VwGH Ra 2017/01/0016

VwGHRa 2017/01/001625.4.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 2016, Zl. W163 2115055-1/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl; mitbeteiligte Partei: F N), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1;
AsylG 2005 §8;
EMRK Art2;
EMRK Art3;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 13. Oktober 2014 nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Befragt zu jenen Gründen, aus denen er sein Heimatland verlassen habe, gab er im Rahmen seiner Vernehmung zusammengefasst an, sein Vater sei von den Taliban getötet worden, woraufhin er selbst von den Taliban bedroht worden sei. Er solle mit ihnen kämpfen oder er werde getötet.

2 Mit Bescheid vom 16. September 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG wurde nicht erteilt und gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen sowie festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.).

3 Hinsichtlich der Versagung von subsidiärem Schutz führte die Verwaltungsbehörde - soweit für den vorliegenden Fall relevant - aus, der Mitbeteiligte sei ein erwachsener, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der in der Lage sei, Arbeit anzunehmen und zu verrichten. Er habe von Geburt an bis zu seiner Ausreise in Afghanistan gelebt, habe sieben Jahre lang die Schule besucht und bereits Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft sammeln können. Da der Mitbeteiligte auch angegeben habe, dass seine Familie nicht vorgehabt habe, Afghanistan zu verlassen, könne davon ausgegangen werden, dass er diese dort auch wieder antreffen werde. Jedenfalls aber würde dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative in eine der näher genannten Großstädte offen stehen; auf Grundlage der Länderfeststellungen sei davon auszugehen, dass sich der Mitbeteiligte im Falle der Rückkehr zumindest auf bescheidenem Niveau eine neue Existenz aufbauen könnte und ihm keinesfalls die völlige Entziehung der Existenzgrundlage drohe.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG); mit Schriftsatz vom 10. September 2016 zog er die Beschwerde betreffend die Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides) zurück und erstattete ein ergänzendes Vorbringen.

5 Mit Erkenntnis vom 30. November 2016 gab das BVwG der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides statt und erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.). Gleichzeitig wurde dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt A) III.).

6 Gleichzeitig stellte das BVwG das Verfahren hinsichtlich der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten infolge der diesbezüglichen Beschwerderückziehung ein (Spruchpunkt A) I.) und sprach in Spruchpunkt B) außerdem aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Zur Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz führte das BVwG zusammengefasst aus, der Mitbeteiligte sei ein arbeitsfähiger und gesunder junger Mann mit mehrjähriger Schuldbildung ohne Berufserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Es müsse demgegenüber jedoch maßgeblich berücksichtigt werden, dass er in der Provinz N., einer Provinz mit besonders schlechter Sicherheitslage, geboren und aufgewachsen sei und in anderen Landesgegenden über keine hinreichenden sozialen Netze verfüge. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan wäre er vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, allenfalls in K. nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln stelle sich insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt "meist nur unzureichend" dar. Angesichts der derzeitigen politischen Lage in Afghanistan sei zudem ausreichende staatliche Unterstützung sehr unwahrscheinlich. Im Hinblick auf die schlechte finanzielle Situation seiner Familie im Heimatdorf könne auch nicht von einer Unterstützung durch diese ausgegangen werden. Im gegenständlichen Fall könne daher unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände "nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen" werden, dass der Mitbeteiligte im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Versorgungsbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde. Die Rückkehr des Mitbeteiligten nach Afghanistan erscheine daher derzeit unzumutbar. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem Mitbeteiligten unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände und des Fehlens eines hinreichend unterstützenden sozialen oder familiären Netzwerks - auch nach Prüfung des Zumutbarkeitskalküls - derzeit ebenfalls nicht zur Verfügung.

8 Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 sei dem Mitbeteiligten aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres zu erteilen.

9 Gegen dieses Erkenntnis des BVwG vom 30. November 2016 richtet sich die vorliegende Amtsrevision des BFA, welche zu Ihrer Zulässigkeit ua. ein Abweichen von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorbringt. Das Erkenntnis zeige anhand der getroffenen Feststellungen zu den individuellen Verhältnissen des Mitbeteiligten sowie zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan nur die bloße Möglichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK auf, nicht aber, dass für den Mitbeteiligten im Falle der Rückkehr die reale Gefahr einer extremen Gefahrenlage im Sinn des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 gegeben wäre. Der Mitbeteiligte sei eine volljährige, gesunde und arbeitsfähige Person, die auch mit den kulturellen und örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan vertraut sei. Es würden somit per se keine exzeptionellen Umstände vorliegen, welche eine innerstaatliche Fluchtalternative unzumutbar machen würden. Das BVwG verfehle daher den für die Beurteilung einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK maßgeblichen Wahrscheinlichkeits- und Prognosemaßstab.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

11 Die Amtsrevision ist bereits aufgrund des aufgezeigten Abweichens des BVwG von der hg. Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Zuerkennung von subsidiärem Schutz zulässig. Sie ist auch begründet.

12 § 8 Abs. 1 AsylG 2005 lautet:

"Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist

einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen

Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des

Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde."

13 Nach der ständigen hg. Rechtsprechung ist bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 25. Mai 2016, Ra 2016/19/0036, und vom 8. September 2016, Ra 2016/20/0063, jeweils mwN).

14 Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 21. Februar 2017, Ra 2016/18/0137, mit Hinweisen auf die hg. Rechtsprechung sowie die Rechtsprechung des EGMR und EuGH).

15 In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren, zum Herkunftsstaat Afghanistan ergangenen Rechtsprechung wiederholt und unter Bezugnahme auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des EGMR ausgesprochen, dass es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Es reicht für den Antragsteller nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zu berufen. Die allgemeine Situation in Afghanistan ist nämlich nicht so gelagert, dass schon alleine die Rückkehr eines Antragstellers dorthin eine ernsthafte Bedrohung für die durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte bedeuten würde (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 25. April 2017, Ra 2016/01/0307, mwN).

16 Im Revisionsfall hat der Mitbeteiligte zwar ein umfangreiches Vorbringen in Bezug auf die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan erbracht, es ist ihm jedoch nicht gelungen, den mit Blick auf die einschlägige hg. Rechtsprechung erforderlichen Nachweis hinsichtlich des Vorliegens von in seiner Person gelegenen, konkreten exzeptionellen Umständen im Hinblick auf eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK durch seine Rückführung in seinen Herkunftsstaat zu erbringen.

17 Demgegenüber geht das BVwG zur Begründung der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass "nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen" werden könne, dass der Mitbeteiligte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.

18 Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Prüfung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 eine rechtliche Beurteilung darstellt, die auf Basis der getroffenen Feststellungen zu erfolgen hat.

19 Das BVwG hat mit seinen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis zwar die Möglichkeit einer schwierigen Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat aufgezeigt, dies bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht. Die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze wird damit aber nicht dargetan (vgl. dazu die schon zitierten hg. Erkenntnisse vom 25. Mai 2016, Ra 2016/19/0036, und vom 8. September 2016, Ra 2016/20/0063, bzw. zur Frage einer innerstaatlichen Fluchtalternative für einen gesunden und arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen den hg. Beschluss vom 13. September 2016, Ra 2016/01/0096).

20 Im Ergebnis ist das BVwG somit von der hg. Rechtsprechung abgewichen und war die Entscheidung daher sowohl im Umfang des Spruchpunktes A) II. als auch im Umfang des Spruchpunktes A) III., da dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A) II. seine rechtliche Grundlage verliert, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 25. April 2017

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