BVwG L524 2214626-1

BVwGL524 2214626-17.12.2022

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:L524.2214626.1.00

 

Spruch:

 

 

L524 2214626-1/17E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.01.2019, Zl. 1200019308/180690235/BMI-BFA_NOE_SP, betreffend Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.10.2022, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 22.07.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am nächsten Tag erfolgte eine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts. Am 07.08.2018 und am 05.11.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA einvernommen.

Das BFA erteilte dem Beschwerdeführer am 05.11.2018 einen Verbesserungsauftrag und trug ihm mangels schlüssiger Auflistung der Bescheinigungsmittel – die Bescheinigungsmittel waren weder nach konkreten Beweisthemen noch anderweitig geordnet und deren Inhalt nicht ohne Weiteres zu erkennen gewesen – bei Rückgabe der von ihm vorgelegten Unterlagen auf, die näher bezeichneten (in türkischer Sprache vorgelegten) Kopien zahlreicher Dokumente nachvollziehbar geordnet, insbesondere in chronologischer Reihenfolge durchnummeriert, mit einer kurzen Angabe zum Inhalt, zum Ausstellungsdatum und zum Aussteller versehen und mit Angabe, ob der Beschwerdeführer bzw. an welchen Stellen er im jeweiligen Dokument persönlich genannt werde sowie welchen konkreten Bezug das jeweilige Dokument zu seinem Antrag auf internationalen Schutz in Österreich habe, vorzulegen. Dem kam der Beschwerdeführer im Zuge einer Stellungnahme partiell nach und legte einen Teil der ursprünglich vorgelegten Dokumente – samt einer vom Beschwerdeführer handschriftlich verfassten chronologischen Auflistung des Fluchtgrundes – erneut vor.

Mit Bescheid des BFA vom 21.01.2019, Zl. 1200019308/180690235/BMI-BFA_NOE_SP, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der belangten Behörde und dem Beschwerdeführer zur Wahrung des Parteiengehörs die aktuelle Fassung des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zur Türkei. Der Beschwerdeführer gab hierzu eine schriftliche Stellungnahme ab.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 27.10.2022 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter, beantragte jedoch die Abweisung der Beschwerde.

II. Feststellungen:

Der 32-jährige Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, Kurde und ohne religiöses Bekenntnis. Er ist ledig und kinderlos. Der Beschwerdeführer wurde im Landkreis XXXX in der Provinz Mardin in der türkischen Region Südostanatolien geboren.

Der Beschwerdeführer besuchte in der Türkei fünf Jahre die Grundschule und drei Jahre die Hauptschule im Landkreis XXXX . Im Anschluss bestritt der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt durch Tätigkeiten in der Textilbranche. Zu Beginn 2003 bis etwa 2007/08 war der Beschwerdeführer bei verschiedenen Firmen unselbständig als Schneider angestellt. Danach gründete er gemeinsam mit einem Cousin ein eigenes Textilunternehmen, welches er vor seiner Ausreise seinem Cousin übergab. Der Beschwerdeführer war untauglich und leistete keinen Wehrdienst ab. Er beherrscht Kurmandschi auf muttersprachlichem Niveau und Türkisch.

Ab dem Jahr 2003 lebte der Beschwerdeführer – abgesehen von gelegentlichen etwa einmonatigen Urlaubsaufenthalten bei seinen Eltern – in Istanbul und wohnte die letzten beiden Jahre vor seiner Ausreise mit einem Onkel und dessen Familie in einem gemeinsamen Haushalt.

In der Türkei leben die Eltern, vier Schwestern, zwei Brüder, Onkel und Tanten. Abgesehen von einer Schwester und einem Onkel, die sich in Istanbul befinden, wohnen die Eltern, sonstigen Geschwister und ein Großteil der Tanten und Onkel des Beschwerdeführers weiterhin in der Provinz Mardin, wobei die Eltern und zwei Brüder noch an einer gemeinsamen Wohnadresse leben. Die Eltern des Beschwerdeführers gehen keiner Beschäftigung nach. Die allesamt verheirateten Schwestern führen den jeweiligen Haushalt ihrer Familien. Die Brüder des Beschwerdeführers arbeiten als LKW-Fahrer. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Eltern, Onkeln und Freunden regelmäßig in Kontakt.

Der Beschwerdeführer verließ im Herbst 2017 die Türkei und reiste illegal in Österreich ein, wo er am 22.07.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Der Beschwerdeführer hält sich als Asylwerber rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Der Beschwerdeführer zeigt Interesse für die kurdischen Belange und sympathisiert(e) zuletzt mit der Halkların Demokratik Partisi (HDP). Der Beschwerdeführer hat an Veranstaltungen und Demonstrationen der HDP und deren Vorgängerorganisation(en) bzw. mittlerweile „Schwesterpartei“ auf lokaler Ebene Barış ve Demokrasi Partisi (BDP), welche im Jahr 2014 in Demokratik Bölgeler Partisi (DBP) umbenannt wurde, teilgenommen und Hilfstätigkeiten, wie etwa das Organisieren von kulturellen Veranstaltungen, das Sammeln von Spenden, das Verteilen von Zeitschriften, Mithilfe bei Wahlen/Wahlpropaganda, Hausbesuche bei Sympathisanten zur Unterstützung in diversen Angelegenheiten, wie Arbeits- und Wohnungssuche, oder das Anwerben von Mitgliedern, übernommen.

Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Der Beschwerdeführer entfaltet während seines Aufenthalts in Österreich kein maßgebliches aktuelles (exil-)politisches Engagement und schloss sich auch keiner hier tätigen kurdischen Organisation als Mitglied an.

Mitte Dezember 2010 wurde der Beschwerdeführer – zum damaligen Zeitpunkt Sympathisant der prokurdischen Partei BDP – in Zusammenhang mit einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren in Haft genommen. Dem Beschwerdeführer wird im Zuge dieses Verfahrens Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, Propaganda für eine Terrororganisation, Besitz von Sprengstoff (Erzeugung), Sachbeschädigung, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Gefährdung der Verkehrssicherheit und Widerstand gegen die Staatsgewalt zur Last gelegt. Ein türkisches Strafgericht verurteilte ihn zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe, wobei ein Berufungsgericht das Urteil behob und die Angelegenheit an das Erstgericht zurückverwies. Im Anschluss wurde der Beschwerdeführer mit Zwischenurteil des 21. Gerichts für schwere Strafsachen in Istanbul vom 03.07.2014 (Geschäftszahl XXXX ) nach ca. dreieinhalb Jahren einstweilig aus der Haft entlassen. Dieses Strafverfahren ist nach wie vor offen. Im Jahr 2014 wurde wider den Beschwerdeführer ein weiteres Strafverfahren (Geschäftszahl XXXX ) eingeleitet und wurde der Beschwerdeführer Anfang Oktober 2014 erneut festgenommen. Im Anschluss befand er sich bis 04.03.2015 nochmals ca. fünf Monate in Haft. Dem Beschwerdeführer wird im Rahmen dieses Verfahrens Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubter Besitz von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, zur Last gelegt. Im Zuge einer Verhandlung am 04.03.2015 wurde die einstweilige Freilassung des Beschwerdeführers angeordnet. Bislang erging in diesem Verfahren ebenso wenig ein rechtskräftiges Urteil und ist dieses ebenfalls noch offen. Gegen den Beschwerdeführer sind schließlich im Jahr 2022 zwei Verfahren eröffnet worden, die beim 4. Strafgericht erster Instanz in XXXX (Geschäftszahl XXXX ) und bei der zweiten Strafkammer des Bezirksberufungsgerichts XXXX (Geschäftszahl XXXX ) anhängig sind. Der Inhalt dieser Verfahren kann nicht festgestellt werden.

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten weiteren Schilderungen, wonach er während seiner ersten Inhaftierung ständig Folter ausgesetzt gewesen sei, im Zuge der Festnahme in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren massiv geschlagen worden sei und er nach seiner zweiten Inhaftierung unzählige Festnahmen samt damit einhergehenden Misshandlungen über sich ergehen habe lassen müssen, werden der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.

Der Beschwerdeführer wurde im ersten – vorangehend genannten – Strafverfahren (Geschäftszahl XXXX ) am 03.07.2014 nach mehrjähriger Haft auf Grund des Wegfalls der Verdunkelungsgefahr enthaftet. Auch im zweiten – vorangehend genannten – Strafverfahren (Geschäftszahl XXXX ) wurde der Beschwerdeführer nach ca. fünfmonatiger Anhaltung am 05.03.2015 enthaftet. Dem Beschwerdeführer wurde jedenfalls im Rahmen des ersten Strafverfahrens bereits Gelegenheit eingeräumt, sich zu verteidigen. Er ist zumindest in drei seiner Strafverfahren rechtsanwaltlich vertreten. Abgesehen von den beiden im Jahr 2022 eröffneten Strafverfahren sind auch die im Jahr 2010 und 2014 eröffneten Strafverfahren derzeit noch bei den zuständigen Strafgerichten anhängig, ein Urteil in Abwesenheit ist nicht ergangen.

Zum Entscheidungszeitpunkt kann weder festgestellt werden, ob bzw. wann ein (erstinstanzliches) Urteil infolge der wider den Beschwerdeführer eröffneten Strafverfahren ergehen wird. Ebenso wenig kann gegenwärtig festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer der ihm zur Last gelegten Taten ganz oder teilweise schuldig erkannt wird oder ein gänzlicher oder teilweiser Freispruch ergeht bzw. zu welcher Strafe er im Fall eines Schuldspruchs verurteilt werden würde. Ausgehend davon kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und er anschließend seine Strafe in einer Typ-F-Hochsicherheitsstrafvollzugsanstalt verbüßen müsste. Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Anhaltung in Haft mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gefoltert würde.

Der Beschwerdeführer befand sich vom 05.03.2015 bis zur Ausreise im Herbst 2017 auf freiem Fuß und wurde er mit keinem Ausreiseverbot belegt. Es kann nicht festgestellt werden, dass ihm unmittelbar vor der Ausreise neuerlich die Festnahme drohte. Der Beschwerdeführer verließ die Türkei auf illegalem Weg, aus privaten/wirtschaftlichen Gründen, insbesondere um sich den gegen ihn anhängigen Strafverfahren und einem möglichen zukünftigen Strafantritt im Hinblick auf eine allfällige Verurteilung zu entziehen.

Den türkischen Strafverfolgungsbehörden ist bekannt, dass sich der Beschwerdeführer in Österreich aufhält. Dass ein Verfahren zur Auslieferung des Beschwerdeführers angestrengt wurde, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist gesund und leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Er gehört keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an.

Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten in Österreich. Er führt seit einigen Monaten eine Beziehung mit einer türkischen Staatsangehörigen in Österreich. Diese stellte am 02.03.2022 einen Folgeantrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des BFA vom 25.08.2022, Zl. XXXX , ebenfalls abgewiesen wurde. Des Weiteren wurde eine Rückkehrentscheidung wider diese Person erlassen. Sie erhob dagegen fristgerecht Beschwerde, das Beschwerdeverfahren ist unerledigt beim Bundesverwaltungsgericht anhängig (L512 2166157-4). Der Beschwerdeführer ging mit ihr diese Beziehung nach der Erlassung des Bescheides der belangten Behörde vom 21.01.2019 ein. Sie sind erst seit 10.08.2022 unter der aktuellen Adresse in XXXX gemeinsam gemeldet. Sie sind bislang nicht verheiratet und steht eine Hochzeit nicht unmittelbar bevor. Dass seine Freundin schwanger ist, ist nicht feststellbar. Seitens des Beschwerdeführers besteht keine ausgeprägte emotionale Nähe zu seiner „Freundin“ bzw. Bindung an seine „Freundin“, wobei besonders hervorzuheben ist, dass seine Freundin nicht einmal ein Unterstützungsschreiben für den Beschwerdeführer verfasste und/oder diesen als Vertrauensperson zur Beschwerdeverhandlung begleitete. Im Falle der Rückkehr in die Türkei könnte der Beschwerdeführer den Kontakt zu seiner „Freundin“ auf unterschiedlichem Wege aufrechterhalten (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.). Es steht dem Beschwerdeführer zudem frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen. Der Beschwerdeführer und seine „Freundin“ waren sich beim Eingehen der Beziehung und allen nachfolgenden Schritten, insbesondere der geplanten Eheschließung, des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst.

Der Beschwerdeführer hat keine Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache besucht und legte auch keine Prüfungen ab. Er beherrscht die deutsche Sprache nicht einmal in geringem Ausmaß. Er geht hier weder ehrenamtlicher/gemeinnütziger Arbeit noch Erwerbsarbeit nach. Ebenso wenig brachte der Beschwerdeführer eine Einstellungszusage in Vorlage. Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Er hat in Österreich keine Schule, Kurse oder sonstige Ausbildungen besucht. Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich.

Der Beschwerdeführer pflegt normale soziale Kontakte, vorwiegend zu Freunden aus dem kurdischen Kulturkreis, wobei sich seine gewöhnlichen Freizeitaktivitäten aktuell auf Spaziergänge und das Aufsuchen eines kurdischen Vereins beschränken. Der Beschwerdeführer legte im gegenständlichen Verfahren keine Unterstützungserklärungen seiner Freunde und Bekannten vor.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil eines österreichischen Landesgerichts vom 12.10.2018 wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde. Dieser Verurteilung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Beschwerdeführer hat im Juli 2018 in Kärnten eine falsche ausländische öffentliche Urkunde, die durch Gesetz (§ 2 Abs. 4 Z 4 FPG) inländischen öffentlichen Urkunden gleichgestellt ist, und zwar einen total gefälschten rumänischen Personalausweis lautend auf XXXX , durch Vorweisen gegenüber Beamten der Polizeiinspektion XXXX im Zuge einer fremdenpolizeilichen Kontrolle im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechtes, Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache, nämlich seiner rechtmäßigen Identität gebraucht. Bei der Strafzumessung wurden als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel und das reumütige Geständnis, als erschwerend kein Umstand berücksichtigt. Ein diversionelles Vorgehen scheiterte aus generalpräventiven Gründen.

Zur Lage in der Türkei:

COVID-19-Pandemie

Im Februar 2022 verzeichnete die Türkei täglich im Schnitt rund 93.000 Neuinfektionen und 240 Tote. Bis Ende Februar 2022 waren rund 94.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 1.3.2022).

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).

Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt. Mit 15.1.2022 wurde die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests für ungeimpfte Personen beim Besuch von Kinos, Konzerten, Theater oder anderen Events aufgehoben. Bei Inlands- oder internationalen Flügen müssen ungeimpfte Personen aber weiterhin einen negativen PCR-Test vorlegen. Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn wird ein sogenannter HES-Code (Hayat Eve Sigar) benötigt. Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt (WKO 21.2.2022). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021).

Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).

Politische Lage

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, einen „Dauerwahlkampf“ sowie den Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vgl. DFAT 10.9.2020, S.14).

Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S.3, 10f). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S.5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55; vgl. EC 19.10.2021, S.3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vgl. EP 19.5.2021, S.7-14).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz wiederholter Empfehlungen internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vgl. ÖB 30.11.2021, S.5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S.5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vgl. HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12; vgl. HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 11.11.2021), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).

Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden (EDA 10.2.2022).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.858 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 3.2.2022. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert, wobei 255 Opfer auf irakischem und 137 auf türkischem Territorium vermerkt wurden; alleine die Provinz Şırnak verzeichnete 45 Tote (ICG 3.2.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).

Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 10.2.2022).

Im Jänner 2022 wurden die Militäroperationen gegen die PKK im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks fortgesetzt. Insbesondere wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes Anfang Jänner drei türkische Soldaten im Bezirk Akçakale in Şanlıurfa an der türkisch-syrischen Grenze getötet. In den folgenden Tagen reagierte das Militär mit Operationen gegen PKK-Mitglieder im Grenzgebiet. Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich auf die ländlichen Gebiete der Provinzen Tunceli, Mardin und Şanlıurfa. Die Luftoperationen im Nordirak und in Nordsyrien wurden fortgeführt und richteten sich gegen hochrangige PKK-Mitglieder. In Syrien führten Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte und von Ankara unterstützte Rebellen in den türkisch kontrollierten Gebieten Afrin, al-Bab und Azaz Mitte des Monats zu Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Militärs. Währenddessen wurde vermeldet, dass die Sicherheitskräfte im Jänner 2022 über 100 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. Islamischen Staat festnahmen, allein am 12.1.2022 21 Personen in Mersin mit syrischer und irakischer Herkunft (ICG 1.2022).

Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).

Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).

Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016).

Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S.4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen an sich unterwandert zu haben (AA 24.8.2020, S.4). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, S.4).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vgl. Sabah 17.6.2017).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 3.6.2021, S.4; vgl. UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020, S.20; vgl. SCF 5.10.2020).

Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Mitte November berichtete der Innenminister, dass im Zeitraum vom 15.7.2016 bis 15.11.2021 rund 320.000 Personen verhaftet wurden und fast 100.000 weitere im Gefängnis landeten. Gegenwärtig (Stand 15.11.2021) befänden sich noch 22.340 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Gefängnis (SCF 22.11.2021).

Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der FETÖ "befreit" (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 3.6.2021, S.7; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23 , EC 19.10.2021, S.45). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 30.11.2021, S.23). Laut Innenminister würde noch nach rund 25.000 Personen (Stand November 2021) wegen terroristischer Vergehen gefahndet (SCF 22.11.2021). Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2021, S.23). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).

Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Sommer 2021 angeführt: Zwischen dem 28.6. und dem 3.7.2021 wurden in landesweit durchgeführten Razzien mindestens 146 Personen verhaftet, darunter aktive und entlassene Militär- und Polizeiangehörige, jedoch in der Mehrzahl ehemalige Beamte. Gegen 47 Personen ermittelte die Staatsanwaltschaft Istanbul wegen der konspirativen Benutzung von Münztelefonen. Basierend auf Gesprächsaufzeichnungen, ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass ein Mitglied der Gülen-Bewegung dasselbe Münztelefon benutzt hatte, um alle seine Kontakte nacheinander anzurufen, wobei angenommen wurde, dass andere Nummern, die direkt vor oder nach diesem Anruf angerufen wurden, ebenfalls zu Personen mit Gülen-Verbindungen gehörten (BAMF 5.7.2021, S.15; vgl. SCF 2.7.2021). Zwischen dem 12. und dem 17.7.2021 wurden in 47 Provinzen mindestens weitere 256 Personen, größtenteils Militärangehörige, verhaftet (BAMF 19.7.2021, S.16; vgl. SCF 16.7.2021). Zwischen dem 6. und 10.9.2021 ordneten die Behörden die Inhaftierung von insgesamt 279 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung an. Am 8.9.2021 erließ die Staatsanwaltschaft in mehreren Städten 65 Haftbefehle gegen Militäroffiziere, Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte und Lehrer. Einige der Verdächtigten werden beschuldigt, über Münztelefone mit ihren Kontakten in der Gülen-Bewegung kommuniziert zu haben, weitere werden verdächtigt, die Handy-Anwendung ByLock genutzt zu haben (BAMF 13.9.2021, S.16; vgl. SDZ 7.9.2021). Bereits am 13.9.2021 wurden 33 entlassene und aktive Soldaten (Anadolu 13.9.2021), und am 24.9.2021 35 Personen, die Teil eines geheimen Netzwerks der Gülen-Bewegung innerhalb der türkischen Streitkräfte sein sollen, verhaftet (BAMF 27.9.2021, S.15). In der ersten Oktoberwoche 2021 wurden bei landesweiten Razzien über 100 Personen festgenommen. Bei den Verdächtigten handelt es sich hauptsächlich um Staatsbedienstete, darunter Angestellte des Militärs und der Luftwaffe, sowie derzeitige oder ehemalige Mitarbeiter des Petro-Chemie-Unternehmens „Petkim“. Letztere sollen Konten bei der inzwischen geschlossenen Asya-Bank geführt haben (BAMF 11.10.2021, S.13; vgl. DS 5.10.2021). Zudem wurden am 5.10.2021 durch den Rat der Richter- und Staatsanwälte (HSK) zehn Mitglieder der Staatsanwaltschaft und drei Mitglieder der Richterschaft ihres Amtes enthoben. Der HSK entschied, dass die Beschuldigten aufgrund ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung, nicht in der Lage seien, ihre Berufe auszuüben (BAMF 11.10.2021, S.13). Am 15.10.2021 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Ankara wegen mutmaßlicher Tätigkeiten für die Gülen-Bewegung Haftbefehle gegen 98 Personen innerhalb des Generalkommandos der Gendarmerie. Weitere 46 Personen wurden bei Polizeieinsätzen in 45 Provinzen festgenommen (BAMF 18.10.2021, S.14), und am 19.10.2021 haben türkische Sicherheitskräfte auf der Basis von 158 Haftbefehlen der Staatsanwaltschaft in Izmir mindestens 97 Personen bei gleichzeitigen Operationen in 41 Provinzen verhaftet, darunter sowohl aktive Soldaten als auch Militärschüler (Anadolu 19.10.2021). Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung wurden am 20.10.2021 Haftbefehle aufgrund eines geheimen Zeugen gegen 39 Frauen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung erlassen. Während Razzien in fünf Provinzen wurden 32 von ihnen festgenommen (BAMF 25.10.2021, S.15f; vgl. DS 20.10.2021). Am 22.10.2021 wurde die landesweite Festnahme von 81 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern vermeldet, nebst Militärangehörigen auch Mitarbeiter des Außenministeriums (DS 22.10.2021). Anfang November 2021 wurden 40 vermeintliche Führungsmitglieder der Gülen-Bewegung, welchen die Infiltration der Gendarmerie vorgeworfen wurde, verhaftet (Anadolu 2.11.2021). Am 23.11.21 erklärte die Polizei, bei Razzien in mehreren Städten in der Türkei mindestens 132 Personen festgenommen zu haben, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Hierbei handelt es sich um entlassene Kadetten und Soldaten sowie Soldaten im aktiven Dienst wie auch Angestellte der Gendarmerie (BAMF 29.11.2021, S.16; vgl. Anadolu 23.11.2021). In der Folgewoche wurden weitere rund 60 Personen verhaftet, unter dem Verdacht, das Generalkommando der Gendarmerie unterwandert zu haben (Anadolu 30.11.2021). Auch 2022 gingen die Verhaftungswellen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder weiter: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, S.15; vgl. DS 4.1.2022). Bereits am 11.1.2022 wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, S.14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet (Ahval 22.2.2022).

Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, S.40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020).

Mit Stand 9.4.2021 waren laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu insgesamt 4.820 Putschverdächtige verurteilt. 1.626 hatten eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen erhalten, 1.373 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und 1.821 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vgl. ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vgl. AP 7.4.2021). Somit waren von den 289 Prozessen hernach noch 14 ausständig (DPA 7.4.2021).

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S.9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 3.6.2021, S.7; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 3.6.2021, S.7; vgl. JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 3.6.2021, S.7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).

Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen. Zwar kann jeder mit einem Gülen-Hintergrund verfolgt werden, doch scheint eine Priorisierung nach Berufsgruppen zu bestehen, wonach Armee-, Polizei- und Angehörige des diplomatischen Corps, gefolgt von Juristen, stärker ins Visier genommen werden als beispielsweise Mitarbeiter im Medien- oder Bildungsbereich (NL-MFA 18.3.2021, S.38f.).

Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein. Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, S.41).

Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren, und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).

Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolge der Anfeindungen und der Stigmatisierung haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder Schwierigkeiten, in der türkischen Gesellschaft zu überleben. Arbeitgeber sind nicht geneigt, diese einzustellen, aus Angst, selbst als Unterstützer oder Mitglieder der Gülen-Bewegung angesehen zu werden. Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, S.43).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine „in flagranti“-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S.14).

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 15.6.2021, S.261; vgl. ÖB 30.11.2021, S.21f).

Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2021, S.22).

2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“, bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2021, S.22). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2021, S.22).

Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.2.2022 3.717 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen „Adlerklaue“ und „Tigerkralle“ gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S.261).

Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).

Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022).

In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2021, S.22).

Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans)

Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK sollen aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 haben sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 4.2.2022; vgl. CEP 3.6.2021). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).

Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), hervorgegangen aus der politisch-militärischen Organisation "Devrimci Sol" (kurz: "Dev-Sol", Revolutionäre Linke), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den „bewaffneten Volkskampf“ unter der Führung der DHKP-C möglich. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei“ (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die „Revolutionäre Volksbefreiungsfront“ (DHKC). Hauptfeinde sind die als „faschistisch“ und „oligarchisch“ bezeichnete Türkei und der „US-Imperialismus“. Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen. Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 15.6.2021, S.272-274, 295; vgl. CEP 21.4.2020; S.7).

Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. Im Februar 2021 wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021). Am 22.09.21 nahmen türkische Sicherheitskräfte bei simultanen Razzien in Istanbul acht Personen fest, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur DHKP-C zu unterhalten (BAMF 27.9.2021, S.16). Mitte Oktober kam es zur Verhaftung von 54 Personen, welche laut Medienberichten Terroranschläge geplant hatten (BAMF 18.10.2021, S.14; vgl. Anadolu 15.10.2021). Und Anfang Dezember 2021 wurden mindestens 25 Verdächtige in sieben Provinzen wegen angeblichen Verbindungen zur DHKP-C festgenommen (Anadolu 3.12.2021).

Die türkische Regierung verdächtigt auch die Musikgruppe "Grup Yorum", die für ihre Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan bekannt ist, Verbindungen zur DHKP/C zu haben. Im Jahr 2020 starben drei Bandmitglieder an den Folgen eines Hungerstreiks aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder, wiederholte Razzien im Kulturzentrum von Grup Yorum und gegen das Verbot von Konzerten der Band (NL-MFA 18.3.2021). Der deutsche Verfassungsschutz sieht eine eindeutige Verbindung zwischen DHKP-C und Grup Yorum. Im September 2020 wurde die „Todesfastenkampagne“ für vorläufig beendet erklärt. Die DHKP-C verklärte sie als Sieg, da einige der übrigen Teilnehmer vorläufig aus dem Gefängnis entlassen worden waren oder Hafterleichterungen erhielten. Die im Rahmen des „Todesfastens“ Verstorbenen wurden von der DHKP-C als „Märtyrer“ und Vorbilder idealisiert (BMIBH 15.6.2021, S.275).

Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ihren Institutionen hält an. Die Verschlechterung der Lage der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21; vgl. CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1, 14f.). Das Europäische Parlament sah in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, S.11).

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass "der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).

Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt "die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte" (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44).

Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie desEGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).

Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, S.6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S.5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).

Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 23f).

Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignoierten (EC 19.10.2021, S.23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.7f; vgl. SCF 3.2021, S.46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, S.7f).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S.7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, S.8).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, S.6).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, S.6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5% seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).

Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100% (ÖB 30.11.2021, S.7).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, S.9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, S.9).

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, S.15).

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 3.6.2021, S.17). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S.31).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S.31). Folter und Misshandlung kommen weiterhin in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16; İHD 4.10.2021, S.11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S.31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S.11; vgl. TİHV 6.2021, S.13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 19.5.2021 zeigte sich auch das Europäische Parlament „zutiefst besorgt über die anhaltenden Vorwürfe von gewaltsamen Verhaftungen, Schlägen, Folter, Misshandlungen und grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam und in Gefängnissen sowie über Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen in den vergangenen vier Jahren, über das Versäumnis der Staatsanwaltschaft, effektive Ermittlungen zu diesen Vorwürfen aufzunehmen, und über die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit für die involvierten Mitglieder der Sicherheitskräfte und Amtsträger“ (EP 19.5.2021; S.15, Pt.37). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022).

 

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten jener Kläger, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).

 

Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudspersonstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).

 

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

 

Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).

 

Beispiele:

Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden

Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).

Allgemeine Menschenrechtslage

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S.30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.4, 13). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34).

Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).

Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).

Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S.31).

Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).

Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).

Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S.30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen, befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022).

Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1% aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich

der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020, S.16, 27; vgl. AA 3.6.2021), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

 

Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S.5). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

 

Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, S.37).

 

In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 3.6.2021, S.9). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vgl. BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. FH 2.2022, E1). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, S.36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, S.37).

 

Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, S.28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der „Aufstachelung zum Hass“, des „Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz“ und des „Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen“ fest (EC 19.10.2021, S.34).

 

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen „Propagandamarsch“ für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in „Schutzhaft“ zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).

 

Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S.12; vgl. BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022).

 

Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich

krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 3.6.2021).

 

Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S.37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S.16f; vgl. TM 8.9.2021).

 

Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu

insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021).

Opposition

Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, dazu gehören die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. das Organisieren von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien (USDOS 30.3.2021, S.53).

Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen, und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, S.11; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).

Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, S.13).

Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als jene der HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. Kaftancıoğlu kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament sah die Anklagen gegen Canan Kaftancıoğlu als politisch motiviert an (EP 21.1.2021).

Vorgehen gegen die HDP

Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vgl. DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S.69).

Laut Angaben der HDP waren seit 2015 mehr als 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausend HDP-Mitglieder wurden freigelassen, nachdem sie - manchmal jahrelang - hinter Gittern saßen, dennoch befinden sich immer noch mehr als 4.000 HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, im Gefängnis (HDP 18.5.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.11). Außerdem leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Auch das Europäische Parlament (EP) forderte 2021 mehrmals auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 21.1.2021; vgl. EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).

HDP-Mitglieder sehen sich mit dem Vorgehen seitens der türkischen Behörden gegen sie konfrontiert. Dazu gehören auch nächtliche Razzien am Wohnort u.a. durch maskierte Anti-Terror-Spezialeinheiten. Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 18.3.2021, S. 51f.). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S.20).

Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 3.6.2021, S.8). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).

Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).

In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022).

Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022).

Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S.14f).

Verbotsverfahren gegen die HDP

Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S.3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).

In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).

Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022).

Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S.4).

Gewaltakte gegen die HDP und ihre Vertreter

In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende, Mithat Sancar, sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP. Mehrere Oppositionspolitiker hegten Zweifel an der Einzeltäterthese und forderten weitere Untersuchungen, insbesondere nachdem der Täter erwiesenermaßen in Manbij, Syrien mit Waffen posierte (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotow-Cocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).

Haftbedingungen

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert

und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.11). In türkischen Haftanstalten

können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Vorbehalte gibt es allerdings bei einigen Gefängnissen mit Überbelegung, wo die Ausstattung der Gefängnisse und zum Beispiel die medizinische Versorgung nicht auf die Anzahl der Insassen ausgelegt sind (AA 3.6.2021, S.19; vgl. ÖB 30.11.2021, S.11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u.a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (ÖB 30.11.2021, S.11). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 30.3.2021). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 30.11.2021, S.11). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021, S.10).

 

In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S.38). Die 369 Strafvollzugsanstalten in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 251.299 (Stand 1.10.2021). Die Zahl der Insassen betrug am 30.9.2021 laut türkischen Angaben 292.074 (inkl. 38.900 in U-Haft). Das entspricht einem Belegungsgrad von 116% (ÖB 30.11.2021, S.11). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S.31f). Das Justizministerium lässt weitere 26 Gefängnisse bauen, während 17 Haftanstalten 2020 renoviert wurden, um die steigende Anzahl von Insassen bewältigen zu können, die sich laut Ministerium von 120.000 im Jahr 2010 auf fast 251.000 Ende 2020 mehr als verdoppelt hat (Ahval 3.4.2021). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S.4f; S.32 Tab.).

 

Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 19.10.2020, S.31; vgl. DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S.1).

 

Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S.1).

 

Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der „Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens“ darstellt (EC 6.10.2020, S.32).

 

Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 30.3.2021, S.8; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S.29). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen- Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S.19), zuletzt z.B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).

 

LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020). Laut der türkischen NGO Civil Society in the Penal System Association (CİSST) gehören Mitglieder von sexuellen Minderheiten zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S.48).

 

Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 30.3.2021, S.21). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 30.3.2021, S.21).

 

Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 30.3.2021, S.9).

 

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).

Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte 1.605 kranke Gefangene dokumentieren. 604 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befinden. Seit Anfang 2020 sollen mindestens 59 kranke Häftlinge verstorben sein (BAMF 20.12.2021, S.12; vgl. Ahval 2.1.2022).

 

Kurdische Häftlinge

Mit Beginn des Ausnahmezustands wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S.16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S.30;68). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S.30;68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S.30;68; vgl. İHD 23.10.2020, S.7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S.55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).

 

Hochsicherheitsgefängnisse

In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror- Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Frauen werden entweder in Frauengefängnissen oder in den Frauenabteilungen der Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F oder D untergebracht. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S.11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S.4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S.70). Viele Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36).

 

Isolationshaft

Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S.26). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11% aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S.26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S.25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihrer Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S.48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament „die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden“ (EP 19.5.2021).

 

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der allzu weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, S.32; vgl. AA 3.6.2021, S.19, DFAT 10.9.2020, ÖB 30.11.2021, S.11). Der ständige Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Türkei kritisierte den Ausschluss von Untersuchungshäftlingen und jenen, die wegen ihrer politischen Aktivitäten inhaftiert sind, von der neuen Gesetzeslage. Stattdessen hätten die türkischen Regierungsparteien beschlossen, das Leben von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und denjenigen, die sie als politische Gegner betrachten, bewusst dem Risiko einer tödlichen Erkrankung an COVID-19 auszusetzen (EP 15.4.2020).

 

Nach den Ergebnissen einer Umfrage, die von der Media and Law Studies Association (MLSA) zwischen Februar und März 2021 in fünf Gefängnissen durchgeführt wurde, fehlte es mehr als der Hälfte der befragten Gefangenen während der COVID-19-Pandemie an Reinigungs- und Hygieneartikeln; die meisten von ihnen waren mit erheblichen Einschränkungen bei kulturellen und sportlichen Aktivitäten sowie beim Besuchsrecht konfrontiert. 44% der Gefangenen wurden nicht über die COVID-19-Pandemie informiert (MLSA 18.7.2021).

 

Die in den Gefängnissen Verbliebenen erleben durch die Corona-bedingten Quarantänemaßnahmen erschwerte Haftbedingungen und Einschränkungen ihrer Rechte. Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können (DW 17.3.2021). So wurden im April 2021 im Sakarya-Ferizli-Gefängnis in der Nordwest-Türkei fünf Wärter positiv diagnostiziert, die infolge mehrere Häftlinge mit COVID-19 infizierten (SCF 28.4.2021). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) berichtet von gravierenden Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch erhalten zu haben. Zudem wurde infolge der Lage Insassen über mehrere Monate hinweg der Besuch durch ihre Anwälte verwehrt. Nicht zuletzt wächst auch die Not kranker Häftlinge, da ihre Behandlung häufig wegen Corona unterbrochen worden ist (DW 17.3.2021).

 

NGOs bezeichneten die COVID-Situation in den Haftanstalten bereits im Frühjahr 2020 als alarmierend. Gefangene können Reinigungs- und Hygieneprodukte nur gegen eine Gebühr in der Kantine erhalten. Häftlinge wurden nur in Notfällen ins Krankenhaus eingeliefert, und die 14- tägige Quarantänezeit nach einem Krankenhausbesuch konnte aufgrund des Ärztemangels in den Gefängnissen nicht eingehalten werden. Das Personal, das außerhalb der Gefängnisse arbeitete, trug angeblich keine Schutzbekleidung, und an den Eingängen und in den Warteräumen der Anwälte in den Gefängnissen waren keine Desinfektionsmittel erhältlich (EPO 15.5.2020).

 

Die türkische NGO CİSST verzeichnete seit Beginn der COVID-19-Pandemie Beschwerden aus 179 Haftanstalten unterschiedlichen Typus’ (Stand: Ende November 2021). Die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen stellen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Pandemie dar. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. Es kam zu etlichen Klagen über schmutzige Bettwäsche, Toiletten und Trinkwasser. In einigen Gefängnissen kann auch infolge der Überbelegung keine Frischluft zirkulieren. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten vermehrt Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von COVID-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Die Minimierung der Anzahl der Treffen mit den Familien hat die Isolationsbedingungen für die Gefangenen, die allein untergebracht sind, noch verschärft (CİSST 30.11.2021).

 

Laut Regierung gibt es derzeit in 115 der 369 Strafvollzugsanstalten Covid-19-Fälle. Die Gesamtzahl der infizierten Inhaftierten beträgt 851 (Stand: 3.11.2021). Seit Ausbruch der Pandemie sind bislang insgesamt 45 Inhaftierte an oder mit Covid-19 verstorben. Im Rahmen des Nationalen Impfprogramms wurden nach Regierungsangaben alle Häftlinge, die sich dazu bereit erklärt hatten, gegen Covid-19 geimpft. Im Oktober 2021 betrug der Anteil der Inhaftierten, die eine Dosis erhalten haben, 91%, und jener, die zwei Dosen erhalten haben, 80%. Zur Minimierung des Infektionsrisikos wurden außerdem seit Pandemiebeginn 88.767 Menschen vorübergehend aus der Haft, zumeist aus dem offenen Strafvollzug, entlassen (Stand: 30.9.2021).

Todesstrafe

Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2021, S.12)

Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020).

Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten

Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 12.5.2021), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, S.23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, S.23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).

 

Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 12.5.2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha’i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, S.23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, S.23f; vgl. DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 3.6.2021, S.11).

 

Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 12.5.2021).

 

In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S.10).

 

Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der „Provozierung von Hass und Feindseligkeit“ vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates „zu tadeln oder zu verunglimpfen“. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 12.5.2021), oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums (USDOS 10.6.2020). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 12.5.2021). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).

 

Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 12.5.2021). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).

 

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nichtmuslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 12.5.2021; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha’i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 12.5.2021).

 

Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vgl. USDOS 12.5.2021). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).

 

Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin’sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. „nationale und spirituelle Werte“ durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019).

 

Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der

Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein

anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, S.24).

 

Religiöse und ethno-religiöse Minderheiten sind Aggressionen, Intoleranz und Diskriminierung ausgesetzt (NL-MFA 18.3.2021, S.53). Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit Langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten, um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten – einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82).

Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 19.10.2021, S.32; vgl. BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vgl. BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Nur sehr wenige Täter wurden tatsächlich strafrechtlich verfolgt. Es wurden keine Schritte zur Überarbeitung der Schulbücher unternommen, um die Reste diskriminierender Anspielungen zu streichen (EC 19.10.2021, S.40).

 

Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS 30.3.2021, S.68; vgl. USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).

 

Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 12.5.2021). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha’i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt „Religion“ auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 12.5.2021).

 

Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vgl. AA 3.6.2021, S.11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, S.26).

 

Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 3.6.2021, S.11; vgl. BMZ 10.2020; USDOS 12.5.2021) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 3.6.2021, S.11).

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden (USDOS 30.3.2021, S.70). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 3.6.2021, S.11). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).

Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71).

Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, S.40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S.40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73).

Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, S.41).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; S.28).

Kurden

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S.20).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, S.27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2020, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang. 2020 wurden mindestens 19 Ausgangssperren verhängt, die kürzeste für 24 Stunden und die längste für 15 Tage, und zwar vom 23. März bis Ende 2020 in Dörfern der Provinzen Bitlis, Mardin, Siirt, Şırnak und Cizre (İHD 4.10.2021, S.18). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, S.4).

Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "zutiefst besorgt über die Lage im Südosten der Türkei und die Kurdenfrage, [...] insbesondere in Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte, der politischen Partizipation, der Meinungsfreiheit und der Religions- und Glaubensfreiheit; [...] über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S.16f, Pt.44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S.17, Pt.44).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, S.16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, S.16; vgl. CCRT 8.4.2021)

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, S.16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Allerdings entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021).

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S.36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S.21).

Übergriffe

Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S.27; vgl. Bianet 22.7.2021).

Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S.47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022).

Verwendung der kurdischen Sprache

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, S.28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; S.41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, S.28). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S.46).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, S.28).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S.21; vgl. TM 17.9.2020).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.6.2021, S.11). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereich vollständig (AA 3.6.2021, S.11) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S.27).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021).

Grundversorgung / Wirtschaft

Die Türkei war eines der wenigen Länder, die 2020 ein Wachstum verzeichneten, vor allem dank günstiger Kredite nach einer Reihe von Zinssenkungen durch die Zentralbank, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuwehren. Im Jahr 2021 nahm das Wachstum wieder zu, da die COVID-19-Beschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Doch eine Währungskrise Ende 2021, die die Inflation auf fast 50% ansteigen ließ, hat die Wachstumserwartungen für 2022 gedämpft (Reuters 22.2.2022). Das 2021 starke Wachstum von 8,5% des Bruttoinlandsprodukts dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 3,3% abschwächen. Der Türkei droht eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich im letzten Quartal 2021 zugespitzt. Das Wirtschaftswachstum wird teuer erkauft durch niedrige Zinsen, hohe Inflation und eine starke Abwertung der Währung. Die Auslandsschulden der Unternehmen und des Staates sind hoch. Die Währungsreserven hingegen sind gering und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 14.1.2022).

2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht statistisch mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021). Präsident Erdoğan hat angesichts der hohen Inflation von zuletzt 50% und des steigenden Unmuts in der Bevölkerung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von acht auf ein Prozent angekündigt (DW 12.2.2022).

Die Arbeitslosigkeit in der Türkei betrifft insbesondere die jüngere Generation. Die türkische Plattform für Jugendarbeitslosigkeit schätzt, dass im November 2021 mehr als elf Millionen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren arbeitslos waren. Im dritten Quartal 2021 lag die offizielle Jugendarbeitslosenquote bei 22% (AT 3.1.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73% "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).

Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Aksoy Research vom Jänner 2022 gaben nur 4% an, dass sie alle ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten decken können, weitere 13,7% zumindest "die meisten". Währenddessen sagten 17%, keines ihrer Grundbedürfnisse decken zu können. Weitere 36,6% meinten, ihre Grundbedürfnisse nur "sehr wenig" befriedigen zu können, immerhin 28,5% zumindest "einige" davon (TM 27.1.2022)

Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 30.11.2021, S.39).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).

Auch 2021 verblieb die Türkei im Bann der COVID-19-Pandemie. Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurden bis August 2021 zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Krise insgesamt 70,55 Mrd. Euro an fiskalen Maßnahmen in Form von öffentlichen Unterstützungen und Steuererleichterungen aufgewendet, welche 10,6 % des BIP ausmachen (WKO 14.10.2021).

Sozialbeihilfen/-versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S.40).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).

Arbeitslosenunterstützung

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.420 TL, der Maximalbetrag 2.840 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 30.11.2021, S.39). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.39).

Pension

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

 Staatsbürger über 18 Jahre

 Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)

 Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

 Anmelden bei der Sozialversicherung SGK

 Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden

 Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr

Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).

Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40%, die von unabhängigen Instituten auf über 80% im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vgl. Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30% erhöht (Bianet 4.1.2022) Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22% des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S.56f).

Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).

Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S.38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vgl. AA 16.11.2021). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).

Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S.10).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S.37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. ÖB 30.11.2021, S.38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt. Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d.h. wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

 Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

 Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

 TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S.39).

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).

 

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 30.11.2021, S.38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, S.38).

 

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip „ne bis in idem“, d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).

III. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht in Zusammenschau mit einem türkischen Personalausweis im Original (Kopie, Teil I des Verwaltungsakts, AS 297ff) und einem türkischen Führerschein im Original (Kopie, Teil I des Verwaltungsakts, AS 293ff) sowie den vom Bundesverwaltungsgericht als für unbedenklich befundenen türkischen behördlichen Unterlagen zu den im Jahr 2010 und im Jahr 2014 eröffneten Strafverfahren in Kopie (Teil II des Verwaltungsakts, AS 553ff [Übersetzung: AS 603ff], AS 543 - 545 [Übersetzung: AS 625], AS 547 - 551 [Übersetzung: AS 627ff], AS 567 - 569 [Übersetzung: AS 635 - 637], AS 587 - 593 [Übersetzung: AS 639ff], AS 579 - 583 [Übersetzung: AS 651ff], AS 571 [Übersetzung: AS 657] und AS 585 [Übersetzung: AS 659 - 661]) sowie einer Nachschau mithilfe der Zugangsdaten des Beschwerdeführers auf der türkischen Website e-Devlet kapısı betreffend seine Person in der mündlichen Verhandlung (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls).

Die weiteren Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zum Familienstand, zu seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seinem fehlenden Religionsbekenntnis, zu seinen Sprachkenntnissen, zu seiner Herkunft, zu seinem Aufenthalt und Leben in Istanbul, zu seiner schulischen Laufbahn, zu seiner Erwerbstätigkeit und zur Finanzierung seines Lebensunterhalts vor seiner Ausreise, zu den in der Türkei lebenden Familienangehörigen und deren aktuellen Wohnorten sowie zum nicht abgeleisteten Wehrdienst waren auf der Grundlage von glaubhaften Angaben im behördlichen und gerichtlichen Verfahren und dem Verwaltungs- sowie Gerichtsakt zu treffen.

Dass der Beschwerdeführer regelmäßig mit Familienangehörigen und Freunden in Kontakt steht, brachte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA und in der mündlichen ebenfalls selbst vor (Teil II des Verwaltungsakts, AS 503; Seite 5 des Verhandlungsprotokolls). Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Angaben nicht stimmen sollten. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sie daher ohne Weiteres den Feststellungen zugrunde legen.

Dass der Beschwerdeführer die Türkei im Herbst 2017 in Richtung Österreich verließ, sagte der Beschwerdeführer im Wesentlichen gleichbleibend vor der belangten Behörde glaubhaft aus (Teil II des Verwaltungsakts, AS 521; Teil III des Verwaltungsakts, AS 624).

Wann der Beschwerdeführer den Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist in unbedenklichen Urkunden/Unterlagen dokumentiert (Teil I des Verwaltungsakts, AS 25ff) und wurde nicht in Zweifel gezogen. Dass der Beschwerdeführer illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist, steht außer Frage, zumal er bei seiner Einreise kein (gültiges) Einreisedokument vorlegen konnte (vgl. auch Teil I des Verwaltungsakts, AS 13ff).

Gestützt auf die Angaben des Beschwerdeführers und die Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister konnte das Bundesverwaltungsgericht die Feststellungen zum Aufenthaltsstatus treffen.

Die Feststellung zum Fehlen von Familienangehörigen in Österreich folgt den Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls) und besteht kein Grund für das Bundesverwaltungsgericht an diesen Ausführungen zu zweifeln.

Die Feststellungen zur Folgeantragstellung zur Erlangung internationalen Schutzes seiner „Freundin“, ergeben sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers in der Stellungnahme vom 25.10.2022 (OZ 13) in Verbindung mit einer Einsichtnahme in den elektronischen Gerichtsakt bezüglich dieser Person (L512 2166157-4) und insbesondere in die im Gerichtsakt aufliegende Asylfolgeentscheidung der belangten Behörde bezüglich dieser Person.

Die Feststellungen zur einige Monate andauernden Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und einer türkischen – auf Grund eines Folgeantrags zur Erlangung internationalen Schutzes im Bundesgebiet aufhältigen – Staatsangehörigen stützen sich in erster Linie auf die Aussagen des Beschwerdeführers in der Stellungnahme vom 25.10.2022 (OZ 13) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Dass diese Beziehung erst nach der Erlassung des Bescheides der belangten Behörde vom 21.01.2019 begonnen haben kann, ergibt sich zwingend aus der Tatsachte, dass der Beschwerdeführer im Zuge seiner Stellungnahme vom 25.10.2022 erklärte, erst seit einigen Monaten eine Beziehung mit dieser Person zu führen (OZ 13). Hinsichtlich der Frage, seit wann der Beschwerdeführer und seine „Freundin“ offiziell an Adresse in XXXX gemeinsam gemeldet sind, liegen in Form entsprechender aktueller Auszüge aus dem Zentralen Melderegister geeignete und unbedenkliche Ermittlungsergebnisse vor. Dass die beiden bislang nicht verheiratet sind und eine Hochzeit nicht unmittelbar bevorsteht, ergibt sich aus den Schilderungen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Die mangelnde Feststellbarkeit einer Schwangerschaft dieser Person weiblichen Geschlechts resultiert daraus, dass der Beschwerdeführer im Wege der bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation in der Stellungnahme vom 25.10.2022 zwar davon spricht, dass er von einer Schwangerschaft seiner „Freundin“ ausgehe, zumal ein Schwangerschaftstest positiv ausgefallen sei (OZ 13). In der mündlichen Verhandlung am 27.10.2022 ließ der Beschwerdeführer eine Schwangerschaft seiner „Freundin“ hingegen unerwähnt. Weder bei der Beantwortung der Frage „Sind sie verheiratet oder führen Sie eine Lebensgemeinschaft?“ oder der Frage „Haben Sie Kinder?“ führte der Beschwerdeführer eine Gravidität seiner „Freundin“ ins Treffen (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Vor allem ist auch festzuhalten, dass der Beschwerdeführer in der schriftlichen Stellungnahme vom 25.10.2022 festhielt, dass eine ärztliche Bestätigung der Schwangerschaft noch ausstünde, zumal ein Untersuchungstermin erst für die nächste Woche vorgesehen sei (OZ 13). Trotz mehrfacher Belehrungen über die Mitwirkungspflicht gem. § 15 AsylG (z. B. Teil II des Verwaltungsakts, AS 497) hat er aktuelle ärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Schwangerschaft bestätigen würden, bislang aber nicht in Vorlage gebracht.

Unter Bedachtnahme auf die folgenden Umstände war ferner festzustellen, dass seitens des Beschwerdeführers keine ausgeprägte emotionale Nähe zu seiner „Freundin“ bzw. Bindung an seine „Freundin“ besteht und er auch kein ernsthaftes, ausgeprägtes emotionales oder affektives Interesse an der Beziehung zu seiner Freundin hat: Obwohl sich der Beschwerdeführer u. a. seiner Mitwirkungspflicht bereits im Verfahren bewusst war und darauf dezidiert im gegenständlichen behördlichen Verfahren hingewiesen wurde (Teil II des Verwaltungsakts, AS 497), trat erst auf Grund des Schreibens vom 25.10.2022 (OZ 13) im Beschwerdeverfahren zutage, dass der Beschwerdeführer eine Beziehung zu einer türkischen Staatsangehörigen führe. Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer damit seiner Mitwirkungspflicht nicht oder allenfalls unzureichend nachkam, muss das Bundesverwaltungsgericht zu dem Schluss kommen, dass die Beziehung für den Beschwerdeführer keine große Bedeutung haben kann, andernfalls hätte er dazu eher (konkret) etwas vorgebracht. Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass es die türkische „Freundin“ des Beschwerdeführers bislang nicht für erforderlich erachtete, für den Beschwerdeführer ein Unterstützungsschreiben zu verfassen und diesen auch nicht als Vertrauensperson zur Beschwerdeverhandlung begleitete. Abgesehen von dem erst seit 10.08.2022 bestehenden gemeinsamen Wohnsitz, ist im Hinblick auf die Qualität und Intensität der Beziehung zudem hervorzuheben, dass die beiden keine gemeinsamen Kinder haben. Unter Bedachtnahme auf die bereits erörterten Ausführungen war insgesamt festzustellen, dass eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen den beiden im Verfahren nicht zutage trat.

Dass es dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat möglich wäre, mit seiner in Österreich lebenden „Freundin“ zu kommunizieren, steht schon deshalb außer Frage, weil der Beschwerdeführer nach seiner Einreise in das Bundesgebiet mit seiner Familie kommunizierte; die technische Möglichkeit besteht also, was sich im Übrigen grundsätzlich auch aus zahlreichen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts ergibt. Dass (gegenseitige) Besuche, etwa auch in Drittstaaten, grundsätzlich unmöglich wären, ist nicht hervorgekommen. Zu bedenken ist auch, dass gegen den Beschwerdeführer kein Einreiseverbot besteht (§ 53 FPG; vgl. auch § 11 Abs. 1 Z 3 NAG und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa nach der Verordnung (EU) 2016/399 [Schengener Grenzkodex] sowie nach dem FPG).

Dass sich der Beschwerdeführer und seine „Freundin“ beim Eingehen der Beziehung und allen nachfolgenden Schritten, insbesondere der geplanten Eheschließung, des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst waren, ergibt sich aus dem Umstand, dass sie die Beziehung erst nach dem Zeitpunkt der Erlassung des Bescheids der belangten Behörde (23.01.2019) im Jahr 2022 begründeten.

Hinsichtlich seiner Sprachkenntnisse legte der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 05.11.2018 dar, dass er die deutsche Sprache nicht verstehen und er keine Kurse besuchen würde (Teil II des Verwaltungsakts, AS 505). Vier Jahre später verneinte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung erneut, dass er Deutsch spreche. Ferner erläuterte der Beschwerdeführer, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, einen Sprachkurs zu besuchen (Seite 4 Verhandlungsprotokolls). Dementsprechend liegen dem Bundesverwaltungsgericht keine Nachweise über absolvierte Deutschkurse oder Prüfungen vor, so dass dahingehende Feststellungen getroffen werden mussten. Ausgehend davon ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer nicht einmal über rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.

Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer weder ehrenamtlicher/gemeinnütziger Arbeit noch Erwerbsarbeit nachgeht, abgesehen vom Aufsuchen eines kurdischen Kulturvereins auch nicht Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen Organisation ist und in Österreich auch keine Schule, Kurse oder sonstige Ausbildungen besucht hat, ergeben sich aus seinen Angaben vor der belangten Behörde (Teil II des Verwaltungsakts, AS 505) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 4 des Verhandlungsprotokolls).

Aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung ergibt sich auch, dass der Beschwerdeführer gewöhnlichen Freizeitaktivitäten nachgeht (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Der Beschwerdeführer legte keine Unterstützungserklärungen seiner Freunde und Bekannten vor, weshalb die dementsprechende Feststellung getroffen wurde.

Den Feststellungen zum Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich liegen ebenfalls die Aussagen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zugrunde (vgl. etwa Teil II des Verwaltungsakts, AS 505; Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Das Bundesverwaltungsgericht stellt insgesamt nicht in Abrede, dass der Beschwerdeführer verschiedene private Kontakte unterhält. Im Hinblick auf die im Verfahren genannten Freizeitaktivitäten (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls) kann jedoch kein Abhängigkeitsverhältnis und auch keine über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindung festgestellt werden. Hinweise auf eine einem Familienleben entsprechende Beziehung gibt es – angesichts der Darstellung der Kontakte – nicht. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer vorwiegend zu Personen aus dem kurdischen Kulturkreis Kontakt pflegt, ergibt sich einerseits aus seinem Vorbringen, wonach er keine österreichischen Freunde oder sonstige soziale Kontakte zu Österreichern habe (Teil II des Verwaltungsakts, AS 505) und er andererseits einen kurdischen Kulturverein aufsuchen würde (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls), zumal er der deutschen Sprache nicht mächtig ist (Seite 4 des Verhandlungsprotokolls).

Die Feststellungen zum laufenden Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung auf Grund fehlender eigener Erwerbsarbeit, ergeben sich aus seinen Angaben vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (Teil II des Verwaltungsakts, AS 505; Seite 3 des Verhandlungsprotokolls) und einem aktuellen GVS-Auszug.

Die Feststellungen zur Verurteilung des Beschwerdeführers, der dieser Verurteilung zugrundeliegenden Tathandlung und den Strafzumessungsgründen ergeben sich aus dem angeführten Urteil (Teil II des Verwaltungsakts, AS 533ff) in Zusammenschau mit dem eingeholten aktuellen Strafregisterauszug.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer gesund ist und keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung angehört, ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung (Teil I des Verwaltungsakts, AS 27), in den Einvernahmen vor der belangten Behörde (Teil I des Verwaltungsakts, AS 51; Teil II des Verwaltungsakts, AS 495) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 2 des Verhandlungsprotokolls). Dass der Beschwerdeführer Gründe haben könnte, insofern wahrheitswidrige Aussagen zu tätigen, ist nicht ersichtlich.

Die Feststellungen zu den vorgebrachten Fluchtgründen stützen sich auf folgende Erwägungen:

Eingangs ist festzuhalten, dass die Feststellungen betreffend das in der Türkei bestehende politische Interesse des Beschwerdeführers auf den diesbezüglichen glaubhaften Angaben in den Einvernahmen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung beruhen. So legte der Beschwerdeführer auch mehrfach nachvollziehbar dar, die Halkların Demokratik Partisi bzw. deren Vorgängerorganisation(en) bzw. mittlerweile „Schwesterpartei“ auf lokaler Ebene die Barış ve Demokrasi Partisi (BDP), welche im Jahr 2014 in Demokratik Bölgeler Partisi (DBP) umbenannt wurde, bei Versammlungen und Aufmärschen sowie durch Übernahme von Hilfstätigkeiten unterstützt zu haben, was in Anbetracht der Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers auch plausibel erscheint. Ferner zeugen die Ausführungen des Beschwerdeführers von einem vorhandenen Interesse an der türkischen Innenpolitik und ist deshalb auch wahrscheinlich, dass sich der Beschwerdeführer für diese Partei(en) als einfacher Unterstützer engagierte. Hingegen verneinte er mehrfach vor der belangten Behörde, Mitglied einer politischen Partei, insbesondere der HDP oder der DBP gewesen zu sein (Teil I des Verwaltungsakts, AS 55; Teil II des Verwaltungsakts, AS 509, 521). Erst in der Stellungnahme vom 20.11.2018 sprach der Beschwerdeführer erstmals von einer – aktiven – Mitgliedschaft bei der Halkların Demokratik Partisi (Teil II des Verwaltungsakts, AS 539), wobei er in der Beschwerde vom 07.02.2019 klarstellte, dass Letzteres unzutreffend sei, zumal er das türkische Wort im Sinne von „Anhänger“ und nicht im Sinne eines offiziellen Parteimitglieds genutzt habe (Teil III des Verwaltungsakts, AS 621, 636). Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Argumentationslinie durchaus nachvollziehbar, zumal kein Grund ersichtlich ist, weshalb diese Angaben hinsichtlich einer bloßen Sympathie für diese Partei(en) nicht stimmen sollten. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sie daher ohne Weiteres den Feststellungen zugrunde legen, zumal hinsichtlich einer Mitgliedschaft bei der Halkların Demokratik Partisi bzw. deren Vorgängerorganisation(en) auch festzuhalten ist, dass der Beschwerdeführer nie eine Mitgliedschaftsbestätigung in Vorlage brachte. In Ermanglung weitere Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft bei der der Halkların Demokratik Partisi bzw. deren Vorgängerorganisation(en) waren keine dahingehenden positiven Feststellungen zu treffen.

Der Beschwerdeführer hielt sich zur Zeit des versuchten Militärputsches in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 zwar in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch kann den Aussagen des Beschwerdeführers aber in keiner Weise entnommen werden. Der Beschwerdeführer gehört auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachte er weder vor der belangten Behörde, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung, geschweige denn eine Mitgliedschaft ebendort, zum Ausdruck.

Ein maßgebliches aktuelles exilpolitisches Engagement im Bundesgebiet kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft entnommen werden, zumal sich der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung auf die Aussage beschränkte, in einen kurdischen Verein zu gehen (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Er führte nicht einmal eine Mitgliedschaft ins Treffen. Der Beschwerdeführer gab in der Beschwerde vom 07.02.2019 – unter Verweis auf drei Medienberichte aus dem Jahr 2019 und Vorlage einer Ablichtung, die den Beschwerdeführer bei einer Veranstaltung zur Ankündigung eines Hungerstreiks zeigt (Teil III des Verwaltungsakts, AS 627f, 705) – noch an, dass er in Österreich seit ca. drei Monaten regelmäßig an Veranstaltungen des XXXX teilnehme, um sich gewaltfrei für die Rechte der Kurden einzusetzen, und er sich aktuell (zum damaligen Zeitpunkt der Beschwerde) in einem Hungerstreik befinde (Teil III des Verwaltungsakts, AS 626). Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang aber zunächst, dass der Beschwerdeführer gerade zu dieser Zeit – unmittelbar nach der zweiten Einvernahme vor dem BFA am 05.11.2018 – politisch aktiv geworden sein will. Insofern erweckte der Beschwerdeführer damit den starken Eindruck, dass diese Aktivitäten lediglich aus verfahrenstaktischen Gründen eingegangen wurden bzw. erfolgten. In dieses Bild passt es im Übrigen auch, dass der Beschwerdeführer exilpolitische Aktivitäten in der mündlichen Beschwerdeverhandlung nicht nochmals thematisierte. Schließlich ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht auch keinen aktuellen Nachweis über den etwaigen Besuch derartiger Veranstaltungen in Österreich vorlegte. Insoweit sich den Angaben des Beschwerdeführers auch nicht entnehmen lässt, dass er in einem Verein eine Funktion mit maßgeblichem Einfluss oder sonst eine Aufgabe innehätte, die ihm ein herausragendes politisches Profil verleihen würde, sowie aufgrund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer seiner Obliegenheit zur Mitwirkung in Bezug auf seine exilpolitische Tätigkeit nicht nachkam, war insgesamt zu erkennen, dass ein nennenswertes politisches Engagement und damit einhergehend ein besonderes Profil des Beschwerdeführers auf Grund seiner in der Vergangenheit für kurze Zeit erfolgten Aktivitäten in Österreich nicht vorliegt. Hinsichtlich des aktuell bloßen Aufsuchens eines kurdischen Vereins ist auch anzumerken, dass sich aus den herangezogenen Länderberichten und aktuellen Medienberichten keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte ableiten lassen, nach welchen gegenwärtig jede Person kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, die einen kurdischen Verein besucht, einer maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen würde. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an dem vom Beschwerdeführer aufgesuchten Verein haben sollten, kamen im Verfahren nicht hervor. Unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Feststellungen (vgl. vor allem den Punkt "Behandlung nach Rückkehr") zeigt sich zudem, dass schon aus Kapazitätsgründen und solchen der dafür notwendigen organisatorischen Erfordernisse eine weitreichende nachrichtendienstliche Erfassung der zahllosen Mitglieder exilkurdischer Vereine und deren einzelner Aktivitäten etwa bei Großveranstaltungen weder realistisch noch zielführend wäre. Plausibel ist in dieser Hinsicht vielmehr, dass jene Personen unter besonderer Beobachtung stehen, die sich als maßgeblich für die Entwicklung und Umsetzung der politischen Strategien im Hintergrund erweisen und als Meinungsbildner und Redner im Vordergrund oppositioneller Vereinigungen auftreten, zumal alleine diesen auch ein möglicher indirekter Einfluss auf die politische Landschaft innerhalb der Türkei und damit ein mögliches Gefahrenpotential aus Sicht der türkischen Behörden zuzuschreiben wäre. Gerade dies ist aber den Beschwerdeführer betreffend wie oben dargestellt nicht erkennbar. In diesem Zusammenhang war wohl in Betracht zu ziehen, dass die der exilkurdischen Szene in Österreich zuzuzählenden Vereine zwar in gewissem Umfang, neben ihren sonstigen sozialen und kulturellen Anliegen im Aufnahmeland, auch die politischen Anliegen der kurdischen Volksgruppe in ihren Herkunftsgebieten an die Öffentlichkeit tragen, dies aber offenkundig nicht in einer Form tun, die als Aufforderung zu gewaltsamen oppositionellen oder gar terroristischen Aktivitäten zu verstehen wäre, was im Übrigen längerfristig auch ein Einschreiten der Vereinsbehörde wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz oder gar der Strafverfolgungsbehörden etwa wegen des Vorwurfs der "Kriminellen Vereinigung" im Sinne des österreichischen Strafgesetzbuchs nach sich ziehen müsste. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich solche Vereine in einem gewissen Graubereich bewegen, sofern sie bei öffentlichen Kundgebungen in verschiedener Weise für die politischen Rechte der kurdischen Volksgruppe auch in der Türkei eintreten und Fahnen und Abbildungen mit Bezug zur kurdischen Sache oder der Leitfigur des kurdischen Widerstands, Abdullah Öcalan, mitführen. Als maßgeblich erachtet das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich aber, inwieweit bestimmte Aktivitäten Betroffener überhaupt potentiell geeignet sind, in den Augen der Behörden des Herkunftsstaates ein Bedrohungsbild zu erfüllen, das es zu bekämpfen gilt (vgl. in diesem Sinne auch die Leitsätze der Judikatur des VwGH zu diesem Thema). Würde man demgegenüber etwa jedwede Beteiligung von niedrigem Profil an öffentlichen Veranstaltungen exilkurdischer Vereinigungen unmittelbar mit einer daraus resultierenden besonderen Aufmerksamkeit der türkischen Behörden sowie einer weiter daraus folgenden Ermittlungstätigkeit mit dem Ziel der Individualisierung des Beitrags einzelner Teilnehmer bis hin zur daraus resultierenden Verfolgung im Anschluss an eine Rückkehr in den Herkunftsstaat verknüpfen, so würde eine solche Absicht der betreffenden Behörden nicht nur die Ressourcen eines Nachrichtendienstes im Ausland gänzlich überstrapazieren, sondern auch die Sinnhaftigkeit eines solchen Bestrebens mit Blick auf das geringe Bedrohungspotential exilpolitischer Betätigung niedrigen Profils in Frage stellen. Legt man diese grundsätzlichen Erwägungen zur gegenständlichen Thematik auf das Vorbringen des Beschwerdeführers um, so lässt sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts aus diesem Vorbringen in Verbindung mit den länderkundlichen Feststellungen weder schlüssig ableiten, dass er persönlich mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Blickfeld des türkischen Nachrichtendiensts geraten ist, noch dass sein Tun weiteren individualisierten Ermittlungen unterworfen und deren Ergebnisse gesammelt und an die türkischen Behörden zum Zweck der Verfolgung für den Fall der Rückkehr übermittelt wurden.

Die Feststellungen zu den beiden im Jahr 2010 und 2014 eröffneten strafgerichtlichen Verfahren (Geschäftszahlen XXXX und XXXX ) in der Türkei gründen sich – vor dem Hintergrund der zur Türkei herangezogenen Länderinformationen – auf die Ausführungen des Beschwerdeführers im Verfahren und die vom Beschwerdeführer vorgelegten Verfahrensunterlagen zu den gegen ihn geführten Strafverfahren in Kopie (Teil II des Verwaltungsakts, AS 553ff [Übersetzung: AS 603ff], AS 543 - 545 [Übersetzung: AS 625], AS 547 - 551 [Übersetzung: AS 627ff], AS 567 - 569 [Übersetzung: AS 635 - 637], AS 587 - 593 [Übersetzung: AS 639ff], AS 579 - 583 [Übersetzung: AS 651ff], AS 571 [Übersetzung: AS 657] und AS 585 [Übersetzung: AS 659 - 661]), zumal die vorgelegten Verfahrensunterlagen auch ein unbedenkliches und im Hinblick auf die äußere Form ähnliches, mit den Wahrnehmungen des Bundesverwaltungsgerichts über die äußere Form und den inhaltlichen Aufbau türkischer Behördendokumente übereinstimmendes Erscheinungsbild aufweisen, in Verbindung mit einer Einsichtnahme in den in der mündlichen Verhandlung in Kopie vorgelegten Auszug aus dem e-Devlet kapısı (Seite 6 Verhandlungsprotokolls) und einer Nachschau mithilfe der Zugangsdaten des Beschwerdeführers auf der türkischen Website e-Devlet kapısı betreffend die Person des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls und Beilagen zum Verhandlungsprotokoll). Was die wider den Beschwerdeführer im Jahr 2022 eröffneten Strafverfahren (Geschäftszahl XXXX und XXXX ) betrifft, so sind diese auf Grund der Nachschau mithilfe der Zugangsdaten des Beschwerdeführers auf der türkischen Website e-Devlet kapısı betreffend die Person des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls und Beilagen zum Verhandlungsprotokoll) hinreichend nachgewiesen. Dass der Inhalt dieser Verfahren nicht festgestellt werden kann, ergibt sich daraus, dass trotz Nachschau mit den Zugangsdaten des Beschwerdeführers auf der türkischen Website e-Devlet kapısı betreffend diese Verfahren keine näheren Details diesbezüglich in Erfahrung zu bringen waren (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls und Beilagen zum Verhandlungsprotokoll). Ebenso wenig war der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung willig und/oder fähig, nähere Auskünfte zu diesen beiden Verfahren zu geben (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls).

Für das Bundesverwaltungsgericht war auf der Grundlage der Ausführungen des Beschwerdeführers und der vorliegenden Beweismittel daher zu den beiden ersten Strafverfahren feststellbar, dass der Beschwerdeführer Mitte Dezember 2010 – zum damaligen Zeitpunkt Sympathisant der prokurdischen Partei BDP – auf Grund eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens in Haft genommen wurde. Im Zuge dieses Verfahrens wird dem Beschwerdeführer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, Propaganda für eine Terrororganisation, Besitz von Sprengstoff (Erzeugung), Sachbeschädigung, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Gefährdung der Verkehrssicherheit und Widerstand gegen die Staatsgewalt zur Last gelegt. In der Folge verurteilte ihn ein türkisches Strafgericht auch zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe, wobei ein Berufungsgericht das Urteil behob und die Angelegenheit an das Erstgericht zurückverwies. Mit Zwischenurteil des 21. Gerichts für schwere Strafsachen in Istanbul vom 03.07.2014 (Geschäftszahl XXXX ) wurde der Beschwerdeführer nach ca. dreieinhalb Jahren einstweilig aus der Haft entlassen. Dieses Strafverfahren ist nach wie vor offen. Im Jahr 2014 wurde wider den Beschwerdeführer zudem ein weiteres Strafverfahren (Geschäftszahl XXXX ) eingeleitet und wurde der Beschwerdeführer Anfang Oktober 2014 erneut festgenommen. Im Anschluss befand er sich bis 04.03.2015 abermals ca. fünf Monate in Haft. Im Rahmen dieses Verfahrens wird dem Beschwerdeführer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubter Besitz von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, zur Last gelegt. Im Zuge einer Verhandlung am 04.03.2015 wurde die einstweilige Freilassung des Beschwerdeführers angeordnet. Bislang erging in diesem Verfahren ebenso wenig ein rechtskräftiges Urteil und ist dieses ebenfalls noch offen.

Aus den vom Beschwerdeführer vor dem BFA getätigten Angaben zu seiner rechtsfreundlichen Vertretung in der Türkei (Teil II des Verhandlungsprotokolls, AS 523) in Zusammenschau mit den vorgelegten und übersetzten Verfahrensunterlagen zu den gegen ihn geführten Strafverfahren in Kopie und einer Nachschau mithilfe der Zugangsdaten des Beschwerdeführers auf der türkischen Website e-Devlet kapısı betreffend die Person des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls und Beilagen zum Verhandlungsprotokoll) geht eindeutig hervor, dass der Beschwerdeführer zumindest in drei seiner Strafverfahren rechtsanwaltlich vertreten ist. Insofern der Beschwerdeführer nunmehr in der mündlichen Verhandlung behauptet, mangels Anwalt keine näheren Details zu den wider ihn im Jahr 2022 eröffneten Strafverfahren nennen zu können, so beschränkt sich das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich auf einen Verweis auf die in der mündlichen Verhandlung erstellten Auszüge von der türkischen Website e-Devlet kapısı betreffend die Person des Beschwerdeführers (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls und Beilagen zum Verhandlungsprotokoll), die zeigen, dass der Beschwerdeführer etwa im Strafverfahren mit der Geschäftszahl XXXX von den von ihm in der Einvernahme vor dem BFA am 05.11.2018 genannten Anwälten vertreten wird (Teil II des Verhandlungsprotokolls, AS 523), womit einerseits erkennbar ist, dass der Beschwerdeführer wiederholt bereit ist, vor den österreichischen Asylbehörden die Unwahrheit zu sagen und er andererseits nicht gewillt ist, nähere Informationen zu den beiden zuletzt eröffneten Verfahren anzugeben.

Vorgelegt wurde außerdem ein Zwischenurteil des 21. Gerichts für schwere Strafsachen in Istanbul vom 03.07.2014, Geschäftszahl XXXX , (Teil II des Verwaltungsakts, AS 571 [Übersetzung: AS 657]), womit der Angeklagte nach Sammlung der Beweismittel und Wegfall der Verdunkelungsgefahr, am 03.07.2014 nach mehrjähriger Haft enthaftet wurde. Dass der Beschwerdeführer auch im zweiten – vorangehend genannten – Strafverfahren (Geschäftszahl XXXX ) nach ca. fünfmonatiger Anhaltung am 05.03.2015 enthaftet wurde, ergibt sich bereits aus den glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren (Teil II des Verwaltungsakts, AS 665).

Das Verhandlungsprotokoll des 11. Gerichts für schwere Strafsachen Istanbul vom 30.05.2012 (Teil II des Verwaltungsakts, AS 553ff [Übersetzung: AS 603ff]) gibt schließlich Auskunft darüber, dass dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Verteidigung und zur Stellung von Beweisanträgen eingeräumt wurde. Insofern der Beschwerdeführer auf die Verwendung der kurdischen Sprache beharrte, obwohl sein Antrag, seine Aussage in kurdischer Sprache tätigen zu wollen, bei den vorhergehenden Sitzungen bereits zurückgewiesen wurde, hat es der Beschwerdeführer selbst zu verantworten, dass seine Aussage in dieser Verhandlung nicht aufgenommen werden konnte, zumal er der Amts- und Nationalsprache der Türkei auf muttersprachlichem Niveau sehr wohl mächtig gewesen wäre. Was die Behauptungen in der Beschwerde betrifft, wonach er zur Untermauerung der Rechte der kurdischen Minderheit seine Aussage vor Gericht auf Kurdisch begonnen habe, woraufhin er sofort abgeführt und ihm kein weiteres Aussagerecht eingeräumt worden sei (Teil III des Verwaltungsakts, AS 637), so ist dem zu entgegen, dass dies dem Verhandlungsprotokoll vom 30.05.2012 nicht entnommen werden kann. Tatsächlich wurde der Beschwerdeführer nach Verwendung der kurdischen Sprache zunächst darauf hingewiesen, dass sein Antrag auf Verwendung der kurdischen Sprache bereits in den vorhergehenden Sitzungen zurückgewiesen worden sei und er in Türkisch auszusagen habe. Im Anschluss wurde der Beschwerdeführer dann erneut nach seinen Angaben zu seiner Verteidigung und des Weiteren nach dem „letzten Wort“ gefragt (Teil III des Verwaltungsakts, AS 603ff). Erst nach dem weiteren Beharren des Beschwerdeführers auf Verwendung der kurdischen Sprache, sah das zuständige Gericht dann davon ab, eine weitere Aussage des Beschwerdeführers einzuholen.

Im Übrigen ist im Beschwerdeverfahren unstrittig, dass die vier Strafverfahren wider den Beschwerdeführer derzeit noch bei den zuständigen Strafgerichten anhängig sind und er nicht in Abwesenheit nach seiner Ausreise verurteilt wurde.

In Anbetracht der Ergebnisse des Beweisverfahrens bestehen ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Behörden die Auslieferung des Beschwerdeführers in die Türkei betreiben, obwohl ihnen den Angaben des Beschwerdeführers zufolge bekannt ist, dass sich der Beschwerdeführer im Bundesgebiet befindet.

In Anbetracht des aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlichen Verfahrensgangs gelangt das Bundesverwaltungsgericht außerdem zur Auffassung, dass die wider den Beschwerdeführer bislang durchgeführten Strafverfahren unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt wurden. Der Beschwerdeführer war bzw. ist durch Rechtsanwälte vertreten, hatte Gelegenheit zur Verteidigung und zur Stellung von Beweisanträgen und wäre jedenfalls im Jahr 2010 eröffneten Strafverfahren zu den wider ihn erhobenen Vorwürfen in der Hauptverhandlung in türkischer Sprache gehört worden. Das zuständige Gericht führte in dieser Angelegenheit eine mündliche Verhandlung unter Beachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch. Auf Grund der frühen Ausreise des Beschwerdeführers kam nunmehr aber in den beiden im Jahr 2010 und 2014 eröffneten Strafverfahren kein wesentlicher Fortschritt im Verfahren zustande. Dass es sich um Schauprozesse gehandelt hätte oder anderweitig grundlegende Verfahrensgarantien des Beschwerdeführers missachtet worden wären, kann in Anbetracht der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen ausgeschlossen werden. Die Fortsetzung bzw. Beendigung der Verfahren scheiterte an der ausreisebedingten Abwesenheit des Beschwerdeführers.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können – von den subjektiven Befürchtungen des Beschwerdeführers abgesehen – auch keine greifbaren Hinweise erkannt werden, dass der Beschwerdeführer in seinen Verfahren jedenfalls zur Gänze schuldig gesprochen und zu einer langjährigen und in Isolationshaft zu verbüßenden verurteilt würde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine verlässliche Prognose über den Ausgang der Strafverfahren vielmehr kaum möglich. Das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch auf Grund der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Haft und der unterbliebenen Fällung eines Abwesenheitsurteils davon aus, dass dem Beschwerdeführer nicht mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung wegen der wider ihn erhobenen Anschuldigungen droht (zur Bedeutung des Kriteriums der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit VwGH 13.09.2016, Ra 2016/01/0054 mwN). Vielmehr sind die Entlassung des Beschwerdeführers, die unterbliebene Fällung eines Abwesenheitsurteils und die nicht feststellbare Erlassung eines internationalen Haftbefehls bzw. das unterbliebene Auslieferungsansuchen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts klare Indizien dafür, dass kein dringender Tatverdacht mehr gesehen wird. In Anbetracht der erhobenen Anklage(n) wäre es gänzlich unplausibel, dringend der Begehung terroristischer Handlungen verdächtige Personen freizulassen. Vielmehr wäre damit zu rechnen, dass eine rasche Verfahrensführung erfolgt, um die Schuld der Angeklagten rasch zu klären und eine Enthaftung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Jedenfalls sprechen die erörterten Umstände, insbesondere die Enthaftung des Beschwerdeführers und der schleppende Verfahrensverlauf, gegen den im Verfahren implizit vorgetragenen Standpunkt des Beschwerdeführers, er solle nunmehr auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und/oder politischen Gesinnung im Wege von auf konstruieren Tatvorwürfen beruhenden gerichtlichen Verurteilungen bestraft werden. Wäre der Beschwerdeführer tatsächlich einer solchen, von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung ausgesetzt gewesen, wäre aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ein entschlosseneres Vorgehen zu erwarten. Das im gegenständlichen Asylverfahren gewonnene Bild ist demgegenüber vielmehr jenes, schwacher strafrechtlicher Vorwürfe, die anschließend in langwierige Strafverfahren in einem von Überlastung und Verfahrensverschleppung gekennzeichneten Justizsystem führten.

Zu den Ausführungen des Beschwerdeführers im gegenständlichen Verfahren, wonach die erhobenen Vorwürfe unbegründet seien und er unschuldig sei, ist – ungeachtet der Tatsache, dass es Aufgabe der türkischen Justiz ist, über die Schuld des Beschwerdeführers zu befinden – darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer jedenfalls bereits im Rahmen des im Jahr 2010 eröffneten Strafverfahrens vor dem türkischen Gericht Gelegenheit hatte bzw. gehabt hätte zu den erhobenen Vorwürfen selbst Stellung zu beziehen und sich anwaltlich vertreten hat lassen können. Außerdem wurden Zeugen gehört. Insofern der Beschwerdeführer (Beweis-)Anträge, etwa auch zur Verwendung der kurdischen Sprache, formulierte und diesen allenfalls nicht stattgegeben worden sein sollte, wäre dies in einem Rechtsmittelverfahren als Verfahrensmangel geltend zu machen und stellt per se keine asylrelevante Verfolgungshandlung dar. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, gegen einen allenfalls ergehenden Schuldspruch (erneut) ein Rechtsmittel einzulegen und dermaßen eine Überprüfung des Strafverfahrens im türkischen Instanzenzug herbeizuführen. Die vorgelegten Urkunden lassen keinen Schluss auf Auffälligkeiten in der Verfahrensführung zu.

Auch ergibt sich aus den verwendeten länderkundlichen Informationen betreffend das Justizsystem in der Türkei, dass es zwar seit den Vorfällen rund um den versuchten Militärputsch im Juli 2016 und nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 zu Verschlechterungen der Unabhängigkeit der Justiz sowie zu Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten kam. Darüber hinaus werden seither vermehrt kurdischen Oppositionspolitiker, kritische Journalisten und (vermeintliche) Anhänger des Predigers Fethullah Gülen auf Grund oftmals vage gehaltener Vorwürfe strafrechtlich verfolgt. Demgegenüber gehört der Beschwerdeführer keiner der genannten Risikogruppen an, seine im Jahr 2010 und 2014 eröffneten gerichtlichen Verfahren wurden in zeitlicher Hinsicht zudem weit vor den erörterten Ereignissen durchgeführt und es liegt der Anklage deshalb auch keine Verbindung zur Gülen-Bewegung oder am versuchten Militärputsch beteiligten Sicherheitskräften zugrunde.

Schließlich spricht auch das Verhalten des Beschwerdeführers gegen eine politisch oder anderweitig unsachlich motivierte Verfahrensführung, zumal der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat nicht sogleich nach der Freilassung aus der Haft im März 2015 verließ, sondern erst ca. zweieinhalb Jahre nach der Enthaftung ausreiste. Die Umstände sprechen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts eher dafür, dass die Ausreise wohlvorbereitet erfolgte und ihr nicht die durch die Haft bzw. die zu diesem Zeitpunkt auf Grund des schleppenden Fortschritts in den Strafverfahren noch gar nicht absehbare Urteilsfällung aktuelle und greifbare Furcht vor einer asylrelevanten Verfolgung zugrunde liegt, sondern andere Motive, die im gegenständlichen Asylverfahren im Dunkeln blieben (vgl. diesbezüglich auch die nachfolgenden Ausführungen).

Im Übrigen ist es nicht Gegenstand des Asylverfahrens, den weiteren Ausgang der wider den Beschwerdeführer anhängigen Strafverfahren zu prognostizierten. Eine solche Prognose erweist sich gerade im gegenständlichen Stadium der Strafverfahren noch vor der Erlassung eines (erneuten) erstinstanzlichen Urteils als im Ergebnis nicht möglich, zumal dem Bundesverwaltungsgericht die gesamten Strafakten überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Wie bereits erörtert ist zweifelhaft, ob es überhaupt zu einem Schuldspruch kommt. Selbst wenn ein gänzlicher oder teilweiser Schuldspruch ergehen sollte, steht dem Beschwerdeführer die Erhebung von Rechtsmitteln bis hin zur Anrufung des Kassationsgerichtshofes in Ankara offen. Den Ausgang eines solchen Rechtsmittelverfahrens zu prognostizieren, ohne zumindest das Urteil und die dagegen vorgetragenen Argumente zu kennen, ist nicht möglich. Dem Bundesverwaltungsgericht erschließt sich im gegebenen Zusammenhang auch nicht, weshalb der Beschwerdeführer in Anbetracht der Möglichkeit zur Erhebung von Rechtsmitteln nicht zumindest das erstinstanzliche Urteil abwartete, zumal die Strafe ja bis zur Rechtskraft des Strafurteils nicht vollzogen wird (vgl. dazu etwa den dem Urteil des EGMR vom 09.06.2009 in der Beschwerdesache Opuz gegen Türkei, Nr. 33401/02, zugrundeliegenden Sachverhalt).

Vielmehr ist – ausgehend vom festgestellten Sachverhalt, nämlich dem Vorliegen von in erster Instanz unerledigt anhängigen Strafverfahren – zu klären, ob dieser Sachverhalt zur Gewährung von internationalem Schutz zu führen hat. Insoweit wird auf die untenstehende rechtliche Beurteilung verwiesen. Auf das Vorbringen des Beschwerdeführers vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht, dass er die ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen habe, ist daher nicht weiter einzugehen.

Der Beschwerdeführer erstattet auch – wie nachfolgend auszuführen sein wird – kein glaubhaftes Vorbringen betreffen eine unmenschliche Behandlung während seiner Anhaltung in Haft. Die Feststellungen zu den Haftbedingungen bieten ebenso wenig Hinweise darauf, im Fall einer Anhaltung in Strafhaft die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder gar von Folter besorgen zu müssen. Dass es in der Vergangenheit Fälle von Folter in türkischen Haftanstalten bzw. zweifelhafte Todesfälle gab, begründen ohne anderweitige greifbare Anhaltspunkte im Hinblick auf die Person des Beschwerdeführers noch nicht die reale Gefahr, ein solches Schicksal teilen zu müssen. Insoweit wird auch diesbezüglich auf die untenstehende rechtliche Beurteilung verwiesen. Dazu tritt – wie bereits erwähnt –, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal absehbar ist, ob der Beschwerdeführer jemals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden würde, auf Grund welchen Deliktes eine Verurteilung erfolgen sollte und in welchem Gefängnistyp eine allenfalls verhängte Strafe verbüßt würde. Die Befürchtungen des Beschwerdeführers basieren weitgehend auf Spekulation und sind nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen.

Darüber hinaus ist im Beschwerdeverfahren unstrittig, dass sich der Beschwerdeführer vom 05.03.2015 bis zur Ausreise im Herbst 2017 auf freiem Fuß befand. In Anbetracht der Ergebnisse des Beweisverfahrens bestehen ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Behörden den Beschwerdeführer mit einem Ausreiseverbot belegten.

Was nun die sonstigen Behauptungen des Beschwerdeführers betrifft, wonach er während seiner ersten Inhaftierung ständig Folter ausgesetzt gewesen sei, im Zuge der Festnahme in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren massiv geschlagen worden sei und er nach seiner zweiten Inhaftierung unzählige Festnahmen samt damit einhergehenden Misshandlungen über sich ergehen habe lassen müssen, so ist vorab festzuhalten, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen in den Einvernahmen vor der belangten Behörde im Verhältnis zu den Angaben in der Erstbefragung erheblich steigerte und es inhaltlich grundlegend abänderte. In der Erstbefragung gab er lediglich an, einer Tätigkeit für die HDP beschuldigt worden zu sein, weshalb er vier Jahre im Gefängnis verbringen habe müssen. Danach habe er sich noch einmal acht Monate in Haft befunden, da er bei einem Aufstand dabei gewesen sei, wobei das Verfahren noch laufe (Teil I des Verwaltungsakts, AS 29). Gegenüber der belangten Behörde behauptete er hingegen erstmals unter anderem, dass er während seiner ersten Inhaftierung ständig Folter ausgesetzt gewesen sei, er im Zuge der Festnahme in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren massiv geschlagen worden sei und er nach seiner zweiten Inhaftierung unzählige Festnahmen samt damit einhergehenden Misshandlungen über sich ergehen habe lassen müssen. Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar „insbesondere“ der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich – wie in der Beschwerde ausgeführt – nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12). Ferner bestehen zwar Bedenken gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN). Ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert. Die Verwaltungsbehörde und das Bundesverwaltungsgericht können im Rahmen ihrer Beweiswürdigung also durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung des Beschwerdeführers nicht in erster Linie auf seine Fluchtgründe bezog und diese daher nur in aller Kürze angegeben und protokolliert wurden. Dennoch ist nicht gänzlich außer Acht zu lassen, dass der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung nicht erwähnte, dass er auf Grund seines politischen Engagements für die HDP und deren Vorgängerorganisationen während seiner ersten Inhaftierung ständig Folter ausgesetzt gewesen sei, er im Zuge der Festnahme in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren massiv geschlagen worden sei und er nach seiner zweiten Inhaftierung unzählige Festnahmen samt damit einhergehenden Misshandlungen über sich ergehen habe lassen müssen. Entspräche dieses Vorbringen den Tatsachen, wäre unter den konkreten Umständen zumutbar und zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer diese wesentlichen Erlebnisse in Form schwerer Eingriffe in seine körperliche Integrität bereits in der Erstbefragung zumindest anspricht. Das Bundesverwaltungsgericht geht nämlich davon aus, dass ein Asylwerber die ihn selbst betreffenden ausreisekausalen Erlebnisse zuvorderst und in den Grobzügen gleichbleibend bei der ersten sich bietenden Gelegenheit darlegt, umfasst die Erstbefragung auch keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes (vgl. zur Zulässigkeit der vom Bundesverwaltungsgericht angestellten Erwägungen bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Beschwerdeführer VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0143, und zur Maßgeblichkeit der aufgezeigten Widersprüche VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168). Insofern ist zum einen zu bedenken, dass der Beschwerdeführer insbesondere die Misshandlungen seiner Person durch die türkischen Behörden als keineswegs unbedeutendes Element seines Vorbringens darstellt. Zum anderen wäre im Hinblick sowohl auf das objektive Bestehen als auch das subjektive Empfinden einer Bedrohungslage der Umstand, dass es beispielsweise im Zuge von Anhaltungen zu massiven Misshandlungen gekommen sei, als derart bedeutsam anzusehen, dass diese Person diesen Umstand in einer Befragung zum Antrag auf internationalen Schutz auch bei der ersten Gelegenheit zur Sprache bringt.

Hinzu tritt, dass sich der Beschwerdeführer durch den Wechsel der Identität unter Verwendung eines gefälschten rumänischen Personalausweises (Teil I des Verwaltungsakts, AS 15), einen Vorteil, wie etwa einen Aufenthalt im Bundesgebiet/in der Europäischen Union, durch das bewusste Täuschen der europäischen Behörden zu erschleichen versuchte, was per se geeignet ist, die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers bezüglich der weiteren Angaben zur Begründung seines Asylantrags in Zweifel zu ziehen. Diese Vorgehensweise lässt einen Rückschluss auf die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und die teilweise Unglaubhaftigkeit seiner Angaben im Asylverfahren zu (vgl. VwGH 15.02.2001, 98/20/0594).

Über diese Erwägungen hinaus war für das Bundesverwaltungsgericht zu berücksichtigen, dass das Vorbringen bezüglich ständiger Folter während seiner ersten Inhaftierung, massiver Misshandlungen im Zuge der Festnahme in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren und der bei unzähligen Festnahmen erlittenen Misshandlungen aber auch deshalb nicht glaubhaft ist, weil es dem Beschwerdeführer nicht möglich war, diese Übergriffe überzeugend darzulegen. Seine diesbezüglichen Angaben offenbarten sich als äußerst unkonkret und vage. Zunächst sprach er in der Einvernahme vor der belangten Behörde am 07.08.2018 bloß allgemein davon, dass er während seiner ersten Inhaftierung ständig Folter ausgesetzt gewesen sei, kein Besuch kommen und er nicht telefonieren habe dürfen. Zudem sei er auch später immer wieder eingesperrt und gefoltert worden (Teil I des Verwaltungsakts, AS 55). In der Folge erklärte der Beschwerdeführer im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 05.11.2018 bezüglich seiner Probleme auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit lediglich, dass er von der Polizei nach Lust und Laune ein oder zwei Tage eingesperrt und geschlagen worden sei (Teil II des Verwaltungsakts, AS 509). Es war daher erforderlich, beim Beschwerdeführer diesbezüglich abermals nachzufragen, um allenfalls ein konkreteres Vorbringen zu erhalten. Schon dies spricht nicht dafür, dass der Beschwerdeführer von wahren Begebenheiten sprach. Er beschränkte sich zunächst wiederum auf eine eher allgemeine Aussage, wonach er mindestens 30 oder 40 Mal nach dem zweiten Gefängnisaufenthalt festgenommen worden sei, wobei er meistens auch geschlagen und bedroht worden sei. Erst in der Folge ergänzte der Beschwerdeführer, dass er bei der Festnahme in Mardin so stark geschlagen worden sei, dass ihn der Gefängnisdirektor auf Grund der Verletzungen nicht aufnehmen habe wollen (Teil II des Verwaltungsakts, AS 519). Selbst auf die folgende Nachfrage, wie oft genau er festgenommen worden sei, erwiderte der Beschwerdeführer unter Ignorierung der Fragestellung jedoch lediglich, dass er das letzte Mal ca. 20 Tage vor seiner Ausreise nach Österreich in einem Kaffeehaus festgenommen und hierbei bedroht worden sei (Teil II des Verwaltungsakts, AS 519). Auf weitere Nachfragen schilderte er dann, dass er während der Fahrt zur Polizeistation geschlagen worden sei. Dort hätten sie ihn auch mit der Faust geschlagen und mit den Füßen getreten (Teil II des Verwaltungsakts, AS 519). In der Beschwerde wiederholte des Beschwerdeführer ebenfalls einzig, dass die Folter in Haft vom staatlichen Sicherheits- bzw. Wachpersonal verübt worden sei und er in Haft unmenschliche Behandlung erlitten habe, indem er keine Besuche empfangen und nicht telefonieren habe dürfen (Teil III des Verwaltungsakts, AS 626). Auch nachdem er in der Beschwerdeverhandlung ein weiteres Mal die Gelegenheit erhielt, seine Ausreisegründe umfassend zu schildern, beschränkte er sich bezüglich der Schilderung der Bedrohungslage wiederum darauf, dass er mehr als hundert Mal von der Polizei festgehalten und geschlagen worden sei. Insoweit blieben seine Angaben erneut äußert vage. Im Übrigen brachte er zwar diese Festnahmen zur Sprache, Folter während seiner ersten Inhaftierung erwähnte er hingegen überhaupt nicht (Seite 5ff des Verhandlungsprotokolls). Aus diesem Vorbringen konnte letztlich mangels Detailliertheit nicht viel gewonnen werden. Diese vagen Angaben des Beschwerdeführers sprechen daher ebenso für eine mangelnde Glaubhaftigkeit des Vorbringens.

Ebenso wenig erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht, weshalb der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung sein Vorbringen zu seiner Festnahme samt Misshandlungen in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren derart unterschiedlich gestaltete, wenn er diesen Sachverhalt tatsächlich erlebt hätte. Demnach führte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA am 07.08.2018 noch aus, dass sein Kfz bei der Rückfahrt von einem Krankenhaus einen Defekt gehabt habe und ihn die Polizei hierbei mitgenommen habe (Teil I des Verwaltungsakts, AS 55). In der Einvernahme vor dem BFA am 05.11.2018 gab der Beschwerdeführer jedoch bezüglich dieses Vorfalls an, dass es an der Stadtausfahrt eine Straßensperre gegeben habe und er dort im Zuge einer Ausweiskontrolle wegen seiner „Vorstrafe“ festgenommen worden sei (Teil II des Verwaltungsakts, AS 517, 523). Die Ausführungen des Beschwerdeführers variieren somit in diesem Punkt nicht nur leicht, sondern es traten gravierende Divergenzen zu Tage. Auch der vom Beschwerdeführer nunmehr in der Beschwerde angeführte Erklärungsversuch für diesen Widerspruch vermag jedenfalls nicht zu überzeugen, sondern erschüttert die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zusätzlich. Demnach sei das Vorbringen in der Einvernahme am 07.08.2018 nämlich dahingehend zu verstehen, dass mit „Defekt“ eine Blockade gemeint gewesen sei. Demonstranten hätten mit Steinen und großen Gegenständen die Straße blockiert, was eigentlich als Blockade für Kfz der Sicherheitsbehörden gedacht gewesen sei. Irrtümlich sei auch der Beschwerdeführer in eine solche blockierte Straße geraten (Teil III des Verhandlungsprotokolls, AS 635). Dem ist zunächst zu entgegnen, dass bereits bei genauer Betrachtung des Wortlauts der Aussage des Beschwerdeführers am 07.08.2018 („[…] bei der Rückkehr hatte unser Kfz einen Defekt […]“) zweifelsfrei erkennbar ist, dass der Beschwerdeführer hier mit Defekt keine Straßenblockade, sondern einen Schaden an seinem Fahrzeug zum Ausdruck bringen wollte. Ferner erscheint die in der Beschwerde erbrachte Erklärung auch insofern unschlüssig, als sich bei einem näheren Blick auf die Angaben des Beschwerdeführers im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 05.11.2018 zeigt, dass der Beschwerdeführer bezüglich dieses Vorfalls zum Ausdruck bringen wollte, dass es an der Stadtausfahrt im Zuge einer Straßensperre durch die Polizei Ausweiskontrollen gegeben habe und der Beschwerdeführer hierbei festgenommen worden sei. In der Beschwerde behauptete der Beschwerdeführer hingegen, dass Demonstranten mit Steinen und großen Gegenständen die Straße blockiert hätten, was eigentlich als Blockade für Kfz der Sicherheitsbehörden gedacht gewesen sei, in welche der Beschwerdeführer irrtümlich geraten sei. Es erscheint jedoch wenig realitätsnah, dass die Polizei bei von Demonstranten errichteten Straßensperren, die zur Blockade von deren Fahrzeugen errichtet worden sein sollen, was wiederum eine akute Gefahrensituation für die Polizeibeamten bedeutet, vorbeifahrende Fahrzeuge aufhält und die Ausweise der Insassen kontrolliert, anstatt diese Straßenblockade zu beenden und hierbei die Errichter der Blockade auszuforschen bzw. festzunehmen.

Des Weiteren ist darauf zu verweisen, dass im Zuge der Beschwerde ein sich steigerndes Vorbringen in einem zentralen Punkt auftrat. So behauptete der Beschwerdeführer in der Beschwerde erstmals, dass ihm auf Grund seiner Volksgruppe und seiner politischen Gesinnung nicht nur vom Staat, sondern auch von anti-kurdischen Bevölkerungsgruppen (wie nationalistischen Türken, welche die Kurden als Feindbilder ansehen würden) Verfolgung drohe (Teil III des Verwaltungsakts, AS 639f). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Steigerung des Vorbringens in einem Kernpunkt der vorgebrachten Asylgründe ein weiteres Indiz für seine Unglaubwürdigkeit bzw. die teilweise Unglaubhaftigkeit der geltend gemachten Ausreisegründe, hatte doch der Beschwerdeführer bereits in seinen Einvernahmen vor dem BFA die umfassende Möglichkeit, sämtliche Ausreisegründe vorzubringen. Bei diesen erstmals in der Beschwerde geschilderten Angaben handelt es sich um eine klare Steigerung des Vorbringens des Beschwerdeführers, vermutlich zu dem Zweck, um seinem Antrag auf internationalen Schutz – nach Kenntnisnahme der Beweiswürdigung des BFA – mehr Substanz zu verleihen, zumal der Beschwerdeführer im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 07.08.2018 auf die Frage, ob er je – ausgenommen das nunmehr Gesagte – Probleme mit der Polizei oder Behörden, Institutionen, Organisationen oder Privatpersonen seines Heimatlandes gehabt habe, explizit erwiderte „Nein nur das Gesagte.“ (Teil I des Verwaltungsakts, AS 55).

Hinzu tritt, dass die Familie des Beschwerdeführers – Eltern, mehrere Geschwister, Tanten und Onkel, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehören und Sympathisanten der Halkların Demokratik Partisi sind (vgl. Seite 7 des Verhandlungsprotokolls) – immer noch in der Türkei, in Istanbul und großteils in der Provinz Mardin, lebt. Insbesondere war der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang auch nicht in der Lage, eine plausible Erklärung dafür zu erbringen, weshalb ausgerechnet er, nicht aber etwa die anderen Familienangehörigen die Türkei verließen. Weshalb Personen, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehören und Sympathisanten der Halkların Demokratik Partisi sind, unbehelligt in Istanbul oder der Provinz Mardin leben können sollen, der Beschwerdeführer hingegen nicht, ist nicht nachvollziehbar. Es ist damit auch nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer verfolgt werden soll, obwohl seine Familienangehörigen ebenso die Halkların Demokratik Partisi unterstützen, die deswegen aber keine Verfolgung zu befürchten hätten.

Zudem spricht auch das Verhalten des Beschwerdeführers nach seiner erneuten Freilassung im März 2015 entschieden gegen dessen Vorbringen. Anstatt sich seinen Gegnern durch Flucht ins Ausland zu entziehen, will der Beschwerdeführer anschließend noch bis zu seiner Ausreise im Herbst 2017 für zweieinhalb Jahre bei einem Onkel in Istanbul verblieben und dort einer Erwerbsarbeit nachgegangen sein. Dies, obwohl er damit rechnen musste, bei seinem Onkel von seinen staatlichen Verfolgern aufgesucht zu werden, zumal im Falle des Aufenthalts bei Verwandten natürlich mit einer Nachschau gerechnet werden muss. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der tatsächlichen Konfrontation mit einer ernsthaften, gegen sein Leben gerichteten Bedrohung die Türkei umgehend verlassen hätte, um sich der Gefahr zu entziehen. Es kann angenommen werden, dass bei tatsächlichem Bestehen asylrelevanter Verfolgungshandlungen oder bei Vorliegen begründeter Angst vor Verfolgung ein derart langer Weiterverbleib in der Türkei nicht der Fall gewesen wäre. Wenn der Beschwerdeführer nunmehr behauptet, dass ihm schlichtweg die finanziellen Möglichkeiten gefehlt hätten, um das Land früher zu verlassen (Teil III des Verwaltungsakts, AS 636), so stellt sich dies als reine Schutzbehauptung dar. Abgesehen vom Umstand, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit einem Cousin ein eigenes Unternehmen in der Textilbranche betrieben hat, was bereits erhebliche Zweifel an seinen angeblich fehlenden finanziellen Mitteln aufkommen lässt, so erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht nicht, weshalb der Beschwerdeführer nicht zumindest seinen Aufenthaltsort innerhalb der Türkei verlegt hat, um seinen staatlichen Widersachern eine Ausfindigmachung seiner Person zu erschweren. Im Übrigen ist dem Bundesverwaltungsgericht aus der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen bekannt, dass bei tatsächlichem Bestehen asylrelevanter Verfolgungshandlungen oder bei Vorliegen begründeter Angst vor Verfolgung eine (illegale) Ausreise auch ohne entsprechende finanzielle Möglichkeiten durchaus zeitnah erfolgen kann.

Der Beschwerdeführer legte bei seiner Erstbefragung im Hinblick auf die Modalitäten der Ausreise zudem dar, dass er den Entschluss zur Ausreise im November 2017 und damit unmittelbar in Zusammenhang mit der im Anschluss erfolgten Ausreise gefasst hätte (Teil I des Verwaltungsakts, AS 28). Dass der Beschwerdeführer den Ausreiseentschluss unmittelbar vor der Ausreise fasste, ist jedoch mit dem von ihm offenbar bereits zuvor getroffenen Ausreisevorbereitungen, wie etwa dem Anlegen von Ersparnissen für die Ausreise (Teil I des Verwaltungsakts, AS 55; Teil II des Verwaltungsakts, AS 521) und der Übergabe seines Unternehmens an seinen Cousin (Teil II des Verwaltungsakts, AS 507), zeitlich nicht in Einklang zu bringen. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen rundet dieser Umstand das beim Studium der Einvernahmen gewonnene Bild von der mangelnden Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers bezüglich dieses Ausreisevorbringens nunmehr ab.

Im Kontext des Vorbringens des Beschwerdeführers überrascht ferner, dass nicht seine Auslieferung in die Türkei von den türkischen Justizbehörden betrieben wird, zumal der Vater des Beschwerdeführers den türkischen Sicherheitsbehörden mitgeteilt haben will, dass er sich in Österreich aufhalte (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Ausgehend davon wäre es einerseits für die türkischen Justizbehörden leicht möglich, den Aufenthaltsort des Beschwerdeführers zu bestimmen und dessen Auslieferung zu betreiben. Andererseits erstaunt es sehr, dass sich der Beschwerdeführer zwar auf eine drohende strafrechtliche Verfolgung als Asylgrund bezieht, andererseits jedoch seinen Aufenthaltsort durch seinen Vater gegenüber dem türkischen Staat preisgibt. Mit der im Verfahren behaupteten Furcht vor Verfolgung lässt sich ein solches, nicht von Vorsicht gekennzeichnetes Verhalten aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kaum in Einklang bringen.

Es mag schließlich Bedenken geben, sollte die Behörde oder das Bundesverwaltungsgericht die Unglaubhaftigkeit eines (Flucht-)Vorbringens unreflektiert und ausschließlich damit begründen, dass ein Asylwerber nicht im – sozusagen – erstbesten sicheren Staat, den er nach dem Verlassen seines Herkunftsstaats betreten hat, einen Asylantrag gestellt hat. Auf eine derartige Argumentation zieht sich das Bundesverwaltungsgericht gegenständlich jedoch nicht zurück und werden dessen Feststellungen auch keineswegs ausschließlich darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer in keinem der von ihm durchreisten Staaten einen Asylantrag gestellt habe, weshalb das Bundesverwaltungsgericht ergänzend – unter Bedachtnahme auf die Angaben des Beschwerdeführers – darauf hinweist, dass dieser nicht nachvollziehbar darlegen konnte, weshalb er nicht in einem der durchreisten Staaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe (vgl. Teil I des Verwaltungsakts, AS 28f). Dass sich der Beschwerdeführer in Griechenland als erstem Staat der Europäischen Union, mag sein Zielland auch die Bundesrepublik Deutschland gewesen sein (Teil I des Verwaltungsakts, AS 28), von einer Asylantragstellung hätte abhalten lassen, wäre im Falle einer tatsächlichen Verfolgung(sgefahr) im Herkunftsstaat nicht naheliegend, weshalb auch dieses Verhalten des Beschwerdeführers nicht dafür spricht, dass er seinen Herkunftsstaat im Herbst 2017 wegen einer tatsächlichen Gefahr verlassen hat. Im Falle einer tatsächlichen Verfolgung oder Gefährdung im Herkunftsstaat wäre der Beschwerdeführer wohl kaum sieben bis acht Monate (Teil I des Verwaltungsakts, AS 28; Teil II des Verwaltungsakts, AS 521) – ohne Berechtigung zum Aufenthalt und folglich mit dem Risiko einer (zwangsweisen) Außerlandesbringung – in diesem Staat verblieben, ohne dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Die genannten Umstände sprechen insgesamt nicht dafür, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat tatsächlich Verfolgung(sgefahr) ausgesetzt war.

Zum Vorbringen, er habe in Istanbul Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Wohnungssuche zu erleiden gehabt und sei regelmäßig von der Polizei kontrolliert worden (Teil II des Verwaltungsakts, AS 509), ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer damit nur Alltagsprobleme geltend gemacht hat. Die Frage der Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens kann daher nur für den Gesamteindruck, den der Beschwerdeführer hinterlassen hat, von Bedeutung sein. Auffällig ist, dass die Ausführungen des Beschwerdeführers zum Kontakt mit der Polizei und zu gewalttätigen Übergriffen bei diesen Kontrollen keineswegs durchgehend schlüssig und frei von Widersprüchen sind. In der Einvernahme vor der belangten Behörde am 07.08.2018 sprach der Beschwerdeführer nämlich davon, immer wieder eingesperrt und gefoltert worden zu sein (Teil I des Verwaltungsakts, AS 55), und am 05.11.2018 sagte der Beschwerdeführer, er sei von der Polizei nach Lust und Laune ein oder zwei Tage eingesperrt und geschlagen worden, wobei diese Festnahmen öfters stattgefunden hätten (Teil II des Verwaltungsakts, AS 509). Wenig später führte er aus, dass er nach dem zweiten Gefängnisaufenthalt sehr oft festgenommen worden sei. Konkret sprach der Beschwerdeführer von mindestens 30 oder 40 Festnahmen, wobei er meistens auch geschlagen und mit dem Umbringen bedroht worden sei. Bei der Festnahme in Mardin sei er so stark geschlagen worden, dass ihn der Gefängnisdirektor auf Grund der Verletzungen nicht aufnehmen habe wollen (Teil II des Verwaltungsakts, AS 517ff). In der mündlichen Verhandlung schilderte der Beschwerdeführer hingegen, dass er mehr als hundert Mal von der Polizei festgehalten und geschlagen worden sei (Seite 5 des Verhandlungsprotokolls). Insoweit hat der Beschwerdeführer sein Vorbringen in diesem Punkt im Laufe des Verfahrens teilweise auch gravierend gesteigert. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang (subjektiv) tatsächlich Angst vor gewaltsamen Übergriffen durch die Polizei hatte und diese tatsächlich in der geschilderten Weise stattgefunden haben. Wäre dies tatsächlich für den Beschwerdeführer so gewesen und hätte es die angebliche Bedeutung für den Beschwerdeführer gehabt, hätte er es gewiss auch bereits – wie vorangehend ausgeführt – in der Erstbefragung vorgebracht und hätte er Istanbul im Übrigen sicher bereits zu einem früheren Zeitpunkt, jedenfalls zeitnahe nach den ersten Übergriffen nach seiner zweiten Freilassung im Jahr 2015 und nicht erst im Herbst 2017, verlassen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer einerseits massive Angst vor gewaltsamen polizeilichen Übergriffen in Istanbul gehabt, andererseits die Stadt aber erst nach etwa zweieinhalb Jahren Aufenthalt verlassen haben will. Damit hat sich der Beschwerdeführer selbst widersprochen und insofern weitere massive Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit entstehen lassen.

Nicht in Abrede gestellt wird, dass seitens der türkischen Behörden hinsichtlich des Beschwerdeführers mehrfach, zuletzt auch im Jahr 2022, eine Nachfrage bei dessen Eltern erfolgte. Das Bundesverwaltungsgericht geht bereits auf Grund der mehrjährigen Abwesenheit des Beschwerdeführers davon aus, dass die im Verfahren geschilderte Nachfrage bei seinen Eltern durchaus möglich zu sein scheint. Dass diese Nachfrage nach seiner Person für den Beschwerdeführer zu einem unmittelbaren Bedrohungsszenario geführt oder diesen massiv beeinträchtigt hätte, lässt sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers jedoch nicht ableiten. Diese offenbar ohne Gewalt ablaufende Nachfrage hat auch die Eltern in ihrem täglichen Leben nicht beeinträchtigt und schilderte er auch keine weiteren diesbezüglichen Probleme. Dass diese Ereignisse gegenwärtig oder für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat nachteilige Folgen für den Beschwerdeführer haben könnten, hat dieser weder vorgebracht noch ist dergleichen sonst ersichtlich, zumal offensichtlich erscheint, dass der Beschwerdeführer diesen Vorfällen kein besonderes Gewicht beimisst. Der Beschwerdeführer war einerseits nicht einmal in der Lage, das konkrete Datum des letzten Vorfalls zu benennen, und verwundert es andererseits vor allem auch, dass der Vater des Beschwerdeführers die türkischen Behörden über dessen Aufenthalt in Österreich informiert haben soll. Eine Vorgehensweise, welche bei einer tatsächlichen Bedrohung und/oder Verfolgung durch den türkischen Staat kaum vorstellbar ist (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls).

Der Beschwerdeführer verblieb jedenfalls bis zu seinem 27. Geburtstag in der Türkei, wobei er seine Ausreise im Wesentlichen auf eine nicht glaubhafte Bedrohung und/oder Verfolgung durch den türkischen Staat wegen seines politischen Engagements für die HDP und deren Vorgängerorganisation(en) zurückführte. Dass ihm zuvor auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit ein weiterer Verbleib im Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei, wurde von ihm nicht vorgebracht. Die zum Teil prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird weder von der belangten Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht in Abrede gestellt, im gegenständlichen Fall ist jedoch weder eine derart exponierte Stellung seiner Person in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass er aktuell von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wäre. Es ist zwar davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer auch die grundlegenden politischen Forderungen der PKK (Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen) inhaltlich teilt, in seinem Vorbringen finden sich jedoch keine Hinweise, dass er die terroristischen Aktivitäten der PKK nicht ablehnen würde und engagierte er sich auch nicht aktiv bei der PKK.

Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer erklärte, dass auf Grund der großen Anzahl an dort lebenden Kurden und der dortigen Arbeitsmöglichkeiten die Bundesrepublik Deutschland sein Zielland gewesen sei und insbesondere eine Einreise oder ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für den Beschwerdeführer für die Bundesrepublik Deutschland oder Österreich nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war, erhärtet sich die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Beschwerdeführer die Türkei rein aus wirtschaftlichen oder privaten Interessen verlassen hat und der gestellte Antrag auf internationalen Schutz lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz unter Umgehung der strengeren Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes eingebracht wurde.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist es dem Beschwerdeführer aus den vorstehend im Detail erörterten Aspekten nicht gelungen, eine ihn betreffende Bedrohungs- oder Verfolgungssituation in der Türkei vor seiner Ausreise glaubhaft darzulegen. Zwar konnten die vorgebrachten strafgerichtlichen Verfahren festgestellt werden, aus diesem Umstand ist jedoch kein asylrelevanter Sachverhalt zu gewinnen.

Eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers vor seiner Ausreise oder im Fall seiner Rückkehr in die Türkei kann das Bundesverwaltungsgericht somit auf Grund dieser Ausführungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen.

Die getroffenen Feststellungen zur Türkei beruhen auf der Länderinformation der Staatendokumentation für die Türkei (Version 5). Diese Berichte wurden dem Beschwerdeführer mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelt. Es handelt sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Türkei ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der Beschwerdeführer und dessen bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation traten diesen Feststellungen nicht entgegen. Wenn in der Stellungnahme vom 25.10.2022 (OZ 13) das vom Bundesverwaltungsgericht herangezogene Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunkts, insbesondere zu den Haftbedingungen, zu politisch motivierter Strafverfolgung und zur Situation der Kurden lediglich zur Kenntnis genommen werden, zeigt die Stellungnahme somit diesbezüglich weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der dem Beschwerdeführer vorgehaltenen Quellen zur gegenwärtigen Lage auf und kann im Hinblick auf die thematisierten Bereiche jedenfalls auf die vorangehenden und nachstehenden Ausführungen verwiesen werden, zumal es eine Frage der Beweiswürdigung und insbesondere der rechtlichen Beurteilung ist, inwieweit dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen eine Rückkehr möglich und zumutbar ist.

Insoweit der Beschwerdeführer zudem in der mündlichen Verhandlung anmerkt, dass man in der Türkei nicht leben könne, wenn man gegen den Staat bzw. die AKP sei, zumal sich Erdogan dort seit 22 Jahren an der Macht befinde und sich derzeit wie ein Diktator geriere (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls), so handelt es sich hierbei um die bloß subjektive Einschätzung der politischen Lage in der Türkei durch den Beschwerdeführer, welche sich nicht mit den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsquellen in Einklang bringen lässt. Zwar sind gewisse autokratische Tendenzen in der Türkei nicht von der Hand zu weisen, den Länderinformationsquellen kann jedoch entnommen werden, dass die Türkei weiterhin zur Einhaltung demokratischer Grundregeln in der Lage ist. So gewann der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, die Bürgermeisterwahl in Istanbul, womit die CHP die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ablöste. Bei den Lokalwahlen vom 30.03.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan zudem die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren.

Wenn im Übrigen in der Beschwerde vom 07.02.2019 auszugsweise Passagen aus den dem Beschwerdeführer im Verfahren vor der belangten Behörde zur Kenntnis gebrachten (und von der belangten Behörde anschließend herangezogenen) Länderinformationen zur Lage der Kurden und zu den Haftbedingungen zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunkts wiederholt und bezüglich politisch motivierter Prozesse, der Situation von kurdischen Aktivisten, Folter und Misshandlungen, der allgemeinen Menschenrechtssituation und zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei Berichte aus den Jahren 2017 und 2018 (Teil III des Verwaltungsakts, AS 630 - 633, 639) zitiert werden, bleibt zur Vollständigkeit festzuhalten, dass diese Länderinformationen bereits als veraltet anzusehen sind. Ein greifbarer sachverhaltsbezogener Bezug dieser Berichte zum Vorbringen des Beschwerdeführers ist des Weiteren ohnehin nicht erkennbar. Soweit der Beschwerdeführer mit den Berichten auf den Zustand des türkischen Justizsystems bzw. des türkischen Strafvollzugs sowie die Situation der Kurden hinweisen möchte, wird insoweit auf die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen verwiesen, die auf aktuelleren Quellen basieren.

Was schließlich die in der Beschwerde ebenfalls zitierte Entscheidung des EGMR vom 13.03.2018, Nr. 10839/09, Ebedin Abi gegen die Türkei, in welcher der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK feststellte, da sich der Gesundheitszustand eines Häftlings, der im Gefängnis die Mahlzeiten nicht entsprechend seiner vom Arzt verordneten Diät erhielt, verschlechtert habe (Teil III des Verwaltungsakts, AS 633), betrifft, ist die Relevanz dieser Entscheidung im gegenständlichen Verfahren jedenfalls zu verneinen, da der Beschwerdeführer gesund ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hält schließlich fest, dass eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen nur dann erforderlich ist, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da der Beschwerdeführer jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hatte, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers nicht geboten.

Da das Bundesverwaltungsgericht eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht zieht, erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerde.

Wenn im Übrigen in der Beschwerde moniert wird, dass nicht sämtliche vom Beschwerdeführer angebotenen Bescheinigungsmittel in türkischer Sprache zu den wider ihn im Jahr 2010 und 2014 eröffneten Strafverfahren seitens der belangten Behörde zur Entscheidungsfindung herangezogen wurden, ist vorab anzumerken, dass zwar weder das AsylG 2005 noch das BFA-VG einen Asylwerber (etwa im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005) generell verpflichten, fremdsprachige Urkunden nur in übersetzter Form vorzulegen (vgl. demgegenüber beispielsweise § 6 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung). Entscheidend ist im gegenständlichen Fall jedoch ohnehin, dass der Beschwerdeführer zu Beginn des gegenständlichen Verfahrens vor dem BFA ein hunderte Seiten umfassendes Konvolut an Bescheinigungsmitteln in türkischer Sprache vorlegte, wobei diesem auch keine schlüssige Auflistung der Bescheinigungsmittel angeschlossen war. Die Bescheinigungsmittel waren beispielsweise auch nicht nach konkreten Beweisthemen oder anderweitig geordnet. Aus diesem Grunde trug die belangte Behörde dem Beschwerdeführer im Zuge eines Verbesserungsauftrags bei Rückgabe der Unterlagen zulässigerweise auf, binnen einer Frist von zwei Wochen die in türkischer Sprache vorgelegten Dokumente nachvollziehbar geordnet, insbesondere in chronologischer Reihenfolge durchnummeriert, mit einer kurzen Angabe zum Inhalt, zum Ausstellungsdatum und zum Aussteller versehen und mit Angabe, ob der Beschwerdeführer bzw. an welchen Stellen er im jeweiligen Dokument persönlich genannt werde sowie welchen konkreten Bezug das jeweilige Dokument zu seinem Antrag auf internationalen Schutz in Österreich habe, vorzulegen, andernfalls diese Dokumente im Verfahren nicht berücksichtigt werden könnten (Teil II des Verwaltungsakts, AS 499, 529). Dem kam der Beschwerdeführer im Zuge einer Stellungnahme lediglich partiell nach und legte acht der ursprünglich vorgelegten Dokumente – samt einer vom Beschwerdeführer handschriftlich verfassten chronologischen Auflistung des Fluchtgrundes – erneut vor (Teil II des Verwaltungsakts, AS 539ff). Diese acht Dokumente wurden von der belangten Behörde in der Folge auch einer Übersetzung zugeführt und fanden jedenfalls bei der Entscheidungsfindung seitens des BFA und des Bundesverwaltungsgerichts Berücksichtigung. Insofern nun die sonstigen Dokumente im gegenständlichen Fall keine Berücksichtigung mehr fanden, so begegnet diese Vorgehensweise der belangten Behörde seitens des Bundesverwaltungsgerichts keinen Bedenken, zumal ein Verbesserungsauftrag einerseits konkret sein und eine unmissverständliche Aufforderung enthalten muss, welche Mängel zu beheben sind (vgl. VwGH 27.03.2007, 2005/11/0216), was bezüglich des Mängelbehebungsauftrags vom 05.11.2018 auf Grund der genauen – zuvor widergegebenen – Aufforderungen an den Beschwerdeführer gegeben war. Andererseits hat das BFA dem Beschwerdeführer eine Frist von zwei Wochen zur Erfüllung des Auftrags eingeräumt, was angemessen erscheint die im Rahmen des Auftrags erteilten Mängel zu beseitigen (vgl. die bei Hengstschläger/Leeb, AVG2 § 13, Rz 29, zitierten Nachweise aus der Rechtsprechung). Was die Argumentation des Beschwerdeführers betrifft, wonach es ihm auf Grund des Umfangs der Beweismittel und der Komplexität der Fälle nicht möglich gewesen sei, dem Verbesserungsauftrag nachzukommen (Teil II des Verwaltungsakts, AS 539; Teil III des Verwaltungsakts, AS 623ff, 634), so kann diesen Überlegungen nicht gefolgt werden, zumal davon ausgegangen werden muss, dass der Beschwerdeführer vom Inhalt dieser ihn selbst betreffenden Dokumente bereits im Zeitpunkt der erstmaligen Vorlage Kenntnis hatte und er auch der türkischen Sprache mächtig ist, weshalb er durchaus in der Lage hätte sein müssen, dem Verbesserungsauftrag fristgemäß zu entsprechen. Insofern ist der belangten Behörde schließlich auch beizupflichten, dass diese nicht mehr verpflichtet war, das – abgesehen von einer chronologischen Listung – erneut ungeordnet und nicht näher beschriebene Konvolut an Unterlagen, welches der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 21.12.2018 nochmals vorlegte (Teil III des Verwaltungsakts, AS 1ff, 375; vgl. auch Teil III des Verwaltungsakts, AS 624f), anzunehmen, weil Verfahrensparteien durch diese Vorgehensweise den Verfahrensgang nach Belieben beeinflussen bzw. verschleppen könnten.

IV. Rechtliche Beurteilung:

A) Abweisung der Beschwerde:

1. Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350; 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, jeweils mwN; vgl. zum hinsichtlich der Glaubhaftmachung einer Verfolgungsgefahr anzulegenden Prüfungsmaßstab näher jüngst VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472). Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an (vgl. VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192 unter Hinweis auf VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274, mwN).

Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. etwa VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 27, unter Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie 2011/95/EU ).

Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN).

Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089 unter Hinweis auf VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 24.03.2011, 2008/23/1101 unter Hinweis auf VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119 unter Hinweis auf VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793, mwN).

Die wider den Beschwerdeführer anhängigen Strafverfahren führen aus nachstehenden Erwägungen nicht zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten.

Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie zufolge kann unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die staatliche Strafverfolgung in der Regel keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn dar. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/01/0126; 27.05.2015, Ra 2014/18/0133).

Im Gegenstand wurden wider den Beschwerdeführer zwar mehrere Strafverfahren eröffnet, er wurde jedoch nicht (und schon gar nicht rechtskräftig) zu einer bestimmten Strafe verurteilt. Schon deshalb kann zum Entscheidungszeitpunkt keine Rede davon sein, dass der Beschwerdeführer einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung ausgesetzt ist. Erwiesen ist die Führung eines Strafverfahrens ab dem Jahr 2010 wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, Propaganda für eine Terrororganisation, Besitz von Sprengstoff (Erzeugung), Sachbeschädigung, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Gefährdung der Verkehrssicherheit und Widerstand gegen die Staatsgewalt und die Führung eines weiteren Strafverfahrens ab dem Jahr 2014 wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubten Besitzes von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffneter Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, sowie der Umstand, dass der Beschwerdeführer zuletzt in diesen beiden Verfahren freigelassen wurde und diese Strafverfahren noch unerledigt (in erster Instanz) anhängig sind. Der Inhalt der beiden im Jahr 2022 wider den Beschwerdeführer eröffneten Verfahren wiederum kann nicht festgestellt werden. Auch diese Verfahren sind jedenfalls unerledigt anhängig. Wie in der Beweiswürdigung erläutert, wurden in den Strafverfahren – soweit ersichtlich bzw. diese überhaupt bereits ein entsprechendes Stadium erreicht haben – bislang die Grundsätze der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit gewahrt. Den Strafverfahren liegen – soweit ersichtlich – Anklagen der zuständigen türkischen staatsanwaltschaftlichen Behörden zugrunde, so dass auch der Grundsatz des Anklageprozesses gewahrt ist. Verstöße gegen die Geschäftsverteilung wurden im Verfahren nicht behauptet. Die Unabhängigkeit der türkischen Gerichte wird zwar in Berichten kritisiert, allerdings betreffen diese Berichte im Wesentlichen die Vorfälle nach dem versuchten Militärputsch im Jahr 2016 und den daran anschließenden Entlassungen tatsächlicher oder vermeintlicher Anhänger des Fethullah Gülen aus dem Beamtenapparat. Da der Beschwerdeführer im Hinblick auf den versuchten Militärputsch im Jahr 2016 und die Gülen-Bewegung nicht verdächtig erscheint, sind keine dahingehenden Nachteile zu befürchten. Dazu tritt, dass die beiden zentralen Verfahren bereits in den Jahren 2010 und 2014 eingeleitet wurden, als von einer Verfolgung von Gülen-Anhängern ebenso wenig die Rede war.

Es wurde darüber hinaus in der Türkei auf Grund der wider den Beschwerdeführer erhobenen Anklagen – soweit ersichtlich bzw. die Verfahren überhaupt bereits ein entsprechendes Stadium erreicht haben – ein Beweisverfahren eingeleitet und dem Beschwerdeführer Gehör gewährt. Er ist zumindest in drei der Strafverfahren rechtsanwaltlich vertreten und es kommt ihm unstrittig das Recht zu, gegen eine allfällige für ihn nachteilige Entscheidung Rechtsmittel bis hin zum letztinstanzlich zuständigen türkischen Kassationsgerichtshof zu erheben. Eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung ist ebenso nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer war nach seinen Enthaftungen in der Lage, neuerlich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und verbrachte zuletzt noch ca. zweieinhalb Jahre nach der Entlassung aus der Haft im Herkunftsstaat. Eine mit unverhältnismäßigen Mittel geführte oder diskriminierende Strafverfolgung kann das Bundesverwaltungsgericht vor diesem Hintergrund nicht erkennen.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann zusammenfassend schon in Anbetracht des Umstandes, dass die wider den Beschwerdeführer geführten Strafverfahren zum Entscheidungszeitpunkt zu keiner gerichtlichen Bestrafung geführt haben, nicht von einem ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Beschwerdeführers gesprochen werden. Die Erhebung einer Anklage und die Notwendigkeit, am Strafverfahren mitzuwirken, ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, der eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen darstellt.

Die Führung der Strafverfahren bilden per se keine Grundlage für freiheitsentziehende Maßnahmen und es bestehen keine Hinweise für eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung. In Anbetracht des aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlichen Verfahrensgangs ist davon auszugehen, dass die wider den Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt wurden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können – von den subjektiven Befürchtungen des Beschwerdeführers abgesehen – auch keine greifbaren Hinweise erkannt werden, dass der Beschwerdeführer in seinen Verfahren jedenfalls zur Gänze schuldig gesprochen und zu einer langjährigen und in Isolationshaft zu verbüßenden Strafe verurteilt würde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine verlässliche Prognose über den Ausgang der Strafverfahren vielmehr kaum möglich. Das Bundesverwaltungsgericht geht indes – wie bereits erörtert – auf Grund der zweimaligen Entlassung des Beschwerdeführers aus der Haft und der unterbliebenen Fällung eines Abwesenheitsurteils davon aus, dass dem Beschwerdeführer nicht mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, Propaganda für eine Terrororganisation, Besitz von Sprengstoff (Erzeugung), Sachbeschädigung, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Gefährdung der Verkehrssicherheit und Widerstand gegen die Staatsgewalt und/oder wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubten Besitzes von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffneter Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, droht (zur Bedeutung des Kriteriums der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit VwGH 13.09.2016, Ra 2016/01/0054 mwN). In jedem Fall kann von einem Schauprozess, der nur einer willkürlichen Bestrafung des Beschwerdeführers für politische Aktivitäten dienen sollte, auf Grund der vorgenannten Umstände keine Rede sein. Die Möglichkeit der Erhebung eines Rechtsmittels wurde dem Beschwerdeführer darüber hinaus eingeräumt, was für ein funktionierende Justizsystem spricht.

Abseits dessen erachtet das Bundesverwaltungsgericht die Strafverfahren des Beschwerdeführers per se nicht als staatliche Verfolgung in asylrelevanter Form ("persecution"), sondern als strafrechtlich legitimiertes Vorgehen ("prosecution").

Zwar ist der Beschwerdeführer grundsätzlich als Sympathisant der HDP bzw. deren Vorgängerorganisation(en) bzw. mittlerweile „Schwesterpartei“ auf lokaler Ebene der BDP, welche im Jahr 2014 in DBP umbenannt wurde, Anhänger einer oppositionellen politischen Gesinnung gegenüber der türkischen Regierung, jedoch ergibt sich aus dem von ihm in Vorlage gebrachten Gerichtsakten der türkischen Justizorgane, dass die Strafverfahren in zumindest nachvollziehbarer Weise unter Zugrundelegung zahlreicher Beweismittel und Offenlegung der maßgebenden strafrechtlichen erfolgte. Die bislang erfolgten Verfahrensschritte stellen sich nicht als willkürliche Handlungen dar, sondern als solche, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dienen sollten. Ohne eine Beurteilung der Schuld des Beschwerdeführers vorzunehmen – eine solche Beurteilung obliegt der türkischen Strafjustiz und ist ohne vollständige Kenntnis der Akten und der vollständigen Ergebnisse der noch durchzuführenden gerichtlichen Verfahrensschritte nicht möglich –, lässt sich aus den den vorliegenden Unterlagen entnehmbaren strafrechtlichen Bestimmungen jedenfalls nicht ableiten, dass es den verhängten Sanktionen an jeglicher Verhältnismäßigkeit fehlt.

Es sind im gegenständlichen Verfahren wie vorstehend im Rahmen der Beweiswürdigung erörtert keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass das Vorgehen der türkischen Strafjustiz aus dem – unsachlichen – Motiv heraus erfolgt, den Beschwerdeführer für politische Aktivitäten (oder aus anderen unsachlichen Motiven heraus) bestrafen zu wollen. Die von ihm selbst vorgelegten Urkunden der Strafverfahren lassen keine Unregelmäßigkeiten in der Verfahrensführung erkennen. Da die Verfahren noch nicht abgeschlossen sind, ist außerdem möglich, dass der Beschwerdeführer freigesprochen wird und im Ergebnis überhaupt kein Ansatzpunkt für eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung verbleibt. Dass der Beschwerdeführer in den im Jahr 2010 und im Jahr 2014 eröffneten Strafverfahren jeweils aus einer längeren Haft entlassen wurde, spricht tendenziell eher dafür, dass kein dringender Tatverdacht mehr erkannt wird. An dieser Stelle ist nochmals hervorzuheben, dass der Beschwerdeführer ausweislich der vorlegten Urkunden jeweils Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren einschließlich rechtsfreundlicher Unterstützung und – soweit bereits schlagend – auch Zugang zum jeweiligen Rechtsmittel genoss. Die Umstände der Strafverfahren lassen demnach keinen Schluss auf eine auf unlauteren Motiven beruhende oder diskriminierende Strafverfolgung zu. Da der Beschwerdeführer vor seiner Inhaftierung keine erwähnenswerten oppositionspolitischen Aktivitäten entfaltete und insbesondere nicht in hervorgehobener Position in Erscheinung trat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Beschwerdeführers erfolgte.

Auch würde eine Verurteilung des Beschwerdeführers nach Art. 314 Abs. 2 und 3 ("Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation") iVm Art. 220 Abs. 6 türkisches StGB in Anbetracht der Strafdrohung von fünf bis zehn Jahren Haft keine unverhältnismäßige Bestrafung darstellen, sodass auch eine allfällige Bestrafung – die freilich gegenwärtig nicht als absehbar und auch nicht als mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretend gesehen werden kann – als solche Asylrelevanz entfalten oder eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde.

An vergleichbaren Delikten sieht das österreichische Strafgesetzbuch in der geltenden Fassung BGBl. I Nr. 70/2018 zunächst in § 278b Abs. 2 die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vor, wobei eine strenge Sanktion in Form einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren normiert ist. § 278c Abs. 1 und 2 StGB sieht ferner eine Erhöhung des Höchstmaßes diverser Strafrahmen um die Hälfte vor, wenn die jeweilige Tat als terroristische Straftat begangen wird. Eine terroristische Straftat liegt gemäß § 278c Abs. 1 letzter Satz StGB vor, wenn die Tat geeignet ist, eine schwere oder längere Zeit anhaltende Störung des öffentlichen Lebens oder eine schwere Schädigung des Wirtschaftslebens herbeizuführen, und mit dem Vorsatz begangen wird, die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern, öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu erschüttern oder zu zerstören.

Ausgehend davon kann es das Bundesverwaltungsgericht nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung ansehen, wenn in der Türkei die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation bzw. die Begehung von Straftaten mit dem Ziel der Förderung und Unterstützung dieser oder in ihrem Namen grundsätzlich unter Strafe gestellt ist und derartige Aktivitäten als terroristische Straftaten geahndet werden.

Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafdrohung wird im Rahmen des hier anzustellenden Vergleichs mit der im Bundesgebiet geltenden Rechtslage (§ 278a StGB "Kriminelle Vereinigung": Freiheitsstrafe von 6 Monaten - 5 Jahren; § 278b StGB "Terroristische Vereinigung": Freiheitsstrafe von 1 - 10 Jahren; 278c StGB "Terroristische Straftat": Überschreitung der Strafdrohung der Höchststrafe für das Grunddelikt um die Hälfte, max. zeitlich begrenzte Haftstrafe 20 Jahre) in einer Zusammenschau mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des türkischen Staates, sowie eines besonderen generalpräventiven Bedürfnisses im Hinblick auf das Bestreben, Straftaten mit terroristischen Hintergrund zu verhindern, davon ausgegangen, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen nicht unverhältnismäßig sind.

Entsprechendes gilt – soweit hier beurteilbar – für die in Art. 7 des türkischen Antiterrorgesetzes Nr. 3713 vorgesehene Strafdrohung von einem bis zu fünf Jahren Haft für "Propaganda für eine terroristische Organisation". Das StGB sieht Strafbestimmungen vor, die vergleichbares Verhalten unter Strafe stellen (§ 282 StGB - Aufforderung zu mit Strafe bedrohten Handlungen und Gutheißung mit Strafe bedrohter Handlungen; § 282a StGB Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten). Zwar sehen die zitierten Strafbestimmungen niedrigere Strafdrohungen von bis zu zwei Jahren vor (wobei nach Maßgabe des § 278c StGB eine Erhöhung möglich ist), allerdings stellt sich im Vergleich dazu die Strafdrohung des Art. 7 des türkischen Antiterrorgesetzes Nr. 3713 noch nicht als unverhältnismäßig dar. Darüber hinaus ist Art. 7 des türkischen Antiterrorgesetzes Nr. 3713 mit den angeführten Strafbestimmungen in Österreich zwar nicht deckungsgleich, ob eine unverhältnismäßige Bestrafung vorliegen könnte, wäre demnach anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen – die Umstände des Einzelfalles können aber hier nicht festgestellt werden, zumal weder absehbar ist, ob ein (gänzlicher oder teilweiser) Schuldspruch erfolgt, ob ein Verhalten kriminalisiert wird, das auch im Bundesgebiet strafrechtlich geahndet würde, noch welche Strafe dafür allenfalls verhängt werden würde. In Ermangelung dahingehender Anhaltspunkte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in unverhältnismäßiger Weise lediglich für eine erlaubte Meinungsbekundung schwerste Strafverfolgung zu gewärtigen haben könnte.

Das türkische Strafgesetzbuch sieht ferner für „Sachbeschädigung“ (Art. 151 türkisches StGB) eine Strafdrohung mit Freiheitsstrafe von vier Monaten bis zu drei Jahren vor, wobei sich bei Erfüllung gewisser Qualifikationen einerseits die Strafdrohung nach Art. 152 Abs. 1 türkisches StGB auf ein Jahr bis zu vier Jahre erhöht und anderseits die Strafe nach Art. 152 Abs. 2 türkisches StGB um das Einfache erhöht (vgl. die Übersetzung https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-REF(2016)011-e , zur Verfügung gestellt vom Europarat). § 125 StGB sieht demgegenüber bei Sachbeschädigung eine Strafdrohung mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen, im Fall einer schweren Sachbeschädigung nach § 126 Abs. 1 StGB eine Strafdrohung mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren und nach § 126 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor, sodass die entsprechende Strafdrohung in der Türkei ebenfalls nicht unverhältnismäßig erscheint.

Art. 265 des türkischen Strafgesetzbuchs sieht des Weiteren in den Fällen von Widerstand gegen die Staatsgewalt in seinem Abs. 1 eine Strafdrohung von sechs Monaten bis zu drei Jahren Freiheitsentzug vor, allenfalls kommt eine um ein Drittel erhöhte Strafe nach Abs. 3 oder um die Hälfte erhöhte Strafe nach Abs. 4 in Betracht (vgl. die Übersetzung https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-REF(2016)011-e , zur Verfügung gestellt vom Europarat). Dem Beschwerdeführer droht daher auch diesbezüglich keine unverhältnismäßige Bestrafung, sieht doch § 269 des österreichischen Strafgesetzbuchs für ein vergleichbares Delikt ebenfalls eine Strafdrohung von bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bzw. in einem qualifizierten Fall von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug vor.

Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der weiteren Strafdrohungen (Artikel 174 türkisches Strafgesetzbuch „Besitz oder Austausch von gefährlichen Stoffen ohne Erlaubnis“: Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu acht Jahren und gerichtliche Geldstrafe von bis zu fünftausend Tagen sowie bei Erfüllung gewisser Qualifikationen Erhöhung der Strafe um die Hälfte, Artikel 170 Abs. 1 türkisches Strafgesetzbuch „Vorsätzliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren, Artikel 179 Abs. 1 türkisches Strafgesetzbuch „Gefährdung der Verkehrssicherheit“: Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren (vgl. jeweils die Übersetzung https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-REF(2016)011-e , zur Verfügung gestellt vom Europarat) und Artikel 32 des türkischen Gesetzes Nr. 2911 über Versammlungen und Demonstrationen „Unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser“: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre und eine Geldstrafe bis zu türkische Lira 30.000,00 (vgl. https://stockholmcf.org/12-people-face-up-to-3-years-in-prison-over-bogazici-protests/ ) geht das Bundesverwaltungsgericht schließlich im Rahmen eines Vergleichs mit der österreichischen Rechtslage (exemplarisch: § 175 StGB „Vorbereitung eines Verbrechens durch Kernenergie, ionisierende Strahlen oder Sprengmittel": Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, § 176 StGB „Vorsätzliche Gemeingefährdung": Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, § 186 StGB „Vorsätzliche Gefährdung der Sicherheit der Luftfahrt“: Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, §§ 19f Versammlungsgesetz: bei Verstößen gegen das Versammlungsgesetz Verwaltungsstrafen bis zu sechs Wochen Arrest oder bis zu 720 Euro Geldstrafe und bei Teilnahme an einer Versammlung unter Verstoß gegen das Vermummungsverbot und das Bewaffnungsverbot Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen, im Wiederholungsfall Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen), ebenfalls davon aus, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen nicht unverhältnismäßig sind. Diese angeführten Strafbestimmungen in Österreich sind zwar ebenfalls nicht deckungsgleich, weshalb – wie vorangehend ausgeführt – auch hier anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen wäre, ob eine unverhältnismäßige Bestrafung vorliegen könnte. Die Umstände des Einzelfalles können aber hier nicht festgestellt werden, zumal weder absehbar ist, ob ein (gänzlicher oder teilweiser) Schuldspruch erfolgt, ob ein Verhalten kriminalisiert wird, das auch im Bundesgebiet strafrechtlich geahndet würde, noch welche Strafe dafür allenfalls verhängt werden würde. In Ermangelung dahingehender Anhaltspunkte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass diese türkischen Strafbestimmungen bzw. der Strafrahmen des türkischen Strafgesetzes unverhältnismäßig wären und begründen diese Bestimmungen für sich ebenso wenig eine asylrelevante Verfolgung.

Dass das türkische Strafgesetzbuch allgemein anstelle des in Österreich verwirklichten Absorptionsprinzips das Kumulationsprinzip in Verbindung mit Höchststrafen (zB Art. 61 Abs. 7 tStGB und insbesondere Art. 68 Abs. 1 tStGB, der höchstzulässige Gesamtstrafen ausgehend von den Strafdrohungen der einzelnen Delikte normiert) vorsieht, ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts schließlich ebenfalls nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung anzusehen, zumal das Kumulationsprinzip etwa im Verwaltungsstrafrecht auch im Bundesgebiet verwirklich ist. Die Strafzumessung trifft ferner sämtliche türkischen Staatsbürger unterschiedslos und ist damit keine diskriminierende Maßnahme und sieht schließlich – wie bereits erwähnt – Art. 68 Abs. 1 tStGB höchstzulässige Gesamtstrafen ausgehend von den Strafdrohungen der einzelnen Delikte, vor, sodass insgesamt von einem im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum gelegenen System gesprochen werden kann. Freiheitsstrafen können im Übrigen nur nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dann in ein Spannungsverhältnis zu Art. 3 EMRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl. statt aller EGMR U 4.9.2014, Trabelsi gegen Belgien, Nr. 140/10). Der OGH hat diesbezüglich in seiner Entscheidung vom 09.09.2003, 14 Os 30/03, selbst eine Gesamthaftstrafe von 845 Jahren, die aufgrund des Kumulationsprinzips zustande kam und weit über der Obergrenze des im ausliefernden Staat vorgesehenen Strafrahmens liegt, aufgrund der Umstände der Tatbegehung nicht als unmenschlich oder erniedrigend im Sinn des Art 3 MRK angesehen.

Fragen des geeigneten Strafmaßes liegen der Rechtsprechung zufolge (EGMR U 17. 1. 2012, Vinter gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 66.069/09; U 17. 1. 2012, Harkins und Edwards gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9146/07, 32650/07; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 20 Rz 30 f und 42 ff; Meyer-Ladewig, EMRK3 Art 3 Rz 57 und 62) auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention und es wird nach der Rechtsprechung des EGMR insoweit ein großer Beurteilungsspielraum der unterschiedlichen Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage akzeptiert, soweit nicht die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung drohen (siehe dazu im Detail OGH 16.05.2012, 14 Os 41/12d). Davon kann im gegenständlichen Fall keine Rede sein.

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten weiteren Schilderungen, wonach er während seiner ersten Inhaftierung ständig Folter ausgesetzt gewesen sei, im Zuge der Festnahme in Zusammenhang mit dem zweiten wider ihn eröffneten Strafverfahren massiv geschlagen worden sei und er nach seiner zweiten Inhaftierung unzählige Festnahmen samt damit einhergehenden Misshandlungen über sich ergehen habe lassen müssen, waren nicht glaubhaft, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, diesbezüglich nicht vorliegt.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass schon in Anbetracht des Umstandes, dass wider den Beschwerdeführer allenfalls erst Anklagen vorliegen und die Strafverfahren (in erster Instanz) anhängig sind, nicht von einem ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Beschwerdeführers gesprochen werden kann. Zum Entscheidungszeitpunkt liegt kein (und schon gar kein rechtskräftiges) Strafurteil wider den Beschwerdeführer dar, das Grundlage für eine freiheitsentziehende Maßnahme oder eine andere Form der Bestrafung ist. Schon deshalb kann begrifflich keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Beschwerdeführers erkannt werden.

Abseits dessen erachtet das Bundesverwaltungsgericht die anhängigen Strafverfahren aus den erörterten Gründen nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung und damit nicht als zur Gewährung des Status des Asylberechtigten führende Verfolgung, sondern als strafrechtlich legitimiertes Vorgehen, eine von der zuständigen staatsanwaltschaftlichen Behörde allenfalls erhobene Anklage vom Gericht klären zu lassen und insbesondere die Frage der Schuld des Angeklagten in einem solchen strafgerichtlichen Verfahren zu prüfen. Die wesentlichen Verfahrensgrundsätze wurden dabei – wie bereits mehrfach erwähnt – eingehalten und es stünde für den gegenwärtig nicht absehbaren Fall einer erstinstanzlichen Verurteilung darüber hinaus die Möglichkeit einer (erneuten) Überprüfung des Urteils in einer übergeordneten Instanz im Wege von Rechtsmitteln zur Verfügung. Auch deshalb liegt keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung in Ansehung des Beschwerdeführers vor. Schließlich stellen sich die in Rede stehenden Rechtsvorschriften bei einer abstrakten Betrachtung - soweit hier möglich - auch nicht als unverhältnismäßig dar.

Die Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen der HDP bzw. deren Vorgängerorganisation(en) bzw. mittlerweile „Schwesterpartei“ auf lokaler Ebene der BDP, welche im Jahr 2014 in DBP umbenannt wurde, und die Übernahme von Hilfstätigkeiten, wie etwa das Organisieren von kulturellen Veranstaltungen, das Sammeln von Spenden, das Verteilen von Zeitschriften, die Mithilfe bei Wahlen/Wahlpropaganda, Hausbesuche bei Sympathisanten zur Unterstützung in diversen Angelegenheiten, wie Arbeits- und Wohnungssuche, oder das Anwerben von Mitgliedern, vermögen auf Basis der im Verfahren herangezogenen Erkenntnisquellen zur Lage in der Türkei keine maßgeblich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr darzutun. Die HDP ist ungeachtet der Repressalien gegen ihre leitenden Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker – ebenso wie die DBP – aktuell eine in der Türkei erlaubte politische Partei, die im türkischen Parlament und auch auf kommunaler Ebene vertreten ist. Die bloße Sympathie für und die Ausübung einfacher Hilfstätigkeiten bei der HDP stellt demgemäß keine Straftat dar und ergibt sich aus den herangezogenen Quellen auch keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuelle Gefährdung oder drohende strafrechtliche Verfolgung alleine auf Grund des Besuchs von Veranstaltungen und Aufmärschen der HDP und der Übernahme von den zuvor genannten Hilfstätigkeiten. Die zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern und sind damit nicht geeignet, eine gegenwärtige individuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgung einfacher Sympathisanten/Unterstützer der HDP in der Türkei darzutun. Der Beschwerdeführer war weder in leitender Stellung bei dieser Partei tätig, noch deren Abgeordneter, Bürgermeister oder anderweitiger Funktionsträger. Vielmehr kann nicht erkannt werden, dass sich der Beschwerdeführer politisch besonders exponierte. Dass andere Personen als leitende Funktionäre, Abgeordnete, Kommunalpolitiker der HDP oder Funktionsträger von Strafverfolgung betroffen wären, lässt sich aus den vorliegenden Berichten nicht ableiten. Die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers alleine auf Grund seiner Unterstützung der HDP bzw. deren Vorgängerorganisation(en) bzw. mittlerweile „Schwesterpartei“ auf lokaler Ebene der BDP, welche im Jahr 2014 in DBP umbenannt wurde, ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar.

Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung des Beschwerdeführers ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche aktuelle Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Darüber hinaus leben Familienangehörige des Beschwerdeführers mit ebenfalls kurdischer Abstammung nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in Istanbul und der Provinz Mardin, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb dem Beschwerdeführer auf Grund seiner kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen beispielsweise seine Eltern, vier Schwestern, zwei Brüder und mehrere Tanten sowie Onkel nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Begegnung in der Türkei, ist der Beschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).

Was seine Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft eben nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die vom Beschwerdeführer erwähnten allgemeinen Schwierigkeiten (Probleme bei Arbeits- und Wohnungssuche) erfüllen dieses Kriterium nicht.

Im gegebenen Kontext ist außerdem maßgeblich, dass beispielsweise eine bloße Nachfrage durch Organe eines öffentlichen Sicherheitsdiensts nach dem Aufenthaltsort einer Person oder die Aufforderung, bei einer bestimmten Dienststelle oder einer anderen Behörde vorzusprechen oder polizeiliche Kontrollen, aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts per se keine Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist als Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Dass der Beschwerdeführer Opfer derart gravierender Diskriminierungen auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit wurde, hat er nicht glaubhaft vorgebracht. Befragungen im Zuge polizeilicher Ermittlungen stellten nach der Rechtsprechung – selbst wenn sich die betroffene Person durch diese Ermittlungen schikaniert gefühlt haben mag – in ihrer Gesamtheit keine asylrelevanten Verfolgungshandlungen dar (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

Aus den Feststellungen in Zusammenschau mit der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts folgt des Weiteren, dass sich der Beschwerdeführer durch seine aktuell unmaßgebliche Beteiligung an den Vereinsaktivitäten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine Position brachte, in der er für türkische Behörden als auffällig regimekritisch oder gar im Sinne der innerstaatlichen Gesetzgebung als des Separatismus oder Terrorismus Verdächtiger anzusehen wäre und daher mit entsprechender Verfolgung zu rechnen hätte. Dem Beschwerdeführer droht daher auch wegen seines Aufsuchens eines kurdischen Kulturvereins in Österreich in seinem Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Verfolgung iSd § 3 Abs. 1 AsylG.

Nach den Länderfeststellungen sind Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland nicht bekannt. Die Türkei besitzt keine gesetzlichen Bestimmungen, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Beschwerdeführers wegen seines in Österreich gestellten Antrags auf internationalen Schutz liegt daher nicht vor.

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).

Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würde, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

2. Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 08.11.2021, Ra 2021/19/0226 unter Hinweis auf VwGH 16.03.2021, Ra 2020/19/0324, mwN).

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 08.09.2021, Ra 2021/20/1251).

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).

Im gegenständlichen Fall konnte der Beschwerdeführer eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft machen und er gehört auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.

Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in die Türkei (nach Istanbul) einer Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.

Auch wenn ausweislich der vorstehenden Erwägungen keine maßgebliche Gefahr einer Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer langjährigen Haftstrafe erkannt werden kann, ist der Vollständigkeit halber auf Folgendes hinzuweisen: Im Kontext der Feststellungen zu den Haftbedingungen ist nicht davon auszugehen, dass in der Türkei solch inadäquate Haftbedingungen vorlägen, die die Behandlung eines jeden türkischen Strafgefangenen oder auch jedes wegen Straftaten gegen die verfassungsmäßige Ordnung und ihr Funktionieren (Art. 309 - 315 tStGB) Inhaftierten als Art. 3 EMRK widerstreitend erscheinen ließe. Derartiges wurde im Verfahren auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Der Beschwerdeführer ist daher seiner Obliegenheit, die Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten, Angaben schlüssig darzustellen, nicht nachgekommen. Der Beschwerdeführer ist im Übrigen gesund, so dass keine Notwendigkeit einer medizinischen Versorgung besteht und diesbezügliche Defizite daher nicht von Relevanz sind. Dass er während seiner Anhaltung in Haft Schwierigkeiten gehabt hätte, brachte er nicht glaubhaft vor. Den Feststellungen zufolge wurde die materielle Ausstattung der Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich eingehalten werden. Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Problematisch ist die Überbelegung, da die Gesamtkapazität von 251.299 Plätzen im September 2021 mit 292.074 Insassen übermäßig ausgeschöpft wurde. Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen vor. In Anbetracht der festgestellten Zahl von Insassen kann jedoch letztlich nicht davon ausgegangen werden, dass Folter und Misshandlung in den türkischen Haftanstalten eine dermaßen verbreitete Praxis wäre, dass die reale Gefahr bestünde, als nicht wegen einer Beteiligung am versuchten Militärputsch exponierter Insasse jedenfalls derartigen Praktiken unterzogen zu werden. Es wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass die Beschwerden in ihrer Zahl über bloße Einzelfälle hinausgehen, allerdings wird damit noch keine solche Intensität an Übergriffen aufgezeigt, dass von der realen Gefahr auszugehen wäre, dass der Beschwerdeführer von Folter und Misshandlung persönlich betroffen wäre. Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen die Überbelegung der Gefängnisse eingeleitet (vorzeitige Entlassungen, Ausbau) und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal zweifelsfrei absehbar, in welchem Gefängnistyp er eine verhängte Strafe verbüßen würde. Auch wenn die Haftbedingungen in der Türkei sohin nicht immer als mit europäischen Standards vergleichbar angesehen werden, so war dennoch nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr alleine wegen der Haftbedingungen einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre. Die Befürchtungen des Beschwerdeführers basieren weitgehend auf Spekulation und sind nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen.

Ausgehend davon und in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann das Bundesverwaltungsgericht somit nicht erkennen, dass dem Beschwerdeführer die reale Gefahr einer Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte auf Grund der Haftbedingungen in der Türkei droht.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), hat doch der Beschwerdeführer selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Wie der Beschwerdeführer selbst vorbrachte, leben unter anderem eine Schwester und ein Onkel in Istanbul, während seine Eltern und die restlichen Geschwister sowie mehrere Tanten und Onkel noch in der Provinz Mardin wohnhaft sind. Die Brüder des Beschwerdeführers gehen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts einer Arbeit als LKW-Fahrer nach. Ebenso gehen Onkel des Beschwerdeführers einer Erwerbstätigkeit nach. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Eltern, Onkel und Freunden regelmäßig in Kontakt und war seine wirtschaftliche bzw. finanzielle Situation vor der Ausreise nach den Angaben des Beschwerdeführers als „durchschnittlich gut“ zu bezeichnen. Auch wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Verwandten beschränkt sein sollte, konstituiert deren Anzahl aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts (Eltern, zwei Brüder, vier Schwestern und deren Familien, Tanten und Onkel) ein hinreichend leistungsfähiges familiäres Netzwerk, welches den Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in die Herkunftsregion Istanbul unterstützen kann. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer von seinen Verwandten mit Lebensmitteln versorgt werden wird, er von seinen Familienangehörigen (vorübergehend) eine Unterkunft erhalten wird und er beispielsweise in der Textilbranche arbeiten oder zumindest sonstigen Gelegenheitsarbeiten nachgehen kann.

Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei unzulässig machen könnten.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Millionenmetropole Istanbul. Betreffend die Sicherheitslage in Istanbul ist mit Blick auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichen Erkenntnis zu verweisen, denen keine sicherheitsrelevanten Vorfälle in Istanbul zu entnehmen waren. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei auf Grund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, ihren Ableger [TAK], des Islamischen Staates und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C. Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle festzuhalten ist, dass die Millionenmetropole Istanbul, in welchem der Beschwerdeführer vor der Ausreise lebte, deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Des Weiteren ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht vorbrachte, von Kampfhandlungen betroffen gewesen zu sein, noch, dass er durch Ausgangssperren beeinträchtigt war. Eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach – schon in Anbetracht seines ständigen Aufenthalts in Istanbul weit weg von den unsicheren Provinzen in der Osttürkei – nicht anzunehmen. Ferner geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass Istanbul überhaupt von Kampfhandlungen und/oder Ausgangssperren betroffen war. Aus den Feststellungen lässt sich auch nicht ableiten, dass ein Wiederaufflammen der Kämpfe zu besorgen wäre. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon auf Grund seiner bloßen Präsenz in der Millionenmetropole Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.

Die allgemeine Sicherheitslage ist somit jedenfalls nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre. Besondere Gefährdungsmomente, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass der Beschwerdeführer in besonderem Maße von etwaigen dort stattfindenden Gewaltakten bedroht wäre, wurden weder in den Einvernahmen noch in der Beschwerde glaubhaft vorgebracht (vgl. dazu VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.

Es erscheint daher eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei (nach Istanbul) nicht grundsätzlich ausgeschlossen und auf Grund der individuellen Situation des Beschwerdeführers insgesamt auch zumutbar. Für die hier zu erstellende Gefahrenprognose ist zunächst zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise aus der Türkei möglich war, offenbar ohne größere Probleme in Istanbul zu leben. Seinem Vorbringen vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung ist keine gravierende Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit aus Sicherheitsgründen zu entnehmen. Eine Schwester und ein Onkel sowie dessen Familie leben auch nach wie vor in Istanbul.

Bei dem 32-jährigen Beschwerdeführer handelt es sich um einen gesunden, arbeitsfähigen Mann, bei welcher die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Der Beschwerdeführer verfügt darüber hinaus über eine mehrjährige Schulausbildung und jahrzehntelange Berufserfahrung in der Textilbranche. Er spricht Kurmandschi auf muttersprachlichem Niveau und Türkisch. Eine Schwester und ein Onkel sowie dessen Familie leben in Istanbul. Zudem halten sich die Eltern, drei Schwestern, zwei Brüder und Tanten sowie Onkel in der Provinz Mardin auf. Aus welchen Gründen der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollte, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht vorgebracht, zumal der Beschwerdeführer auch über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt und dort einen Verwandtenkreis vorfindet. Es kann davon ausgegangen werden, dass er – zumindest auch vorübergehend – von seinen Familienangehörigen unterstützt wird. Schließlich stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind anspruchsberechtigt, bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden etwa in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen, wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen, gewährt. Es kann sohin nicht erkannt werden, dass dem erwerbsfähigen Beschwerdeführer, der in der Türkei über ein familiäres bzw. soziales Netz verfügt, im Falle einer Rückkehr nach Istanbul dort die notwendigste Lebensgrundlage entzogen und dadurch die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein wird, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, dass ein Fremder im Allgemeinen zwar kein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und der Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedoch jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 08.11.2021, Ra 2021/19/0226 unter Hinweis auf VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006, mwN und unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41.738/10).

Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. VfSlg. 18.407/2008 und 19.086/2010).

Bei der Frage, ob im Fall der Rückführung eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK besteht, kommt es somit nicht darauf an, ob infolge von zur Verhinderung der Verbreitung von SARS-CoV-2 gesetzten Maßnahmen sich die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, solange die Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse weiterhin als gegeben anzunehmen ist (vgl. – zum Irak – VwGH 14.04.2021, Ra 2021/19/0099, mwN).

Der Beschwerdeführer ist gesund. Vor diesem Hintergrund ergeben sich somit keine Hinweise auf das Vorliegen von akut existenzbedrohenden Krankheitszuständen oder Hinweise auf eine unzumutbare Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Rückverbringung des Beschwerdeführers in die Türkei. Der Beschwerdeführer hat dies auch nicht vorgebracht.

Was die Folgen der COVID-19-Pandemie in der Türkei betrifft ist festzuhalten, dass es sich bei COVID-19 um eine überregional auftretende Viruserkrankung handelt und kein Staat der Welt absolute Sicherheit vor dieser Erkrankung bieten kann, was die aktuellen Entwicklungen der Infektionszahlen in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika belegen. Der Beschwerdeführer leidet an keiner zu beachtenden Vorerkrankung und gehört keiner Risikogruppe an (vgl. dazu die COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II. Nr. 203/2020). Nach der derzeitigen Sachlage und der festgestellten Anzahl an Infizierten – laut der World Health Organization beläuft sich in der Türkei, die ca. 83 Millionen Einwohner hat, die Zahl der bestätigten COVID-19-Erkrankungen auf 16.919.638 und die Zahl der Todesfälle auf 101.203 (vgl. das im Internet abrufbare World Health Organization (WHO) Dashboard zu COVID-19, Einsichtnahme am 21.11.2022) – wäre daher eine mögliche Ansteckung des Beschwerdeführers in der Türkei mit COVID-19 und ein diesbezüglicher außergewöhnlicher Krankheitsverlauf rein spekulativ. Eine reale und nicht auf Spekulationen gegründete Gefahr ist somit nicht zu erkennen. Die bloße Möglichkeit eines dem Art. 3 EMRK allenfalls in der Zukunft widersprechenden Nachteils führt nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes (vgl. VwGH vom 06.11.2009, 2008/19/0174 (siehe dazu VwGH 06.07.2020, Ra 2020/01/0176, wonach im Hinblick auf die bloße Möglichkeit einer Covid-19-Erkrankung einer nicht der Risikogruppe zugehörigen Person keine solch exzeptionellen Umstände vorliegen, die die reale Gefahr einer Verletzung von nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte darstellen)).

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

3. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkte III. bis V. des angefochtenen Bescheides):

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt wurde.

Die Entscheidung ist daher gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden.

Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Der Beschwerdeführer ist als türkischer Staatsangehöriger kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und ihm kommt kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gemäß § 52 Abs. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.

Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Der Begriff des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ist weit zu verstehen; er kann auch faktische Familienbindungen umfassen, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen – etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder – äußern können (vgl. mwN VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0425).

Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Die Beziehung des Beschwerdeführers zu einer türkischen Staatsangehörigen besteht erst seit einigen Monaten. Die beiden Personen verfügen erst seit 10.08.2022 über einen gemeinsamen Wohnsitz. Dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit oder gegenwärtig ein ernsthaftes, ausgeprägtes Interesse an der Beziehung zu seiner Freundin hat(te), konnte im Verfahren nicht erkannt werden. Ferner trat im Verfahren in keiner Weise eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen dem Beschwerdeführer und dieser Person zutage. Die beiden sind bislang nicht verheiratet und haben keine Kinder. Eine Hochzeit steht nicht unmittelbar bevor. Nach Maßgabe dieser Sachverhaltselemente ist die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und der türkischen Staatsangehörigen daher im Lichte der zitierten Judikatur lediglich als (Teil des) Privatleben(s) des Beschwerdeführers im Sinne des Art. 8 EMRK zu qualifizieren.

Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Österreich ein schützenswertes Familienleben führt.

Zur Vollständigkeit erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht darauf hinzuweisen, dass – selbst wenn man auf Grund der in der mündlichen Verhandlung erwähnten und für die Zukunft geplanten Eheschließung davon ausgehen würde, dass der Beschwerdeführer in Österreich ein schützenswertes Familienleben führt – ohnehin auf Grund der in den Vorabsätzen erläuterten Beziehung jedenfalls vom Vorliegen eines Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich auszugehen ist und die sodann vorzunehmende Interessenabwägung zwischen den Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich und den öffentlichen Interessen an einer Außerlandesschaffung beim Recht auf Privat- und beim Recht auf Familienleben gleich verläuft.

Es ist somit zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.

Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031). Erst bei einem (knapp unter) zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden kann regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich ausgegangen werden (vgl. VwGH 14.04.2016; Ra 2016/21/0029).

Der Beschwerdeführer hält sich seit Juli 2018, somit etwa vier Jahre und fünf Monate, im österreichischen Bundesgebiet auf. Sein Aufenthalt beruhte lediglich auf einem Antrag auf internationalen Schutz, der sich als nicht berechtigt erwiesen hat und ist auch noch zu kurz, um seinem Interesse an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet ein relevantes Gewicht zu verleihen. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).

Dass das Asylverfahren in Österreich, welches ab etwa Ende Juli 2018 Grundlage für den hiesigen Aufenthalt des Beschwerdeführers gewesen war, etwa vier Jahre und fünf Monate bis zur nunmehrigen Entscheidung andauerte, kann dem Beschwerdeführer aber nicht angelastet werden. In Anbetracht des Umstandes, dass der Antrag auf internationalen Schutz unbegründet war, er versuchte diesen mit einem teilweise nicht glaubhaften Sachverhalt zu begründen und der Beschwerdeführer zur Antragstellung illegal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist war, sind aber gravierende öffentliche Interessen festzustellen, die für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung sprechen. Diese Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit das private Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib, zumal keine besonderen zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechenden integrativen Schritte erkennbar sind.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten oder Angehörigen. Als Teil des Privatlebens ist jedenfalls die Beziehung, die der Beschwerdeführer zu einer türkischen Staatsangehörigen führt, zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung dieses grundsätzlich berücksichtigungswürdigen Elements des Privatlebens ist zu bedenken, dass die Beziehung erst seit kurzer Zeit, nämlich seit einigen Monaten, besteht. Des Weiteren verfügen der Beschwerdeführer und seine Freundin erst seit 10.08.2022 über einen gemeinsamen Wohnsitz. Ebenso wenig trat eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen dem Beschwerdeführer und dieser türkischen Staatsangehörigen zutage. Schließlich haben die beiden keine gemeinsamen Kinder und sind nicht verheiratet. Eine Eheschließung ist zwar für die Zukunft geplant, der Beschwerdeführer hat die dafür erforderlichen Unterlagen aber bislang nicht aus der Türkei erhalten. Im Hinblick darauf und weil der Beschwerdeführer die Beziehung zu einem Zeitpunkt begründet hat, in dem sich die Zulässigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers allein auf seinen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stützen konnte, ist die Schutzwürdigkeit des Privatlebens eher gering. Es wäre in jedem Fall möglich und zumutbar, den Kontakt mithilfe moderner Kommunikationsmittel und durch Besuche aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0235). Es steht dem Beschwerdeführer zudem frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen, zumal gegen ihn kein Einreiseverbot besteht (vgl. VwGH 22.01.2013, 2012/18/0201; 29.06.2017, Ro 2016/21/0007; 17.03.2016, Ro 2016/21/0007, und insbesondere 30.07.2015, Ra 2014/22/0131, sowie § 11 Abs. 1 Z 3 NAG und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa nach der Verordnung (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) und nach dem FPG).

Der Beschwerdeführer verfügt über einen normalen Freundes- und Bekanntenkreis. Von einer gesellschaftlichen Integration im beachtlichen Ausmaß ist jedoch nicht auszugehen, zumal der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keine Unterstützungserklärungen vorlegen konnte. Insofern kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, dass der Beschwerdeführer über den Kontakt mit Personen seines eigenen kulturellen und geographischen Hintergrunds hinausgehenden maßgeblichen sozialen Anschluss in Österreich gefunden hätte.

Soweit der Beschwerdeführer insoweit über weitere private Bindungen in Österreich verfügt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen.

Der Beschwerdeführer hat während seines mehrjährigen Aufenthalts in Österreich weder sprachliche Qualifizierungsmaßnahmen besucht, noch Prüfungen absolviert. Er verfügt über keine Kenntnisse der deutschen Sprache für den Alltagsgebrauch. Da der Beschwerdeführer nach nunmehr mehr als vierjährigem Aufenthalt über keine Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, er keinen Kurs besuchte und auch keine Prüfungen absolvierte, kann das Bundesverwaltungsgericht nur von einem Desinteresse am Spracherwerb ausgehen.

In diesem Zusammenhang sei auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die – hier bei weitem nicht vorhandenen – Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 06.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Der Beschwerdeführer verrichtet keine gemeinnützigen Arbeiten und leistet auch keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit; er ist in Österreich nicht Mitglied von Vereinen oder sonstigen Organisationen. Er besucht zwar einen kurdischen Verein. Eine besondere Integrationsleistung des Beschwerdeführers ist freilich in diesem Besuch eines kurdischen Kulturvereins, der primär dem Kontakt mit den „Landsleuten“ des Beschwerdeführers dient, nicht zu erblicken. Anderweitige Integrationsschritte (wie etwa die Teilnahme an diesbezüglichen Schulungen, Wertkursen und dergleichen) hat der Beschwerdeführer ebenfalls nicht ergriffen. Eine maßgebliche soziale Verankerung des Beschwerdeführers, die zu einer Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung führen würde, ist somit für das Bundesverwaltungsgericht auch in diesem Zusammenhang nicht erkennbar.

Der Beschwerdeführer hat zudem keine belegten Anknüpfungspunkte in Form einer legalen Erwerbstätigkeit oder anderweitiger maßgeblicher wirtschaftlicher Interessen und ist seit seiner Antragstellung zur Sicherstellung seines Auskommens auf Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber angewiesen.

Im Verfahren kam somit nicht hervor, dass er tiefergehend in die österreichische Gesellschaft integriert ist. Es liegen daher keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale vor. Es besteht noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).

Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101). Ein diesbezügliches konkretes Vorbringen wurde vom Beschwerdeführer nicht glaubhaft erstattet, zumal die Familie des Beschwerdeführers, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehört, in der Türkei lebt und mehrere Familienangehörige dort problemlos einer Beschäftigung nachgehen, was ebenfalls gegen das Vorliegen derartiger „Schwierigkeiten“ spricht.

Die Bindungen zum Heimatstaat des Beschwerdeführers sind deutlich stärker ausgeprägt. Der 32-jährige Beschwerdeführer verbrachte die ersten 27 Jahre seines Lebens, und damit sehr prägenden Jahre, in seinem Heimatland (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058). Er hat dort seine schulische Ausbildung absolviert und seine Sozialisation erfahren. Er spricht Kurmandschi (Nordkurdisch) und Türkisch. In der Türkei leben außerdem noch seine Eltern, sechs Geschwister und Onkel sowie Tanten. Der Beschwerdeführer hat auch regelmäßig Kontakt mit seinen Eltern, Onkeln und Freunden. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnte. Daher ist im Vergleich von einer deutlich stärkeren Bindung des Beschwerdeführers zur Türkei auszugehen.

Es ist auch davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage im Falle einer Rückkehr hat. Der Beschwerdeführer verfügt über mehrjährige Schulausbildung und Berufserfahrung. Er spricht Kurmandschi (Nordkurdisch) und Türkisch. Abgesehen von einer Schwester und einem Onkel, die sich in Istanbul befinden, wohnen die Eltern, sonstigen Geschwister und ein Großteil der Tanten und Onkel des Beschwerdeführers in der Geburtsprovinz Mardin. Aus welchen Gründen der Beschwerdeführer als gesunder Mann mit Schulbildung und umfassender Berufserfahrung bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollte, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht vorgebracht, zumal der Beschwerdeführer über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt und auch bereits vor seiner Ausreise aus der Türkei einer Arbeit nachging. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in der Lage sein wird, sich in seinem Heimatland, dessen National- und Amtssprache er – neben seiner Muttersprache Kurmandschi – spricht und in dem seine Verwandten leben, zu denen Kontakt besteht, eine Existenzgrundlage aufzubauen.

Im gegenständlichen Fall kommt für den Beschwerdeführer erschwerend hinzu, dass er im Bundesgebiet bereits strafgerichtlich verurteilt wurde, was sein Integrationsbemühen, das wie ausgeführt auch kein Besonderes ist, nochmals maßgeblich relativiert. Der Beschwerdeführer hat damit eine Missachtung der österreichischen Rechtsordnung an den Tag gelegt und es wird gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die für die Integration eines Fremden wesentliche soziale Komponente durch eine von diesem begangene Straftat erheblich beeinträchtigt (vgl. etwa VwGH 19.11.2003, 2002/21/0181 mwN).

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil eines österreichischen Landesgerichts vom 12.10.2018 wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde.

Der Beschwerdeführer vermochte zum Entscheidungszeitpunkt daher keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet darzutun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat führen könnten.

Auf Grund der genannten Umstände überwiegen in einer Gesamtabwägung derzeit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet. Insbesondere das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne eines geordneten Fremdenwesens und das Interesse an der Hintanhaltung von Straftaten, wie eine vom Beschwerdeführer bereits begangen wurde, wiegt in diesem Fall schwerer als die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet, zumal der Beschwerdeführer illegal in das Bundesgebiet einreiste und einen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stellte. Dazu tritt der noch eher kurze faktische Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich von etwa vier Jahren und fünf Monaten, währenddessen sich der Beschwerdeführer – insbesondere nach Erhalt des Bescheides vom 21.01.2019 – der Ungewissheit seines weiteren Verbleibs im Bundesgebiet bewusst gewesen sein musste. Außerdem ist der Beschwerdeführer nicht wirtschaftlich unabhängig oder selbsterhaltungsfähig, sondern seit seiner Einreise durchgehend auf Leistungen aus der Grundversorgung angewiesen. Ferner zeigte der Beschwerdeführer ein Desinteresse beim Spracherwerb und ist auch der sonstige Grad der Integration nicht als ausgeprägt einzuordnen. Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liegt eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vor. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar.

Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).

Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).

Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 iVm § 50 FPG folgt aus der Nichtgewährung von Asyl und subsidiärem Schutz (vgl. VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/0044 bis 0046 mwN).

4. Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides):

Die festgelegte Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch kein Vorbringen erstattet.

B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung mit der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes übereinstimmt.

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