Spruch:
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.160,-
bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer, ein 1975 geborener, polnischer Staatsangehöriger, reiste im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern nach Österreich ein. Er hat im Bundesgebiet sowohl seine Schulausbildung (Volksschule und Gymnasium mit Abschluss der Matura) absolviert als auch eine Computerfachschule besucht, die er mit Diplom abschloss. Seine Mutter, Schwester und sein Bruder leben ebenfalls im Bundesgebiet; sie sind österreichische Staatsangehörige.
2. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 21. Dezember 2004 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Raubes nach §142 Abs1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren verurteilt. Auf Grund dieser Verurteilung erließ der Magistrat der Stadt Krems mit Bescheid vom 23. Mai 2005 gegen den Beschwerdeführer ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich, Außenstelle Zwettl, vom 9. November 2006 teilweise Folge gegeben und der erstinstanzliche Bescheid insoweit abgeändert, als die Dauer des Aufenthaltsverbotes mit 10 Jahren festgesetzt wurde.
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.
4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift jedoch unter Hinweis auf die ihrer Auffassung nach zutreffende Bescheidbegründung verzichtet.
II. Die maßgeblichen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (in der Folge: FPG) lauten auszugsweise:
"3. Abschnitt
Aufenthaltsverbot und Rückkehrverbot
Voraussetzungen für das Aufenthaltsverbot
§60. (1) Gegen einen Fremden kann ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein Aufenthalt
1. die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet oder
2. anderen im Art8 Abs2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.
(2) Als bestimmte Tatsache im Sinn des Abs1 hat insbesondere zu gelten, wenn ein Fremder
1. von einem inländischen Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender strafbarer Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
2. - 14. ...
(3) - (5) ...
(6) §66 gilt.
...
Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes oder des Rückkehrverbotes
§63. (1) Ein Aufenthaltsverbot oder ein Rückkehrverbot kann in den Fällen des §60 Abs2 Z1, 5 und 12 bis 14 unbefristet und sonst für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.
(2) Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes oder des Rückkehrverbotes ist auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Die Frist beginnt mit Eintritt der Durchsetzbarkeit zu laufen.
...
4. Abschnitt
Gemeinsame Verfahrensbestimmungen
Schutz des Privat- und Familienlebens
§66. (1) Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Eine Ausweisung gemäß §54 Abs1, 3 und 4 darf jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf folgende Umstände Bedacht zu nehmen:
1. die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen;
2. die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen.
...
Sonderbestimmungen für den Entzug der Aufenthaltsberechtigung
und für verfahrensfreie Maßnahmen
§86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
(2) - (6) ..."
III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Der angefochtene, ein Aufenthaltsverbot verfügende, Bescheid greift in das dem Beschwerdeführer durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.
2. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
3. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rechtsgrundlagen des angefochtenen Bescheides werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind beim Verfassungsgerichtshof aus Anlass des vorliegenden Beschwerdefalles auch nicht entstanden.
4. Der belangten Behörde ist allerdings aus folgenden Überlegungen ein Art8 EMRK verletzender Vollzugsfehler anzulasten.
4.1. Die belangte Behörde führt im angefochtenen Bescheid nach Darstellung der maßgeblichen Rechtslage aus:
"Im vorliegenden Fall ist der dem Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zugrundeliegende Sachverhalt durch die Ergebnisse des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens sowie durch die nach der Aktenlage getroffenen Tatsachenfeststellungen zweifelsfrei erwiesen.
Es ist zwar zutreffend, dass, wie dies der Berufungswerber in seiner Rechtsmittelschrift ausführt, auch auf die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration und der familiären und sonstigen Bindungen bedacht zu nehmen ist. Der unabhängige Verwaltungssenat stimmt jedoch der Auffassung des Berufungswerbers nicht zu, dass die Auswirkungen auf seine Lebenssituation schwerer wiegen würden als die Folgen der Abstandnahmeerlassung (sic!). Es mag sein[,] dass der Berufungswerber seit dem Kindesalter rechtmäßig in Österreich aufwendig (gemeint wohl: aufhältig) war und auch seine Schulausbildung hier absolviert hat. Jedoch erscheint die Begehung einer gerichtlich strafbaren Handlung in Gestalt des Verbrechens des Auges (gemeint wohl: Raubes) doch so schwer wiegend, dass die allfälligen Bindungen an Österreich gegenüber dem öffentlichen Schutzinteresse zurückzutreten haben.
Allerdings vertritt die Berufungsbehörde die Auffassung, dass im Falle des Berufungswerbers mit einem Aufenthaltsverbot in der Dauer von 10 Jahren das Auslangen gefunden werden kann.
Der Berufung ... war aus den genannten Gründen dem Grunde nach der Erfolg zu versagen und spruchgemäß vorzugehen."
4.2. Der Beschwerdeführer lebt seit seinem vierten Lebensjahr, somit seit mehr als 27 Jahren, im Bundesgebiet, hat seine Schulausbildung in Österreich absolviert und eine Fachschule mit Diplom abgeschlossen. Seine Mutter und seine Geschwister leben ebenfalls im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer ist integriert und verfügt über familiäre und soziale Bindungen in Österreich.
Angesichts der Tatsache, dass ein Eingriff in die durch Art8 EMRK geschützten Rechte vorliegt, hätte die belangte Behörde eine ausreichende Abwägung mit jenen Umständen vornehmen müssen, die für den Verbleib des Beschwerdeführers in Österreich sprechen. Die belangte Behörde hätte somit die Aufgabe gehabt, die gebotene Interessenabwägung mit Blick auf die vom EGMR in seiner Rechtsprechung entwickelten Kriterien (vgl. insbesondere EGMR 2.8.2001, Fall Boultif, Appl. 54.273/00 = newsletter 2001, 159, sowie EGMR 18.10.2006, Fall Üner, Appl. 46.410/99) vorzunehmen und ausreichend zu begründen. Tatsächlich hat sie jedoch die Interessenabwägung mangelhaft vorgenommen, weil sie den öffentlichen Interessen die privaten Interessen nicht abwägend entgegengestellt hat. Insbesondere hat sie nicht ausreichend berücksichtigt, dass das Familienleben des Beschwerdeführers ausschließlich in Österreich stattfindet. Sie hat sich im Hinblick auf die familiären Interessen des Beschwerdeführers vielmehr mit der bloßen Aussage begnügt, dass der Beschwerdeführer seit dem Kindesalter rechtmäßig in Österreich aufhältig war und auch seine Schulausbildung hier absolviert hat.
Da die belangte Behörde keine Art8 EMRK entsprechende Interessenabwägung vorgenommen hat, hat sie den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
5. Angesichts dessen braucht auf weitere Fragen - etwa die Nichtberücksichtigung des §86 Abs1 FPG - nicht eingegangen werden.
6. Der angefochtene Bescheid war wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens aufzuheben.
IV. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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