VwGH 2000/01/0453

VwGH2000/01/045313.11.2001

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Pelant als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schimetits, über die Beschwerde des Bundesministers für Inneres gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. September 2000 (schriftliche Ausfertigung vom 5. Oktober 2000), Zl. 213.517/0-VIII/23/99, betreffend §§ 7, 8 und 15 Asylgesetz 1997 (mitbeteiligte Partei: QS, geboren am 14. April 1974, W), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §15;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FrG 1997 §57 Abs1;
EMRK Art3;
AsylG 1997 §15;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FrG 1997 §57 Abs1;
EMRK Art3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird in seinen Spruchpunkten II. und III. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein jugoslawischer Staatsangehöriger, stammt aus dem Kosovo, gehört der albanischen Volksgruppe an und ist am 4. November 1996 in das Bundesgebiet eingereist. Nach rechtskräftiger Abweisung eines ersten Asylantrages stellte er am 25. Mai 1999 einen weiteren Asylantrag. Das Bundesasylamt wies diesen (zweiten) Asylantrag mit Bescheid vom 15. Oktober 1999 gemäß § 7 AsylG ab; zugleich sprach es aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Mitbeteiligten "nach Jugoslawien, Provinz Kosovo" gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Über die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung entschied der unabhängige Bundesasylsenat (die belangte Behörde) mit dem im Spruch genannten Bescheid wie folgt:

Die Berufung des Mitbeteiligten werde (erkennbar gemeint: soweit sie sich gegen die Entscheidung in der Asylfrage richtet) gemäß § 7 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.); gemäß § 8 AsylG iVm § 57 Abs. 1 FrG werde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Mitbeteiligten in die "BR Jugoslawien" nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.); gemäß § 15 AsylG werde dem Mitbeteiligten eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 30. April 2001 erteilt (Spruchpunkt III.).

In ihrer Entscheidung gab die belangte Behörde zunächst die Angaben des Mitbeteiligten in der mündlichen Berufungsverhandlung wieder. Diese haben - auszugsweise - nachstehenden Inhalt:

"...

Zwei meiner Brüder leben im Kosovo, im Haus meiner Eltern. Das Haus meines Bruders S. wurde zerstört. Mein Bruder S. ist verheiratet und hat 5 Kinder. Mein Bruder B. ist verheiratet und hat eine Tochter. Das Haus meiner Eltern wurde im Krieg beschädigt. Meine Familie wohnt dort mit 12 Personen in 3 Zimmern. Zum Haus gehört ein kleineres Stück Land.

...

Ergänzend führe ich aus, dass ich im Kosovo keine Lebensgrundlage hätte, weil ich bei meinen Eltern keine Unterkunftsmöglichkeit finden würde und auch wo anders nicht unterkommen könnte. Aus dem Ermittlungsergebnis ergibt sich, dass die Gastgeberfamilien im Kosovo hoffnungslos überlastet sind. Dies ist gerade im Hinblick auf den kommenden Winter relevant.

Für mich wurde vor 14 Tagen ein Beschäftigungsbewilligung beantragt. Ich habe gute Chancen, dass sie bewilligt wird.

Ansonsten ist die Lage im Kosovo für mich nicht sicher, weil nicht erkennbar ist, ob sich die Situation weiterhin stabilisiert."

Im Folgenden erklärte die belangte Behörde, die Angaben des Mitbeteiligten im bisherigen Asylverfahren, "soweit sie nicht mit dem verwendeten Dokumentationsmaterial oder den folgenden Ausführungen im Widerspruch stehen", zum festgestellten Sachverhalt zu erheben. Weiter stellte die belangte Behörde fest, dass der Mitbeteiligte Kriegsflüchtling sei und keine Möglichkeit habe, im Kosovo vor dem Winter eine entsprechende Unterkunft zu finden. Darüber hinaus führte sie zur Situation "im Herkunftsstaat" aus, dass derzeit und in weiterer Zukunft mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass es im Kosovo erneut zu Massenvertreibungen, Tötungen und Misshandlungen von albanischen Volkszugehörigen durch den serbischen Staat kommen werde; die Bedrohungssituation sei nach der tatsächlichen und nachhaltigen Übernahme der Hoheitsgewalt durch UNMIK und KFOR infolge des gänzlichen Abzuges der serbischen Sicherheitskräfte, sohin auf Grund zur Gänze geänderter Verhältnisse, weggefallen; für die meisten der betroffenen Personen bestehe die Möglichkeit, ohne Risiko in die vormalig autonome Provinz Kosovo zurückzukehren; zwar sei es durch die Kampfhandlungen und mutwilligen Zerstörungen im Kosovo bis Juni 1999 zu einer umfassenden Beschädigung der Infrastruktur und zu einer nicht unbeträchtlichen Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen gekommen, doch könne weder aus dem Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen noch aus Berichten von UNHCR, OSZE, EU und anderer befasster Institutionen sowie der internationalen Berichterstattung ein Hinweis entnommen werden, dass - mit Ausnahme besonderer Fallgruppen - derzeit zurückkehrende kosovarische Albaner grundsätzlich in ihrer notdürftigsten Lebensgrundlage bedroht wären. Festzuhalten sei, dass der institutionelle Aufbau unter UN-Verwaltung im Kosovo als nachhaltig, weit reichend und dauerhaft anzusehen sei; mögliche Befürchtungen, dass das UN-Mandat im Jahr 2000 nicht verlängert werde und es zur Rückkehr serbischer Militärs und Wiederholung der Ereignisse vom März bis Juni 1999 kommen könnte, ließen sich vor dem Hintergrund des internationalen Engagements beim Wiederaufbau und der offensichtlichen Langfristigkeit der strukturellen Planungen der UN in allen Lebensbereichen, verbunden mit der weit gehenden Zustimmung der albanischen Bevölkerung und maßgeblicher Politiker zur UNMIK-Verwaltung, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen. Trotz der geschilderten Verbesserung der allgemeinen Situation würden die im Kosovo engagierten internationalen Organisationen davon abraten, unbegleitete Minderjährige, allein stehende Frauen, alte, kranke oder behinderte Personen sowie solche, die im Kosovo über keine familiären Kontakte mehr verfügen, dorthin abzuschieben; die Gastgeberfamilien seien völlig überlastet; "der einen Personengruppe" (gemeint offenbar: Personen ohne familiäre Kontakte im Kosovo) sei es auf Grund der im Kosovo dominierenden Klan-Struktur, die weitestgehend das gesellschaftliche Leben und Überleben präge, nicht möglich, ohne Vorhandensein eines solchen sozialen Netzes das für das Leben Notwendigste zu finden; allein stehende Frauen seien schon auf Grund ihres Geschlechtes beeinträchtigt; Personen mit chronischen Krankheiten, aber auch Behinderte, seien wegen der immer noch angespannten Versorgungssituation mit Spezialmedikamenten und fachärztlicher Betreuung großen Problemen ausgesetzt.

In rechtlicher Hinsicht ergebe sich, dass eine weitere asylrelevante Verfolgung von Angehörigen der albanischen Volksgruppe im Kosovo durch Serbien bzw. die BR Jugoslawien nachhaltig unwahrscheinlich erscheine; im Hinblick auf die nunmehr geänderten Verhältnisse im Kosovo komme eine Anerkennung des Mitbeteiligten als Flüchtling nicht in Frage. Was den Ausspruch nach § 8 AsylG (Spruchpunkt II. des bekämpften Bescheides) anlange, so habe der Mitbeteiligte auf Grund der gänzlich geänderten Verhältnisse jedenfalls im Kosovo keinen Anlass mehr, von jugoslawischen (serbischen) Behörden bzw. Sicherheitskräften ausgehende Verfolgungs- bzw. Bedrohungsmaßnahmen zu befürchten; eine UNMIK oder KFOR zuzurechnende Bedrohung bestehe nicht und sei auch nicht behauptet worden. Den erwähnten Berichten könne wie festgestellt kein Hinweis entnommen werden, dass es derzeit zurückkehrenden kosovarischen Albanern grundsätzlich an der notdürftigsten Lebensgrundlage fehle, was bei einer allfälligen Rückkehr die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Art. 3 EMRK indizieren würde; vielmehr ergebe sich angesichts umfassender Hilfsmaßnahmen der internationalen Staatengemeinschaft sowie zahlreicher internationaler Organisationen, dass sich die Lebensumstände in allen Bereichen erheblich verbessert hätten, wiewohl einzuräumen sei, dass von normalisierten Verhältnissen derzeit und wahrscheinlich auch in näherer Zukunft nicht gesprochen werden könne. Ungeachtet dessen folgere aus dem Vorbringen des Mitbeteiligten und den amtswegigen Ermittlungen, dass dem Mitbeteiligten eine Rückkehr auf Grund der individuellen konkreten Lebensumstände unzumutbar sei; er gehöre unzweifelhaft einer der geschilderten besonderen Fallgruppen an, für die nach zutreffender Auffassung verschiedener internationaler Organisationen der Refoulementschutz geboten erscheine. Das gelte unter Hinweis auf § 57 Abs. 1 FrG nicht nur im Hinblick auf die Rückkehr des Mitbeteiligten nach Serbien/Montenegro, sondern auch in den Kosovo selbst. Davon ausgehend sei auch eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen gewesen (Spruchpunkt III.).

Über die gegen die Spruchpunkte II. und III. des bekämpften Bescheides erhobene Amtsbeschwerde des Bundesministers für Inneres hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - nach Erstattung einer Gegenschrift seitens der mitbeteiligten Partei - erwogen:

Die belangte Behörde ging bei ihrer Entscheidung zu § 8 AsylG nicht davon aus, dass dem Mitbeteiligten eine Gefahr seitens eines bestimmten Verfolgersubjektes drohe. Sie begründete ihren Ausspruch, seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die "BR Jugoslawien" sei unzulässig, vielmehr mit den speziellen "Lebensumständen", die der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr (in den Kosovo) zu erwarten hätte.

Dass derartigen Gegebenheiten im gegenständlichen Zusammenhang Relevanz zukommen kann, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 21. August 2001, Zl. 2000/01/0443, - gleichfalls eine Amtsbeschwerde des Bundesministers für Inneres zu § 8 AsylG in Bezug auf den Kosovo betreffend - unter Hinweis auf die zu Art. 3 EMRK näher dargestellt ergangene Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde zunächst - "zur Person" des Mitbeteiligten - erklärt, seine Angaben im bisherigen Asylverfahren, "soweit sie nicht mit dem verwendeten Dokumentationsmaterial oder den folgenden Ausführungen im Widerspruch stehen", zum festgestellten Sachverhalt zu erheben. Diese "Feststellung" ist indes ohne Aussagekraft, weil sie letztlich keine klare Beurteilung dahingehend zulässt, von welchem Sachverhalt die belangte Behörde ganz konkret ausgehe. Damit bleibt im gegebenen Zusammenhang als Feststellung übrig, dass der Mitbeteiligte Kriegsflüchtling sei und im Kosovo keine Möglichkeit habe, vor dem Winter eine "entsprechende" Unterkunft zu finden. In weiterer Folge geht die belangte Behörde im bekämpften Bescheid auf die allgemeinen Umstände im Kosovo ein, wobei sie jedoch - ohne Darstellung der Verhältnisse im Einzelnen - zu dem Ergebnis gelangt, dass derzeit zurückkehrende kosovarische Albaner grundsätzlich nicht in ihrer notdürftigsten Lebensgrundlage bedroht wären. Schließlich verweist sie auf die Empfehlungen im Kosovo engagierter internationaler Organisationen, bezüglich bestimmter Personengruppen von einer Abschiebung abzusehen. Auch die Grundlagen dieser Empfehlungen werden freilich nur grob dargestellt, wobei der insoweit genannte Umstand, dass die Gastgeberfamilien völlig überlastet seien, genau genommen ein beweiswürdigendes Argument für die schon erwähnte Feststellung, der Mitbeteiligte könne im Kosovo vor dem Winter keine "entsprechende" Unterkunft finden, darstellt.

Sind damit die behördlichen Feststellungen zu jener Situation, in der sich der Mitbeteiligte im Fall seiner Abschiebung in den Kosovo befände, bereits erschöpft, so lässt sich freilich nicht sagen, dass damit eine Situation beschrieben wird, die derart gravierende Auswirkungen für den Mitbeteiligten zeitigt, dass von einer unmenschlichen Behandlung iSv Art. 3 EMRK gesprochen werden könnte. Im Hinblick auf die festgestellte fehlende Unterkunftsmöglichkeit wäre dies nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn auch keine "komplementäre Auffangmöglichkeiten", etwa in Lagern, bestünden. Darüber gibt der bekämpfte Bescheid jedoch keine Auskunft, zumal die dort erwähnte "entsprechende Unterkunft" nur eine sehr unscharfe Beurteilung zulässt und möglicherweise - worauf die in der Folge angeführte Überlastung von Gastgeberfamilien hinweist - nur eine individuelle Unterbringung (konkret im Elternhaus) vor Augen hat. In diesem Zusammenhang sei auf die in dem von der belangten Behörde angeführten "ad hoc-Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo)" des deutschen Auswärtigen Amtes vom Mai 2000 genannte Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften hingewiesen, weshalb (ua.) - so der Bericht - die von vielen befürchtete humanitäre Katastrophe im Winter 1999/2000 ausgeblieben sei. Wäre dem Mitbeteiligten - bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des bekämpften Bescheides - die Aufnahme in einer solchen Gemeinschaftsunterkunft oder in ähnlichen behelfsmäßigen Quartieren möglich gewesen, so könnte in dieser Hinsicht nicht davon die Rede sein, dass Umstände gegeben seien, die in der konkreten Konstellation eine Abschiebung rechtlich unzulässig machen würden.

Das gilt unbeschadet der von der belangten Behörde erwähnten Empfehlungen internationaler Organisationen, von der Abschiebung bestimmter Personengruppen in den Kosovo Abstand zu nehmen. Derartigen Empfehlungen kommt wohl zweifelsohne Gewicht zu, wenn es um die Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse vor Ort geht. Sie ersparen jedoch nicht eine nähere Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt. Im Übrigen ist mit der Beschwerde darauf hinzuweisen, dass der Mitbeteiligte entgegen der von der belangten Behörde vorgenommenen rechtlichen Beurteilung offenkundig nicht einer von ihr erwähnten Gruppe von Personen angehört, bezüglich deren nach der Empfehlung internationaler Organisationen von einer Abschiebung in den Kosovo Abstand genommen werden solle.

Nach dem Gesagten ist die Beschwerde des Bundesministers für Inneres im Ergebnis im Recht. Der Bescheid der belangten Behörde war daher in den bekämpften Spruchpunkten II. und III. gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 13. November 2001

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