Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
MRK Art8;
VwGVG 2014 §24;
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und stellte am 1. Oktober 2005 gemeinsam mit ihrem damals minderjährigen Sohn erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Dieser Antrag wurde im November 2011 rechtskräftig zur Gänze abgewiesen und die Revisionswerberin in die Russische Föderation ausgewiesen.
2 Am 5. Dezember 2011 stellte die Revisionswerberin den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Folgeantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 21. Dezember 2011 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und die Revisionswerberin in die Russische Föderation ausgewiesen. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 4. April 2012 wurde der dagegen erhobenen Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid wegen Verfahrensmängel behoben.
3 Nach Zulassung des Verfahrens und neuerlichen Einvernahmen der Revisionswerberin wurde der Folgeantrag mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 8. September 2017 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerberin in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 55 Abs. 1a Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt III.).
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
5 Gegen den Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses, mit welchem die Beschwerde betreffend die Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte II. und III. des Bescheides) als unbegründet abgewiesen wurde, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die Revisionswerberin bringt zur Zulässigkeit der gegenständlichen Revision zusammengefasst vor, das BVwG habe hinsichtlich der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK gegen die Verhandlungspflicht verstoßen. Es weiche zudem von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil es nicht alle relevanten Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG in seine Interessenabwägung miteinbezogen habe. Weiters würden Feststellungen zur vorgebrachten Lebensgemeinschaft und zu den strafrechtlichen Verurteilungen fehlen. Betreffend die Wahrunterstellung habe das BVwG nicht offengelegt, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen werde.
6 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht aufgezeigt.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Soweit die Revision die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK moniert, ist festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0265, mwN).
11 Im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK führte das BVwG zunächst aus, dass im vorliegenden Fall kein Eingriff in das Familienleben erkannt werden könne. Der Sohn der Revisionswerberin sei bereits in den Herkunftsstaat zurückgekehrt, die Revisionswerberin lebe alleine und habe keine nahen Verwandten in Österreich.
12 Insofern die Revisionswerberin zunächst die Nichtbeachtung der vorgebrachten Eheschließung beanstandet, vermag die Revision die Relevanz dieses Umstandes nicht aufzuzeigen, zumal die lediglich nach moslemischen Ritus geschlossene Ehe nach dem österreichischen Ehegesetz als nichtig anzusehen ist. Gemäß § 16 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das internationale Privatrecht, BGBl. Nr. 304/1978 idF BGBl. I Nr. 87/2015 (IPRG), ist die Form einer Eheschließung im Inland nach den inländischen Formvorschriften zu beurteilen. Gemäß § 17 Abs. 1 des Ehegesetzes wird die Ehe dadurch geschlossen, dass die Verlobten vor dem Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, die Ehe miteinander eingehen zu wollen. Da diese Formvorschriften im vorliegenden Fall nicht eingehalten wurden und dies von der Revisionswerberin auch nicht behauptet wurde, war nicht von einer in Österreich gültigen Ehe auszugehen, weshalb der Nichteinbeziehung der Eheschließung zur Beurteilung des Familienlebens im Ergebnis nicht entgegengetreten werden kann.
13 Der Revisionswerberin ist zuzustimmen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen ("marriage-based relationships") beschränkt ist, sondern auch andere faktische Familienbindungen ("de facto family ties") umfasst, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 28.6.2011, 2008/01/0527, mwN).
14 Da die Revisionswerberin nach den Feststellungen des BVwG mit ihrem angegebenen "Ehemann" nie im gemeinsamen Haushalt gelebt hat, dieser vielmehr noch mit seiner Ex-Ehegattin und deren Mutter zusammenlebt und mehr als 90 km von der Revisionswerberin entfernt wohnt sowie kein Abhängigkeitsverhältnis besteht, erscheint es - auch im Hinblick auf die angeführte Rechtsprechung des EGMR - nicht unvertretbar, wenn das BVwG im vorliegenden Fall eine schützenswerte Lebensgemeinschaft verneinte.
15 Betreffend das Recht auf Achtung des Privatlebens kam das BVwG zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen die privaten Interessen der Revisionswerberin überwiegen würden. Das BVwG berücksichtigte zu Gunsten der Revisionswerberin den bereits 12- jährigen Aufenthalt im Bundesgebiet. Zu Ungunsten der Revisionswerberin wertete es die zwei unberechtigten Asylanträge, ihre bewusst unwahren Angaben, die noch bestehenden Bindungen zum Herkunftsstaat (Sohn und Geschwister im Herkunftsstaat) und Wiedereingliederungsmöglichkeiten (familiäres Netzwerk, dortige Ausbildung und Arbeit als Krankenschwester; kulturelle Verbundenheit aufgrund 37-jährigen Lebens im Herkunftsstaat), den Umstand, dass die Revisionswerberin ihrer Ausreiseverpflichtung nach dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens nicht nachgekommen sei, das Bewusstsein über den unsicheren Aufenthaltsstatus, die drei strafrechtlichen Verurteilungen, die fehlenden sozialen Kontakte in Österreich, die fehlenden Deutschkenntnisse und die nicht einmal ansatzweise vorhandene wirtschaftliche Integration.
16 Dass das BVwG im vorliegenden Fall von der Möglichkeit der Schaffung einer Existenzgrundlage im Herkunftsstaat ausging, ergibt sich aus den Feststellungen zu den familiären und wirtschaftlichen Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat sowie den diesbezüglichen Erwägungen zum subsidiären Schutz und zum Privatleben der Revisionswerberin. Zur vorgebrachten maßgeblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat ist festzuhalten, dass das BVwG die von der Revisionswerberin vorgebrachten Krankheiten im Rahmen der Erwägungen zum subsidiären Schutz umfassend würdigte, das Vorliegen schwerer Krankheiten letztlich verneinte und eine Behandlungsmöglichkeit im Herkunftsstaat erkannte. Ausgehend davon ist eine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen nicht zu erkennen.
17 Zum Vorbringen, die Aufenthaltsdauer sei auf überlange Verzögerungen des Verfahrens zurückzuführen, vermag die Revision die Relevanz dieses Umstandes nicht darzulegen, zumal dies lediglich einen von mehreren zu berücksichtigenden Aspekten der Interessenabwägung gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG darstellt und für sich allein nicht dazu führt, dass die Interessenabwägung unvertretbar wäre.
18 Zusammenfassend wurden vom BVwG somit alle relevanten Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG ausreichend berücksichtigt und erweist sich die durchgeführte Interessenabwägung - trotz des langjährigen Aufenthalts der Revisionswerberin - im Ergebnis als nicht unvertretbar, da die Revisionswerberin die in Österreich verbrachte Zeit im Ergebnis überhaupt nicht nutzte, um sich sozial oder beruflich zu integrieren (vgl. dazu etwa VwGH 12.12.2012, 2012/18/0177, mwN).
19 Zum gerügten Verstoß gegen die Verhandlungspflicht ist festzuhalten, dass der Revisionswerberin insofern zuzustimmen ist, als der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände, besondere Bedeutung zukommt. Allerdings kann gemäß dem auch im vorliegenden Fall in Betracht zu ziehenden § 21 Abs. 7 BFA-VG - trotz Vorliegens eines diesbezüglichen Antrages - (ausnahmsweise) von der Durchführung einer Verhandlung unter anderem dann abgesehen werden, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (vgl. VwGH 10.8.2017, Ra 2016/20/0105, mwN).
20 Im vorliegenden Fall legte das BVwG das Vorbringen der Revisionswerberin in der Beschwerde zu ihrer Beziehung dem Erkenntnis zugrunde. Da das BVwG die diesbezüglichen Angaben der Revisionswerberin damit als wahr unterstellte, konnte eine Verhandlung zur Klärung dieser Frage unterbleiben. Der diesbezügliche Sachverhalt konnte somit als aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt angesehen werden (vgl. zur Verhandlungspflicht bei Wahrunterstellung VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069).
21 Da in der Beschwerde auch betreffend das Privatleben keine neuen relevanten Umstände vorgebracht wurden, konnte auch dahingehend eine mündliche Verhandlung unterbleiben.
22 Mit dem Revisionsvorbringen, es hätte betreffend die Rückkehrentscheidung eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müssen, wird daher keine für die Entscheidung des Revisionsfalles relevante Rechtsfrage angesprochen, weil sich die behaupteten Umstände aus rechtlichen Gründen nicht als für die Entscheidung maßgeblich darstellten (vgl. VwGH 5.9.2016, Ra 2015/18/0124, mwN).
23 Soweit die Revisionswerberin das Fehlen von Feststellungen zur Lebensgemeinschaft und ein Abweichen von der Rechtsprechung zur Wahrunterstellung moniert, vermag die Revision ebenso keine Relevanz darzulegen, zumal das BVwG das diesbezügliche Vorbringen in der Beschwerde dem Erkenntnis zugrunde legte.
24 Ebenso wird mit dem Vorbringen, es würden konkrete Feststellungen zu den Delikten der strafrechtlichen Verurteilungen fehlen, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aufgezeigt, weil das BVwG die strafrechtlichen Verurteilungen im Rahmen der Interessenabwägung entsprechend berücksichtigte. Die in der Revision hierzu angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bezieht sich überdies auf die Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbotes, nicht hingegen auf die Interessenabwägung nach § 9 Abs. 2 BFA-VG.
25 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 29. November 2017
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)