allerdings in Grenzregionen verbracht (beispielsweise nach Belgorod, Kursk, Brjansk, Rostow und Krasnodar) sowie auf die von Russland besetzte Krim (EUAA 16.12.2022). Es gab Berichte über Wehrpflichtige, welche unter Druck gesetzt wurden, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (RFE/RL 14.7.2022).

Alle russischen Regionen wurden angewiesen, Freiwilligenbataillone für den Einsatz in der Ukraine zusammenzustellen (ÖB 30.6.2022). Mit der Rekrutierung Freiwilliger wurde im Juli/August 2022 begonnen. Das Verteidigungsministerium rekrutiert seit September 2022 Strafgefangene. Diesen wurden als Gegenleistung für einen Kampfeinsatz Geld und frühzeitige Entlassung aus dem Gefängnis angeboten (EUAA 16.12.2022).

Gemäß dem präsidentiellen Erlass (Ukas) vom 21.9.2022 werden mobilisierte Staatsbürger Vertragssoldaten gleichgestellt, auch hinsichtlich der Besoldung. Der Erlass enthält keine Angaben zur Anzahl der einzuberufenden Staatsbürger. [Anzumerken ist auch, dass der Punkt 7 des Erlasses nicht veröffentlicht wurde und dem 'Dienstgebrauch' dient. Sein Inhalt ist unbekannt. - Anm. der Staatendokumentation] Die Umsetzung der Mobilmachung obliegt den Regionen. Ausgenommen von der Mobilmachung sind gemäß dem Erlass ältere Personen, Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands als untauglich eingestuft werden (RI 21.9.2022), außerdem Mitarbeiter im Banken- und Mobilfunksektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien (Kommersant 23.9.2022). Ein Einberufungsaufschub gilt für Staatsbürger, welche im Verteidigungsindustriesektor arbeiten (RI 21.9.2022). Folgende Personengruppen sind ebenfalls von der Mobilmachung ausgenommen: pflegende Angehörige; Betreuer von Personen mit Behinderungen; kinderreiche Familien; Personen, deren Mütter alleinerziehend sind und mindestens vier Kinder unter acht Jahren haben; pensionierte Veteranen, welche nicht mehr im Militärregister aufscheinen; sowie Personen, welche nicht in Russland leben und nicht im Militärregister aufscheinen (Meduza 22.9.2022). Der Kreml räumte Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung ein. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen sind, beispielsweise Krebskranke (Kommersant 26.9.2022). Die Teilmobilmachung führte in Russland zu Protesten, Festnahmen (OWD-Info o.D.; vgl. Standard 22.9.2022) sowie zu einer Ausreisebewegung (WP 28.9.2022). Es wird berichtet, dass seit Verkündung der Teilmobilmachung Hunderttausende Männer Russland verließen (DW 6.10.2022). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung in der Russischen Föderation') (RF 4.11.2022). Seit Kriegsbeginn bieten NGOs juristische Beratung für Grundwehrdiener und Soldaten an (ÖB 30.6.2022).

Am 28.10.2022 vermeldete der Verteidigungsminister an Präsident Putin den Abschluss der oben beschriebenen Teilmobilmachung (Tass 28.10.2022). Am 31.10.2022 bestätigte Putin mündlich das Ende der Teilmobilmachung (Kreml 31.10.2022). Gemäß einer schriftlichen Mitteilung der russischen Präsidialverwaltung vom Jänner 2023 ist der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung (21.9.2022) nach wie vor in Kraft (ISW 20.1.2023; vgl. ÖB 25.1.2023). Im Rahmen der Teilmobilmachung wurden nach offiziellen Angaben 300.000 Reservisten einberufen (RG 21.9.2022). Als Reservist gilt jede männliche und weibliche Person, die ein Militärbuch besitzt (ÖB 19.10.2022). Prinzipiell erhalten alle Personen, welche den Wehrdienst abgeleistet haben, ein Militärbuch. Es häufen sich aber Aussagen, dass immer mehr Männer, die nie gedient haben, mit Vollendung des 25. Lebensjahres ein Militärbuch erhalten. Dieses besagt dann jedoch, dass sie nie dienten und daher auch nicht zur Reserve zählen (ÖB 25.1.2023). Ethnische Minderheiten aus weniger wohlhabenden Regionen waren überproportional von der Mobilisierungswelle betroffen (Standard 28.9.2022; vgl. ISW 17.10.2022). Es gibt Hinweise darauf, dass derzeit eine verdeckte Mobilisierung (im Gegensatz zu einer Massenmobilisierung) stattfindet. Beispielsweise gibt es Fälle von Personen, welche zu militärischen Schulungen einberufen werden (ISW 20.1.2023). Gemäß einer russischen Quelle werden derzeit Studierende an mehreren russischen Universitäten von den dortigen Mobilisierungsabteilungen aufgefordert, ihre Militärregistrierungsdaten offenzulegen (ISW 30.1.2023). Außerdem ermöglicht eine gesetzliche Neuregelung vom November 2022 die Mobilisierung von Schwerverbrechern. Davon ausgenommen sind u. a. Terroristen, Spione sowie Personen, die Minderjährige sexuell missbrauchten (RIA 4.11.2022; vgl. RF 4.11.2022).

Zu den Kämpfern in der Ukraine zählt u. a. die russische Söldner-Gruppe 'Wagner' (Deutschlandfunk 27.7.2022). Priva­te Mili­tärfirmen wie 'Wagner' sind formal illegal (SWP 7.12.2022). Auch syrische Söldner wurden zur Unterstützung Russlands für den Kampf in der Ukraine rekrutiert (Rat 22.7.2022).

Tschetschenien

Tschetschenische Gruppierungen kämpfen in der Ukraine seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 (EUAA 16.12.2022). Die von Präsident Putin am 21.9.2022 verkündete Teilmobilmachung (RI 21.9.2022) wurde in Tschetschenien nicht durchgeführt. Das tschetschenische Republiksoberhaupt, Ramsan Kadyrow, begründete dies damit, dass Tschetschenien bereits überproportional viele Kämpfer in die Ukraine entsandt hatte und somit die Quote übererfüllt war (KU 23.9.2022). In Tschetschenien wurden Freiwilligenbataillone gebildet (EUAA 16.12.2022). Nach wie vor entsendet Tschetschenien Gruppen Freiwilliger als Kämpfer in den Ukraine-Krieg (KU 1.1.2023b; vgl. KU 24.1.2023). Der rechtliche Status der Freiwilligen ist unklar. Ab Juni 2022 wurden Freiwillige mittels kurzfristiger Verträge an Militäreinheiten angegliedert, an private Militärunternehmen wie Wagner oder an die Nationalgarde. Am 26.6.2022 verkündete Kadyrow die Gründung von vier tschetschenischen (an das Verteidigungsministerium angegliederten) Freiwilligenbataillonen mit den Bezeichnungen Süd-Achmat, Nord-Achmat, West-Achmat sowie Ost-Achmat. Wegen des Personalmangels stammen Mitglieder dieser Einheiten hauptsächlich aus tschetschenischen Polizeieinheiten und der Nationalgarde. Zur selben Zeit begann Kadyrow mit Rekrutierungen im Kreis der tschetschenischen Sicherheitskräfte (EUAA 16.12.2022). Zu den Kämpfern in der Ukraine zählen auch die sogenannten Kadyrowzy. Diese stellen eine Art Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Kadyrow dar. Formal sind die Kadyrowzy der Nationalgarde unterstellt (SWP 7.12.2022). [Zu den Kadyrowzy siehe auch das Kapitel Sicherheitsbehörden, Anm.]

Nach Aussage von Republikoberhaupt Kadyrow sind alle in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen, darunter auch die Sicherheitskräfte, Freiwillige (KU 1.1.2023a). Tatsächlich finden in Tschetschenien Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen, wobei Methoden wie Drohungen und Entführungen angewandt werden (EUAA 16.12.2022). Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als 'freiwillige' Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen (RFE/RL 10.11.2022; vgl. ÖB 25.1.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der 'Hölle' (KU 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KU 25.8.2022). In Tschetschenien gibt es keine NGOs, welche eingezogene Personen unterstützen (EUAA 16.12.2022).

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Wehrersatzdienst

Letzte Änderung: 02.02.2023

Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Art. 59 der Verfassung garantiert (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das Föderale Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' dar (RF 31.7.2020). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB 30.6.2022). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Kliniken oder Feuerwehr (ÖB 30.6.2022; vgl. AA 28.9.2022). Jährlich wird eine Liste an Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, in welchen die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist (FAAB o.D.).

Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts sind beim Militärkommissariat spätestens sechs Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten (§ 11 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst'). Die Anträge werden laut § 10 von der Einberufungskommission geprüft (RF 31.7.2020). Wer bereits den Wehrdienst ableistet, darf keinen Antrag mehr auf Ableistung eines Wehrersatzdienstes stellen. Jährlich werden in etwa 2.000 Anträge auf Wehrersatzdienst gestellt, wovon geschätzt die Hälfte positiv beschieden wird (EUAA 16.12.2022). Zeugen Jehovas sind von Ablehnungen ihrer Anträge betroffen (NL-MFA 4.2021; vgl. WHJW 21.3.2022). Lehnt die Einberufungskommission den Antrag einer Person auf Ableistung des Zivildiensts ab, kann diese Entscheidung gerichtlich angefochten werden (§ 15 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst') (RF 31.7.2020). Mit Stand August 2022 absolvierten laut Angaben des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) 1.166 russische Staatsbürger einen alternativen Zivildienst (FAAB 1.8.2022). Die Verweigerung der Ableistung des Zivildiensts zieht gemäß § 328 des Strafgesetzbuches folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von bis zu RUB 80.000 [ca. EUR 1.038] oder in der Höhe von bis zu sechs Monatseinkommen, bis zu 480 Stunden Pflichttätigkeiten oder Arrest von bis zu sechs Monaten (RF 29.12.2022a).

Bei Verkündung einer Mobilmachung ist die Fortsetzung des zivilen Ersatzdienstes in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen gestattet. Staatsbürger, welche zu Zeiten einer Mobilmachung den zivilen Ersatzdienst in nichtmilitärischen Einrichtungen absolvieren, können als ziviles Personal in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen zum Einsatz kommen (§ 17.1 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung in der Russischen Föderation') (RF 4.11.2022). Denjenigen Personen, welche [bereits] einen Einberufungsbefehl zur Mobilisierung erhalten haben, wurde nicht die Möglichkeit eines Wehrersatzdienstes eingeräumt (EUAA 16.12.2022).

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Desertion/Wehrdienstverweigerung

Letzte Änderung: 02.02.2023

Desertion:

Gemäß § 338 StGB (Strafgesetzbuch) bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der militärischen Einheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Wehrdienst zu entgehen. Desertion wird laut § 338 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge schwieriger Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie Desertion in einer Personengruppe werden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet. Desertion während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen zieht eine Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren nach sich (RF 29.12.2022a). In Bezug auf den Ukraine-Krieg vermeidet Russland den Begriff Krieg und spricht stattdessen von einer 'militärischen Spezialoperation' (RFE/RL 22.8.2022). Je länger eine Desertion zurückliegt, desto unwahrscheinlicher scheint eine Bestrafung. Deserteure während des Zweiten Weltkriegs, welche sich zwischen 1962 und 1995 stellten, gingen in bestimmten Fällen straffrei aus. Hingegen wurden beispielsweise Soldaten, die 1995 bzw. 2008 desertierten, später von Gerichten gemäß § 338 StGB zu Haftstrafen von zwei bzw. drei Jahren verurteilt. Um als Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches gelten zu können, ist Vorsatz erforderlich. Begangen werden kann das Delikt der Desertion von Wehrdienstleistenden, Zeitsoldaten sowie von Reservisten. Reservisten können von Militärkommissariaten zu militärischen Übungen einberufen werden. Die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl stellt keine Desertion im Sinne des § 338 StGB dar (ÖB 17.3.2022). Gemäß § 10 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' sind russische Staatsbürger jedoch verpflichtet, binnen zwei Wochen beim Militärkommissariat zu erscheinen, um sich entweder aus der Wehrkartei streichen zu lassen falls sie für mehr als sechs Monate aus der Russischen Föderation ausreisen, oder sich nach Einreise in die Russische Föderation registrieren zu lassen (RF 24.9.2022). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 21.5) stellt die Nichterfüllung dieser Verpflichtungen eine Verwaltungsübertretung dar und zieht eine Verwarnung oder Geldstrafe von RUB 500 bis 3.000 [ca. EUR 7 bis 39] nach sich (RF 29.12.2022b). Laut dem föderalen Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' (§ 15) kann das Ausreiserecht russischer Staatsbürger vorübergehend eingeschränkt werden, falls sie zum Wehr- oder Zivildienst einberufen wurden (bis zur Beendigung des Wehr- oder Zivildienstes) (RF 14.7.2022).

Bei einberufenen Reservisten ist Folgendes zu unterscheiden: Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß § 338 StGB vor (ÖB 17.3.2022).

Wehrdienstverweigerung:

Die Verweigerung der Einberufung zum Wehrdienst zieht folgende Strafen nach sich (§ 328 StGB): Geldstrafen von bis zu RUB 200.000 [ca. EUR 2.618] oder in der Höhe von bis zu 18 Monatseinkommen, Zwangsarbeit von bis zu zwei Jahren, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren. § 337 StGB sieht u. a. Folgendes vor: Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als zwei Tagen bis max. zehn Tagen ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft. Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von fünf bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Tat Folge schwieriger Umstände war. Reservisten sind während Militärübungen strafrechtlich für Taten gemäß diesem Paragrafen (§ 337) verantwortlich (RF 29.12.2022a). Einem Bericht zufolge stieg im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl der Anklagen nach § 337 StGB im Zeitraum Februar-August 2022 um 45 % (EUAA 16.12.2022).

Wer während des Kriegsrechts, zu Kriegszeiten, im Rahmen von Kampfhandlungen oder bewaffneten Konflikten den Befehl eines Vorgesetzten nicht befolgt und die Teilnahme an Kriegs- oder Kampfhandlungen verweigert, wird mit Freiheitsentzug von zwei bis drei Jahren bestraft (§ 332 StGB). Wenn diese Taten mit schwerwiegenden Folgen verbunden waren, zieht dies eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 339 StGB wird die Verweigerung des Wehrdiensts durch Betrug (Vortäuschung einer Krankheit, Selbstverletzung, Selbstverstümmelung, Fälschung von Dokumenten usw.) folgendermaßen geahndet: Wehrdienstbeschränkung von bis zu einem Jahr, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Disziplinarhaft (Inhaftierung in einer militärischen Disziplinareinheit) von bis zu einem Jahr. Dieselbe Tat (mit dem Ziel, sich gänzlich den militärischen Pflichten zu entziehen) zieht eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren nach sich. Taten gemäß § 339 StGB, die während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen begangen wurden, ziehen eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 51 des Strafgesetzbuches bedeutet Wehrdienstbeschränkung eine verminderte Besoldung sowie das Aussetzen dienstlicher Beförderungen (RF 29.12.2022a).

Neu eingeführt wurde ins Strafgesetzbuch am 24.9.2022 ein Paragraf mit dem Titel 'Sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben' (RG 24.9.2022). Gemäß diesem § 352.1 wird eine solche Tat mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn sie Maßnahmen für ihre Befreiung ergriffen, zu ihrer Truppe oder Dienstort zurückkehrten und wenn sie während der Kriegsgefangenschaft nicht andere Straftaten begingen (RF 29.12.2022a).

Internationale und unabhängige russische Medien berichten über viele Fälle von Vertragssoldaten, welche die Entsendung in die Ukraine verweigern oder die Ukraine verlassen haben, um zu ihren Militäreinheiten in Russland zurückzukehren (EUAA 16.12.2022). In einigen Fällen desertieren Mobilgemachte während des Kampfeinsatzes in der Ukraine (ÖB 25.1.2023). Die genaue Anzahl von Soldaten, welche den Kampf in der Ukraine verweigern, ist unklar (Connection 2.10.2022). Die Regierung veröffentlicht keine Zahlen (AA 28.9.2022). Gemäß einem Bericht vom Dezember 2022 erfolgten bereits die ersten Urteile gemäß den Paragrafen 'Desertion' [§ 338] und 'eigenmächtiges Verlassen der Militäreinheit' [§ 337] während der Mobilisierung (Mediasona 16.12.2022).

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Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 02.03.2022

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):

 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

 Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

 Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

 Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

 Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

 Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2021).

Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikane bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021).

Einerseits wird in Russland soziales Engagement und freiwillige soziale Arbeit (etwa auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie) begrüßt und unterstützt. Sogenannte 'Bürgerkammern' sollen als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat dienen. Andererseits wurde der Freiraum für eine kritische Zivilgesellschaft seit den Protesten 2011/2012 immer weiter eingeschränkt. Im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet. Kritische inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2021) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021, HRW 13.1.2022). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).

Rassismus und Xenophobie richten sich in Russland traditionell vor allem gegen Migranten aus Zentralasien, Personen aus dem Kaukasus und vermehrt auch gegen dunkelhäutige Personen. Weitere Opfer von Hassverbrechen sind ideologische Gegner (Angriffe v.a. der nationalistischen Gruppierung SERB), LGBTIQ-Personen und Obdachlose. Die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren ist gesunken, und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen sind beträchtlich zurückgegangen. Anti-LGBTIQ-Rhetorik ist nunmehr eine der am weitesten verbreiteten Formen von Hassreden. Der Islam wird häufig mit Terrorismus in Verbindung gebracht. Die häufigsten Opfer rassistischer Gewalt sind Zentralasiaten, andere 'nicht-slawisch' aussehende Personen, Roma und dunkelhäutige Personen. Die Zahl der Opfer bei Hassverbrechen ist zwar klar geringer als noch vor 10 Jahren, dennoch aber nicht unbedeutend. Keinen Rückgang gab es bei Angriffen gegen Mitglieder oppositioneller Gruppierungen (ÖB Moskau 6.2021).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019).

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Tschetschenien

Letzte Änderung: 02.03.2022

NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, welche das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).

Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. BAMF 11.2019).

2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Sexuelle Minderheiten] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten. Im März 2018 entschied das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, kein Strafverfahren in der Sache zu eröffnen. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht. Im März 2021 publizierte die Nowaja Gazeta die Aussagen eines tschetschenischen Polizisten, welcher Augenzeuge der Festnahmen und außergerichtlichen Tötungen war (ÖB Moskau 6.2021).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot, auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Schikanen, Strafverfahren und körperliche Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger werden weiterhin begangen (AI 7.4.2021). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020). [Bezüglich Morde bzw. Vorfälle gegen tschetschenische Kritiker in Europa und Russland siehe Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].

Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).

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Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein

Letzte Änderung: 02.03.2022

Die tschetschenische Führung unterdrückt weiterhin rücksichtslos jede Form von Dissens (HRW 13.1.2022). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen bzw. mit deren Ideologie zu sympathisieren, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigung, Entführung, Misshandlung und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft) (ÖB Moskau 6.2021). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt (ÖB Moskau 6.2020). Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2021). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).

Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird eine Person allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diese zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora: Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie lebten, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Das tschetschenische Oberhaupt hat auch verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Vereinzelt sind Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte. Auch innerhalb Russlands werden immer wieder Fälle bekannt, in denen tschetschenische Sicherheitsorgane außerhalb der Republik tätig werden (ÖB Moskau 6.2021): Im September 2020 wurde Salman Tepsurkajew, Moderator des Kadyrow-kritischen Telegram-Kanals '1Adat', aus Gelendschik (Region Krasnodar) entführt und nach Tschetschenien gebracht, wo er gefoltert und öffentlich erniedrigt wurde (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Im Februar 2021 wurden zwei Personen von Polizisten aus Nischnij Nowgorod entführt, wohin sie mit Hilfe des LGBT-Netzwerks geflohen waren, und nach Tschetschenien gebracht, wo ihnen 'Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen' vorgeworfen wird. Im Juni 2021 wurde die Tschetschenin Chalimat Taramowa, welche wegen häuslicher Gewalt und Drohungen aus Tschetschenien geflohen war, von Polizisten in einem Krisenzentrum für Frauen in Dagestan festgenommen und zurück nach Tschetschenien gebracht, wo sie den Familienangehörigen, vor welchen sie u.a. wegen ihrer sexuellen Orientierung geflohen war, übergeben wurde. Der Vater ist Berichten zufolge ein hochrangiger tschetschenischer Beamter (ÖB Moskau 6.2021).

Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).

Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. Für die Jahre 2017, 2018, 2019, 2020 und 2021 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018; vgl. US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, HRW 13.1.2022, AI 7.4.2021).

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2021). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).

Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Blogger wegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der in Europa lebende Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille aufgefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020, ÖB Moskau 6.2021). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet (Kurier.at 23.7.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Der Mann, der sich Anzor aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).

Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Offiziellen russischen Vertretern zufolge kehren angesichts einer drohenden gerichtlichen Verfolgung in Russland nur wenige FTFs (foreign terrorist fighters) nach Russland zurück. Frauen und Kinder von FTFs, die keine Verbrechen begangen haben, werden von Russland zurückgeholt (v.a. Kinder), diese werden soweit möglich rehabilitiert und resozialisiert. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen. In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrern gestattet, nach Hause zurückzukehren. In Dagestan wurden Frauen – angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand - als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu 7 – 7,5 Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafen aufgrund von Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind. Vor dem Verbot des sogenannten IS war die Rückkehr nach Russland einfacher (auch für Männer) und die Konsequenzen milder. Grundsätzlich werden betroffene Familienangehörige als Hochrisikogruppe betrachtet und befinden sich unter Aufsicht der Behörden. Formen der Diskriminierung sind etwa Verweigerung eines Kindergarten- oder Schulplatzes oder Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden (ÖB Moskau 6.2021).

Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2021).

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Meinungs- und Pressefreiheit, Internet

Letzte Änderung: 21.04.2022

Meinungs- und Pressefreiheit sind zwar verfassungsrechtlich garantiert (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021), die Wahrnehmung ist in der Praxis jedoch durch ein ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften begrenzt (AA 2.2.2021). Am 1. April 2020 wurde ein Gesetz aus dem Jahr 2019 geändert, das 'Falschinformationen' unter Strafe stellt. Die neuen Bestimmungen verbieten es, "wissentlich Falschinformationen über Ereignisse zu verbreiten, die eine Gefahr für das Leben und die Sicherheit der Bevölkerung darstellen, und/oder über Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Bevölkerung". Einzelpersonen drohen bis zu fünf Jahre Haft, wenn die Verbreitung der Information zu einer Körperverletzung oder zum Tod eines Menschen führt, für Medien sind hohe Geldstrafen vorgesehen. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden Hunderte Menschen in Verwaltungsverfahren zu Geldstrafen verurteilt, und gegen mindestens 37 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet. Bei den Betroffenen handelte es sich zumeist um zivilgesellschaftliche Aktivisten, Journalisten und Blogger. Gegen mindestens fünf Medienunternehmen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Die Zeitung Nowaja Gazeta und ihr Chefredakteur wurden im August und im September 2020 wegen Berichten über COVID-19 zu Geldstrafen verurteilt und angewiesen, die entsprechenden Artikel im Internet zu löschen (AI 7.4.2021). Ein weiteres Mittel der staatlichen Behörden, gegen kritische Stimmen in der Medienlandschaft vorzugehen, ist die 2012 verabschiedete Gesetzgebung zum Extremismus (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Sie sollte ursprünglich dabei helfen, rassistische und terroristische Straftaten im Land einzudämmen, wird von den Behörden jedoch aufgrund ihrer vagen Formulierung häufig überschießend angewendet. Diese Einschränkung der Grundrechte führt zu einem schwindenden Raum für eine unabhängige Zivilgesellschaft und ist durch ein hartes Durchgreifen gegen unabhängige politische Stimmen gekennzeichnet (ÖB Moskau 6.2021). Auch die 'Bedrohung der nationalen Sicherheit' dient regelmäßig als Rechtfertigung für Eingriffe in die Pressefreiheit und andere Grundrechte. Selbst ein schlichtes 'liken' oder 'retweeten' eines Beitrags, den die Behörden als 'extremistisch' einstufen, kann zu Strafen führen (AA 2.2.2021), darunter z.B. Kommentare über die Illegalität der Annexion der Krim. Mehrere Personen, von denen viele politisch nicht aktiv waren, wurden unter dieser Anti-Extremismus-Gesetzgebung verurteilt (ÖB Moskau 6.2021). Das oben erwähnte Gesetz zur 'Verbreitung von Falschnachrichten' sanktioniert die Verbreitung von 'fake news', die eine Gefährdung für Leib und Leben der Bevölkerung darstellen. Es wurden zahlreiche Strafen verhängt und der Strafrahmen im März 2020 erhöht (höhere Geldstrafen; bis zu fünf Jahre Haft). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde diese Gesetzgebung noch ausgedehnt. Seit April 2020 ist auch die Verbreitung von 'fake news' zur Pandemie strafbar (AA 2.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, FH 14.10.2020). Nach einer Schätzung haben die Behörden innerhalb von drei Monaten mindestens 170 Verwaltungs- und 42 Strafverfahren wegen angeblicher Online-Verbreitung von Falschinformationen über Covid-19 eingeleitet (HRW 13.1.2021). Im Frühjahr 2020 setzte die Regierung auch Überwachungssysteme ein, angeblich um das COVID-19-Quarantäneregime durchzusetzen (FH 14.10.2020). 2021 traten neue Gesetzesänderungen in Kraft, die die freie Meinungsäußerung weiter einschränken. Eine Änderung könnte es den Behörden ermöglichen, ein Verfahren wegen Beleidigung ohne einen Kläger und ein Opfer einzuleiten. Durch andere Änderungen wurde die Definition des Straftatbestands der Verleumdung erweitert und eine Freiheitsstrafe als mögliche Strafe eingeführt (HRW 13.1.2022). Die staatliche Kontrolle von Internet und sozialen Medien wird zunehmend verschärft (AA 2.2.2021; vgl. HRW 13.1.2022, FH 14.10.2020).

Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat Ende Februar 2022 verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie „Angriff“, „Invasion“ und „Krieg“ zu nutzen (ZO 26.2.2022). Die staatlichen Zensoren bestehen auf dem Euphemismus einer "militärischen Spezialoperation" (BR 8.3.2022). Werden die verbotenen Worte dennoch benutzt, drohen den Medien die Liquidierung durch ein Gerichtsurteil oder hohe Geldstrafen (Tagesspiegel 3.3.2022). Bei der Verbreitung von "fake news" über die russischen Streitkräfte und allen, die öffentlich die Armee "verunglimpfen" drohen bis zu 15 Jahre Haft (BR 8.3.2022). Tausende Demonstranten, die sich gegen den Krieg in der Ukraine positionierten, wurden verhaftet, zum Teil nur deshalb, weil sie leere Schilder oder Schilder mit der wortwörtlichen Aufschrift "Zwei Wörter" gehalten haben (T-Online 15.3.2022).

Ein Großteil der staatlichen Fernseh- und Printmedien steht unter staatlicher oder staatsnaher Kontrolle. Die wenigen unabhängigen bzw. kritischen Medien (z.B. TV-Sender Doschd, Radiosender Echo Moskwy, Zeitung Nowaja Gazeta) werden mit administrativen und finanziellen Mitteln unter Druck gesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Mittlerweile wurden Doschd und Echo Moskwy gesperrt (ZO 1.3.2022), die Nowaja Gazeta hat beschlossen bis Kriegsende weder online, noch auf Papier Texte zu veröffentlichen (BR 28.3.2022). Kritische Journalisten sind in Russland mit Drohungen, physischer Gewalt und Verhaftungen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Insbesondere kommt es auch im Nordkaukasus mitunter zu physischen Attacken und Verfolgung von Journalisten. Der Großteil dieser Fälle bleibt ungeklärt (ÖB Moskau 6.2021). Angriffe, Verhaftungen, Razzien in Büros und Drohungen gegen Journalisten sind weit verbreitet, und die Behörden richteten sich 2020 aktiv gegen Journalisten außerhalb Moskaus (FH 3.3.2021). Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf Journalisten oder Todesfälle unter gewaltsamen Umständen. Journalisten werden manchmal auch infolge ihrer beruflichen Tätigkeit verhaftet und z.B. wegen angeblicher Drogenvergehen oder terrorismusbezogener Anklagen strafrechtlich verfolgt. Gegen die auf Tschetschenien spezialisierte Journalistin Jelena Milaschina wurden vonseiten des tschetschenischen Oberhaupts Ramsan Kadyrow im April 2020 Morddrohungen ausgesprochen (ÖB Moskau 6.2021).

Im Herbst 2017 wurde eine gesetzliche Grundlage zur Listung gewisser ausländischer Medien als ausländische Agenten geschaffen. Eine im November 2019 beschlossene Gesetzesnovelle ermöglicht es, auch natürliche Personen, die Nachrichten von Medien, welche bereits als ausländische Agenten eingetragen sind, verbreiten (z.B. Journalisten, Blogger, etc.), als ausländische Agenten zu qualifizieren. Ausländischen Personen bzw. Unternehmen ist es nach Änderungen im Gesetz über die Massenmedien seit 2014 verboten, mehr als 20% der Anteile an russischen Medien zu halten. Zahlreiche Internetseiten wurden aufgrund des Verdachts extremistischer Inhalte ohne vorhergehenden Gerichtsbeschluss von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor gesperrt (ÖB Moskau 6.2021). Im November 2020 wurde dem Parlament ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt, der den Behörden die Befugnis geben soll, Webseiten zu blockieren, die russische staatliche Medieninhalte zensiert haben. Zu den genannten Webseiten zählen Twitter, Facebook und YouTube (HRW 13.1.2021). Dieses Gesetz trat 2021 in Kraft (HRW 13.1.2022). Facebook und Instagram sind mittlerweile in Russland gesperrt. Russische Behörden haben die Facebook-Mutter Meta als „extremistische Organisation“ bezeichnet, nachdem diese in neuen Richtlinien Drohungen gegen Präsident Putin und Russland unter bestimmten Umständen zugelassen hat (Standard.at 15.3.2022). Auch verschlüsselte E-Mail-Dienste wurden blockiert (FH 14.10.2020). 2021 trat ein weiteres Gesetz in Kraft, das Strafen für Hersteller vorsieht, die auf den in Russland verkauften Geräten keine bestimmte russische Software vorinstallieren. Auch verpflichten neue Bestimmungen beliebte ausländische Webseiten und Apps, Vertretungen in Russland zu eröffnen. Zu den Sanktionen bei Nichteinhaltung der Vorschriften gehören Geldstrafen, Werbeverbote und Sperrungen. Die Behörden verhängen weiterhin hohe Geldstrafen gegen Social-Media-Plattformen wegen Nichteinhaltung der Vorschriften. Auch verlangten die russischen Behörden 2021, dass YouTube Kanäle sperrt, die mit Nawalny-Gruppen verbunden sind, die als 'extremistisch' eingestuft wurden. Im August 2021 forderten sie Apple und Google auf, Nawalnys App aus ihren Stores zu entfernen. Die Unternehmen kamen der Aufforderung schließlich nach, aber Google stellte die App im Oktober wieder ein (HRW 13.1.2022).

Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung) abgeschwächt wurde. Nur wenn jemand innerhalb eines Jahres mehrmals 'extremistischen Inhalt' veröffentlicht oder verbreitet hat, kann ein Strafverfahren eröffnet werden. Passiert das zum ersten Mal, drohen statt mehrjähriger Gefängnisstrafen lediglich Bußgelder oder Arrest. Im Mai 2020 wurde eine neue Strategie zur Extremismusbekämpfung bis 2025 unterzeichnet. Darin wird Extremismus als eine der Hauptgefahren für die verfassungsmäßige Ordnung des Staates bezeichnet. Als Gefährdung der Stabilität der russischen Gesellschaft wird auch die Tätigkeit einzelner ausländischer NGOs im Zusammenhang mit der Verbreitung extremistischer Ideologien bezeichnet (ÖB Moskau 6.2021). Die Gesetze zu 'ausländischen Agenten' und 'unerwünschten Organisationen' wurden dazu genutzt, unabhängige NGOs zu verleumden, ihnen die Finanzmittel zu entziehen und ihre Mitglieder streng zu bestrafen. Nach weiteren drakonischen Gesetzesänderungen, die im Dezember 2020 in Kraft traten, können jetzt auch Mitarbeiter von NGOs, nicht registrierte Gruppen und Einzelpersonen als 'ausländische Agenten' eingestuft werden (AI 7.4.2021).

In den Internetmedien, die weiterhin beträchtliche Wachstumsraten aufweisen, hat sich eine erhebliche Dynamik entfaltet. 78% der erwachsenen russischen Bevölkerung nutzt das Internet. Die IT-Versorgung des Landes ist eine der Prioritäten der Regierung. Dennoch bleibt es vorerst ein großstädtisches Phänomen. Der Einfluss der Internetmedien und der Blogger-Szene (wie z.B. Projekt Snob, Alexej Nawalny), als Ventil für unabhängige und kritische Meinungsäußerungen, wächst (GIZ 1.2021a). Die Medienbehörde Roskomnadsor stellte ihre Bemühungen zur Schließung des verschlüsselten Nachrichtendienstes Telegram ein und hob das zwei Jahre alte Verbot der Plattform im Juni 2020 auf. Die Aufhebung des Verbotes hängt mit der Zusammenarbeit des Unternehmens in Terrorismusfällen zusammen (FH 3.3.2021).

In einem weltweiten Ranking zur Pressefreiheit 2020 nimmt die Russische Föderation derzeit den 149. Platz von 180 Ländern und Territorien ein (RoG 2020). Reporter ohne Grenzen veröffentlichte seine Liste der 20 schlimmsten 'digitalen Raubtiere' der Pressefreiheit im Jahr 2020 - 'Unternehmen und Regierungsbehörden, die digitale Technologie einsetzen, um Journalisten auszuspionieren und zu belästigen und damit unsere Fähigkeit zu gefährden, Nachrichten und Informationen zu erhalten'. Russland findet sich auf dieser Liste (RoG 12.3.2020).

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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Letzte Änderung: 21.04.2022

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert, werden durch lokale Behörden in der Praxis jedoch häufig eingeschränkt (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021, FH 3.3.2021). Die Organisation ungenehmigter Protestveranstaltungen zieht regelmäßig die Verhaftung der Organisatoren und die Verhängung von Geld- oder mehrwöchigen administrativen Arreststrafen nach sich (AA 2.2.2021). Das Gesetz sieht harte Strafen für nicht genehmigte Proteste und andere Verstöße gegen das öffentliche Versammlungsrecht vor - bis zu 300.000 Rubel (ca. 4.000 Euro) für Einzelpersonen, 600.000 Rubel (8.000 Euro) für Veranstalter und eine Million Rubel (13.600 Euro) für Gruppen oder Unternehmen. Demonstranten mit mehreren Verstößen innerhalb von sechs Monaten können mit einer Geldstrafe von bis zu einer Million Rubel (13.600 Euro) belegt oder für bis zu fünf Jahre inhaftiert werden (USDOS 11.3.2020). Ausnahmen wie die Demonstrationen gegen die Festnahme und Amtsenthebung eines Provinzgouverneurs in Chabarowsk, gegen die im Sommer 2020 lange nicht eingeschritten wurde, bestätigen diese Regel. Wiederholte Verstöße gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder auch Mahnwachen können strafrechtlich geahndet werden (bis zu drei Jahre Lagerhaft). Zudem kam es 2019/2020 zu Verurteilungen von Demonstranten wegen angeblicher Gewalt gegen Polizeibeamte, von denen einige nach öffentlichen Protesten und der Veröffentlichung von Videos aufgehoben wurden (AA 2.2.2021). Im Dezember 2020 verabschiedete die Duma zwei neue Gesetze, die Mahnwachen für Einzelpersonen verbieten und die Protestorganisatoren dazu auffordern, umfangreiche Unterlagen auszufüllen (FH 3.3.2021; vgl. AI 7.4.2021). Mit Verweis auf die Pandemie wurden die Auflagen für öffentliche Versammlungen und Mahnwachen von Einzelpersonen verschärft, in einigen Regionen wurden sie ganz verboten. Öffentliche Proteste umfassen in der Regel nur wenige Teilnehmer, finden aber ungeachtet aller Repressalien regelmäßig statt. Die Zahl der Einzelpersonen, die wegen einer Mahnwache festgenommen und strafrechtlich verfolgt werden, steigt an (AI 7.4.2021).

Kundgebungen und Demonstrationen von oppositionellen Gruppen werden entweder nicht genehmigt oder müssen abseits zentraler Plätze stattfinden. Gleichzeitig zeigen die Behörden eine zunehmende Intoleranz gegenüber nicht genehmigten Demonstrationen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021). Im Sommer 2019 kam es in Moskau zu einer Reihe von - zum Teil nicht genehmigten - Protestaktionen mit bis zu 60.000 Teilnehmern, nachdem zahlreiche oppositionelle Kandidaten nicht zur Wahl zum Moskauer Stadtparlament zugelassen worden waren. Mehr als tausend Personen wurden festgenommen, gegen einige wurde ein Strafverfahren eröffnet. Mehrere Angeklagte wurden zu Haftstrafen verurteilt, darunter Personen, welche die Menschenrechtsorganisation Memorial zu politischen Gefangenen erklärt hat. Kreml-freundliche Gruppierungen hingegen berichten nicht über Probleme, entsprechende Genehmigungen der Moskauer Stadtverwaltung für Demonstrationen an zentralen Plätzen der Stadt zu erhalten (ÖB Moskau 6.2021; vgl. ZO 2.8.2019).

In Bezug auf die Vereinigungsfreiheit ist zu sagen, dass öffentliche Organisationen ihre Statuten und die Namen ihrer Leiter beim Justizministerium registrieren müssen. Die Finanzen der registrierten Organisationen werden von den Steuerbehörden überprüft, und ausländische Gelder müssen registriert werden [bez. Organisationen siehe auch Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten] (US DOS 11.3.2020). Obwohl Gewerkschaftsrechte rechtlich geschützt sind, sind sie in der Praxis eingeschränkt. In führenden Branchen, einschließlich der Automobilherstellung, kam es zu Streiks und Protesten der Arbeiter, aber gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung und Repressalien sind weit verbreitet. Arbeitgeber ignorieren häufig Kollektivverhandlungsrechte. Der größte Gewerkschaftsverband arbeitet eng mit dem Kreml zusammen, obwohl in einigen Industriesektoren und Regionen unabhängige Gewerkschaften tätig sind (FH 3.3.2021).

Oppositionspolitiker und -aktivisten werden häufig mit fabrizierten Anklagen und anderen Formen administrativer Belästigung konfrontiert, die ihre Teilnahme am politischen Leben verhindern sollen. Alexej Nawalny wurde im August 2020 mit einem Nervengift vergiftet, als er Korruption und Kampagnen in Sibirien untersuchte. Später gab es Beweise dafür, dass der Anschlag vom Inlandsgeheimdienst FSB durchgeführt worden war. Nawalny musste nach Deutschland evakuiert werden, um zu verhindern, dass die Behörden in seine Behandlung eingreifen (FH 3.3.2021). Als Nawalny im Jänner 2021 in seine Heimat zurückkehrte, wurde er festgenommen (Standard.at 28.2.2021; vgl. HRW 13.1.2022), weil er während seiner Abwesenheit gegen Bewährungsauflagen aus einer früheren Verurteilung wegen Untreue verstoßen haben soll. Ein Gericht wandelte die frühere Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe um (Standard.at 28.2.2021). Die Verurteilung wurde international scharf kritisiert und wird auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ungerechtfertigt angesehen (Standard.at 28.2.2021; vgl. HRW 13.1.2022). Alexej Nawalny wurde zu mehr als zweieinhalb Jahren Haft in einem Straflager verurteilt (Standard.at 28.2.2021). Nach der Duma-Wahl im September 2021 hat das Ermittlungskomitee ein neues Strafverfahren gegen Alexej Nawalny und Vertraute wegen Schaffung und Führung einer extremistischen Organisation eingeleitet. Weiteren Personen aus dem Umkreis Nawalnys wird eine Beteiligung an dieser Organisation vorgeworfen. Nawalny drohen damit nun weitere sechs bis zehn Jahre Haft. Das neue Verfahren erfasst potenziell einen sehr weiten Personenkreis. So können alle ehemaligen Mitstreiter Nawalnys nun auch wegen Beteiligung an einer extremistischen Organisation haftbar gemacht werden. Prinzipiell können die Ermittlungsbehörden den Vorwurf dann auch auf Teilnehmer von Protestdemonstrationen ausweiten (Standard.at 30.9.2021). Das neue Verfahren gegen Nawalny löste landesweite Proteste aus, die von den Behörden unterdrückt wurden. Die Behörden verboten aufgrund Extremismusvorwürfen drei Gruppen, die angeblich mit Nawalny in Zusammenhang stehen sollen (HRW 13.1.2022). Am 22. März 2022 wurde Nawalny zu neun Jahren Haft verurteilt, aufgrund der Vorwürfe des umfangreichen Betruges und Missachtung des Gerichts. Die Haft soll Nawalny in einem Hochsicherheitsgefängnis verbüßen. Zudem wurde er zu einer Zahlung von umgerechnet knapp 10.500 Euro verurteilt. Auch dieses Urteil gilt international als politisch motiviert und wird als Scheinverfahren bezeichnet (ORF.at 22.3.2022).

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Haftbedingungen

Letzte Änderung: 06.10.2022

Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der überwiegende Anteil der Inhaftierten ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 21.5.2021). Regelmäßig stattet das Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT; Europarat) der Russischen Föderation Besuche ab. Beim letzten Besuch (September/Oktober 2021) befasste sich das CPT vor allem mit der Lage von Personen im Polizeigewahrsam und in Strafanstalten, darunter Untersuchungshaftanstalten (SIZO), sowie mit der Lage von verurteilten männlichen und weiblichen Inhaftierten in Strafkolonien (ER 6.10.2021). Die Behörden gestatten Vertretern öffentlicher Aufsichtskommissionen, Gefängnisse regelmäßig zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Kommissionsmitglieder behördennahe Personen sowie Personen mit Erfahrung im Gesetzesvollzug sind. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Kommissionsmitglieder dürfen außerdem Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen sowie auch Sicherheitsbewertungen durchführen und psychiatrische Einrichtungen in Gefängnissen betreten (USDOS 12.4.2022).

Gefangene dürfen Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson für Menschenrechte einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Möglichkeit aber oft nicht genutzt. Aktivisten berichten, dass nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Folgen einer Beschwerde riskieren. Beschwerden, welche bei den Aufsichtskommissionen eingehen, konzentrieren sich häufig auf kleinere persönliche Anliegen (USDOS 12.4.2022).

Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 1990er-Jahre langsam, aber kontinuierlich verbessert. Die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Die Haftanstalten sind von schwerer Korruption, fehlenden Resozialisierungsmaßnahmen sowie mangelnder medizinischer Versorgung (beispielsweise bei HIV und Tuberkulose) betroffen (ÖB 30.6.2021). Regelmäßig kommt es zu Fällen von Folter (AI 29.3.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, HRW 13.1.2022) und anderen Misshandlungen in Haftanstalten, welche selten geahndet werden (AI 29.3.2022; vgl. HRW 13.1.2022). Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in russischen Haftanstalten entsprechen häufig nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Inhaftierten erfolgt oft in Schlafsälen. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich und reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis hin zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind laut NGOs besser als in den Strafkolonien (qualitativ besseres Essen, frische Luft, wenig Foltervorwürfe). Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 21.5.2021). Kritisiert werden die Bedingungen bei der Verbringung Inhaftierter in oft weit entfernte Strafkolonien. 2020 ist eine Gesetzesnovelle in Kraft getreten, gemäß welcher Inhaftierte in Russland ihre Haftstrafe in der Nähe ihres Wohnorts oder in der Nähe des Wohnorts ihrer Angehörigen verbüßen sollen (ÖB 30.6.2021).

Für Haftanstalten verantwortlich ist das Justizministerium. Mit Stand 1.5.2022 gab es in Russland insgesamt 468.237 Inhaftierte (einschließlich Untersuchungshaftanstalten). 24,6 % der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, 8,4 % der Inhaftierten sind weiblich, und 0,2 % der Inhaftierten sind minderjährig. In Summe gibt es 872 Haftanstalten, davon 204 Untersuchungshaftanstalten, 642 Strafkolonien, 8 Gefängnisse und 18 Jugendkolonien. Die offizielle Kapazität des Gefängnissystems beträgt 714.253 Haftinsassen. Die Auslastung betrug mit Stand 31.1.2021 67 %. Während die Gesamtanzahl der Inhaftierten im Jahr 2000 1.060.404 betrug, waren es im Jahr 2020 523.928 Inhaftierte (WPB o.D.). Es gibt Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern (AA 21.5.2021).

Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern speist, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut den Moskauer Vertretern des 'Komitees gegen Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine anderen Speisevorschriften, seien sie religiöser oder sonstiger Art, beachtet. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als in den anderen Teilen Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien in der Regel als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an welchen die Sicherheitsbehörden kein besonderes 'sachfremdes' Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie neben den besseren materiellen Bedingungen auch auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 21.5.2021).

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Todesstrafe

Letzte Änderung: 29.08.2022

Gemäß Art. 20 der Verfassung hat jeder Mensch das Recht auf Leben, jedoch ist für Kapitalverbrechen die Todesstrafe vorgesehen (RI 4.7.2020). Das Strafgesetzbuch (§ 44) zählt folgende Bestrafungsformen auf: Geldstrafe; Berufsverbot; Entziehung spezieller, militärischer Dienstgrade oder Entziehung von Ehrenrängen bzw. -titeln und staatlicher Auszeichnungen; Erziehungsarbeiten; Militärdienstbeschränkung; Freiheitsbeschränkung; Zwangsarbeit; Arrest; militärische Disziplinarhaft; zeitlich befristeter Freiheitsentzug; lebenslange Haftstrafe; Todesstrafe. Über Frauen, Minderjährige sowie Männer über 65 darf laut § 59 des Strafgesetzbuches nicht die Todesstrafe verhängt werden (RI 25.3.2022). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2022; vgl. CCDPW 27.3.2012). Die letzte Vollstreckung eines Todesurteils fand in den 1990er Jahren statt (Lenta 2.6.2022; vgl. AI 5.2022). Der russische Verfassungsgerichtshof hat 1999 entschieden und 2009 bestätigt, dass die Todesstrafe in Russland nicht verhängt werden darf. Man kann somit von einer De-facto-Abschaffung der Todesstrafe sprechen (AA 21.5.2021; vgl. ÖB 30.6.2021, OSZE 7.10.2021). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (ER 16.3.2022). Russland hat das 6. Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert (ER 25.8.2022; vgl. AA 21.5.2021). Ab 16.9.2022 wird Russland keine Vertragspartei dieses Protokolls mehr sein (ER 25.8.2022). Weder unterzeichnet noch ratifiziert wurde von Russland das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OHCHR o.D.).

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Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 29.08.2022

In der Russischen Föderation herrscht laut gesetzlichen Vorgaben Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung. In einigen Fällen schränken die Behörden diese Rechte ein. Verschuldeten Personen kann die Ausreise verweigert werden. Auch Millionen Regierungsbedienstete sind von Ausreisebeschränkungen betroffen, darunter Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, des Innen- und des Verteidigungsministeriums (USDOS 12.4.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 21.5.2021).

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, wonach Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 21.5.2021). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung vor allem bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 28.2.2022). Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile der Russischen Föderation reisen (AA 21.5.2021). Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern, das in der Verfassung verankerte Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes und auf Aufenthalt in der Russischen Föderation zu (AA 21.5.2021; vgl. ÖB 30.6.2021, RI 4.7.2020). Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen. 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 21.5.2021).

Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 21.5.2021).

Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine setzte die EU Visaerleichterungen für russische Diplomaten sowie für andere russische Beamte und Geschäftsleute aus (Europäischer Rat 16.8.2022). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Mehrere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).

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Meldewesen

Letzte Änderung: 16.11.2021

Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanenten und temporären Wohnort registrieren (EASO 8.2018; vgl. AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).

Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung vorgenommen werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tage dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag auf temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).

Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12.2011; vgl. ÖB Moskau 6.2021).

Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung aber auch für Tschetschenen kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korruptem Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018).

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Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas

Letzte Änderung: 16.11.2021

Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Gemäß Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2021). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vgl. EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).

Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2021). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Rezente Beispiele aus dem Jahr 2020 sind der Mord an Mamikhan Umarov alias Martin Beck (Anzor aus Wien), der Mord an Zelimkhan Khangoshvili in Berlin, der Mord an Imran Aliyev in Lille/Frankreich und der Angriff auf Tumso Abdurakhmanov in Gävle/Schweden (ÖB Moskau 6.2021) [vgl. dazu Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].

Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2021). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission - davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vgl. EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).

Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).

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Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 13.09.2022

Wirtschaft:

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine führte zu verschärften Sanktionen des Westens gegen Russland. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten in der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl und raffinierte Erdölerzeugnisse (Rat 16.8.2022). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem u. a. die USA, Kanada, Großbritannien, Japan (WZ 27.6.2022) und die Schweiz (SW 3.8.2022). Die wirtschaftliche Entwicklung ist durch die Sanktionen des Westens beeinträchtigt (WIIW o.D.). Die Sanktionen haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau.de 2.8.2022).

Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Diensts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 2. Quartal 2022 gegenüber dem Vorjahr um 4 % gesunken (Reuters 12.8.2022; vgl. FAZ 28.7.2022). Die Inflation betrug im August 2022 15 % (Interfax 10.8.2022). Der Rubel wurde durch Maßnahmen der Zentralbank (Erhöhung der Zinssätze usw.) stabilisiert (FT 19.8.2022; vgl. WIIW o.D.). Der Finanzsektor wird von staatlich kontrollierten Banken beherrscht (HF o.D.).

Korruption ist weit verbreitet (BS 2022; vgl. HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im Juni 2022 3,9 % (Rosstat o.D.; vgl. Tass 27.7.2022). Russland zählt zu den weltweit größten Weizenexporteuren (WZ 9.6.2022). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Exporte von Öl und Gas machen traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren aus (WKO 4.2022). Im Jahr 2022 ist der Ölpreis infolge der russischen Invasion in der Ukraine stark gestiegen (HB 7.7.2022). Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren und Agrarprodukte (WKO 4.2022). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).

Die meisten Hilfsprogramme zur Bekämpfung der Folgen der COVID-Pandemie sind Ende 2020 ausgelaufen (WKO 25.7.2022). Laut einem Bericht der Menschenrechts-Ombudsperson haben 4,5 Millionen kleine und mittlere Unternehmen während der Pandemie aufgehört zu existieren (ÖB 30.6.2021).

Grundversorgung:

Die Anzahl derjenigen Russen, welche in Armut leben, stieg gemäß der russischen Regierung zwischen dem vierten Quartal 2021 und dem ersten Quartal 2022 um 8,5 Millionen (ERev 3.7.2022). Im Jahr 2021 betrug der Anteil der Russen unter der Armutsgrenze 11 % (Rosstat 27.4.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (v. a. Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a).

Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Im Jahr 2021 wurden mehr als 450 Trinkwasserversorgungseinrichtungen und Wasseraufbereitungsanlagen errichtet und modernisiert. Dadurch erhöhte sich der Anteil derjenigen Bürger, welche mit hochwertigem Trinkwasser versorgt werden, auf 86 % (NP o.D.). Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 21.5.2021). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 7.2022).

Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 7.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (Ria.ru 27.6.2022). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 21.5.2021). Im Juni 2022 betrug das Existenzminimum für die erwerbsfähige Bevölkerung pro Kopf RUB 15.172 [ca. EUR 251], für Kinder RUB 13.501 [ca. EUR 223] und für Pensionisten RUB 11.970 [ca. EUR 198] (Rosstat 22.6.2022). Der Mindestlohn beträgt seit 1.6.2022 RUB 15.279 [ca. EUR 251] und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 386] (Ria.ru 27.6.2022). Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen (AA 21.5.2021). Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit mehreren Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung wird vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20 % für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote bei den über 50-Jährigen verstärkt (AA 21.5.2021).

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Nordkaukasus

Letzte Änderung: 13.09.2022

Die sozialwirtschaftlichen Unterschiede zwischen russischen Regionen sind beträchtlich. Die ländliche Peripherie, darunter der Nordkaukasus, ist von Entwicklungsproblemen betroffen (BS 2022). Im Vergleich zu den meisten anderen Regionen Russlands weist der Nordkaukasus eine hohe Armutsrate (BP 3.9.2021) und eine sehr hohe Arbeitslosigkeit auf (ÖB 30.6.2021). In Regionen des Nordkaukasus muss jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (Russland-Analysen 21.2.2020a). Bei einer Sitzung der Regierungskommission zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Nordkaukasus im Juni 2021 wurde ausgeführt, dass in etwa die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung der Region im informellen Sektor beschäftigt ist (Government.ru 15.6.2021). Tschetschenien, Dagestan und andere nordkaukasische Gebiete gehören zu denjenigen Regionen Russlands, wo der Mittelschichtanteil unter der Bevölkerung am geringsten ist (Statista 7.2022). Im Jahr 2020 zählten Dagestan, Tschetschenien sowie andere nordkaukasische Regionen zu denjenigen russischen Regionen mit dem niedrigsten Bruttoregionalprodukt (Statista 3.2022).

Tschetschenien ist von großer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen (BP 3.9.2021). Dennoch ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 21.5.2021). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022). Die Reallöhne der tschetschenischen Bevölkerung sind im Jahr 2021 um beinahe 5 % gesunken. Am besten bezahlt werden Beamte und Mitarbeiter im Finanzbereich (KR 29.8.2022). Im Juni 2022 betrug das Existenzminimum in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung pro Kopf RUB 14.565 [ca. EUR 241], für Kinder RUB 12.962 [ca. EUR 214] und für Pensionisten RUB 11.492 [ca. EUR 190] (Rosstat 22.6.2022). Im Jahr 2021 lebten 19,9 % der Bevölkerung in Tschetschenien unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022).

Dagestan zählt zu den von Armut betroffenen Regionen in Russland (Standard 21.5.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung (FPRI 15.6.2022). Die Preise für Lebensmittel steigen (KR 29.8.2022). Im Juni 2022 betrug das Existenzminimum in Dagestan für die erwerbsfähige Bevölkerung pro Kopf RUB 13.806 [ca. EUR 228], für Kinder RUB 12.649 [ca. EUR 209] und für Pensionisten RUB 10.893 [ca. EUR 180] (Rosstat 22.6.2022). Im Jahr 2021 lebten 14,7 % der Bevölkerung in Dagestan unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022; vgl. MT 13.7.2022).

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Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 16.11.2021

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Dieses bietet bedürftigen Personen Hilfe an (IOM 2020). Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).

Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).

Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht notwendig. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab (IOM 2020). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie ältere Menschen (IOM 2020). Das von EASO betriebene europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

 Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

 Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);

 Familien mit geringem Einkommen;

 Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).

Familienbeihilfe

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2020). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).

Mutterschaft

Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns - bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2020). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).

 

Mutterschaftskapital

Zu den wichtigen sozialen Unterstützungsleistungen zählt das Mutterschaftskapital (ÖB Moskau 6.2021). Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Es wurde eingeführt, um Eltern finanziell zu unterstützen und dadurch die Geburtenrate in Russland zu erhöhen. Die Einmalzahlung wird Familien (grundsätzlich der Mutter) für jedes (seit 2020 auch das erste) zur Welt gebrachte oder adoptierte Kind gewährt (2021: 483.881,83 Rubel (über 5.000 Euro) für das erste Kind, 639.431,83 Rubel (ca. 7.000 Euro) für das zweite und jedes weitere Kind) (ÖB Moskau 6.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).

Behinderung

Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2020). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021). Die Höhe der monatlichen Invaliditätspension ist abhängig vom Invaliditätsgrad. Es gibt staatliche Einrichtungen für ältere und behinderte Menschen (Erwachsene und Kinder), innerhalb derer sie leben können und kostenlose medizinische Behandlung erhalten. Die staatlichen Sozialzentren und Unterkünfte des Ministeriums für Arbeit und Sozialen Schutz gibt es für Erwachsene und für Kinder (ÖB Moskau 6.2021).

Arbeitslosenunterstützung

Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollte dies nicht möglich sein, wird der Person ein Arbeitlosenstatus zuerkannt. Mit diesem erhält die Person monatlich eine Unterstützung. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert (IOM 2020). Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 11.280 Rubel (ca. 141 €) (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Außerdem darf die Person nicht in eine andere Region ziehen. Sollte die Person Fortbildungen zur Selbstständigkeit besuchen oder eine Rente beziehen, ist die Person von diesen Vorteilen ausgeschlossen. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2020).

Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen

Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Personen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2020).

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Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 16.11.2021

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2021). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2021). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2020). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt. Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden (ÖB Moskau 6.2021).

Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, Vorsorge, Diagnose undambulante sowie stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vgl. AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2021).

Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken geleistet wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2021).

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2021). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). Auch Leistungen, die vom Staat für eine bestimmte Personengruppe, wie z.B. Personen mit Beeinträchtigungen, bestimmt wurden, sind gedeckt. Eine kostenfreie 24-Stunden-Versorgung steht allen Patienten im OMS-System zu (IOM 2020). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2021). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).

Durch jüngste Reformen und Gesetze erfolgte eine Minderung der Dominanz staatlicher Anbieter sozialer Dienstleistungen. Die Anzahl nicht-staatlicher Träger, wie z.B. NGOs, nimmt tendenziell zu, wobei in den einzelnen Regionen unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. So werden in einigen Regionen Sozialleistungen fast ausschließlich von staatlichen Trägern übernommen, in anderen agieren vermehrt auch nicht-staatliche Einrichtungen in diesem Bereich (ÖB Moskau 6.2021).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).

Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung im Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2021).

[…]

Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).

Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:

 infektiöse und parasitäre Krankheiten

 Tumore

 endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten

 Krankheiten des Nervensystems

 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems

 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde

 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes

 Krankheiten des Kreislaufsystems

 Krankheiten des Atmungssystems

 Krankheiten des Verdauungssystems

 Krankheiten des Urogenitalsystems

 Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett

 Krankheiten der Haut und der Unterhaut

 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen

 Geburtsfehler und Chromosomenfehler

 bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben

 Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).

Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vgl. GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).

In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).

Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).

[…]

Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:

'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).

Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:

'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).

Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:

'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).[…]

Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten, z.B. Posttraumatisches Belastungssyndrom PTBS/PTSD, Depressionen, etc.

Letzte Änderung: 10.06.2021

Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind in der gesamten Russischen Föderation behandelbar (BMA 12248). Dies gilt auch für Tschetschenien (BMA 14483). Während es in Moskau unterschiedliche Arten von Therapien gibt (Kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen [EMDR] und Narrative Expositionstherapie), um PTBS zu behandeln (BMA 14271), gibt es in Tschetschenien eine begrenzte Anzahl von Psychiatern, die Psychotherapien wie kognitive Verhaltenstherapie und Narrative Expositionstherapie anbieten (BMA 14483). Diverse Antidepressiva sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (BMA 12132, BMA 14483).

Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, und es gibt nur selten eine Therapie. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie sind aufgrund des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal in Tschetschenien stark eingeschränkt. Es gibt keine spezialisierten Institutionen für PTBS, jedoch sind Nachsorgeuntersuchungen und Psychotherapie möglich. Ambulante Konsultationen und Krankenhausaufenthalte sind im Republican Psychiatric Hospital of Grozny für alle in Tschetschenien lebenden Personen kostenlos. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen 700-2.000 Rubel (ca. 8-24€). In diesem Krankenhaus ist die Medikation bei stationärer und ambulanter Behandlung kostenfrei (BDA 31.3.2015).

Folgende häufig angefragte Inhaltsstoffe von Antidepressiva sind verfügbar (v.a. auch in Tschetschenien):

Sertralin (BMA 12132, BMA 14483)

Escitalopran (BMA 12248, BMA 12977)

Paroxetin (BMA 12863, BMA 14483)

Citalopram (BMA 12977)

Fluoxetin (BMA 14483)

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248

 International SOS via MedCOI (18.11.2019): BMA 12977

 International SOS via MedCOI (12.2.2021): BMA 14483

 International SOS via MedCOI (10.3.2020): BMA 12863

 International SOS via MedCOI (25.2.2019): BMA 12132

 International SOS via MedCOI (14.12.2020): BMA 14271

Behandlungsmöglichkeiten HIV/AIDS / Hepatitis / Tuberkulose

Letzte Änderung: 16.11.2021

Ein ernstes Problem bleibt die Bekämpfung von HIV/AIDS. Der Anteil der AIDS-Kranken an der Bevölkerung wächst in Russland schneller als im Rest der Welt. Bis zu 1,7% der Bevölkerung sind mit HIV infiziert. Bei den 35–39-Jährigen sind es sogar 3,2%. Die Zahl der Neuinfizierten steigt jährlich um mehr als 100.000. Die Krankheit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine 'Nationale Strategie der AIDS-Bekämpfung' soll die Verbreitung eindämmen. Da jedoch ein korrespondierender Umsetzungsplan fehlt, bleibt die Lage weiterhin außer Kontrolle. Die Kosten der Behandlung werden nur für russische Bürger übernommen. Infizierte Migranten werden nicht behandelt (AA 2.2.2021). HIV/AIDS ist in der Russischen Föderation mittels bestimmter antiretroviraler Medikamente generell behandelbar (BMA 13876). Dies gilt auch für Tschetschenien (BDA 6757).

Hepatitis ist in der Russischen Föderation generell behandelbar (BMA 12364).

Tuberkulose ist beispielsweise im Central Scientific Research Institute of Tuberculosis in Moskau behandelbar (BMA 13699). In Tschetschenien beispielsweise ist Tuberkulose in jedem Teil der Republik generell behandelbar, z.B. in Gudermes, Naderetchnyj, Shali, Shelkovskyj und Grosny. Es gibt in Grosny auch eine eigene Tuberkulose-Abteilung für Kinder (BDA 31.3.2015). In Moskau beispielsweise werden auch die Kosten für die Behandlung der häufig vorkommenden Krankheit Tuberkulose vom Moskauer Forschungs- und Klinikzentrum für Tuberkulosebekämpfung übernommen. Jeder, auch Migranten oder Obdachlose, haben Zugang zu diesen kostenlosen Gesundheitsleistungen (ÖB Moskau 6.2021).

[…]

Behandlungsmöglichkeiten Nierenerkrankungen, Dialyse, Lebertransplantationen, Diabetes

Letzte Änderung: 10.06.2021

Nierenerkrankungen und (Hämo-)Dialyse sind sowohl in der Russischen Föderation als auch in Tschetschenien behandelbar bzw. verfügbar (BMA 12506, BDA 31.3.2015). Auch Diabetes ist in der Russischen Föderation behandelbar (BMA 12353). Es werden in Russland auch prinzipiell Transplantationen durchgeführt, jedoch muss man sich auf eine Warteliste setzen lassen (BDA 31.3.2015). Leberfunktionstests sind in der RF generell verfügbar, Lebertransplantationen sind in Moskau grundsätzlich verfügbar (AVA 14382). Krankenhäuser haben bestimmte Quoten bezüglich der Behandlungen von Personen (z.B. Lebertransplantation) aus anderen Regionen oder Republiken der Russischen Föderation. Um solch eine Behandlung außerhalb der Region des permanenten Aufenthaltes zu erhalten, braucht die Person eine Garantie von der regionalen Gesundheitsbehörde, dass die Kosten für die Behandlung rückerstattet werden (BDA 31.3.2015).

[…]

Behandlungsmöglichkeiten: Drogenabhängigkeit

Letzte Änderung: 29.08.2022

In Moskau bieten öffentliche Einrichtungen psychiatrische Behandlungen sowie stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an. In Privateinrichtungen in Moskau besteht die Möglichkeit, Psychotherapien (beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie) in Anspruch zu nehmen. Verfügbar sind in Moskau folgende Medikamente: Naloxon, Naltrexonhydrochlorid, Disulfiram und Nalmefen. Nicht verfügbar sind Substitol und Acamprosat (AVA 15556). Methadon, ein Medikament zur Behandlung von Drogensucht, ist in Russland offiziell verboten (NG 1.10.2021; vgl. AVA 15556, AAC 13.11.2020). Gemäß dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung unterzogen sich im Jahr 2019 in Russland 401.233 Personen einer Drogentherapie (UNODC o.D.). Der Föderale Dienst für Staatliche Statistik (Rosstat) beziffert die Anzahl derjenigen Drogenabhängigen, welche im Jahr 2020 in Heilanstalten und prophylaktischen Einrichtungen registriert waren, mit 212.400 (Rosstat 30.11.2021). Drogenabhängige Patienten, welche an einem Entzugsprogramm teilnehmen, müssen sich staatlich registrieren und werden nach Abschluss des Programms noch jahrelang überwacht (AAC 13.11.2020). Gerichtlich können Drogenabhängige zu einer Therapie verpflichtet werden (MFZ-GČ o.D.; vgl. AAC 13.11.2020).

Tschetschenien:

Öffentliche Einrichtungen bieten in Groznyj, der Hauptstadt Tschetscheniens, psychiatrische Behandlungen und stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an. Verfügbar sind in Groznyj die Medikamente Buprenorphin, Morphin sowie Naloxon. Nicht verfügbar ist Substitol. Morphin, Buprenorphin und Naloxon sind für gewöhnlich ausschließlich stationär erhältlich. Patienten, welchen diese Medikamente ambulant verschrieben werden, benötigen ein spezielles Rezept, um die besagten Medikamente in Apotheken zu erhalten (BMA 13939).

[…]

Rückkehr

Letzte Änderung: 02.02.2023

Gemäß Art. 27 der Verfassung und im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (Duma 6.10.2022; vgl. RF 14.7.2022, ÖB 4.4.2022). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel, die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments nach Russland einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen beim Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 28.9.2022). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2022; vgl. EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2022).

Rückkehrende haben wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Von Rückkehrern aus Europa wird manchmal die Zahlung von Bestechungsgeldern für grundsätzlich kostenlose Dienstleistungen (medizinische Untersuchungen, Schulanmeldungen) erwartet. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2022).

Es sind keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (AA 28.9.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt (AA 28.9.2022).

Sollte ein Einberufungsbefehl ergangen sein, ist diesem bei Rückkehr Folge zu leisten (ÖB 12.12.2022). Wenn ein Einberufungsbefehl vorliegt, dann werden russische Staatsangehörige aus Tschetschenien – wie auch andere Bürger - nach Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt (ÖB 25.1.2023).

[…]

Dokumente

Letzte Änderung: 29.08.2022

Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsnachweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden (AA 21.5.2021). Das niederländische Außenministerium berichtet über manche gefälschte europäische Visa in echten russischen Reisepässen. In der Vergangenheit traten einerseits Fälle gefälschter Einreisestempel in echten russischen Reisepässen auf und andererseits echte russische Reisepässe, welche im Besitz anderer Personen waren (NL-MFA 4.2021).

Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).

[…]“

1.3.3. Coronavirus disease (COVID-19) weekly epidemiological update - WHO (World Health Organization) vom 12.04.2023, verweisend auf https://covid19.who.int/table und https://covid19.who.int/

Nach aktuellem Stand zum Entscheidungszeitpunkt gibt es im ganzen Land 22.727.542 bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus und 397.642 Todesfälle.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Der oben ausgeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und der Verfahrensakte des Bundesverwaltungsgerichts und der Einsicht in die strafgerichtlichen Urteile der BF1-BF3.

2.2. Der oben festgestellte Sachverhalt beruht auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht aufgrund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens.

2.3. Die Feststellungen zur Einreise der BF1-BF3, ihren Asylzuerkennungsverfahren und den diesen zugrundeliegenden Vorbringen, beruhen auf den Verwaltungsakten der BF1-BF3 in ihrem Zuerkennungsverfahren, insbesondere den Zuerkennungsbescheiden der BF1-BF3 und des Vaters des BF1 und des BF3 des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.12.2006, Zl. XXXX (BF1), vom 06.06.2012, Zl. XXXX (BF2) und vom 20.10.2005, XXXX (BF3), den Einvernahmen des BF1 vor dem ehemaligen Bundesasylamt, dem Aktenvermerk des ehemaligen Bundesasylamts vom 20.04.2004 zu Zl. XXXX hinsichtlich der Fluchtgründe des Vaters des BF1 und des BF3 und dessen Zuerkennungsbescheid vom 20.04.2004.

2.4. Die Feststellungen zu Identität, Alter, Nationalität, Volksgruppe, Herkunft, den Sprachkenntnissen, den persönlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat und den Familienverhältnissen der BF1-BF3 im Bundesgebiet, sowie im Herkunftsstaat gründen auf den insofern unbedenklichen Angaben des BF1 im Zuerkennungsverfahren, auf den in den Beschwerden der BF1-BF3 und den in der Beschwerdeverhandlung gemachten Angaben der BF1-BF3, sowie der vernommenen Zeuginnen. Aufgrund der im Akt einliegenden Kopie des vorgelegten russischen Inlandsreisepasses des BF1, der vorgelegten Geburtsurkunden für die BF2-BF3, des durchgeführten Abstammungsgutachtens hinsichtlich des BF2 vom BF1 im Zuerkennungsverfahren und der Identifizierung der Personen der BF1-BF3 in den abgeschlossenen Strafverfahren, stehen die Identitäten der BF1-BF3 fest.

Die sehr guten Deutschkenntnisse der BF2-BF3 ergeben sich zum einen aus dem Umstand, dass sie ab ihrem 7. (BF2) bzw. ab ihrem 12. (BF3) Lebensjahr in Österreich aufgewachsen sind und die Schule besucht haben, sowie der Tatsache, dass ihre Einvernahme vor dem BVwG am 06.03.2023 ohne Probleme in Deutsch geführt werden konnte, andererseits aus dem persönlichen Eindruck des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung, wobei die BF2-BF3 – auch ohne Zuhilfenahme der im Verhandlungssaal anwesenden Dolmetscherin – mit dem erkennenden Richter problemlos auf Deutsch kommunizieren konnten. Die Feststellung, wonach der BF2 Tschetschenisch, jedoch kein Russisch spricht und der BF3 Tschetschenisch, sowie etwas Russisch kann, ergeben sich aus den eigenen Angaben der BF2-BF3 in der mündlichen Verhandlung (S. 4, S. 27, S. 34, S. 42 des VH-Prot.). Die lediglich einfachen Deutschkenntnisse des BF1 ergeben sich aus dem persönlichen Eindruck des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung, wobei dieser die an ihn gestellten Fragen, ohne Zuhilfenahme der im Verhandlungssaal anwesenden Dolmetscherin, verstehen, jedoch nur in sehr einfachen Worten beantworten konnte.

Die Feststellungen zu den Familienangehörigen der BF1-BF3 im Bundesgebiet beruhen darüber hinaus insbesondere auf aktuell eingeholten Auszügen aus dem Fremdenregister und dem ZMR. Die Feststellungen zur Lebensgefährtin des BF1 ergeben sich darüber hinaus in einer Zusammenschau der Einsicht in das Erkenntnis des BVwG vom 14.09.2022, XXXX . Die Feststellungen zum Bruder des BF1 und des BF3 beruhen darüber hinaus ebenfalls in einer Zusammenschau der Einsicht in das Erkenntnis des BVwG vom 10.02.2021, Zl. XXXX . Die Feststellungen zum gemeinsamen Haushalt des BF2 mit seiner Stiefmutter und seinen Geschwistern fußt ebenfalls auf eingeholten ZMR-Auszügen bzw. einer Abfrage der gemeinsamen Wohnadresse. Dass der BF1 an einer von diesen und von seiner Lebensgefährtin verschiedenen Adresse wohnt bzw. gemeldet ist beruht ebenfalls auf eingeholten ZMR-Auszügen und den Angaben des BF1, sowie seiner Lebensgefährtin, in der mündlichen Verhandlung. Die Feststellung, wonach der BF3 zwar mit seiner Lebensgefährtin zusammenwohnt, dort jedoch nur nebenwohnsitzlich gemeldet und in einer Adresse in XXXX hauptwohnsitzlich gemeldet ist, fußt ebenfalls auf deren übereinstimmenden Angaben vor dem BVwG und eingeholten ZMR-Auszügen. Die Feststellung, wonach der BF1 seine Kinder regelmäßig am Wochenende sieht, diese bei ihm auch übernachten und er Alimente bezahlt, ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben des BF1 und seiner Ex-Lebensgefährtin in der mündlichen Verhandlung (S. 14, 37, S. 40 des VH-Prot.).

2.5. Die Feststellungen zur Ausbildung des BF1 und seinen beruflichen Tätigkeiten im Herkunftsstaat beruhen auf den von ihm vor dem BVwG (S. 8 des VH-Prot.) und vor dem ehemaligen Bundesasylamt am 23.11.2005 (AS 31) gemachten Angaben. Die Feststellung, wonach der BF1 seinen Wehrdienst im Herkunftsstaat noch nicht abgeleistet hat, beruht ebenfalls auf seiner Angabe in der mündlichen Verhandlung (S. 18 des VH-Prot.). Die Feststellungen zu den beruflichen Tätigkeiten und den Meldeadressen des BF1 im Bundesgebiet beruhen auf einem aktuell eingeholten AJ-Web Auszug, sowie einem aktuell eingeholten ZMR Auszug. Die Feststellung, wonach der BF1 keine Deutschprüfung abgelegt, jedoch Sprachkurse besucht hat, nicht Mitglied in einem Verein oder ehrenamtlich tätig ist und keine sonstigen Aus-, Fort- oder Weiterbildungen im Bundesgebiet absolviert hat, ergibt sich einerseits aus seinen Angaben vor dem BVwG (S. 18ff des VH-Prot.) und der Tatsache, dass diesbezüglich beschwerdeseitig keine Unterlagen vorgelegt wurden.

2.6. Die Feststellungen zur bisherigen Ausbildung BF2 und seinen Meldeadressen im Bundesgebiet beruhen auf seinen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung in Zusammenschau mit einem aktuell eingeholten AJ-Web Auszug, den vorgelegten Schulzeugnissen und einem aktuell eingeholten ZMR-Auszug.

2.7. Die Feststellungen zur Ausbildung des BF3 im Herkunftsstaat beruhen auf den von seiner Mutter gemachten Angaben im Zuerkennungsverfahren vor dem ehemaligen Bundesasylamt am 26.09.2005 (AS 307) und vor dem ehemaligen Bundesasylamt am 23.11.2005 gemachten Angaben. Die Feststellung zur Ausbildung des BF3, seinen beruflichen Tätigkeiten und Meldeadressen Bundesgebiet beruhen auf den vorgelegten Schulzeugnissen, einem aktuell eingeholten AJ-Web Auszug in Zusammenschau mit den vorgelegten Unterlagen (Lohnzettel, Arbeitszeugnis von XXXX , Teilnahmebestätigung des XXXX ) und einem aktuell eingeholten ZMR-Auszug. Die Feststellung, wonach der BF3 nicht Mitglied in einem Verein oder (abgesehen von seiner 2-wöchigen Tätigkeit bei der XXXX ) ehrenamtlich tätig war und keine sonstigen Aus-, Fort- oder Weiterbildungen im Bundesgebiet absolviert hat, ergibt sich einerseits aus seinen Angaben vor dem BVwG (S. 47f des VH-Prot.) und der Tatsache, dass diesbezüglich beschwerdeseitig keine Unterlagen vorgelegt wurden. Die Feststellung zur Absolvierung von 5 Terminen bei der „ XXXX “ beruht auf der Vorlage der Beratungsdokumentation. Hinsichtlich des vereinbarten Termins bei der Männerberatung bleibt auszuführen, dass der BF3 keine Bestätigung darüber vorgelegt hat, dass er den Termin tatsächlich wahrgenommen hat, weshalb dies den Feststellungen nicht zugrunde gelegt werden konnte. Die Absolvierung einer Drogentherapie ergibt sich einerseits aus den Angaben des BF3 vor dem BVwG, aus dem Beschluss des LG XXXX vom 12.08.2015 in Zusammenschau mit einem ZMR-Auszug, wonach der BF3 beinahe 6 Monate beim „ XXXX “ nebenwohnsitzlich gemeldet war. Die Feststellung wonach der BF3 beim XXXX vorstellig war und sich um einen Therapieplatz beworben hat, ergibt sich aus der vorgelegten Bestätigung vom 10.03.2022. Dass er sich jedoch dort nur etwa 3 Wochen aufgehalten hat, beruht auf einem ZMR-Auszug. Aus der Homepage des XXXX ergibt sich jedoch, dass eine stationäre Therapie in der Regel zwischen 3 und 6 Monaten dauert, weshalb davon auszugehen ist, dass der BF3 diese Therapie abgebrochen hat. Aus der Absolvierung der Therapie und den Angaben des BF3 in der Verhandlung (S. 46 des VH-Prot.) ergibt sich auch die Drogenabhängigkeit des BF3.

2.8. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF1 beruhen auf den vor dem BVwG gemachten Angaben (S. 20f des VH-Prot.) und den vorgelegten medizinischen Unterlagen. Daraus ergibt sich weder eine Arbeitsunfähigkeit des BF1, noch eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung. Die Arbeitsfähigkeit des BF1 ergibt sich aus seinen eigenen Angaben vor dem BVwG, wonach er arbeitsfähig ist (S. 21 des VH-Prot.) und der Tatsache seines jungen Alters. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF2-BF3 beruhen auf deren im bisherigen Verfahren getätigten Angaben, wonach sie gesund sind und keine Medikamente nehmen (S. 33, S. 48 des VH-Prot.). Die Arbeitsfähigkeit der BF2-BF3 ergibt sich aus der Tatsache, dass sie jung und gesund sind.

2.9. Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen der BF1-BF3 fußen auf aktuellen Strafregisterauszügen und der Einsicht in die in den Verwaltungsakten einliegenden Strafurteilen. Die Feststellungen zu den verbüßten Haftstrafen der BF2-BF3 beruhen auf Einsicht in die Strafurteile in Zusammenschau mit eingeholten ZMR-Auszügen.

2.10. Das bestehende Waffenverbot des BF3 ergibt sich aus einem eingeholten und im Akt einliegenden KPA-Auszug. Die Feststellung, wonach der BF3 im Februar 2022 positiv auf THC getestet wurde und die Sicherstellung eines Päckchens Cannabiskraut fußen auf im Akt einliegenden Polizeiberichten. Die Feststellungen zu den Verwaltungsübertretungen des BF3 beruhen auf den im Akt einliegenden Anzeigen Straferkenntnissen.

2.11. Zu einer möglichen Rückkehr der BF1-BF3 in den Herkunftsstaat:

2.11.1. Die Feststellungen zur Rückkehrsituation der BF1-BF3 ergeben sich aus der Einsichtnahme in den Inhalt der Verwaltungsakte der im Jahr 2005 (BF1 und BF3) bzw. 2011 (BF2) im Familienverfahren (BF2-BF3) initiierten Asylverfahren, den in den gegenständlichen Verfahren herangezogenen Länderberichten zur aktuellen Sicherheits- und Menschrechtslage in der Russischen Föderation, den Angaben der Mutter des BF3 vor dem ehemaligen Bundesasylamt am 26.09.2005, den Angaben des BF1 vor dem ehemaligen Bundesasylamt, am 23.11.2005, am 28.11.2005, sowie am 06.04.2006, den Einvernahmen Angaben der BF1-BF3 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, wobei diese jeweils zu ihren aktuellen Rückkehrbefürchtungen befragt wurden.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) hat in den angefochtenen Bescheiden der BF1-BF3 im Ergebnis zwar zutreffend aufgezeigt, dass im gegenständlichen Verfahren kein Hinweis auf eine aktuelle Gefährdung der BF1-BF3 im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat erkannt werden kann. Die belangte Behörde hat es jedoch unterlassen, sich näher mit den ursprünglichen vorgebrachten Fluchtgründen der BF1-BF3 bzw. ihrer Familie, die zur Erteilung des Asylstatus geführt haben, auseinanderzusetzen und beschränkte sich lediglich darauf auszuführen, dass dem Vater des BF1 und des BF3 der Status eines Asylberechtigten ebenfalls bereits aberkannt wurde, weshalb dies in casu vom erkennenden Gericht nachgeholt und mit den BF1-BF3 in einer mündlichen Beschwerdeverhandlung erörtert wurde.

2.11.2. Für die BF1-BF3 sind keine Anhaltspunkte für eine ihnen im Falle einer Rückkehr drohende staatliche Verfolgung oder sonst maßgebliche individuelle oder generelle Gefährdung ersichtlich. Die BF1-BF3 konnten zuletzt keine konkreten Gründe nennen, weshalb ihnen bei einer nunmehrigen Rückkehr gezielte Verfolgung drohen sollte, sondern gab der BF1 lediglich allgemein gehalten an, dass viele Leute aus Europa abgeschoben würden und gäbe es darüber Informationen im Internet. Man höre von diesen Leuten nichts und denke der BF1 die Polizei würde ihm möglicherweise etwas unterschieben, sollte er jetzt zurückkehren. Zu 90% würde der BF1 jedoch in die Ukraine geschickt. Erneut vom erkennenden Richter danach gefragt, warum der BF1 18 Jahre nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat dort noch von irgendjemandem gesucht werden sollte, gab der BF1 an: „Es geht nicht um die Suche, wenn jemand von Europa nachhause abgeschoben wird, werden alle diese Leute kontrolliert und überprüft. Im Computer steht, dass mein Vater gekämpft hat und ich habe den gleichen Familiennamen wie er. Man wird mich fragen, warum ich geflüchtet bzw. ausgereist bin. Was ich gemacht habe und warum ich weggefahren bzw. geflüchtet bin, wenn ich nichts gemacht habe“. Konkrete Nachweise darüber, dass der BF1 einer Verfolgung ausgesetzt wäre, habe er nicht (S. 18 des VH-Prot.).

Auch der BF2 ist vor dem BVwG hinreichend zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt worden, wobei er angab: „Ich habe gehört, wenn man nach Tschetschenien geht, dass man als Soldat eingezogen wird und in den Krieg in die Ukraine geht und ich kenne auch niemandem, ich habe keine Bekannte dort den ich persönlich kenne. Ich stelle mir kein gutes Leben dort vor“ (S. 32 des VH-Prot.).

Im Übrigen wurde auch der BF3 vom erkennenden Richter in der mündlichen Verhandlung dazu befragt, was er im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation befürchte, wobei dieser ausführte: „Das ich in den Krieg ziehen muss, das ist meine Befürchtung und außerdem habe ich dort niemanden, mit dem ich zurzeit sein könnte. Ich weiß nicht wer lebt und wer nicht lebt und ich beherrsche auch nicht die amtliche Sprache Russisch“ (S. 47 des VH-Prot.).

Hinsichtlich der von den BF1-BF3 ausgeführten Befürchtung eingezogen und in den Ukraine-Krieg geschickt zu werden ist Folgendes auszuführen:

Mit 21.09.2022 wurde eine Teilmobilmachung in der Russischen Föderation verkündet. Nach Angaben von Verteidigungsminister Schojgu werden im Rahmen der Teilmobilmachung 300.000 Reservisten einberufen, welche ihren Wohnort nicht mehr verlassen dürfen. Die Umsetzung der Mobilmachung obliegt den Regionen. Ausgenommen von der Mobilmachung sind gemäß dem Erlass ältere Personen, Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands als untauglich eingestuft werden, Personen, welche rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, außerdem Mitarbeiter im Banken- und Mobilfunksektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien. Ein Einberufungsaufschub gilt für Staatsbürger, welche im Verteidigungsindustriesektor arbeiten und für Studierende. Folgende Personengruppen sind ebenfalls von der Mobilmachung ausgenommen: Pflegende Angehörige; Betreuer von Personen mit bestimmten Beeinträchtigungen; kinderreiche Familien (mindestens vier Kinder unter 16); Personen, deren Mütter alleinerziehend sind und mindestens vier Kinder unter acht Jahren haben; pensionierte Veteranen, welche nicht mehr im Militärregister aufscheinen; und Personen, welche nicht in Russland leben und nicht im Militärregister aufscheinen. Der Kreml räumte Fehler bei der bisherigen Umsetzung der Teilmobilmachung ein. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen sind, beispielsweise Krebskranke und Studierende. Die Teilmobilmachung wurde Ende Oktober 2022 beendet, wenngleich der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung - nach wie vor - in Kraft ist und es Hinweise darauf gibt, dass es derzeit zu einer verdeckten Mobilisierung kommt.

Der BF1 ist mit 22 Jahren nach Österreich gekommen und hat seinen Grundwehrdienst - nach eigenen Angaben - im Herkunftsstaat nicht absolviert. Die BF2-BF3 sind als Minderjährige in das Bundesgebiet gekommen, weshalb sie ihren Grundwehrdienst in der Russischen Föderation ebenfalls nicht absolviert haben. Aus diesem Grund würden die BF1-BF3 auch nicht der Gruppe der Reservisten angehören.

Nicht verkannt wird, dass es auch zu Fehlern bei der Umsetzung der Teilmobilmachung gekommen ist und auch Personen einberufen wurden, welche eigentlich von der Teilmobilisierung ausgenommen waren. Aus dem LIB ergibt sich jedoch keine systematische Missachtung der vorgesehenen Regelungen für die Umsetzung der Teilmobilisierung, weshalb davon auszugehen ist, dass es sich dabei um einzelne Fälle handelt. Im Übrigen ist neuerlich darauf hinzuweisen, dass die Teilmobilisierung abgeschlossen ist.

Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes ’Über die Wehrpflicht und den Militärdienst’ werden alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen, weshalb der BF1 mit seinen 39 Jahren und der BF3 mit seinen 29 Jahren auch nicht mehr im wehrpflichtfähigen Alter ist und es selbst bei Annahme einer verdeckten Mobilisierung mehr als unwahrscheinlich ist, dass der BF1 und der BF3 aufgrund ihres Alters zum Wehrdienst einberufen wird. Der BF2 befindet sich mit seinen 19 Jahren im wehrpflichtigen Alter. Die Pflichtdienstzeit in der Russischen Föderation beträgt ein Jahr und legt der Präsident jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. Bis ins Jahr 2014 wurden etwa aus Tschetschenien keine Wehrpflichtigen eingezogen. Aus Tschetschenien werden nunmehr jährlich ein paar hundert Rekruten einberufen, weshalb eine Einberufung des BF1 und des BF3 mehr als unwahrscheinlich erscheint, die Einberufung des BF2 zum Grundwehrdienst jedoch grundsätzlich möglich wäre. Wie bereits ausgeführt ist die Einsetzung von Grundwehrdienern in der Ukraine grundsätzlich nicht vorgesehen und damit unwahrscheinlich, wenngleich es in der Vergangenheit diesbezüglich zu Fehlern gekommen ist, wie der Kreml auch eingeräumt hat.

Nicht verkannt wird – laut aktuellem LIB-, dass Tschetschenien – nach wie vor – Gruppen Freiwilliger als Kämpfer in den Ukrainekrieg schickt. Weiters wird nicht verkannt, dass Behörden in Tschetschenien eine aggressive Anwerbekampagne betreiben, um Einheimische als „freiwillige“ Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen. Es ist den BF1-BF3 jedoch möglich und auch zumutbar, sich in einem anderen Teil der Russischen Föderation niederzulassen, wo sie vor den o.a. Freiwilligenrekrutierungen in Tschetschenien unbehelligt bleiben. Aus den Länderberichten geht hervor, dass das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes auch Tschetschenen - wie allen russischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen - zusteht. Nach den aktuellen Länderberichten ergibt sich zwar, dass Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe immer noch auf eine anti-kaukasische Stimmung treffen und Diskriminierungen ausgesetzt sein können, eine asylrelevante Gefährdung auf Grund der Volksgruppenzugehörigkeit, kann aber nicht mehr festgestellt werden. Auch diesbezüglich ist daher eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die nicht nur vorübergehend ist (s. dazu noch unten). Dass eine Wohnsitznahme außerhalb Tschetscheniens grundsätzlich möglich ist, geht bereits aus dem Faktum hervor, dass etwas 14.000 Tschetschenen alleine in Moskau, 11.000 allein in der Rostow Region und 12.000 in Stawropol leben.

Sofern der BF1 unsubstantiiert andeutet, wegen seiner Rückkehr aus Europa einer Gefährdung im Herkunftsstaat zu unterliegen, ist dem entgegenzuhalten, dass den BF1-BF3 im Falle der Rückkehr keine Gefahr als ehemals Asylberechtigte droht: Nach den Länderberichten besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern. Es gäbe einige wenige Fälle in denen Tschetschenen nach ihrer Abschiebung unrechtmäßig verfolgt worden seien. Nach dem Länderinformationsblatt führt eine Asylantragstellung im Ausland jedoch nicht prinzipiell und automatisch zu einer Verfolgung.

Die BF1-BF3 wurden vor dem BVwG hinreichend, sowie mehrfach, zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt und haben jede Möglichkeit gehabt, sich dazu ausführlich zu äußern. Aktuelle, konkrete Rückkehrbefürchtungen bzw. drohende Verfolgungshandlungen die BF1-BF3 jedoch nicht geltend gemacht. Im Übrigen wurde der Bruder des BF1 und des BF3, XXXX , im Dezember 2019 in die Russische Föderation abgeschoben. Folglich kehrte dieser zwar in das Bundesgebiet zurück, reiste jedoch am 13.08.2021 im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr erneut aus Österreich in die Russische Föderation aus. Weder der BF1, noch der BF3 haben vorgebracht, dass ihr Bruder bei seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat Probleme gehabt hätte oder gar von Verfolgungshandlungen betroffen gewesen wäre. Vielmehr wäre davon auszugehen gewesen (vor allem) der BF1 hätte von allfälligen Problemen seines Bruders erzählt, zumal er wenig substantiiert andeutete, Rückkehrer würden Probleme in der Russischen Föderation bekommen oder gar verschwinden.

Insgesamt ist vor dem Hintergrund der noch zahlreich, unbehelligt in der Russischen Föderation lebenden Familienangehörigen der BF1-BF3 (Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen), sowie der Rückkehr des Bruders des BF1 und des BF3, nicht davon auszugehen, dass auch für die BF1-BF3 und deren Familie im Herkunftsstaat derzeit eine aktuelle und asylrelevante Verfolgung ihrer Personen zu befürchten ist.

2.11.3. Anzumerken ist zunächst, dass der BF3 wegen des damaligen Fluchtvorbringens seines Vaters als Minderjähriger Asyl erhalten hat. Aus dem den Vater des BF1 und des BF3 betreffenden angelegten Aktenvermerk vom 20.04.2004, sowie den Angaben der Mutter des BF3 in dessen Zuerkennungsverfahren und des BF1 in seinem eigenen Zuerkennungsverfahren, ergibt sich, dass der Vater des BF1 und des BF3 Kämpfer im ersten Tschetschenienkrieg gewesen sei und Kämpfer mit Lebensmitteln unterstützt habe. Darüber hinaus habe der Vater des BF1 und des BF3 als Grenzwachebeamter zwischen Tschetschenien und Dagestan gearbeitet, wobei er „viele Verbrecher“ gefangen habe.

Dem BF1 wurde aufgrund seiner Volljährigkeit zum Zeitpunkt der Asylantragstellung originär der Status eines Asylberechtigten zuerkannt, wobei der BF1 vorbrachte wegen seines Vaters von unbekannten Maskierten entführten, 8-9 Tage festgehalten und in dieser Zeit misshandelt worden zu sein. Die Maskierten hätten gewollt, dass der BF1 den Aufenthaltsort seines Vaters verrate, welcher damals verschollen gewesen sei. Der BF1 habe nicht gewusst, wo sich sein Vater aufhalte und sei dann kommentarlos freigelassen worden. Dem BF2 wurde der Asylstatus im Familienverfahren mit dem BF1 zuerkannt.

2.11.4. Dem beschwerdeseitigen Vorbringen, wonach den BF1-BF3 - nach wie vor - asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat drohe, ist ein lediglich unsubstantiiertes und vermag eine Verfolgungsgefahr für die BF1-BF3, nicht aufzuzeigen:

Dem Vater des BF1 und des BF3 wurde aufgrund seiner behaupteten Tätigkeit im Tschetschenienkrieg, Asyl gewährt. Diesem wurde der Status eines Asylberechtigten bereits mit Bescheid vom 31.03.2020, Zl. XXXX , rechtskräftig am 30.05.2020, gemäß § 7 Absatz 1 Z 2 AsylG aberkannt. Unter anderem ließ sich der Vater des BF1 und des BF3 im Jahr 2019 einen russischen Auslandsreisepass ausstellen, weshalb von einer noch vorliegenden Verfolgungsgefährdung seiner Person im Herkunftsstaat nicht mehr realistischer Weise auszugehen ist. Der Bescheid der belangten Behörde ist im Übrigen unangefochten in Rechtskraft erwachsen, weshalb ebenso wenig von einer noch vorliegenden Gefährdungslage für den Vater des BF1 und des BF3 im Herkunftsstaat auszugehen ist.

Vor diesem Hintergrund ist eine Verfolgung der BF1-BF3 alleine aufgrund der inzwischen vor ca. 22 Jahren erfolgten Beteiligung des Vaters des BF1 und des BF3 als Kämpfer im ersten Tschetschenienkrieg, sowie als Grenzwachebeamter, nicht vorstellbar, zumal auch für diesen selbst keine Verfolgung mehr vorliegt. Aus den Länderberichten folgt auch, dass selbst Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges, einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kampfhandlungen, heute nicht mehr verfolgt werden. Weder der BF1, noch der BF3 (allein schon aufgrund seines Alters), oder der BF2 (der zum damaligen Zeitpunkt noch nicht geboren war), beteiligten sich aktiv am ersten oder zweiten Tschetschenienkrieg und leben nahe Verwandte der BF1-BF3 (Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins) immer noch in Tschetschenien an jenem Wohnort - wie zur Ausreise des BF1 und des BF3 - im Jahr 2005. Weshalb gerade an den Personen der BF1-BF3 etwa 18 Jahre nach ihrer Ausreise 2005 bzw. nach der Ausreise des BF2 2011 ein derart nachhaltiges Interesse der Behörden ihres Herkunftsstaates bestehen sollte, vermochten diese weder in der Beschwerde, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht hinreichend substantiiert darzulegen bzw. glaubhaft zu machen. In den Beschwerden der BF1-BF3 wird hinsichtlich der vorgenommenen Asylaberkennung lediglich allgemein ausgeführt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Asylgründe nicht mehr vorlägen. Genaue Gründe, warum an den BF1-BF3 im Herkunftsstaat immer noch - nach so vielen Jahren - ein konkretes Interesse seitens der Behörden bestehen sollte oder ihnen gar eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat drohen sollte, wurde hingegen auch vor dem BVwG nicht hinreichend substantiiert vorgebracht, weshalb es sich um ein lediglich unkonkretes und unsubstantiiertes Vorbringen handelt.

Sofern der BF1 erstmals und damit inhaltlich gesteigert am 06.04.2006 vorbrachte ein Verwandter habe (unabsichtlich) jemanden getötet, weshalb bei einer Rückkehr Gefahr für die gesamte Familie bestehe und der BF1 Blutrache befürchte, so ist dem entgegenzuhalten, dass dieses Verfahren verspätet vorgebracht, nicht weiter ausgeführt und auch nie wieder im Verfahren aufgetaucht ist. Dieser Fluchtgrund wurde daher, auch im Beschwerdeverfahren, nicht hinreichend substantiiert vorgebracht und damit nicht glaubhaft gemacht.

2.11.5. Festzuhalten ist, dass sich jene Ereignisse, die zur seinerzeitigen Asylgewährung des Vaters des BF1 und des BF3 bzw. zur Asylgewährung des BF1 geführt haben, allesamt während des – zwischenzeitig im Jahr 2009 beendeten – zweiten Tschetschenienkrieges ereignet haben. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage hat sich seit der Asylgewährung des Vaters des BF1 und des BF3 im Jahr 2004 bzw. seit Asylgewährung des BF1 im Jahr 2006, wesentlich und nachhaltig verbessert. Aus den Länderberichten folgt, wie bereits oben ausgeführt, dass selbst Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges, einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kampfhandlungen, heute nicht mehr verfolgt werden. Der tschetschenische Machtapparat konzentriert sich inzwischen vielmehr auf öffentliche Kritiker von XXXX und islamistische Kämpfer, sowie deren Angehörigen. Wie bereits ausgeführt waren die BF1-BF3 selbst nicht aktiv an den Tschetschenienkriegen beteiligt und hat sich der Vater des BF1 und des BF3 einen russischen Auslandsreisepass ausstellen lassen. Ihm wurde der Status eines Asylberechtigten auch bereits rechtskräftig aberkannt.

2.11.6. Zwar ergibt sich aus den Länderberichten - nach wie vor -, dass das Republikoberhaupt XXXX in Tschetschenien ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert hat und Vertreter russischer und internationaler NGOs von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, sowie einem Klima der Angst und Einschüchterung berichten, doch hat sich die Sicherheitslage, sowohl in Tschetschenien, als auch in Zentralrussland massiv verbessert (wenn der Nordkaukasus auch noch von dauerhafter Stabilität weit entfernt ist). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben. Seit gut zehn Jahren liegt das Epizentrum von Gewalt nicht mehr in Tschetschenien. Dort konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. Stand Russland 2011 noch an neunter Stelle im Global Terrorism Index hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land, rangierte es im Jahr 2016 dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Zudem hat sich die Lage von Tschetschenen in Zentralrussland gebessert, sodass auch nicht von einer generellen ethnischen Verfolgung von Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe auszugehen ist. Die russischen/tschetschenischen Behörden würden ihren Fokus laut vorliegendem Berichtsmaterial nunmehr auf Anhänger des IS, sowie Personen, welche aktuell gegen die dortigen Sicherheitskräfte kämpfen, legen.

Beispielsweise zeigt die Hauptstadt Grosny wenige Anzeichen des jahrelangen Krieges miterlebt zu haben. Großflächige Kampfhandlungen sind lange vorbei, das Militär ist weniger präsent und die Stadt wurde wiederaufgebaut. Gleichwohl bleiben Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Armut der Bevölkerung das größte soziale Problem.

2.11.7. Dass die BF1-BF3 nunmehr – ca. 18 Jahre nach der Ausreise des BF1 und des BF3 – neuerlich einer Gefährdung ausgesetzt würden, die überdies auf den seinerzeitigen Tätigkeiten des Vaters des BF1 und des BF3 in den Tschetschenienkriegen beruhte, kann demnach keinesfalls angenommen werden, zumal auch Familienangehörige der BF1-BF3 im Herkunftsland weiterhin unbehelligt leben. Befragt hinsichtlich möglicher aktueller Rückkehrbefürchtungen vermochten die BF1-BF3 im Rahmen des nunmehrigen Verfahrens lediglich unsubstantiiert vorzubringen, wonach sie immer noch verfolgt würden, befürchten würden eingezogen und in den Ukraine-Krieg geschickt zu werden, sowie als Rückkehrer Probleme zu bekommen. Weshalb gerade an den Personen der BF1-BF3 noch ein konkretes und nachhaltiges Interesse der Behörden bestehen sollte, vermochten diese auch in der Beschwerde nicht darzulegen. Für die BF1-BF3 wurde auch keine besondere gesellschaftliche oder politische Stellung oder Exponiertheit ihrer Personen geltend gemacht, welche ein allenfalls erhöhtes Interesse der Behörden ihres Herkunftsstaates an ihnen erklärbar erscheinen ließe.

2.11.8. Dass die BF1-BF3, welche selbst nie an Kampfhandlungen teilgenommen haben, alleine aufgrund des Umstandes, der Teilnahme des Vaters des BF1 und des BF3 an den Tschetschenienkriegen und seiner Tätigkeit als Grenzwachebeamter, aus diesem Grund im Falle einer Rückkehr noch immer einer gezielten asylrelevanten Verfolgung durch die Behörden ihres Heimatlandes unterliegen würden, kann demnach nicht glaubhaft angenommen werden.

2.11.9. Aufgrund der dargelegten Umstände ergibt sich, dass eine aktuelle Gefahr einer Verfolgung der BF1-BF3 aus asylrelevanten Motiven nicht gegeben ist und auch darüber hinaus keine Gefährdung ihrer Personen im Falle ihrer Rückkehr zu prognostizieren ist.

2.11.10. Selbst unter Wahrannahme einer vom erkennenden Gericht nicht für glaubhaft befundenen, etwaigen aktuellen Verfolgungsgefahr für die BF1-BF3 im Herkunftsstaat, ist zudem festzuhalten, dass es diesen grundsätzlich offensteht und zumutbar ist, sich auch in einem anderen Teil der Russischen Föderation niederzulassen. Aus den Länderberichten geht hervor, dass das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes auch Tschetschenen - wie allen russischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen - zusteht. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandsreisepasses und nachweisbarer Wohnraum. Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem, sowie zum legalen Arbeitsmarkt.

2.11.11. Nach den Länderberichten treffen Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe zwar immer noch auf eine anti-kaukasische Stimmung und können Diskriminierungen ausgesetzt sein, eine asylrelevante Gefährdung auf Grund der Volksgruppenzugehörigkeit, kann aber nicht mehr festgestellt werden. Auch diesbezüglich ist daher eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die nicht nur vorübergehend ist. Dass eine Wohnsitznahme außerhalb Tschetscheniens grundsätzlich möglich ist, geht bereits aus dem Faktum hervor, dass etwas 14.000 Tschetschenen alleine in Moskau, 11.000 allein in der Rostow Region und 12.000 in Stawropol leben.

2.11.12. Der BF1 leidet an Rückenproblemen und hatte in der Vergangenheit bereits einen Bandscheibenvorfall. Außerdem wurde ihm ein Lipom im Rückenbereich entfernt und leidet er an Bluthochdruck. Dabei handelt es sich um keine schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und können Rückenprobleme, sowie Bluthochdruck problemlos in der Russischen Föderation behandelt werden, wo die Grundversorgung gesichert ist. Der BF1 verfügt über fundierte Schulbildung im Herkunftsstaat und ist arbeitsfähig. Er hat im Herkunftsstaat noch nicht gearbeitet, im Bundesgebiet jedoch zumindest anfängliche Arbeitserfahrung gesammelt. Derzeit befindet er sich in einer Vorbereitungsmaßnahme der XXXX , welche vom AMS gefördert wird und bezieht er ebenfalls Arbeitslosengeld. Grundsätzlich ist es dem BF1 als 39-jährigen, arbeitsfähigen Mann möglich und zumutbar im Herkunftsstaat einen Job zu finden und unabhängig von familiärer Unterstützung zu leben. Nicht verkannt wird, dass dies aufgrund seiner Rückenprobleme in Hinblick auf körperliche Arbeit nur eingeschränkt möglich ist. Dem BF1 steht es jedoch frei andere, körperlich nicht anstrengende Tätigkeiten zu verrichten.

Der volljährige BF2 ist jung und arbeitsfähig. Er verfügt jedoch lediglich über grundlegende Schulbildung, keine Berufsausbildung und, abgesehen von wenigen Tagen geringfügiger Beschäftigung, keine Berufserfahrung im Bundesgebiet. Dem BF2 ist es jedoch als jungen, 19-jährigen, arbeitsfähigen Mann möglich und zumutbar im Herkunftsstaat einen Job zu finden und seinen Lebensunterhalt unabhängig von familiärer Unterstützung zu bestreiten.

Der BF3 war in der Vergangenheit drogenabhängig. Auch zuletzt wurde der BF3 im Februar 2022 positiv auf THC getestet und wurde im Mai 2022 ein Päckchen mit 7,1 Gramm Cannabiskraut beim BF3 sichergestellt. Die Arbeitsfähigkeit des 29-jährigen BF3 ist dadurch jedoch nicht eingeschränkt, zumal dieser auch bis vor Kurzem einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er derzeit regelmäßig Suchtmittel konsumiert.

Sollte der BF3 neuerlich rückfällig werden, ist zunächst festzuhalten, dass die medizinische Grundversorgung in der Russischen Föderation gesichert ist, weshalb die medizinische Behandlung des BF3 und auch allfällige Aufenthalte einer neuerlichen Drogentherapie im Herkunftsstaat jedenfalls gewährleistet sind. Aus dem LIB ergibt sich, dass Drogenabhängigkeit in der Russischen Föderation behandelbar ist, zumal es Entzugsprogramme, psychiatrische Behandlungen und psychologische Betreuungen für Drogenabhängige gibt, als auch Medikamente zur Substitution vorhanden sind.

Der BF3 verfügt über fundierte Schulbildung und Arbeitserfahrung im Bundesgebiet. Er hat in Österreich den Staplerführerschein gemacht und war zuletzt von 21.06.2022 bis 07.03.2023 erwerbstätig, wobei er auch gut verdiente. Außerdem hat er ein Arbeitstraining bei XXXX absolviert und 2 Wochen ehrenamtlich bei der XXXX mitgeholfen. Dem BF3 ist es daher ebenfalls als jungen, 29-jährigen, arbeitsfähigen Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung möglich - sowie zumutbar - im Herkunftsstaat einen Job zu finden und seinen Lebensunterhalt unabhängig von familiärer Unterstützung zu bestreiten.

Darüber hinaus verfügen die BF1-BF3 familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat. Nicht verkannt wird, dass die BF1-BF3 zu diesen keinen persönlichen Kontakt haben, doch räumte der BF1 vor dem BVwG sehr wohl ein, dass seine Eltern Kontakt zu ihren Geschwistern im Herkunftsstaat hätten, weshalb der Kontakt zu diesen über die Eltern des BF1 und des BF3 umgehend reaktiviert werden könnte. Der familiäre Zusammenhalt in tschetschenischen (Groß-) Familien ist traditionell sehr groß, weshalb bei einer Rückkehr der BF1-BF3 in den Herkunftsstaat davon auszugehen ist, dass diese auf die Unterstützung ihrer Familie im Herkunftsstaat, zumindest in der Anfangsphase, zurückgreifen könnten. Die Verwandten der BF1-BF3 verfügen im Übrigen im Herkunftsstaat allesamt über eigene Häuser, weshalb auch die BF1-BF3 dort Unterkunft finden könnten und jedenfalls vor Obdachlosigkeit bewahrt wären. Die BF1-BF3 könnten daher von ihren Verwandten im Herkunftsstaat, bei einer Rückkehr, zumindest in einer Anfangsphase, in jeglicher Hinsicht, eine Unterstützung erfahren. Der BF1 ist im Herkunftsstaat aufgewachsen, wurde dort sozialisiert und hat dort die Schule besucht. Bis zu seinem 22. Lebensjahr hat der BF1 im Herkunftsstaat gelebt, weshalb er mit den Gegebenheiten und der gebräuchlichen Sprachen in seinem Herkunftsstaat sehr gut vertraut ist, zumal er sehr gut Russisch und muttersprachlich Tschetschenisch spricht. Die BF2-BF3 sprechen muttersprachlich Tschetschenisch, können Tschetschenisch jedoch nicht lesen oder schreiben. Ihnen ist es als jungen, lernfähigen Männern jedoch zuzumuten die Sprache mit Unterstützung auch in Schrift zu erlernen. Der BF2 versteht kein Russisch, der BF3 versteht zwar Russisch, kann sich auf Russisch jedoch nicht verständigen. Diesbezüglich ist ebenfalls auszuführen, dass es den BF2-BF3 ebenfalls zuzumuten ist, als junge, noch lernfähige Männer, die Sprache mit Unterstützung auch (besser) in Wort und Schrift zu erlernen. Es darf überdies darauf hingewiesen werden, dass der BF2 bis zu seinem 7. Lebensjahr bzw. der BF3 bis zu seinem 12. Lebensjahr in Tschetschenien aufgewachsen ist, weshalb sie mit der tschetschenischen Sprache und den gesellschaftlichen Gegebenheiten, auch aufgrund des Aufwachsens in einem tschetschenischen Familienverband im Bundesgebiet, jedenfalls vertraut sind. Die BF1-B3 können sich ihre im Bundesgebiet gesammelte Berufserfahrung, sowie ihre Deutschkenntnisse am tschetschenischen bzw. russischen Arbeitsmarkt zu Nutzen machen.

Zudem stünde es den BF1-BF3 offen, als russische Staatsangehörige auf Leistungen des dortigen Sozialsystems zurückzugreifen und zur Erleichterung einer Niederlassung im Herkunftsstaat Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, dass der BF1 und der BF3 jeweils von ihrer im Bundesgebiet lebenden Lebensgefährtin unterstützt werden und der BF2 von seiner Stiefmutter unterstützt wird, welche den BF2 auch in der Vergangenheit bereits tatkräftig unterstützt hat, weshalb es den BF1-BF3 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit möglich wird, mit Unterstützung ihrer Familie – vor allem in der Anfangsphase – im Herkunftsstaat wieder Fuß zu fassen, sich bald ein ausreichendes Einkommen zu sichern und in keine aussichtslose Lage geraten.

2.11.13. Insgesamt konnten die BF1-BF3 eine aktuelle Gefährdungssituation bei Rückkehr nicht hinreichend substantiieren, welcher sie im Falle der Rückkehr in exponierter Weise ausgesetzt wären. Unter Beachtung der zur Verfügung stehenden Berichtslage, sowie der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (wie z.B. familiäre Anknüpfungspunkte, Ausbildung, berufliche Tätigkeit, usw.) ergibt sich, dass eine Rückkehr der BF1-BF3 in die Russische Föderation möglich und zumutbar ist.

2.12. Zu den Länderfeststellungen:

2.12.1. Die zur Lage in der Russischen Föderation getroffenen Feststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen und stellen angesichts des bereits Ausgeführten im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der BF1-BF3 dar. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen, sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht grundsätzlich kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

2.12.2. Aus den getroffenen Länderfeststellungen lässt sich keine derartige Situation im Herkunftsland ableiten, wonach den BF1-BF3 allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage - ohne Hinzutreten individueller Faktoren - in der Russischen Föderation aktuell und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ihrer Personen drohen würde oder, dass ihnen im Falle ihrer Rückkehr ins Herkunftsland die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

2.12.3. Es bleibt festzuhalten, dass die Russische Föderation am 24.02.2022 eine militärische Großoffensive auf die Ukraine begonnen hat, wobei die laufenden Kampfhandlungen jedenfalls auf das Staatsgebiet der Ukraine beschränkt sind. Eine bewaffnete Auseinandersetzung findet somit – im Unterschied zu den seinerzeitigen zwei Tschetschenienkriegen – nicht auf dem Territorium der Russischen Föderation statt. Inzwischen wurden bereits Sanktionspakete westlicher Staaten gegen die Russische Föderation auf den Weg gebracht, so hat die EU u.a. den Verkauf, die Lieferung, die Weitergabe oder die Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien (u.a. Technologien für die Ölveredelung, Mikroprozessoren, etc…) in die Russische Föderation untersagt. Insgesamt ist derzeit aus diesen Gründen auch keine Verschlechterung der allgemeinen Sicherheitslage in der Russischen Föderation ersichtlich und auch nicht erkennbar, dass deshalb die Grundversorgung ebendort nicht mehr gewährleitet wäre.

2.12.4. Die Situation im Herkunftsland der BF1-BF3 hat sich auch seit dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 06.03.2023 in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert. Es bleibt weiterhin festzuhalten, dass es sich bei der Russischen Föderation um einen Staat handelt, der zwar im Hinblick auf menschenrechtliche Standards Defizite aufweist, darüber hinaus aber nicht – etwa im Vergleich zu Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien u.v.a. - als Staat mit sich rasch ändernder Sicherheitslage auffällig wurde, sondern sich im Wesentlichen über die letzten Dekaden als relativ stabil erwiesen hat (vgl. dazu etwa VfGH vom 21.09.2017, Zl. E 1323/2017-24, VwGH vom 13.12.2016, Zl. 2016/20/0098).

2.12.5. Soweit die BF1-BF3 in der Beschwerde ergänzende Länderberichte vorlegten, sind diese in den aktuellen Feststellungen bereits allesamt berücksichtigt und finden sich deren Inhalte auch in dem im Erkenntnis zugrunde gelegten Länderinformationsblatt (vom 03.02.2023), das eine höhere Aktualität als die von der BF3 zitierten ergänzenden Länderberichte aufweist, wieder.

2.12.6. Letztlich ist noch anzumerken, dass unter Zugrundelegung der vom Bundesamt getroffenen Feststellungen zur Grundversorgung in der Russischen Föderation kein Grund erkannt werden kann, wonach die volljährigen BF1-BF3, die über Schulbildung, Arbeitserfahrung und zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat verfügen, bei einer Rückkehr ins Herkunftsland in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Situation geraten würden.

2.12.7. Es liegen auch keine Hinweise dafür vor, dass Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe allein wegen eines langjährigen Aufenthaltes in Europa in der Russischen Föderation einer Verfolgung oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wären. Wie aus den Länderfeststellungen hervorgeht (siehe Länderfeststellungen zur Rückkehr), sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr in die Russischen Föderation allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatten. Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden.

2.12.8. Was die Ausbreitung des Corona Virus in der Russischen Föderation betrifft, ist festzuhalten, dass die BF1-BF3 an keinen schwerwiegenden Krankheiten leiden. Der BF1 hatte einen Bandscheibenvorfall, sowie ein Lipom an der Wirbelsäule, welches entfernt wurde und leidet an Bluthochdruck. Der BF2 ist gesund. Der BF3 war in der Vergangenheit drogenabhängig, ist jedoch darüber hinaus gesund. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die BF1-BF3 persönlich bei einer Rückkehr eine Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf erleiden würden, weil diese nicht zur Risikogruppe zählen. Die absoluten Zahlen in der Russischen Föderation erweisen sich mit 22.727.542 Erkrankten als so hoch, wie in kaum einem anderen Land. Dennoch erweisen sich die Todesfälle, mit insgesamt 397.642 Toten als, verglichen mit anderen Ländern, verhältnismäßig gering. Sieht man die absolute Zahl der Erkrankten jedoch im Verhältnis zur Einwohnerzahl, zeigt sich die Zahl der Erkrankungen pro 100.000 Einwohner noch davon entfernt, ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, in der Russischen Föderation an einer Lungenkrankheit Covid-19 (mit schweren Verlauf) zu erkranken. Die Russische Föderation hat als eines der ersten Länder mit landesweiten Impfungen ihrer Bevölkerung begonnen und sind mittlerweile mehrere heimische Impfstoffe zugelassen, die für die Bevölkerung kostenlos zur Verfügung stehen. Darüber hinaus stehen diverse Medikamente zur Behandlung von Covid-19 zur Verfügung und erfolgt eine medizinische Covid-Versorgung für die Bevölkerung kostenlos. Im Sommer letzten Jahres war in der Russischen Föderation nach einem Anstieg an Infektionen mit dem Corona Virus, welcher auf die „Omikron-Variante“ zurückzuführen war, ein deutlicher Rückgang mit Infektionen zu beobachten, wobei sich die Infektionszahlen seit Oktober 2022 als auf niedrigem Niveau stabil erweisen. Insgesamt ist, vor dem Hintergrund der umfangreich gegebenen medizinischen Covid-Versorgung in der Russischen Föderation, dieser Umstand nicht dazu geeignet ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, um jene geforderte Schwelle der Exzeptionalität der Umstände zu erreichen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG 2005) nicht getroffen, und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

3.2. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I 122/2013, geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.3. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

3.4. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zum Spruchteil A

3.5. Zu den Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide (BF1-BF3):

 

3.5.1. Der mit „Aberkennung des Status des Asylberechtigten“ übertitelte § 7 AsylG 2005 lautet, wir folgt:

„1) Der Status des Asylberechtigten ist einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn

1.

ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt;

2.

einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder

3.

der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.

  

(2) In den Fällen des § 27 Abs. 3 Z 1 bis 4 und bei Vorliegen konkreter Hinweise, dass ein in Art. 1 Abschnitt C Z 1, 2 oder 4 der Genfer Flüchtlingskonvention angeführter Endigungsgrund eingetreten ist, ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, sofern das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 wahrscheinlich ist. Ein Verfahren gemäß Satz 1 ist, wenn es auf Grund des § 27 Abs. 3 Z 1 eingeleitet wurde, längstens binnen einem Monat nach Einlangen der Verständigung über den Eintritt der Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung gemäß § 30 Abs. 5 BFA-VG, in den übrigen Fällen schnellstmöglich, längstens jedoch binnen einem Monat ab seiner Einleitung zu entscheiden, sofern bis zum Ablauf dieser Frist jeweils der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht. Eine Überschreitung der Frist gemäß Satz 2 steht einer späteren Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht entgegen. Als Hinweise gemäß Satz 1 gelten insbesondere die Einreise des Asylberechtigten in seinen Herkunftsstaat oder die Beantragung und Ausfolgung eines Reisepasses seines Herkunftsstaates.

(2a) Ungeachtet der in § 3 Abs. 4 genannten Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, wenn sich aus der Analyse gemäß § 3 Abs. 4a ergibt, dass es im Herkunftsstaat des Asylberechtigten zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist. Das Bundesamt hat von Amts wegen dem Asylberechtigten die Einleitung des Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten formlos mitzuteilen.

(3) Das Bundesamt kann einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.

(4) Die Aberkennung nach Abs. 1 Z 1 und 2 ist mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.“

3.5.2. Da die BF1-BF3 straffällig im Sinne des § 2 Abs. 3 AsylG 2005 geworden sind, schadet es gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 nicht, dass die Aberkennung fallgegenständlich nicht innerhalb von fünf Jahren ab rechtskräftiger Zuerkennung des Status erfolgt ist.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, welcher vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angewendet wurde, ist der Status des Asylberechtigten einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn einer der in Art 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist.

Art 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention lautet:

"C. Dieses Abkommen wird auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn sie

1. sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat; oder

2. die verlorene Staatsangehörigkeit freiwillig wieder erworben hat; oder

3. eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz ihres neuen Heimatlandes genießt; oder

4. sich freiwillig in dem Staat, den sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen oder nicht betreten hat, niedergelassen hat; oder

5. wenn die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und sie es daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen.

Die Bestimmungen der Ziffer 5 sind nicht auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels genannten Flüchtlinge anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr Heimatland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen;

6. staatenlos ist und die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, sie daher in der Lage ist, in ihr früheres Aufenthaltsland zurückzukehren.

Die Bestimmungen der Ziffer 6 sind jedoch auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels genannten Personen nicht anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr früheres Aufenthaltsland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen."

3.5.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stützte die angefochtene Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass sich die Umstände, aufgrund derer den BF1-BF3 der Status von Asylberechtigten zuerkannt worden waren, zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bestehen und die BF1-BF3 es daher nicht weiterhin ablehnen können, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Damit seien auch die früher bestehenden Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nicht mehr gegeben. In der Russischen Föderation liege aktuell keine Gefährdungslage für die BF1-BF3 (mehr) vor. Damit bejahte die belangte Behörde das Vorliegen des Asylaberkennungsgrunds des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK (im Folgenden auch als „Wegfall der Umstände“-Klausel bezeichnet; vgl. VwGH vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).

Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 verleiht dem Grundsatz Ausdruck, dass die Gewährung von internationalem Schutz lediglich der vorübergehenden Schutzgewährung, nicht aber der Begründung eines Aufenthaltstitels, dienen soll. Bestehen nämlich die Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr und kann sie es daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, so stellt auch dies einen Grund dar, den gewährten Status wieder abzuerkennen (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K8).

Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK stellt primär auf eine grundlegende Änderung der (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat ab, kann jedoch auch die Änderung der in der Person des Flüchtlings gelegenen Umstände umfassen, etwa wenn eine wegen der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Religion verfolgte Person nun doch zu der den staatlichen Stellen genehmen Religion übertritt und damit eine gefahrlose Heimkehr möglich ist (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K9).

Ein in der Person des Flüchtlings gelegenes subjektives Element spielt auch insofern eine Rolle, zumal aus der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK enthaltenen Wortfolge "nicht mehr ablehnen kann" auch die Zumutbarkeit einer Rückkehr in das Herkunftsland ein entscheidendes Kriterium einer Aberkennung des Flüchtlingsstatus ist (vgl. Putzer/Rohrböck, aaO, Rz 146).

Um die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu bejahen, muss die Änderung der Umstände sowohl grundlegend als auch dauerhaft sein, zumal der Flüchtlingsschutz umfassende und dauerhafte Lösungen zum Ziel hat und Personen nicht unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren sollen, welche möglicherweise zu einer neuerlichen Flucht führen. Da eine voreilige oder unzureichende Begründung der Beendigungsklauseln ernsthafte Konsequenzen haben kann, ist es angebracht, die Klauseln restriktiv auszulegen. (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ["Wegfall der Umstände"-Klauseln], Abs. 6 f).

Die Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 lit. e Status-RL aF, der der aktuellen Rechtslage entspricht, erlischt, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände in dem fraglichen Drittland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss (EuGH 02.03.2010, Rs C-175/08 ua., Abdulla ua., Rz 76). Die Umstände müssen sich auf grundlegende, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK angeführte Fluchtgründe beziehen, auf Grund deren angenommen werden kann, dass der Anlass für die - begründete - Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht (VwGH vom 25.06.1997, 95/01/0326). Ein Flüchtling hört erst dann auf Flüchtling zu sein, wenn er wieder effektiven Schutz im Herkunftsstaat erlangen kann (vgl. Grahl-Madsen The Status of Refugees in International Law I [1965], 7, 405) bzw. ihm zugemutet werden kann, sich wieder dem Schutz dieses Staates zu unterstellen (Kälin, Grundriß des Asylverfahrens [1990], 162).

Nach der Judikatur setzt Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 eine wesentliche nachhaltige Änderung der (für die Verfolgungsgefahr maßgeblichen) Umstände im Heimatstaat des Flüchtlings, einen Wegfall der Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der Notwendigkeit der Schutzgewährung voraus.

Die Änderungen im Herkunftsstaat müssen nachhaltig und nicht bloß von vorübergehender Natur sein (VwGH vom 22.4.1999, 98/20/0567; VwGH vom 25.3.1999, 98/20/0475). Nach Einhaltung eines längeren Beobachtungszeitraumes wird auch der bloße "Haltungswandel" des bisherigen Verfolgers, ohne dass ein politischer Machtwechsel stattgefunden hat, eine asylrechtlich maßgebliche Änderung der Umstände ergeben und in Folge Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Genfer Flüchtlingskonvention zum Tragen kommen (VwGH vom 21.11.2002, 99/20/0171).

Der Wegfall der Verfolgungsgefahr ist maßgeblich für die Anwendung von Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Genfer Flüchtlingskonvention. Ob die allgemeine wirtschaftliche Lage im Herkunftsstaat schlecht ist oder familiäre beziehungsweise emotionelle Bindungen zum Aufnahmestaat bestehen, ist für den Eintritt der Ziffer 5 grundsätzlich irrelevant.

3.5.4. Für den gegenständlichen Fall bedeutet das Folgendes:

3.5.4.1. Den BF1-BF3 wurde mit Bescheiden des ehemaligen unabhängigen Bundesasylamts vom 20.10.2005 (BF3) bzw. vom 20.12.2006 (BF1) bzw. vom 06.06.2012 (BF2) Asyl gewährt, weil der Vater des BF1 und des BF3 im ersten Tschetschenienkrieg gekämpft und als Grenzwachebeamter zwischen Dagestan und Tschetschenien gearbeitet hat. Aus diesem Grund wurde der BF1 selbst von unbekannten Maskierten entführt, 8-9 Tage festgehalten, in welchen er misshandelt und nach dem Verbleib seines Vaters gefragt wurde. Dem BF1 kam originär Asyl zu, der BF2 erhielt den Status eines Asylberechtigten als Minderjähriger im Familienverfahren mit dem BF1 und der BF3 erhielt den Status ebenfalls als Minderjähriger im Familienverfahren von seinem Vater.

Wie bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dargestellt und beweiswürdigend festgehalten, kam es seit dem Zeitpunkt der Ausreise der BF1-BF3 – wenn auch eine nach wie vor vielfach problematische Menschenrechtssituation im Herkunftsstaat der BF1-BF3 nicht verkannt wird – zu einer Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage in der Herkunftsregion der BF1-BF3. Es kann demnach nicht davon ausgegangen werden, dass diesen - nach wie vor - mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gezielte staatliche Verfolgung drohen würde. Diesbezüglich ist nun, 14 Jahre nach Ende des Zweiten Tschetschenienkrieges (dazu, dass die Annahme einer grundlegenden politischen Veränderung im Herkunftsstaat eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse voraussetzt, für deren Beurteilung es in der Regel eines längeren Beobachtungszeitraumes bedarf, s. VwGH vom 27.02.2006, 2002/20/0170), eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die nicht nur vorübergehend ist.

3.5.4.2. Wie in der Beweiswürdigung umfassend dargestellt, brachten die BF1-BF3 im nunmehrigen Aberkennungsverfahren keinerlei konkreten Umstände glaubhaft vor, welche auf das Vorliegen einer noch aktuellen – oder neuen – Gefährdung ihrer Personen im Herkunftsstaat schließen lassen würden. Diesbezüglich darf auf die umfangreiche Beweiswürdigung verwiesen werden.

3.5.4.3. Auch von Amts wegen konnten, wie dargelegt, keine Gründe dahingehend erkannt werden, dass die BF1-BF3 im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation zum aktuellen Zeitpunkt von russischen Behörden verfolgt bzw. einer sonstigen asylrelevanten Verfolgung in seinem Herkunftsstaat ausgesetzt sein werden. Hierbei ist auch auf die zwischenzeitig eingetretene Lageänderung hinzuweisen (siehe dazu insbesondere die Entscheidung des BVwG vom 18.12.2018, W112 1258438-2 sowie jene vom 6.9.2018, W236 2202290-1 (nachfolgende Beschwerdeablehnung, VfGH vom 25.02.2019, E 420/2019) und vom 07.03.2019, W125 1240799-3), wonach insbesondere seit 2011 keine Verfolgungen im Kontext der ersten beiden Tschetschenienkriege festzustellen waren.

3.5.4.4. Die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten sind bei den BF1-BF3 daher aus dem Grund des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art 1 Abschnitt C Z 5 GFK gegeben und waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide daher abzuweisen.

3.5.4.5. Da sich die Aberkennung des Status der Asylberechtigten insgesamt als rechtmäßig erweist, hat die belangte Behörde auch gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 zu Recht festgestellt, dass den BF1-BF3 die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.

3.5.4.6. Die Beschwerden waren mit der Maßgabe abzuweisen, weil die Daten der Bescheide im Spruch fehlten und die Verfahrenszahlen hinsichtlich BF1 und BF3 vertauscht wurden.

3.6. Zu den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide (BF1-BF3):

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

§ 8 AsylG 2005 beschränkt den Prüfungsrahmen auf den "Herkunftsstaat" des Asylwerbers. Dies ist dahin gehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen ist, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH vom 22.04.1999, 98/20/0561; 20.05.1999, 98/20/0300).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören – der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten (oder anderer in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnter) Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwSlg. 15.437 A/2000; VwGH vom 25.11.1999, 99/20/0465; 08.06.2000, 99/20/0203; 08.06.2000, 99/20/0586; 21.09.2000, 99/20/0373; 25.01.2001, 2000/20/0367; 25.01.2001, 2000/20/0438; 25.01.2001, 2000/20/0480; 21.06.2001, 99/20/0460; 16.04.2002, 2000/20/0131). Diese in der Rechtsprechung zum AsylG 1997 erwähnten Fälle sind nun z.T. durch andere in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnte Fallgestaltungen ausdrücklich abgedeckt. Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat (unter dem Gesichtspunkt des § 57 FremdenG, dies ist nun auf § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu übertragen) als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH vom 27.02.2001, 98/21/0427).

Das Bundesverwaltungsgericht hat somit vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH vom 23.02.1995, Zahl 95/18/0049; vom 05.04.1995, Zahl 95/18/0530; vom 04.04.1997, Zahl 95/18/1127; vom 26.06.1997, Zahl 95/18/1291; vom 02.08.2000, Zahl 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH vom 30.09.1993, Zahl 93/18/0214).

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH vom 08.06.2000, Zahl 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH vom 14.10.1998, Zahl 98/01/0122; vom 25.01.2001, Zahl 2001/20/0011).

Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, Zahl 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH vom 26.06.1997, Zahl 95/21/0294; vom 25.01.2001, Zahl 2000/20/0438; vom 30.05.2001, Zahl 97/21/0560).

Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr („real risk“) – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH vom 23.09.2004, Zahl 2001/21/0137).

Nach der Judikatur des EGMR obliegt es der betroffenen Person, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung behauptet, so weit als möglich Informationen vorzulegen, die den innerstaatlichen Behörden und dem Gerichtshof eine Bewertung der mit einer Abschiebung verbundenen Gefahr erlauben (vgl. EGMR vom 05.07.2005 in Said gg. die Niederlande). Bezüglich der Berufung auf eine allgemeine Gefahrensituation im Heimatstaat, hat die betroffene Person auch darzulegen, dass ihre Situation schlechter sei, als jene der übrigen Bewohner des Staates (vgl. EGMR vom 26.07.2005 N. gg. Finnland).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (vgl. VwGH vom 26.06.1997, Zl. 95/18/1291). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann.

Den Fremden trifft somit eine Mitwirkungspflicht, von sich aus das für eine Beurteilung der allfälligen Unzulässigkeit der Abschiebung wesentliche Tatsachenvorbringen zu erstatten und dieses zumindest glaubhaft zu machen. Hinsichtlich der Glaubhaftmachung des Vorliegens einer derartigen Gefahr ist es erforderlich, dass der Fremde die für diese ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert und, dass diese Gründe objektivierbar sind.

3.6.1. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 fallgegenständlich nicht gegeben sind:

3.6.2. Wie die Beweiswürdigung ergeben hat, vermochten die BF1-BF3 eine konkrete Verfolgungsgefahr in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation nicht (mehr) darzutun, weshalb auf Grund des konkreten Vorbringens der BF1-BF3 auch keinerlei Bedrohung im Sinne des § 8 AsylG erkannt werden kann.

3.6.3. Zu prüfen bleibt, ob die BF1-BF3 im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat in ihren durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten verletzt würden. Hierzu bleibt festzuhalten:

Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände („exceptional circumstances“) vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich, Zahl 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zahl 44599/98; vgl. auch VwGH vom 21.08.2001, Zahl 2000/01/0443). Unter „außergewöhnlichen Umständen“ können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB. Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bzw. § 50 Abs. 1 FPG bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH vom 21.08.2001, Zahl 2000/01/0443; 13.11.2001, Zahl 2000/01/0453; 09.07.2002, Zahl 2001/01/0164; 16.07.2003, Zahl 2003/01/0059).

In diesem Kontext sei auch auf die ständige Rechtsprechung des EGMR sowie der Höchstgerichte verwiesen, etwa das Erkenntnis des VfGH vom 06.03.2008 zu B 2400/07-9, welches die Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammenfasst. Der VwGH hat, unter Verweis auf die entsprechenden Urteile des EGMR, ausgeführt, dass sich aus diesen ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, im Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückgelegte Entfernung zu berücksichtigen sind (vgl. VwGH vom 21.02.2017, Ro 2016/18/0005 mit Verweis auf EGMR 13.12.2016, 41738/10 Paposhvili gg Belgien). Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. EGMR 02.05.1997, 30.240/96, D. gg. Vereinigtes Königreich). Aus dieser Judikaturlinie des EGMR ergibt sich jedenfalls der für das vorliegende Beschwerdeverfahren relevante Prüfungsmaßstab.

Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich beurteilbar (vgl. VwGH vom 12.12.2012, Zlen. 2012/18/0204 und 0205, mwN, VwGH vom 21.12.2013, 2011/23/0617).

Mit Erkenntnis vom 21.05.2019, Zl. Ro 2019/19/0006-3, wurde seitens des Verwaltungsgerichtshofes bekräftigt, dass dieser an seiner Rechtsprechung festhalte, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat – auch wenn diese nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird – die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG begründen kann.

3.6.4. Zunächst kann im Beschwerdefall nicht angenommen werden, dass den BF1-BF3 im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. diesbezüglich das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 16.07.2003, 2003/01/0059, zur dargestellten „Schwelle“ des Art. 3 EMRK):

Der volljährige und arbeitsfähige BF1 hat im Herkunftsstaat 9 Jahre lang die Grundschule besucht und anfängliche Arbeitserfahrung im Bundesgebiet gesammelt. Da der BF1 seinen Herkunftsstaat mit 22 Jahren verlassen hat und sowohl muttersprachlich Tschetschenisch, als auch sehr gut Russisch spricht, ist er mit den Gegebenheiten in seinem Herkunftsstaat sehr gut vertraut. Es nicht verkannt, dass der BF1 aufgrund seiner Rückenprobleme körperliche Arbeitstätigkeiten nur sehr eingeschränkt ausüben kann, doch ergibt sich aus diesen Problemen keine grundsätzliche Arbeitsunfähigkeit des BF1 und könnte er in einem anderen Bereich problemlos einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Dem BF1 ist es daher als 39-jährigen arbeitsfähigen Mann insgesamt möglich im Herkunftsstaat den Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Der volljährige, arbeitsfähige und gesunde BF2 besuchte im Bundesgebiet die Volks- sowie die Sonderschule und hat (bis auf wenige Tage geringfügige Tätigkeit im Bundesgebiet) keine Arbeitserfahrung gesammelt. Grundsätzlich ist es dem BF2 jedoch als jungen Mann von 19 Jahren insgesamt möglich im Herkunftsstaat von eigener Erwerbstätigkeit unabhängig von familiärer Unterstützung zu leben. Da der BF2 die Russische Föderation mit 7 Jahren verlassen hat und bis zu diesem Zeitpunkt in Tschetschenien aufgewachsen ist, sowie danach im Bundesgebiet in einem tschetschenisch geprägten Familienverband erzogen wurde, ist von einer völligen Entfremdung des BF2 von seinem Herkunftsstaat nicht auszugehen. Der BF2 spricht Tschetschenisch und könnte die russische Sprache im Herkunftsstaat mit Unterstützung sicherlich als junger, lernfähiger Mann in Wort und Schrift erlernen.

Der volljährige, arbeitsfähige und gesunde BF3 besuchte im Bundesgebiet die Volks-, sowie die Hauptschule im Bundesgebiet und hat seinen Pflichtschulabschluss gemacht. Der BF3 hat Arbeitserfahrung im Bundesgebiet gesammelt und war zuletzt von 21.06.2022 bis 07.03.2023 erwerbstätig und selbsterhaltungsfähig. Der BF3 hat im Bundesgebiet darüber hinaus den Staplerführerschein gemacht, ein Arbeitstraining bei XXXX absolviert und 2 Wochen freiwillige Lagerarbeiten bei der XXXX durchgeführt. Grundsätzlich ist es dem BF3 als jungen Mann insgesamt ebenfalls möglich im Herkunftsstaat von eigener Erwerbstätigkeit unabhängig von familiärer Unterstützung zu leben. Da der BF3 die Russische Föderation mit ca. 12 Jahren verlassen hat und bis zu diesem Zeitpunkt in Tschetschenien aufgewachsen ist, sowie danach im Bundesgebiet in einem tschetschenisch geprägten Familienverband erzogen wurde, ist von einer Entfremdung des BF3 von seinem Herkunftsstaat nicht auszugehen. Der BF3 spricht Tschetschenisch und versteht Russisch. Er könnte die russische Sprache, ebenso wie der BF2 im Herkunftsstaat mit Unterstützung sicherlich als junger, lernfähiger Mann, (noch besser) in Wort und Schrift erlernen.

Darüber hinaus verfügen die BF1-BF3 familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat. Nicht verkannt wird, dass die BF1-BF3 zu diesen keinen persönlichen Kontakt haben, doch räumte der BF1 vor dem BVwG sehr wohl ein, dass seine Eltern Kontakt zu ihren Geschwistern im Herkunftsstaat hätten, weshalb der Kontakt zu diesen über die Eltern des BF1 und des BF3 umgehend reaktiviert werden könnte. Der familiäre Zusammenhalt in tschetschenischen (Groß-) Familien ist traditionell sehr groß, weshalb bei einer Rückkehr der BF1-BF3 in den Herkunftsstaat davon auszugehen ist, dass diese auf die Unterstützung ihrer Familie im Herkunftsstaat, zumindest in der Anfangsphase, zurückgreifen könnten. Die Verwandten der BF1-BF3 verfügen im Übrigen im Herkunftsstaat allesamt über eigene Häuser, weshalb auch die BF1-BF3 dort Unterkunft finden könnten und jedenfalls vor Obdachlosigkeit bewahrt wären.

Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass die BF1-BF3 im Falle ihrer Rückkehr jedenfalls auf familiäre Unterstützung zurückgreifen könnten, allenfalls könnten der BF1 und der BF3 durch ihre jeweilige Lebensgefährtin von Österreich aus unterstützt werden. Der BF2 könnte darüber hinaus von seiner Stiefmutter von Österreich aus unterstützt werden, zumal diese den BF2 auch in der Vergangenheit bereits unterstützt hat, weshalb die BF1-BF3 insgesamt vor existentieller Notlage bewahrt wären.

3.6.5. Der BF1 hat Rückenprobleme, er hatte in der Vergangenheit bereits einen Bandscheibenvorfall und wurde ihm ein Lipom im Lendenwirbelsäulenbereich entfernt. Außerdem leidet der BF1 an Bluthochdruck. Der BF2 ist gesund und leidet an keinen lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Krankheiten. Der BF3 war in der Vergangenheit drogenabhängig, ist darüber hinaus jedoch nunmehr gesund. Daraus ergibt sich ebenso keine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung des BF1 oder des BF3, welche ein Hindernis für eine Rückkehr in den Herkunftsstaat darstellen würde. Dass dem BF1 und dem BF3 im Zusammenhang mit gesundheitlichen Beschwerden dringend benötigte ärztliche Versorgung oder Medikamente im Herkunftsstaat nicht zugänglich wären, brachten diese zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens vor. Ein kritischer Gesundheitszustand bzw. außergewöhnliche Verschlechterung als Rückkehrhindernisse wurden im Übrigen auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Insbesondere reichen die Rückenprobleme und der vorhandene Bluthochdruck des BF1, sowie die Drogenproblematik des BF3 nicht in die Sphäre des Art. 3 EMRK hinein und können auch problemlos (sollte der BF3 neuerlich eine Drogentherapie benötigen) in der Russischen Föderation behandelt bzw. durchgeführt werden, wo die medizinische Grundversorgung gesichert ist. Zudem ist auf die vom Verwaltungsgerichtshof übernommene Rechtsprechung des EGMR zu verweisen, wonach im Allgemeinen kein Fremder das Recht hat, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 29.02.2012, Zlen. 2010/21/0310 bis 0314, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich beurteilbar (vgl. VwGH vom 12.12.2012, Zlen. 2012/18/0204 und 0205, mwN, VwGH vom 21.12.2013, 2011/23/0617).

3.6.6. Weiters ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach sich aus schlechten Lebensbedingungen keine Gefährdung bzw. Bedrohung im Sinne des § 57 FrG ergibt (vgl. etwa VwGH vom 30.1.2001, Zl. 2001/01/0021). Selbst wenn, vor dem Hintergrund dessen, der BF bei einer Rückkehr in eine in materieller Hinsicht beschwerliche Lebenssituation gelangen könnte, war aus diesen Erwägungen nicht abzuleiten, dass im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden.

3.6.7. Vor dem Hintergrund der Feststellungen kann nicht gesagt werden, dass jene gemäß der Judikatur des EGMR geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegen würde, um die Außerlandesschaffung eines Fremden im Hinblick auf außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegende Gegebenheiten im Zielstaat im Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen zu lassen (VwGH vom 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Es liegen keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass die BF1-BF3 mit der hier erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten müssten, im Herkunftsland Übergriffen von im gegebenen Zusammenhang ausreichender Intensität ausgesetzt zu sein.

3.6.8. Schließlich kann auch nicht gesagt werden, dass eine Abschiebung der BF1-BF3 für diese als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. In der Russischen Föderation ist eine Zivilperson nicht allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt.

3.6.9. Aufgrund der vorgenommenen Prüfung im Einzelfall (VfGH 13.09.2012, U370/2012) unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände der BF1-BF3, sowie unter Beachtung der Rechtsprechung des VwGH und VfGH und Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR, waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide spruchgemäß als unbegründet abzuweisen.

3.7. Zu den Beschwerden gegen Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide (BF1-BF3):

Gemäß § 58 Abs. 1 Z 3 AsylG hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) von Amts wegen zu prüfen, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt.

3.7.1. Indizien dafür, dass die Beschwerdeführer (BF1-BF3) einen Sachverhalt verwirklichen, bei dem ihnen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) zu erteilen wäre, sind weder substantiiert vorgebracht worden, noch sonst hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt der BF1-BF3 seit mindestens einem Jahr im Sinne des § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch sind diese zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch sind diese Opfer von Gewalt im Sinne des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG war ihnen daher nicht zu erteilen.

3.7.2. Da somit die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG nicht gegeben sind, waren die Beschwerden gegen die Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

3.8. Zu den Beschwerden gegen Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide (BF1-BF3):

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 ist die Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung oder Anordnung einer Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn einen Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne das es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

§ 52 FPG lautet auszugsweise:

„Rückkehrentscheidung

§ 52 (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

(3) – (8) [...]

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

(10) – (11) [...]“

§ 9 Abs. 1 bis 3 und Abs. 5 bis 6 BFA-VG idgF lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr 60/1974 gilt."

§ 9 Abs. 4 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, idF BGBl. I Nr. 70/2015 (vor der Aufhebung durch das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2018) lautet auszugsweise:

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn

1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder

2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

Der mit „Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK“ übertitelte § 55 AsylG, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., lautet wie folgt:

„(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist

und

2.

der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG),

BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt,

mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG),

BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

           

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat-und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfGH vom 29.9.2007, B 1150/07; 12.6.2007, B 2126/06; VwGH vom 26.6.2007, 2007/01/479; vom 26.1.2006, 2002/20/0423; vom 17.12.2007, 2006/01/0216; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention2, 194; Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl-und Fremdenrecht K15 ff zu § 9 BFA-VG).

Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR 27. 10. 1994, Kroon u.a. gg. die Niederlande, ÖJZ 1995, 296; siehe auch VfGH 28. 6. 2003, G 78/00).

Vom Prüfungsumfang des Begriffs des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, die miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. etwa VwGH vom 26.01.2006, 2002/20/0423; 08.06.2006, 2003/01/0600; 26.01.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).

Nach Art 9 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes haben die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, außer dies ist zum Wohle des Kindes notwendig. Gemäß § 2 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern hat jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkten Kontakt zu beiden Elternteilen. Art 7 BVG Kinderrechte enthält allerdings einen materiellen Gesetzesvorbehalt, der jenem des Art 8 Abs 2 EMRK aufs Wort gleicht: "Eine Beschränkung der in den Artikeln 1, 2, 4 und 6 dieses Bundesverfassungsgesetzes gewährleisteten Rechte und Ansprüche ist nur zulässig, insoweit sie gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist." Es ist daher eine entsprechende Interessensabwägung vorzunehmen.

Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch der Verwaltungsgerichtshof stellen in ihrer Rechtsprechung darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist (VwGH vom 30.04.2009, 2009/21/086, VwGH vom 19.02.2009, 2008/18/0721 und die dort zitierte EGMR-Judikatur).

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8. 4. 2008, Nnyanzi gg. das Vereinigte Königreich, Appl. 21.878/06; 4. 10. 2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9. 10. 2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16. 6. 2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen stellen regelmäßig einen Eingriff in das Privatleben dar, weil sie die betroffene Person aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt es von den Umständen des jeweiligen Falles ab, ob es angebracht ist, sich eher auf den Gesichtspunkt des Familienlebens zu konzentrieren als auf den des Privatlebens (EGMR 23.04.2015, 38030/12, Khan, Rn. 38; 05.07.2005, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 59). Die Prüfung am Maßstab des Privatlebens ist jedoch weniger streng als jene am Maßstab des Familienlebens, weshalb letztere in der Praxis im Vordergrund steht (Ewald Wiederin, Schutz der Privatsphäre, in: Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer [Hg.], Handbuch der Grundrechte VII/1, 2. Aufl., § 10, Rn. 52).

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

3.8.1. Der BF1 lebt seit November 2005, sohin seit etwa 17 ½ Jahren, im österreichischen Bundesgebiet. Der BF2 lebt seit August 2011, sohin seit mehr als 11 ½ Jahren im Bundesgebiet und der BF3 lebt seit September 2005, sohin seit mehr als 17 ½ Jahren in Österreich. Die BF1-BF3 verfügen über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet. Der BF1 und der BF3 verfügen über ihre Eltern und ihre beiden Geschwister in Österreich, der BF1 darüber hinaus über seine 4 mj. Kinder und einen volljährigen Sohn, den BF2, und seine Lebensgefährtin. Der BF3 verfügt ebenfalls über seine Lebensgefährtin im Bundesgebiet. Der BF2 verfügt über seine gesamte Kernfamilie in den Personen seiner Stiefmutter (der Ex-Lebensgefährtin des BF1), seiner 4 mj. Geschwister, seines Vaters (BF1), seiner beiden Onkel und seiner Tante (Geschwister des BF1) und seiner Großeltern im Bundesgebiet. Der BF2 verfügt ebenfalls über eine Lebensgefährtin in Österreich.

Der BF1 lebt mit keiner seiner Familienangehörigen im gemeinsamen Haushalt und ist auch an einer von seiner Lebensgefährtin unterschiedlichen Adresse gemeldet, wenngleich diese überwiegend beieinander übernachten. Ein Familienleben iSd Art. 8 EMRK des BF1 besteht daher nur zu seinen 4 mj. Kindern. Der BF2 lebt im gemeinsamen Haushalt mit seiner Stiefmutter und seinen 4 mj. Geschwistern, weshalb ein Familienleben des BF2 iSd Art. 8 EMRK mit diesen vorliegt. Der BF3 lebt im gemeinsamen Haushalt mit seiner Lebensgefährtin, weshalb ein Familienleben des BF3 iSd Art. 8 EMRK mit seiner Lebensgefährtin vorliegt.

3.8.2. Geht man im vorliegenden Fall von einem bestehenden Privat- und Familienleben der BF1-BF3 in Österreich aus, fällt die gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotene Abwägung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes zu Gunsten der BF1-BF2, jedoch zu Lasten des BF3 aus und stellt die Rückkehrentscheidung gegen die BF1-BF2 einen unzulässigen Eingriff, hinsichtlich des BF3 jedoch keinen unzulässigen Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK dar:

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8. 4. 2008, Nnyanzi gg. das Vereinigte Königreich, Appl. 21.878/06; 4. 10. 2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9. 10. 2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16. 6. 2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen stellen regelmäßig einen Eingriff in das Privatleben dar, weil sie die betroffene Person aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt es von den Umständen des jeweiligen Falles ab, ob es angebracht ist, sich eher auf den Gesichtspunkt des Familienlebens zu konzentrieren als auf den des Privatlebens (EGMR 23.04.2015, 38030/12, Khan, Rn. 38; 05.07.2005, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 59). Die Prüfung am Maßstab des Privatlebens ist jedoch weniger streng als jene am Maßstab des Familienlebens, weshalb letztere in der Praxis im Vordergrund steht (Ewald Wiederin, Schutz der Privatsphäre, in: Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer [Hg.], Handbuch der Grundrechte VII/1, 2. Aufl., § 10, Rn. 52).

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554).

In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/10/0479, davon aus, dass „der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren […] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte“. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichthof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. VwGH vom 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 ua. mwH).

Private Interessen am Verbleib im Bundesgebiet können facettenreich sein. Tendenziell ist eine (regelmäßige) Erwerbstätigkeit und vor allem die damit verbundene Selbsterhaltungsfähigkeit ein wichtiger Aspekt. Im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. 4. 2006, 2005/18/0560, dürfte mitentscheidend gewesen sein, dass der Beschwerdeführer seit fast fünf Jahren ununterbrochen, noch dazu beim selben Dienstgeber, legal beschäftigt war. Für die wirtschaftliche Integration ist nicht maßgeblich, ob es sich um eine qualifizierte Tätigkeit handelt. Hingegen erachtet der Verwaltungsgerichtshof die Integration als stark gemindert, wenn Unterstützungszahlungen karitativer Einrichtungen oder bloße Gelegenheitsarbeiten den Unterhalt gewährleisten oder erst gegen Ende des mehrjährigen Aufenthalts die Tätigkeit als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter ins Treffen geführt werden kann und bis dahin Sozialhilfe bezogen wurde (vgl. VwGH vom 11. 10. 2005, 2002/21/0124; VwGH vom 22.6.2006, 2006/21/0109; VwGH vom 5.7.2005, 2004/21/0124 u.a.).

Bei der Beurteilung der Frage, ob der BF1 in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da - abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (Vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541).

Art. 8 EMRK schützt unter anderem sowohl die individuelle Selbstbestimmung und persönliche Identität, als auch die freie Gestaltung der Lebensführung. Zum geschützten Privatleben gehört das Netzwerk der gewachsenen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen (EGMR vom 09.10.2003, 48321/99, Slivenko gg. Lettland). So können persönliche Beziehungen, die nicht unter das Familienleben fallen, sehr wohl als „Privatleben“ relevant sein.

3.8.2.1. Insbesondere ins Gewicht zu den Gunsten der BF1-BF3 fällt ihr langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet, nämlich seit ihrer Asylantragstellung im September (BF3) bzw. November (BF1) 2005 bzw. im August 2011 (BF2), sohin seit etwa 17 ½ (BF1, BF3) bzw. über 11 ½ (BF2) Jahren. Seit Oktober 2005 (BF3), seit Dezember 2006 (BF1) und seit Juni 2012 (BF2) verfügen die BF1-BF3 über den Status von Asylberechtigten im Bundesgebiet, weshalb diese seit diesem Zeitpunkt ununterbrochen als Asylberechtigter im Bundesgebiet aufhältig sind und ihr Privat- und Familienleben auch nicht zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in welchem sich diese ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten. Darüber hinaus leben die Eltern des BF1 und des BF3 (die Großeltern des BF2), die 4 mj. Kinder des BF1 (die Geschwister des BF2), die Lebensgefährtin des BF1, die Lebensgefährtin des BF2, die Lebensgefährtin des BF3 und die Geschwister des BF1 und des BF3 (ein Onkel und eine Tante des BF2), sowie die Stiefmutter des BF2, mit welcher der BF2 auch im gemeinsamen Haushalt lebt, im Bundesgebiet. Die BF2-BF3 sprechen sehr gut Deutsch, was vor dem Hintergrund ihres langjährigen Aufenthalts jedoch noch nicht als außergewöhnlich zu qualifizieren ist. Der BF1 verfügt über zumindest einfache Deutschkenntnisse.

Zu Gunsten des BF3 wirkt sich im Übrigen aus, dass er zuletzt von 21.06.2022 bis 07.03.2023 erwerbstätig und damit selbsterhaltungsfähig war. Er hat im Bundesgebiet seinen Pflichtschulabschluss erworben, den Staplerführerschein gemacht und von Jänner bis Februar 2020 ein Arbeitstraining von XXXX besucht. Außerdem hat er eine Drogentherapie im Rahmen einer gesundheitsbezogenen Maßnahme absolviert und zuletzt mehrfach Termine bei der „ XXXX “ wahrgenommen.

3.8.2.2. Zu Lasten des BF1 wirkt sich jedoch aus, dass dieser in Österreich insgesamt nur wenige Monate erwerbstätig war und überwiegend Sozialleistungen bezogen hat. Der BF1 war in den letzten 8 Jahren zu keinem Zeitpunkt erwerbstätig und war insgesamt - bis auf wenige Monate - im Bundesgebiet nie selbsterhaltungsfähig. Auch aktuell liegt keine Selbsterhaltungsfähigkeit vor, wenngleich nicht verkannt wird, dass er sich derzeit in einer Vorbereitungsmaßnahme des AMS befindet.

Der BF2 hat im Bundesgebiet die Volks- und die Sonderschule besucht und keinen Pflichtschulabschluss erworben. Zu seinen Lasten wirkt sich aus, dass er im Bundesgebiet (noch) keinen Beruf erlernt hat und abgesehen von einer geringfügigen Beschäftigung von 6 Tagen im Bundesgebiet nicht erwerbstätig und nicht selbsterhaltungsfähig war. Vor dem Hintergrund des noch jungen Alters des BF2 von 19 Jahren ist ihm dies nur bedingt vorwerfbar. Dennoch hätte der BF2 die Möglichkeit gehabt ab einem Alter von 15 Jahren einen Beruf zu erlernen oder seinen Pflichtschulabschluss nachzuholen.

Zu Lasten des BF3 wirkt sich aus, dass dieser in Österreich bis dato ebenfalls erst wenige Monate erwerbstätig war, wenngleich dieser zuletzt von 21.06.2022 bis 07.03.2023 durchgehend erwerbstätig war. In den letzten 8 Jahren hat der BF3 jedoch ebenfalls insgesamt etwa 3 Jahre lang Sozialleistungen bezogen und war lediglich (abgesehen von seiner letzten Beschäftigung ab Juni 2022 bis März 2023) 2 ½ Monate als Arbeiter angestellt, sowie 1 Monat geringfügig beschäftigt.

Gerade vor dem Hintergrund ihres langjährigen Aufenthalts, hätten der BF1 und der BF3 jede Möglichkeit gehabt, sich beruflich weiterzuentwickeln und zu integrieren. Der BF1 hat diese lange Zeit für seine berufliche Integration in keinster Weise genutzt, der BF3 hat sie nicht hinreichend genutzt, wenngleich der BF3 zuletzt einer mehrmonatigen Beschäftigung nachgegangen ist. Sonstige Aus-, Fort- oder Weiterbildungsbemühungen der BF1-BF3 im Bundesgebiet wurden beschwerdeseitig nicht behauptet. Auch sind die BF1-BF3 in Österreich in keinem Verein oder einer sonstigen Organisation Mitglied.

Auch hat der BF1 die Zeit im Bundesgebiet nicht für seine sprachliche Integration genutzt, er hat keine Sprachprüfungen in Österreich abgelegt und verfügt über lediglich einfache Deutschkenntnisse.

3.8.2.3. Besonders ins Gewicht zu den Lasten der BF1-BF3 fallen ihre rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen:

Der BF1 wurde im Bundesgebiet 2 Mal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt, wobei er bei seiner ersten Verurteilung wegen schweren Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt wurde. Im Rahmen seiner zweiten Verurteilung wurde der BF1 wegen gefährlicher Drohung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten, welche ebenfalls unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Ebenfalls zu seinen Lasten ins Gewicht fällt der Umstand, dass der BF1 zeitweise ohne Meldung, daher untergetaucht im Bundesgebiet gelebt hat und teilweise über Obdachlosenmeldungen verfügte.

Der BF2 wurde im Bundesgebiet ebenfalls 2 Mal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt. Im Rahmen seiner ersten Verurteilung wurde der BF2 als Jugendlicher wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, welche unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Im Rahmen seiner zweiten Verurteilung wurde der BF2 als junger Erwachsener wegen Raubes und der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt, wobei davon 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden. Damit betrafen beide Verurteilungen des BF2 das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit. Der letzten Verurteilung lag zugrunde, dass der BF2 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit 3 Mittätern am 10.08.2022 einem Dritten dessen Smartphone, dessen Kopfhörer, dessen Bauchtasche samt Geldbörse, dessen Pullover und insgesamt EUR 580,- an Bargeld abnötigte und dessen Hose abzunötigen versuchte, indem zunächst ein Treffen mit dem Dritten vereinbart wurde und der BF2 diesen aufforderte seine Wertsachen herauszugeben, ansonsten werde er ihn zusammenschlagen, während die übrigen Mittäter das Opfer umringten, sodass dieses sein Smartphone, seine Kopfhörer und seine Bauchtasche herausgab. Einer der Mittäter versetzte dem Dritten sodann einen Faustschlag und forderte ihn ein weiterer Mittäter das Opfer auf, den Pullover herzugeben, widrigenfalls das Opfer neuerlich geschlagen würde, sodass der Dritte auch den Pullover übergab. Anschließend forderte ein weiterer Mittäter die Übergabe der Hose des Opfers, was dieses verweigerte und gingen alle in der Folge über Aufforderung des BF2 in eine Bankfiliale, wobei einer der Täter das Opfer am Hemd festhielt, zwei der Täter das Opfer in das Bankfoyer begleiteten und durch die weitere Drohung dieses sonst zusammenzuschlagen, zur Preisgabe seines PIN-Codes veranlassten und EUR 570,- von seinem Konto behoben, sowie versuchten weiteres Bargeld zu beheben, wobei es aufgrund des erreichten Tageslimits beim Versuch blieb.

Die teilweise fehlenden Meldungen des BF2 im Bundesgebiet und die Obdachlosenmeldungen können diesem nicht zu Lasten ausgelegt werden, weil er sich während dieser Zeit in einem Alter unter 14 Jahren befunden hat.

Der BF3 wurde in Österreich insgesamt 11 Mal strafgerichtlich verurteilt, wobei es sich bei 3 Verurteilungen um eine Zusatzstrafe handelte. Der BF3 beging im Bundesgebiet überwiegend Gewaltdelikte, sowie Delikte gegen fremdes Vermögen und ist insbesondere hervorzuheben, dass er insgesamt bereits zu unbedingten Freiheitsstrafen von etwa 5 ½ Jahren verurteilt wurde und dies, obwohl er bei seiner letzten Verurteilung gerade einmal 28 Jahre alt war. Der BF3 war insgesamt über einen Zeitraum von 14 ½ Jahren massiv straffällig (Datum der ersten Tat 22.11.2007, Datum der letzten Tat 04.02.2022) und wurde er erstmals im Alter von nur 14 Jahren wegen Raubes verurteilt. Es folgten weitere Verurteilungen wegen gewerbsmäßigen Diebstahls, ebenfalls als Jugendlicher, im Rahmen derer der BF3 erstmals im Alter von erst 16 Jahren erstmals das Haftübel verspürte. Unbeeindruckt von dieser Verurteilung wurde der BF3 nur etwa 3 Monate später neuerlich straffällig und wegen unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen verurteilt. Es folgten weitere Verurteilungen als Jugendlicher wegen Einbruchsdiebstahl und schwerer Körperverletzung, wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Beamten und neuerlich Körperverletzung. Trotz bereits verbüßter Haftstrafen wurde der BF3 am 28.12.2014 – im Alter von nur 21 Jahren – völlig unbeeindruckt von der Verspürung des Haftübels, der Setzung und Verlängerung von Probezeiten, der Anordnung von Bewährungshilfe und der bedingten Entlassung neuerlich straffällig. Dabei wurde der BF3 (erstmals als Erwachsener) wegen Diebstahls durch Einbruch, unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen und des Gebrauchs fremder zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der BF3 gemeinsam mit Mittätern (im Dezember 2014) Verfügungsberechtigten eines Unternehmens durch Aufbrechen der Eingangstüre einen Laptop der Marke XXXX in einem nicht mehr festzustellenden Wert, weggenommen hat und Verfügungsberechtigten eines Unternehmens durch Aufbrechen der Eingangstüre einen Laptop der Marke XXXX in einem nicht mehr festzustellenden Wert und Verfügungsberechtigten eines weiteren Unternehmens durch Aufbrechen der Eingangstür und einer Handkasse, einen Tresor, sowie Bargeld in einem nicht mehr festzustellenden Gesamtwert wegzunehmen versucht hat. Darüber hinaus hat der BF3 im November 2014 einen PKW ohne Einwilligung des Berechtigten in Betrieb genommen und sich dadurch, dass er sich bei einer Verkehrskontrolle mit dem Führerschein des Berechtigten ausgewiesen hat, einen amtlichen Ausweis, der für jemand anderen ausgestellt war, für sich selbst im Rechtsverkehr gebraucht hat. Im Rahmen dieser Verurteilung wurde dem BF3 die Rechtswohltat des Strafaufschubs nach § 39 Abs. 1 SMG gewährt, wobei er sich einer gesundheitsbezogenen Maßnahme auch unterzogen hat. Dennoch hielt die Absolvierung einer solchen den BF3 nicht davon ab, nur 6 Monate nach Entlassung aus der stationären Therapie, am 18.04.2016 neuerlich Straftaten zu begehen. Dieser nunmehr 8. Verurteilung des BF3 im Bundesgebiet, im Rahmen derer er wegen schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde, lag zugrunde, dass er (im Jahr 2016 in mehreren Tathandlungen) in einem EUR 5.000,- übersteigenden Wert durch Einbruch in ein Gebäude fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen hat, sich unrechtmäßig zu bereichern in der Absicht sich durch die wiederkehrende Begehung längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges Einkommen zu verschaffen, indem der BF3 mit zwei weiteren Mittätern Verfügungsberechtigten eines Wettbüros EUR 4.000,- Bargeld, Verfügungsberechtigten eines weiteren Wettbüros EUR 400,- Bargeld und Verfügungsberechtigten eines Cafés EUR 800,- Bargeld wegnahm. Aus diesem Grund befand sich der BF3 von 21.06.2016 bis 19.06.2019 zunächst in Untersuchungs- dann in Strafhaft. Nach seiner Entlassung folgten 3 weitere Verurteilungen des BF3. Zunächst wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz, dann 2 Mal wegen Sachbeschädigung.

Der BF hat mit der Begehung dieser Straftaten die Trennung von seinen im Bundesgebiet aufhältigen Familienangehörigen bewusst in Kauf genommen und entsteht der Eindruck einer völligen Resistenz gegenüber jeder Reaktion des Rechtsstaats.

Aktenkundig sind auch zwei Vorfälle im Jahr 2022 im Zusammenhaft mit Suchtgift, nämlich zunächst im Februar 2022, bei welchem der BF3 positiv auf THC getestet wurde und Anfang Mai 2022, bei welchem beim BF3 ein Päckchen mit 7,1 Gramm Cannibiskraut gefunden wurde. Ebenfalls zu seinen Lasten ins Gewicht fällt der Umstand, dass der BF3 vielfach ohne Meldung, daher untergetaucht im Bundesgebiet gelebt hat, zeitweise über Obdachlosenmeldungen verfügte und mehrere Verwaltungsübertretungen im Bundesgebiet begangen hat. Unter anderem lieferte sich der BF3 eine Verfolgungsjagd mit der Polizei, während welcher er unzählige Verwaltungsübertretungen beging.

3.8.2.4. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich – nach dem Vollzug einer Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat; für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat (VwGH vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0060-5 Rz 11).

Der BF1 befand sich nie in Haft und beging er die letzte Tat am 07.10.2019, weshalb nunmehr, bei ausschließlich bedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafen, ein Wohlverhaltenszeitraum von 3 ½ Jahren vorliegt, der vor dem Hintergrund der begangenen Taten und verhängten Strafen schon ein großer ins Gewicht fallender Zeitraum ist.

Der BF2 befand sich von 20.09.2022 bis 02.03.2023 in Haft, weshalb sich der Wohlverhaltenszeitraum nunmehr als zu kurz erweist.

Der BF3 befand sich von 10.06.2011 bis 17.08.2012, von 17.07.2013 bis 27.08.2013, von 29.12.2014 bis 15.04.2014 und von 21.06.2016 bis 19.06.2019 in Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Der BF3 hat sich jedoch seit seiner Haftentlassung nicht wohlverhalten, sondern wurde neuerlich straffällig und 3 Mal im Bundesgebiet verurteilt, wobei der BF3 zuletzt am 04.02.2022 eine Sachbeschädigung beging, für welche er im Juli 2022 verurteilt wurde. Dies stellt die letzte Verurteilung des BF3 im Bundesgebiet dar. Dennoch wurde der BF3 neuerlich zuletzt am 02.05.2022 mit 7,1 Gramm Cannabiskraut betreten. Der Wohlverhaltenszeitraum des BF3 von nunmehr etwa 11 Monaten erweist sich vor dem Hintergrund der zahlreichen vom BF3 begangenen Straftaten über einen Zeitraum von 14 ½ Jahren und der mehrfach verhängten unbedingten Freiheitsstrafen von erheblichem Ausmaß, als noch kein ins Gewicht fallender Zeitraum.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden zwar regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und es kann grundsätzlich nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden (vgl etwa VwGH vom 23.2.2017, Ra 2016/21/0340). Was den gegenständlichen Fall betrifft, ist einerseits festzuhalten, dass diese Rechtsprechungslinie nur Konstellationen betroffen hat, in denen der Inlandsaufenthalt bereits über zehn Jahre dauerte und sich aus dem Verhalten des Fremden – abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich – sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab (VwGH vom 25.4.2014, Ro 2014/21/0054; VwGH vom 10.11.2015, Ro 2015/19/0001; VwGH vom 31.8.2017, Ra 2017/21/0120; VwGH vom 5.10.2017, Ra 2017/21/0174; VwGH vom 10.9.2018, Ra 2018/19/0169-10).

Außerdem ist festzuhalten, dass die Judikatur des VwGH, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist, nur für die Frage maßgeblich ist, ob einem unrechtmäßig aufhältigen Fremden ein aus Art. 8 MRK ableitbares Aufenthaltsrecht zuzugestehen ist, und ist sie daher in Fällen, in dem es um eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen dessen Straffälligkeit geht, schon von vornherein nicht einschlägig. Außerdem kommt diese Judikaturlinie, die sich in der Regel nur auf strafrechtlich unbescholtene Fremde bezieht, im Fall der Straffälligkeit eines Fremden nicht zum Tragen (vgl. VwGH vom 21.12.2021, Ra 2021/21/0294). Diese Judikaturlinie ist auf die BF1-BF3 daher nicht anzuwenden.

3.8.2.5. Hinsichtlich des „Aufenthaltsverfestigungstatbestands“ nach § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 ist Folgendes festzuhalten:

§ 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG lautet: Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor.

Zur Aufhebung des § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 durch das FrÄG 2018 hielt der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien (RV 189 BlgNR 26. GP 27 f) ausdrücklich fest, dass sich § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 "lediglich als Konkretisierung bzw. Klarstellung dessen, was sich unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Judikatur ohnehin bereits aus Abs. 1 iVm Abs. 2 ergibt", erweist. Ungeachtet des Außerkrafttretens des § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 sind die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 weiter beachtlich (vgl. VwGH vom 16.05.2019, Ra 2019/21/0121; VwGH vom 25.09.2018, Ra 2018/21/0152), ohne dass es aber einer ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 bedarf (siehe VwGH vom 25.09.2018, Ra 2018/21/0152). Es ist also weiterhin darauf Bedacht zu nehmen, dass für die Fälle des bisherigen § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 allgemein unterstellt wurde, dass die Interessenabwägung - trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung - regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen hat und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in diesen Konstellationen grundsätzlich nicht erlassen werden darf. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo von "gravierender Straffälligkeit" bzw. "schwerer Straffälligkeit" gesprochen wird). Dazu zählen jedenfalls die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach § 53 Abs. 3 Z 6, 7 und 8 FrPolG 2005, aber auch andere Formen gravierender Straffälligkeit (vgl. VwGH vom 24.10.2019, Ra 2019/21/0232, betreffend Vergewaltigung; VwGH vom 24.10.2019, Ra 2019/21/0207, betreffend grenzüberschreitenden Kokainschmuggel und 19.12.2019, Ra 2019/21/0238).

"Gemäß ihrem Einleitungssatz bezieht sich die Bestimmung des § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 idF FrÄG 2015 lediglich auf Drittstaatsangehörige, also auf Fremde, die nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind (§ 2 Abs. 1 Z 20b AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 2 BFA-VG 2014). Demzufolge wird dann auch als einzige aufenthaltsbeendende Maßnahme, die in den Fällen der Z 1 und 2 nicht erlassen werden darf, eine Rückkehrentscheidung angesprochen. Dessen ungeachtet, kann es aber zur Vermeidung von sonst nicht auflösbaren Wertungswidersprüchen nicht zweifelhaft sein, dass § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 über seinen Wortlaut hinaus - entsprechend modifiziert verstanden - auch jenen Personenkreis umfasst, gegen den eine Ausweisung nach § 66 FrPolG 2005 oder ein Aufenthaltsverbot nach § 67 FrPolG 2005 in Betracht käme (also EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige; vgl. E 9. November 2011, 2011/22/0264). § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 normiert demnach allgemein, wann trotz einer von einem Fremden ausgehenden Gefährdung eine aufenthaltsbeendende Maßnahme keinesfalls erlassen werden darf. In der Fassung des FrÄG 2015 stellt diese Bestimmung den - vorläufigen - Schlusspunkt einer Entwicklung dar, die durch den Wechsel zwischen absolut und relativ gefassten Aufenthaltsverfestigungstatbeständen (relativ in dem Sinn, dass es ergänzend noch darauf ankommt, dass dem Fremden keine spezifischen Gefährdungen anzulasten sind) gekennzeichnet ist (vgl. VwGH vom 30.06.2016, Ra 2016/21/0050).

3.8.2.5.1. Der BF1 hält sich seit seiner Asylantragstellung am 13.11.2005 durchgehend rechtmäßig – zunächst als Asylwerber, dann als Asylberechtigter – in Österreich auf. Vor seiner ersten Verurteilung im Bundesgebiet am 27.04.2015 war der BF1 daher noch nicht mehr als 10 Jahre rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich aufhältig, weshalb dem BF1 die österreichische Staatsbürgerschaft vor seiner Verurteilung im Bundesgebiet noch nicht verliehen hätte werden können.

3.8.2.5.2. Der BF2 hält sich seit seiner Asylantragstellung am 18.08.2011 durchgehend rechtmäßig – zunächst als Asylwerber, dann als Asylberechtigter – in Österreich auf. Vor seiner ersten Verurteilung im Bundesgebiet am 02.03.2022 war der BF2 daher bereits mehr als 10 Jahre rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich aufhältig und kam ihm der Status des Asylberechtigten zu, weshalb dem BF2 ab 18.08.2011 (bis zu seiner ersten Verurteilung) die österreichische Staatsbürgerschaft nach § 10 Abs. 1 iVm § 11a Abs. 7 StbG verliehen hätte werden können und sohin der Tatbestand nach § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG idF. BGBl. I Nr. 70/2015 als gegeben anzusehen ist.

3.8.2.5.3. Der BF3 hält sich seit seiner Asylantragstellung am 20.09.2005 durchgehend rechtmäßig – zunächst als Asylwerber, dann als Asylberechtigter – in Österreich auf. Vor seiner ersten Verurteilung im Bundesgebiet am 26.01.2009 war der BF3 daher noch nicht mehr als 10 Jahre rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich aufhältig, weshalb dem BF3 die österreichische Staatsbürgerschaft vor seiner Verurteilung im Bundesgebiet noch nicht verliehen hätte werden können.

3.8.2.6. Eine Aufenthaltsbeendigung in Bezug auf den BF2 erweist sich gegenständlich sohin nur dann dem Grunde nach als zulässig, wenn eine außergewöhnliche Gefährdung iSd der oben zitierten Judikatur vorliegt.

Vor dem Hintergrund der Judikatur, der vom BF2 begangenen Straftaten, sowie der verhängten Freiheitsstrafen, ist nach Ansicht des erkennenden Gerichts (derzeit) nicht davon auszugehen, dass eine solch außergewöhnliche Gefährdung durch den BF2 vorliegt, um trotz Erfüllung des Aufenthaltsverfestigungstatbestands die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zu rechtfertigen. Der BF2 beging weder Straftaten des § 53 Abs. 3 Z 6, 7 und 8 FPG, noch andere gravierende Straftaten, zumal er zunächst als Jugendlicher erstmals wegen Raubes zu einer 6-monatigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde und anschließend als junger Erwachsener zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der BF2 machte in der mündlichen Verhandlung auf den erkennenden Richter auch den Eindruck, als würde er seine Straftaten aufrichtig bereuen, weshalb von der neuerlichen Begehung einer Straftat (derzeit) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht auszugehen ist. Da nach Ansicht des erkennenden Gerichts (derzeit) keine gravierende Straffälligkeit des BF2 im Bundesgebiet vorliegt, ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen seine Person zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt nicht zulässig.

3.8.2.7. Wenngleich der BF1 den Aufenthaltsverfestigungstatbestand nicht erfüllt, ist dieser der Erfüllung dessen schon (zeitlich) sehr nahegekommen. Im Übrigen sind die 4 mj. im Bundesgebiet lebenden Kinder des BF1 12, 9, 7 und 2 Jahre alt, wobei das Familienleben des BF1 mit seinen mj. Kindern besonders bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, zumal bei der Beurteilung der Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auch auf die wechselseitigen Beziehungen eines Elternteils und seines Kindes, sowie auf die im Entscheidungszeitpunkt konkret absehbaren zukünftigen Entwicklungen Bedacht zu nehmen ist (vgl. VwGH vom 24.09.2019, Ra 2019/20/0420).

Die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung des BF1 auf das Kindeswohl stellt einen essentiellen Gesichtspunkt der gegenständlichen Entscheidung dar (vgl VfSlg 19.776/2013; VfGH vom 27.2.2018, E3775/2017 sowie VfSlg 19.362/2011; VfGH vom 25.2.2013, U2241/12; vom 19.6.2015, E426/2015; vom 9.6.2016, E2617/2015; vom 12.10.2016, E1349/2016; vom 14.3.2018, E3964/2017; vom 11.6.2018, E343/2018, E345/2018; vom 11.6.2018, E435/2018).

Zweifellos haben die Kinder des BF1 ein berechtigtes Interesse an der Fortführung des Familienlebens, zumal er seine Kinder regelmäßig sieht, diese jedes Wochenende bei ihm übernachten und der BF1 auch täglich mit diesen telefoniert. Der BF1 bezahlt Alimente und nimmt, sowohl seine Pflichten, als auch seine Verantwortung als Vater wahr, wie auch von seiner Ex-Lebensgefährtin, der Mutter der Kinder, bestätigt wurde. Insbesondere soll es auch den minderjährigen Kindern des BF ermöglicht werden, die Beziehung zu ihrem Vater zu sichern.

Nach Rechtsprechung des VfGH ist es lebensfremd anzunehmen, dass der Kontakt zwischen Kleinkindern und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könnte (vgl dazu VfGH vom 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018). Ein solches Kontakthalten wäre daher mit dem jüngsten Kind des BF1 mit Hürden verbunden.

Dem bestehenden Interesse des BF1 an einem Verbleib in Österreich (bzw. Europa) stehen öffentliche Interessen gegenüber. Ihm steht das öffentliche Interesse daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden. Im Fall des BF1, der für seine sehr lange mehr als 17-jährige Aufenthaltsdauer mäßig nennenswerte Integrationsschritte in Österreich vorzuweisen hat, kommt hinzu, dass er 2 strafgerichtliche Verurteilungen aufzuweisen hat. Wie bereits ausgeführt, wurde der BF1 zu lediglich bedingt ausgesprochenen (kurzen) Freiheitsstrafen von einmal 8 und einmal 4 Monaten verurteilt und kommt auch ein bereits stark ins Gewicht fallender Wohlverhaltenszeitraum vor. In einer (oben dargelegten) umfangreichen Gesamtabwägung, vor allem vor dem Hintergrund des sehr langen Aufenthalts in Österreich, der zeitlichen Nähe zur Erfüllung des Aufenthaltsverfestigungstatbestands, des Wohlverhaltenszeitraums seit der letzten Tatbegehung und vor allem des Wohls seiner 4 mj. Kinder im Bundesgebiet, kommt das erkennende Gericht, trotz der zweimaligen strafgerichtlichen Verurteilung des BF1 im Bundesgebiet, zu einem Überwiegen der Interessen des BF1 am Verbleib in Österreich. Nach Ansicht des erkennenden Gerichts reichen die vom BF1 gesetzten strafbaren Handlungen im Entscheidungszeitpunkt nicht aus, um die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zu rechtfertigen.

Vor dem Hintergrund all dieser Erwägungen überwiegen nach Ansicht des Gerichts - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt - die aus den erwähnten Umständen in ihrer Gesamtheit erwachsenden privaten und familiären Interessen der BF1-BF2 am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet und an der Fortführung ihres bestehenden Privat,- und Familienlebens in Österreich, gegenüber den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen die BF1-BF2 würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass es der belangten Behörde bei einer allfälligen neuerlichen strafgerichtlichen Verurteilung der BF1-BF2 im Bundesgebiet selbstverständlich nicht verwehrt ist, die Interessenabwägung erneut vorzunehmen und zu einem anderen Ergebnis zu kommen, welche die Erlassung einer jeweiligen Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.

3.8.2.8. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die drohende Verletzung des Privat,- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind. Die Rückkehrentscheidung würde daher unverhältnismäßig in das Privat,- und Familienleben der Beschwerdeführer (BF1-BF2) eingreifen und war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG auszusprechen, dass die Rückkehrentscheidungen gegen die BF1-BF2 auf Dauer unzulässig sind.

3.8.3. Betreffend den BF3 ist weiter auszuführen:

Wie bereits ausgeführt, besteht für den BF3 noch kein ins Gewicht fallender Wohlverhaltenszeitraum. Wenngleich die Beschwerdeseite ausführt, dass bereits im Jahr 2017 ein Aberkennungsverfahren gegen den BF3 eingeleitet worden sei, welches trotz bereits zahlreicher erfolgter Verurteilungen eingestellt worden sei und der BF3 seit diesem Zeitpunkt lediglich Bagatelldelikte begangen habe, folgt das erkennende Gericht dieser Argumentation nicht. Zutreffend ist, dass die belangte Behörde das damalige Aberkennungsverfahren gegen den BF3 eingestellt hat, weil sie zur Ansicht gelangte der Tatbestand/die Verurteilung reiche nicht aus, um einen Aberkennungstatbestand zu begründen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung war im Jahr 2017 daher nicht gegenständlich, zumal es gar nicht zu einer Aberkennung des Asylstatus gekommen ist. Zwar ist es richtig, dass der BF3 zuletzt zweimal wegen Sachbeschädigung, sowie davor wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz verurteilt wurde und lediglich nur mehr bedingte Freiheitsstrafen verhängt wurden, doch waren auch diese Verurteilungen Ausdruck der Gewaltbereitschaft des BF3. So trat der BF3 am 04.02.2022 auf zwei PKW ein und beschädigte am 03.11.2021 im betrunkenen Zustand die Glastüre (Drehtüre) eines bekannten Hotels, indem der BF3 dieser mit seiner Schulter einen Stoß versetzte, nachdem ein Hotelangestellter dem BF3 den Zugang zum Hotel verweigerte. Beide dieser Taten sind neuerlich Ausdruck der Gewaltbereitschaft des BF3 und des Umstandes, dass dieser scheinbar seine Aggressionen nicht in kontrollierte Bahnen zu lenken im Stande ist. Auch ist darauf hinzuweisen, dass der BF3 bei Begehung der letzten Straftat am 04.02.2022 im Zuge dieser Amtshandlung bei einem freiwilligen Drogenschnelltest positiv auf THC getestet wurde. Außerdem wurden beim BF3 am 02.05.2022 neuerlich 7,1 Gramm Cannabiskraut gefunden, weshalb an seiner Abstandnahme vom Suchtmittelkonsum ebenfalls erhebliche Zweifel aufkommen und neuerlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit kriminellen Taten im berauschten Zustand zu rechnen ist, zumal der BF3 die stationäre Therapie im XXXX , wo er sich von 14.04.2022 bis 06.05.2022 aufgehalten hat, offensichtlich abgebrochen hat. Der BF3 konnte auch in der Vergangenheit trotz erfolgreicher Absolvierung einer stationären Therapie bei „ XXXX “ im Jahr 2016 nicht davon abgehalten werden erneut straffällig zu werden und hat sich der Rechtswohltat des Strafaufschubs im Rahmen der Absolvierung einer gesundheitsbezogenen Maßnahme als nicht würdig erwiesen.

Sofern nunmehr der Gesinnungswandel des BF3 aufgrund der Beziehung mit seiner Lebensgefährtin beschwerdeseitig argumentiert wurde, ist ein solcher nach Ansicht des erkennenden Gerichts bis dato nicht nachhaltig zu erkennen. Der BF3 und seine Lebensgefährtin kennen sich nach eigenen Angaben seit Sommer 2021 und wurden kurz darauf ein Paar. Dennoch konnte der BF3 auch durch seine Lebensgefährtin nicht davon abgehalten werden erneut zwei Mal das Delikt der Sachbeschädigung zu begehen. Das erkennende Gericht verkennt dabei nicht, dass der BF3 5 Mal Termine bei der XXXX teilgenommen hat und seitdem keinerlei Gewaltdelikte mehr begangenen hat. Darüber hinaus ging der BF3 zuletzt von Juni 2022 bis März 2023 einer Erwerbstätigkeit nach und schien sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken zu versuchen. Dieser Zeitraum von etwa einem Jahr erweist sich jedoch, wie bereits ausgeführt, als zu gering, um vor dem Hintergrund der über einen Zeitraum von mehr als 14 Jahren begangenen strafbaren Handlungen des BF3 einen innerlich wirklich nachhaltigen Gesinnungswandel anzunehmen.

Ein weiterer Aufenthalt des BF3 würde demnach mit einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einhergehen, zumal eine positive Zukunftsprognose in seinem Fall aufgrund der kontinuierlichen Missachtung von Rechtsnormen im Bundesgebiet nicht erkannt werden kann (vgl. dazu VwGH vom 18.6.2013, 2013/18/0066 und VwGH vom 20.12.2018, Ra 2018/21/0224)

3.8.4. Zutreffend ist, dass sich der BF3 seit dem Jahr 2005 nicht mehr in der Russischen Föderation aufgehalten hat, dennoch hat er zumindest 12 Jahre seines Lebens dort verbracht, im Rahmen derer er ebendort aufgewachsen ist und für etwa 2 Jahre die Schule besucht hat. Darüber hinaus ist der BF3 in Österreich weiterhin in einem tschetschenisch geprägten Familienverband aufgewachsen, spricht die tschetschenische Sprache und hat zumindest anfängliche Russischkenntnisse, weshalb er mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates grundsätzlich hinreichend vertraut ist. Nicht verkannt wird, dass der BF3 überwiegend, nämlich über 17 Jahre seines Lebens, im Bundesgebiet aufgewachsen ist. Der BF3 verfügt jedoch über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat und steht es dem BF3 frei den Kontakt zu diesen über seine Eltern wieder zu reaktivieren und aufzubauen. Es ist dennoch davon auszugehen, dass der gesunde, junge und arbeitsfähige BF3 in der Lage sein wird, im Herkunftsstaat seinen Lebensunterhalt, allenfalls durch Hilfstätigkeiten oder Gelegenheitsjobs, selbst zu verdienen. Überdies kann er sich die in Österreich erworbenen Fähigkeiten, seine hinreichende Arbeitserfahrung und seine guten Deutschkenntnisse am tschetschenischen bzw. russischen Arbeitsmarkt zu Nutze machen. Auch ist nicht davon auszugehen, dass der BF3 bei Verbringung in die Russische Föderation mit unzumutbaren Schwierigkeiten konfrontiert wäre bzw. ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht davon auszugehen, dass er bei Rückkehr in den Herkunftsstaat, in dem die Grundversorgung gesichert und auch Rückkehrern Sozialbeihilfen zukommen, in eine aussichtlose Lage geraten wird.

3.8.5. Dem bestehenden Interesse des BF3 an einem Verbleib in Österreich (bzw. Europa) stehen öffentliche Interessen gegenüber. Ihm steht das öffentliche Interesse daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden. Im Fall des BF1, der für seine sehr lange über 17-jährige Aufenthaltsdauer mäßig nennenswerte Integrationsschritte in Österreich vorzuweisen hat, kommt hinzu, dass er 11 strafgerichtliche Verurteilungen aufzuweisen hat, wobei es sich überwiegend um Gewaltdelikte und Delikte gegen fremdes Vermögen handelt. Dadurch hat der BF3 mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass er nicht gewillt ist die in Österreich geltenden Gesetze zu achten. Nicht verkannt wird, dass die gesamte Kernfamilie des BF3 im Bundesgebiet lebt, ebenso wie seine Lebensgefährtin, doch verfügen sämtliche Familienmitglieder des BF3, mit Ausnahme seines Bruders, über den Aufenthaltsstatus „Daueraufenthalt-EU“, weshalb diese den BF3 im Herkunftsstaat besuchen könnten. Darüber hinaus kann der Kontakt mit seiner Lebensgefährtin, welche österreichische Staatsbürgerin ist, durch Besuche in der Russischen Föderation oder Treffen in Drittstaaten aufrechterhalten werden. Inzwischen kann der Kontakt mit dieser und der gesamten Kernfamilie des BF3, im Wege moderner Telekommunikation aufrechterhalten werden. Im Übrigen ist der Bruder des BF3 ebenfalls unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig, weshalb der BF3 gemeinsam mit diesem in den Herkunftsstaat zurückkehren könnte. Es sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, wonach eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang auch, dass es dem BF3 bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG nicht verwehrt ist, wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (so auch VfSlg. 19.086/2010 unter Hinweis auf Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 861).

Es ist unbestritten, dass aufenthaltsbeendigende Maßnahmen auch unter dem Aspekt der Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen zu sehen sind. Der bisherige Aufenthalt des BF3 beeinträchtigte gewichtige Grundinteressen der Gesellschaft – vor allem das Interesse an Ordnung und Sicherheit, dem Schutz des Eigentums, sowie der körperlichen Unversehrtheit Dritter.

Vor diesem Hintergrund gefährdet sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet die öffentliche Ordnung und Sicherheit, zumal in Anbetracht der Sucht- und Aggressionsproblematik mit weiteren strafbaren Handlungen im Bereich der Eigentumsdelikte und der Delikte gegen die körperliche Integrität gerechnet werden muss.

3.8.6. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des BF3 im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF3 am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden, die im gegenständlichen Fall den Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, rechtfertigen würden.

3.8.7. In Gesamtbetrachtung überwiegen daher in Anbetracht all dieser Umstände die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie insbesondere der Verhinderung von Straftaten, denen ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. dazu auch VwGH vom 27.08.2018, Zl. Ra 2018/18/0351-8; VwGH vom 30.08.2018, Zl. Ra 2018/21/0063-11, Rz 11), die subjektiven Interessen des BF3 am Verbleib im Inland und ist jenen daher der Vorzug zu geben.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des BF3 in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art 8 EMRK dar und ist zurecht erlassen worden.

3.9. Zur Erteilung von Aufenthaltstiteln an die BF1-BF2 und zur Behebung der Spruchpunkte V. und VI. der angefochtenen Bescheide der BF1-BF2:

3.9.1. Der BF1 hat kein Sprachzertifikat erworben, weshalb er zum Zeitpunkt der Entscheidung weder Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt, noch übt er eine Erwerbstätigkeit aus, mit der er die monatliche Geringfügigkeitsgrenze überschreitet, weshalb ihm eine „Aufenthaltsberechtigung“ nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005 zu erteilen ist.

3.9.2. Der BF2 hat die Volksschule und die Sonderschule im Bundesgebiet besucht, welche er mit Jahres- und Abschlusszeugnis der 8. Schulstufe abgeschlossen hat. Nach § 3 Abs. 4 SchOG sind Sonderschulen allgemeinbildende Pflichtschulen. Der BF2 erfüllt, da er einen mindestens 5-jährigen Pflichtschulbesuch in Österreich nachgewiesen und das Unterrichtsfach „Deutsch“ positiv abgeschlossen hat, Modul 2 der Integrationsvereinbarung nach § 10 Abs. 2 Z 5, weshalb diesem eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 zu erteilen ist.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

3.9.3. Da das Bundesverwaltungsgericht zur Auffassung gelangt ist (siehe Ausführungen zu II.3.5.), dass in casu die Rückkehrentscheidungen gegen die BF1-BF2 gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sind und ihnen Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 55 AsylG zu erteilen waren, war in Folge hinsichtlich der Spruchpunkte V. und VI. der angefochtenen Bescheide (BF1, BF2) spruchgemäß zu entscheiden und diese somit zu beheben.

3.10. Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides (BF3):

3.10.1. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

3.10.2. Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre. Das entspricht dem Tatbestand des § 8 Abs. 1 AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wurde im gegenständlichen Erkenntnis verneint.

3.10.3. Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005). Das entspricht dem Tatbestand des § 3 AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wurde im gegenständlichen Erkenntnis verneint.

3.10.4. Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

3.10.5. Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF3 in den Herkunftsstaat ist gegeben, da den dieser Entscheidung zugrundeliegenden Feststellungen zufolge keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.

3.10.6. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer von der belangten Behörde vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

3.10.7. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.

3.10.8. Da somit alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung vorliegen, war die Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. als unbegründet abzuweisen.

3.11. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides (BF3):

3.11.1. Der mit "Einreiseverbot" betitelte § 53 FPG lautet wie folgt:

"§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;

2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;

3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;

4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;

5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;

6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB);

7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder

8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt.

(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.

(5) Eine gemäß Abs 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.

(6) Einer Verurteilung nach Abs 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht."

3.11.2. Bei der für ein Einreiseverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl VwGH vom 20.10.2016, Ra 2016/21/0289; VwGH vom 24.3.2015, Ra 2014/21/0049).

3.11.3. Bei der Entscheidung betreffend die Verhängung eines Einreiseverbots ist – abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des Fremden – darauf abzustellen, wie lange die vom Fremden ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (VwGH vom 15.12.2011, 2011/21/0237).

3.11.4. Weiters ist bei der Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbots auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen (VwGH vom 30.6.2015, Ra 2015/21/0002; vgl auch Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 53 FPG, K12).

3.11.5. Schließlich darf bei der Verhängung eines Einreiseverbots das Ausschöpfen der vorgesehenen Höchstfristen nicht regelmäßig schon dann erfolgen, wenn einer der Fälle des § 53 Abs. 2 Z 1 bis 9 beziehungsweise des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FPG vorliegt (vgl etwa VwGH vom 30.6.2015, Ra 2015/21/0002 mwH).

3.11.6. Die belangte Behörde hat gegen den BF ein auf ein Jahr befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erlassen.

3.11.7. Der BF3 ist Drittstaatsangehöriger und wurde insgesamt 11 Mal im Bundesgebiet strafrechtlich verurteilt, wobei er mehrfach zu langen Freiheitsstrafen verurteilt wurde. Mit Urteil des LG XXXX vom 05.12.2016, XXXX , wurde der BF3 letztmalig zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt.

3.11.8. Das von der belangten Behörde erlassene Einreiseverbot nach § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erweist sich grundsätzlich - dem Grunde nach - als gerechtfertigt.

3.11.9. In den Fällen des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FrPolG 2005 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Z 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht (vgl. VwGH vom 24.05.2018, Ra 2017/19/0311). Unzweifelhaft ist deshalb im vorliegenden Fall die Annahme gerechtfertigt, dass der Aufenthalt des BF3 eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, womit die Grundvoraussetzung des § 53 Abs. 3 FPG gegeben ist.

3.11.10. Bei der Entscheidung über die Länge des Einreiseverbotes ist die Dauer der vom Fremden ausgehenden Gefährdung zu prognostizieren; außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (VwGH vom 15.12.2011, Zl. 2011/21/0237 und vom 20.12.2016, Ra 2016/21/0109). Bei der Bemessung des Einreiseverbotes ist insbesondere auch die Intensität der privaten und familiären Bindungen zu Österreich einzubeziehen (VwGH vom 07.11.2012, Zl. 2012/18/0057).

3.11.11. Wie bereits auch die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid zutreffenderweise ausgeführt hat, wiegt das gesamte vom BF3 gesetzte Fehlverhalten sehr schwer, wobei der BF3 über 11 strafgerichtliche Verurteilungen im Bundesgebiet verfügt. Der BF3 ist, wenn man die Fülle seiner 11 rechtskräftigen Verurteilungen im Bundesgebiet bei der Beurteilung seines Persönlichkeitsbildes miteinbezieht über einen Zeitraum von insgesamt 14 ½ Jahren (nämlich von 22.11.2007 bis 04.02.2022) wiederholt kriminell in Erscheinung getreten, wobei sich die Intensität seiner kriminellen Energie über die Jahre stetig gesteigert hat und die Hemmschwelle seiner im Bundesgebiet zur Schau gestellten Gewaltbereitschaft zunehmend gesunken ist. Zutreffend ist, dass im Rahmen der letzten 3 Verurteilung des BF3 wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz und Sachbeschädigung, lediglich bedingte Freiheitsstrafen verhängt wurden. Dennoch stellte der BF3 neuerlich seine Gewaltbereitschaft unter Beweis, indem er gegen Autos trat und die Glastüre eines Hotels zerstörte (s. dazu bereits bei der Rückkehrentscheidung). Festzuhalten ist, dass sämtliche Verurteilungen des BF3 auf derselben schädlichen Neigung beruhen, nämlich gegen das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit oder das Rechtsgut des Vermögens Dritter gerichtet sind. Die kriminelle Laufbahn des BF3 begann bereits im Alter von nur 14 Jahren mit einer Raubtat. Es erfolgten Delikte gegen Leib und Leben, nämlich (schwere) Körperverletzung und tätlicher Angriff gegen einen Beamten, sowie gegen das Vermögen, vor allem im Bereich der (gewerbsmäßigen) Einbruchsdiebstähle und Sachbeschädigung. Insgesamt lässt sich daher die erhebliche Gewaltbereitschaft und kriminelle Energie des BF3 konstatieren und hat der BF3 durch sein in Österreich gesetztes strafbares Verhalten seine Gefährlichkeit für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, sowie den Rechtsstaat unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Sein Verhalten stellt eine erhebliche Gefahr dar, die wesentliche Grundinteressen der Gesellschaft gefährdet.

3.11.12. Weder die Anzahl seiner Verurteilungen haben den BF3 bezüglich seines rechtswidrigen Verhaltens einsichtiger gemacht, noch hat seine gesamte im Bundesgebiet lebende Kernfamilie in ihm eine innere Umkehr hin zu einem rechtskonformeren Leben bewirkt. Auch der zahlreich gewährten Rechtswohltaten, nämlich der Setzung, sowie Verlängerung von Probezeiten, den bedingten Strafnachsichten, der Anordnung von Bewährungshilfe und des Strafaufschubs nach § 39 Abs. 1 SMG im Zuge einer gesundheitsbezogenen Maßnahme hat sich der BF3 als nicht würdig erwiesen, sondern wurde er neuerlich kontinuierlich straffällig. Sein bisheriges Verhalten zeigt seine Resistenz gegenüber jeder bisherigen Reaktion des Rechtsstaates auf sein strafrechtswidriges Verhalten, welches ein Durchdringen zum BF3 und ein Hinwirken zu einem rechtstreuen Verhalten seiner Person unmöglich macht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich – nach dem Vollzug einer Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat; für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat (VwGH vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0060-5 Rz 11).

Der BF3 wurde am 19.06.2019 aus der Haft entlassen, verhält sich seit seiner Haftentlassung, jedoch nicht wohl, sondern ist neuerlich straffällig geworden. Sichtlich hat auch das zuletzt verspürte Haftübel von 2 ½ Jahren, wobei der BF3 auch nicht bedingt entlassen werden konnte, den BF3 nicht hin zu einem rechtskonformen Leben bewegt. Der BF3 wurde neuerlich nach seiner Haftentlassung 3 Mal im Bundesgebiet verurteilt. Zuletzt am 01.07.2022, weil er am 04.02.2022 unter Einfluss von THC auf 2 Autos eintrat. Angesichts der wiederholten Straffälligkeit über einen Zeitraum über 14 Jahren, der Anzahl von bisher 11 rechtskräftigen Verurteilungen und der Tatsache, dass der BF3 nach seiner Haftentlassung sein Desinteresse an der Achtung der österreichischen Rechtsordnung neuerlich unmissverständlich unter Beweis stellte, ist dieser Wohlverhaltenszeitraum von gerade einmal etwas mehr als einem Jahr, viel zu gering, um eine tatsächliche und nachhaltige Änderung des Gesinnungswandels des BF3 hin zu einem rechtskonformen Leben festzustellen. Daran vermögen auch 5 Termine bei der XXXX nichts zu ändern. Insgesamt erweist sich daher die Zeit seines Wohlverhaltens im Bundesgebiet als noch zu gering, um eine tatsächliche Abkehr vom kriminellen Verhalten des BF3 festzustellen.

3.11.13. Das Gesamtverhalten des BF3 ist Ausdruck für dessen Unwillen zur Befolgung der österreichischen Gesetze und der österreichischen Werteordnung. Dem BF3 kann aufgrund seiner sichtlichen Aggressivität, welche auch Ausdruck der letzten beiden Verurteilungen war, und seiner Suchtproblematik im Hinblick auf einen weiteren Aufenthalt im Gebiet der Mitgliedstaaten sohin keine positive Prognose gestellt werden. Insbesondere festzuhalten bleibt, dass die Begehung der verübten Sachbeschädigungen nur neuerlich Ausdruck eines nicht vollzogenen Gesinnungswandels sind und neuerlich darlegt, dass der BF3 nicht in der Lage ist seine Aggression in kontrollierte Bahnen zu lenken. Es ist aufgrund des bezeichnenden Vorlebens des BF3 mit maßgeblicher Sicherheit keinesfalls auszuschließen, dass dieser in derselben Weise erneut straffällig wird.

Das vom BF3 gezeigte Verhalten im Bundesgebiet kann keinesfalls durch seine Integration, seine Deutschkenntnisse, seine Lebensgefährtin oder seine zuletzt gesetzten Bemühungen um berufliche Integration im Bundesgebiet gerechtfertigt werden, zumal ihn diese in der Vergangenheit nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten konnte. Aufgrund der wiederholten Taten des BF3 gegen die körperliche Unversehrtheit und das Vermögen Dritter, muss aufgrund der Schwere der begangenen Straftaten und des viel zu kurzen Wohlverhaltenszeitraums von einer aktuellen, gegenwärtigen Gefahr des BF3 für die öffentliche Sicherheit und Ordnung weiterhin gesprochen werden.

3.11.14. Wie bereits zur Frage der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ausführlich geprüft und festgestellt, sind die familiären und privaten Anknüpfungspunkte des BF3 in Österreich nicht dergestalt, dass sie einen Verbleib in Österreich rechtfertigen würden. Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verletzt in casu nicht die in Art. 8 EMRK geschützten Rechte. Es muss daher unter Berücksichtigung des in § 53 Abs. 3 FPG genannten Tatbestandes ebenso davon ausgegangen werden, dass das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit das persönliche Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich überwiegt.

3.11.15. In einer Gesamtbetrachtung ist mit der erheblichen, wiederholt gegen die körperliche Unversehrtheit und das Vermögen anderer gerichtete, kriminelle Energie des BF3 ein Gesamtverhalten und ein Persönlichkeitsbild zu konstatieren, welches von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der österreichischen Rechtsordnung und gegenüber dem in Österreich und in der EU vorherrschenden Schutz der körperlichen Integrität und des Vermögens Dritter geprägt ist. Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände und in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des BF3 kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als gegeben angenommen werden (vgl. VwGH vom 19. Mai 2004, 2001/18/0074). Somit lässt die wiederholte Begehung genannter Straftaten, die allenfalls – auch familiären - Interessen des BF3 an einem Aufenthalt im Schengenraum klar hinter die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten und Schutz der Rechte und Freiheiten anderer jedenfalls zurücktreten.

3.11.16. Die von der Behörde ausgesprochene 1-jährige Dauer des Einreiseverbotes erweist sich nach Ansicht des erkennenden Gerichts vor dem Hintergrund der Umstände des konkreten Einzelfalls im Sinne der vom BF3 zahlreich begangenen Straftaten als nicht ausreichend und viel zu gering.

Im Erkenntnis des VwGH vom 04.08.2016, Ra 2016/21/0207, wurde ausgesprochen, dass die Verhängung kurzfristiger Einreiseverbot (insbesondere solcher in einer Dauer von weniger als 18 Monaten) regelmäßig nur dann stattzufinden hat, wenn von dem betreffenden Drittstaatsangehörigen keine gravierende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgeht. Der VwGH hat gleichzeitig betont, dass die Festlegung der Dauer des Einreiseverbotes stets von den sonstigen Umständen des Einzelfalles abhängig ist, womit nicht ausgeschlossen wird, dass aufgrund der vom BVwG vorgenommenen Abwägung keine gravierende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit angenommen wird.

Gerade in Anbetracht der zahlreichen vom BF3 begangenen Taten, der vielfach unbedingt verhängten Freiheitsstrafen, insgesamt von etwa 5 ½ Jahren, des kurzen Wohlverhaltenszeitraums, der offensichtlich - nach wie vor - vorhandenen Gewaltbereitschaft des BF3, welche sich im Rahmen seiner Strafbegehung am 04.02.2022 neuerlich manifestiert hat, ist in casu derzeit von einer gravierenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auszugehen. Vor dem Hintergrund der möglichen Erlassung eines 10-jährigen Einreiseverbotes, der familiären Anknüpfungspunkte des BF3 im Bundesgebiet, der Wahrnehmung von Terminen bei der XXXX und der zuletzt erfolgten Bemühungen um berufliche Integration, erscheint dem Gericht ein Einreiseverbot von 3 Jahren als angemessen, um dem BF das Unrecht seiner Taten vor Augen zu führen und den Wegfall der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung im Schengenraum zu erwarten, weshalb sich die ausgesprochene Dauer des Einreiseverbots von 3 Jahren als verhältnismäßig erweist.

Auszuführen bleibt noch darüber hinaus, dass es dem BF3 nach Ablauf des Einreiseverbots nicht verwehrt ist, unter Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen nach dem NAG, zu seiner Kernfamilie und seiner Lebensgefährtin in das Bundesgebiet zurückzukehren.

In einer Gesamtabwägung erscheint dem erkennenden Gericht ein Einreiseverbot von 3 Jahren angemessen.

3.11.17. Das erlassene Einreiseverbot war daher spruchgemäß hinaufzusetzen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Da die Entscheidung über die gegenständliche Beschwerde letztlich lediglich von Fragen der Beweiswürdigung abhängig war, ist die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Die Revision ist im konkreten Fall ausfolgenden Gründen nicht zulässig: Parteivorbringen ist abstrakt nach dem objektiven Erklärungswert auszulegen (vgl. VwGH vom 24.01.1994). Die Auslegung von protokollierten Vorbringens ist nicht reversibel (vgl. VwGH vom 18.05.2016 RA 2016/04/001). Die Beurteilung ob ein identer Sachverhalt vorliegt ist keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung (vgl. VwGH vom 25.02.2016 2015/19/0267).

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