VwGH Ra 2019/20/0420

VwGHRa 2019/20/042024.9.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, die Hofräte Mag. Eder und Dr. Schwarz, die Hofrätin Mag. Schindler sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, in der Rechtssache der Revision des S E H in E, vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Jänner 2019, W109 2161412-1/34E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt rechtlich davon abhängenden Aussprüche nach dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019200420.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 11. November 2015 nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Mit Bescheid vom 29. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. 3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 29. Jänner 2019 nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 4 Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 11. Juni 2019, E 831/2019-8, ab und trat diese über nachträglichen Antrag des Revisionswerbers mit Beschluss vom 15. Juli 2019, E 831/2019-10, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5 In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht, mit der sich der Revisionswerber gegen das angefochtene Erkenntnis ausdrücklich nur soweit wendet, als das Bundesverwaltungsgericht die gegen den Bescheid vom 29. Mai 2017 erhobene Beschwerde betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie die rechtlich davon abhängenden Aussprüche abgewiesen hat. 6 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 9 Der Revisionswerber wendet sich gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG). Dazu wird in der Revision - auf das Wesentliche zusammengefasst - zu ihrer Zulässigkeit geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe das minderjährige Kind des Revisionswerbers nicht berücksichtigt. Es liege auf der Hand, dass es im Fall der Rückführung des Revisionswerbers in sein Heimatland zu einer langfristigen Trennung von seinem Sohn und damit auch zu einer Entfremdung kommen werde. Gerade im ersten Lebensjahr des Kindes bestehe ein besonderes Bedürfnis des Kindes nach persönlichem Kontakt zu den Eltern. Der Revisionswerber könne auch nicht auf ein gemeinsames Familienleben mit seiner aus Tunesien stammenden Ehefrau und seinem Sohn in Tunesien verwiesen werden. Das Asylverfahren seines Sohnes sei noch nicht abgeschlossen. Im Asylverfahren seiner Ehefrau sei vom Bundesverwaltungsgericht (mit Erkenntnis ebenfalls vom 29. Jänner 2019) ausgesprochen worden, dass gegen sie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung bis zum Abschluss des Verfahrens über den Antrag auf internationalen Schutz des Sohnes für vorübergehend unzulässig erklärt werde.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 10.7.2019, Ra 2019/14/0288; 10.7.2019, Ra 2019/19/0132, jeweils mwN). 11 Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 5.7.2019, Ra 2019/01/0227, mwN).

12 Das Bundesverwaltungsgericht hat - nach Durchführung einer Verhandlung, in deren Rahmen sich dieses Gericht auch einen unmittelbaren Eindruck vom Mitbeteiligten verschafft hat (dessen Wesentlichkeit der Verwaltungsgerichtshof für nicht eindeutige Fälle in seiner Rechtsprechung stets hervorgehoben hat, vgl. statt vieler etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0105; 20.12.2018, Ra 2018/21/0033, jeweils mwN) - alle für die Entscheidung maßgeblichen Umstände festgestellt und in seine Erwägungen einbezogen. Der Revisionswerber macht insoweit in der Begründung für die Zulässigkeit der Revision auch keinen Feststellungsmangel geltend, sondern erachtet die rechtliche Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts für unvollständig und unzutreffend. 13 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2019/14/0260, mwN).

14 Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts haben wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, sich bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl auseinanderzusetzen (vgl. VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0034;

31.8.2017, Ro 2017/21/0012; 20.9.2017, Ra 2017/19/0163 und 0164;

7.3.2019, Ra 2018/21/0141, mwN, insbesondere auch aus der Rechtsprechung des VfGH).

15 Bei der Beurteilung der Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung ist auch auf die wechselseitigen Beziehungen eines Elternteiles und seines Kindes sowie auf die im Entscheidungszeitpunkt konkret absehbaren zukünftigen Entwicklungen Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012; 20.9.2017, Ra 2017/19/0163 und 0164, mwN). 16 Zunächst ist zum Vorbringen des Revisionswerbers festzuhalten, dass der in der Revision erhobene Vorwurf, das Bundesverwaltungsgericht habe sich im Zuge der Interessenabwägung mit der Frage des Kindeswohls nicht auseinandergesetzt, am Boden des Inhalts der angefochtenen Entscheidung nicht zutrifft. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, warum Erwägungen aus dem Blickwinkel des Kindeswohls es fallbezogen nicht erfordern, von der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme in Bezug auf den Revisionswerber Abstand zu nehmen. Dass der Revisionswerber die Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht teilt, führt nicht dazu, dass diesem Gericht ein Begründungsmangel anzulasten wäre.

17 Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Erwägungen erkennbar zugrunde, dass der von seiner aus Tunesien stammenden Ehefrau, die der Revisionswerber erst in Österreich Ende des Jahres 2017 kennengelernt und im Jänner 2019 (standesamtlich) geheiratet habe, und seinem Sohn, der ebenfalls tunesischer Staatsangehöriger sei, gestellte Antrag auf internationalen Schutz (ebenso wie jener des Revisionswerbers) erfolglos seien und diese letztlich nicht in Österreich bleiben dürften. Hinsichtlich der Ehefrau räumt dies der Revisionswerber selbst ein, indem der Revision die die Ehefrau betreffende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts angeschlossen wurde. Soweit es das Verfahren seines im November 2018 geborenen Sohnes betrifft, verweist der Revisionswerber bloß auf die Anhängigkeit des Verfahrens über dessen (von Gesetzes wegen gestellten und eingebrachten) Antrag (vgl. dazu § 17a AsylG 2005: "(2) Wird ein drittstaatszugehöriges Kind eines Asylwerbers (...) in Österreich nachgeboren und ist der Asylwerber (...) zu dessen Vertretung befugt, hat er dem Bundesamt die Geburt des Kindes binnen zwei Wochen anzuzeigen. (3) Mit Einlangen der Anzeige über die Geburt beim Bundesamt oder sobald das Bundesamt auf sonstige Weise Kenntnis von der Geburt erlangt, gilt der Antrag auf internationalen Schutz für das Kind als gestellt und eingebracht, es sei denn, dem Kind kommt bereits ein Aufenthaltsrecht für mehr als 90 Tage nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz zu."), ohne näher auszuführen, weshalb davon auszugehen wäre, dass diesem Antrag Folge gegeben werden würde oder aus sonstigen Gründen begründet angenommen werden könnte, es werde zu dessen weiterem Verbleib in Österreich kommen. Derartiges ist ausgehend vom bisherigen Verfahrensergebnis auch nicht zu sehen.

18 Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, dass es nicht möglich sein werde, das Familienleben im Heimatland des Revisionswerbers aufrechtzuerhalten, weil es die Übersiedelung der Ehefrau mit dem Kleinkind nach Afghanistan aufgrund der dortigen Situation als nicht tunlich ansah. Das Verwaltungsgericht hat allerdings im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Nachforschungen dazu angestellt, ob der Revisionswerber in der Lage sein werde, das Familienleben mit seiner Ehefrau und seinem Sohn, die beide unbestritten tunesische Staatsangehörige sind, in Tunesien weiterführen zu können. Dies wurde vom Verwaltungsgericht anhand der von ihm getroffenen Feststellungen - die sich im Besonderen auf die Möglichkeiten des Revisionswerbers, einen rechtmäßigen Aufenthalt in Tunesien erlangen zu können, beziehen - bejaht. Dazu hat der Revisionswerber im Zuge der Verhandlung nach Vorhalt der Ermittlungsergebnisse lediglich darauf verwiesen, dass seine Ehefrau in ihrem Heimatland Probleme habe und infolgedessen nicht dorthin zurückkehren könnte. Dieses Vorbringen wurde allerdings vom Bundesverwaltungsgericht verworfen, was in der Revision auch nicht bekämpft wird. In seiner Stellungnahme vom 24. Jänner 2019 verwies der Revisionswerber wiederum lediglich darauf, dass er über kein gültiges Reisedokument verfüge, weshalb die tunesischen Behörden für ihn kein Einreisevisum ausstellen würden. Er ließ aber völlig im Dunkeln, weshalb es ihm nicht möglich wäre, sich ein solches bei den zuständigen Behörden seines Heimatstaates zu besorgen. Auch in der Begründung für die Zulässigkeit der Revision führt er keine Umstände ins Treffen, die einem gemeinsamen Familienleben in Tunesien entgegenstehen würden.

19 Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass es zu einer vorübergehenden Trennung des Revisionswerbers von seiner Ehefrau und seinem Sohn - bis zur Wiederaufnahme des Familienlebens in Tunesien - kommen werde. Diese sei allerdings im öffentlichen Interesse hinzunehmen, zumal sowohl sein Aufenthaltsstatus als auch jener der Ehefrau stets unsicher gewesen sei, und sie zu keiner Zeit darauf hätten vertrauen können, (gemeinsam) in Österreich bleiben zu dürfen. 20 Zudem hat sich das Bundesverwaltungsgericht hinreichend damit auseinandergesetzt, ob und welche Möglichkeiten nach dem Gesetz für den Revisionswerber bestünden, das gemeinsame Familienleben in Österreich weiterführen zu können, falls (wider Erwarten) der vom Sohn des Revisionswerbers gestellte Antrag auf internationalen Schutz erfolgreich sein würde.

21 In der Revision wird nicht aufgezeigt, dass das Bundesverwaltungsgericht im Sinn der oben dargestellten Rechtsprechung die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze für die nach § 9 BFA-VG vorgesehene Interessenabwägung nicht beachtet und den ihm bei der Entscheidung des Einzelfalles zuzugestehenden Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung vorgenommen hätte.

22 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - zurückzuweisen.

Wien, am 24. September 2019

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