Normen
AsylG 2005 §11 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140505.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 7. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, er habe Angst vor den Al Shabaab. Deren Mitglieder hätten ihn beschuldigt, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, und ihn zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor seiner Enthauptung sei er von einem ranghohen Mitglied gerettet und verwarnt worden. Aus Angst um sein Leben sei er geflohen.
2 Mit Bescheid vom 27. Dezember 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Somalia zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise setzte es mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Dabei erachtete es das Vorbringen des Mitbeteiligten für nicht glaubwürdig und stellte fest, dass er aus wirtschaftlichen Gründen (für ihn schwierige und aussichtlose Situation in Somalia) geflohen sei.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer Verhandlung statt, erkannte ihm den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Zu den Fluchtgründen des Mitbeteiligten traf es lediglich die Feststellung, er sei von Al Shabaab zum Tode verurteilt worden und aus Angst um sein Leben nach Österreich gereist. 5 Zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat des Mitbeteiligten stellte das BVwG einleitend fest, dass Somalia im Hinblick auf beinahe alle zu beleuchtenden Tatsachen faktisch zweigeteilt sei. Es traf Feststellungen zu verschiedenen Aspekten, wie politischer Entwicklung, Wahlen, Parteiensystem, Sicherheitslage, Al Shabaab, Gewaltenteilung, Justiz, Sicherheitsbehörden, Folter/Unmenschliche Behandlung, Korruption/Dokumente, Menschenrechte, Religion und Todesstrafe, jedoch - soweit erkennbar - zumindest abschnittsweise jeweils lediglich "ad a) Somalia", nicht jedoch zum als "Somaliland" bezeichneten Gebiet.
6 In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte sei von Al Shabaab zum Tode verurteilt worden, aus Angst um sein Leben aus der Bundesrepublik Somalia ausgereist und habe damit glaubhaft machen können, dass ihm in seinem Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK drohe. Wegen der glaubhaft gemachen Gefährdung des Mitbeteiligten "in Verbindung mit den Länderfeststellungen", könne in diesem konkreten Fall keine innerstaatliche Fluchtalternative im Herkunftsstaat ermittelt werden.
7 Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil das Erkenntnis sich vor allem mit der Erforschung und Feststellung von Tatsachen beschäftige und sich im Lauf des Verfahrens keine Hinweise auf das Vorliegen von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung ergeben hätten.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Amtsrevision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, in der zur Zulässigkeit vorgebracht wird, dass das Bundesverwaltungsgericht von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen und zur Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG 2005 abgewichen sei. Es scheine davon auszugehen, dass sich die Verfolgung des Mitbeteiligen auf das gesamte Staatsgebiet Somalias erstrecke. Jedoch sei nicht vorgebracht worden, dass dies der Fall sei. Aus den Länderberichten ergebe sich, dass Al Shabaab lediglich ein Drittel des somalischen Staatsgebietes kontrolliere. Das Erkenntnis enthalte keine ausreichende Begründung, warum dem Mitbeteiligten die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht zumutbar sei. Somalischen Staatsangehörigen sei allgemein eine Rückkehr in bestimmte Gebiete zumutbar. Darunter seien auch solche, in denen Al Shabaab nicht präsent sei.
9 Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der er die Zurückbzw. Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Revision ist aus den von ihr genannten Gründen zulässig und auch begründet.
11 Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen (innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist demnach gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
12 Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative erfordert im Hinblick auf das ihr u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül insbesondere nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit (VwGH 8.8.2017, Ra 2017/19/0118, mwN).
13 Hinsichtlich des bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative anzuwendenden Maßstabs sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und die persönlichen Umstände des Asylwerbers zu berücksichtigen. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (VwGH 27.6.2018, Ra 2018/18/0269, mwN). 14 Das BVwG geht offenbar davon aus, dass dem Mitbeteiligten eine asylrelevante Verfolgung durch Al Shabaab droht. Schon aus den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses ergibt sich jedoch, dass die Al-Shabaab-Miliz lediglich Teile des Herkunftsstaates Somalia kontrolliert, während Teile relevanter Größe - insbesondere Puntland und "Somaliland" - offenbar nicht (mehr) unter deren Kontrolle stehen. Inwieweit dem Mitbeteiligten daher auch diesen Gebieten eine Gefährdung bzw. asylrelevante Verfolgung drohe, ist anhand der Begründung des BVwG nicht erkennbar. Feststellungen, ob diese Gebiete für den Mitbeteiligten allenfalls (nicht) sicher und legal erreichbar sind, wurden nicht getroffen.
15 Der Beurteilung des BVwG, im Fall des Mitbeteiligten könne keine innerstaatliche Fluchtalternative im Herkunftsstaat ermittelt werden, kann daher anhand der getroffenen Feststellungen nicht nachvollzogen werden.
16 Darüber hinaus ist der festgestellte Sachverhalt auch für die Beurteilung der Frage, ob überhaupt die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen, unvollständig.
17 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0094, mwN). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Mitbeteiligte bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn daher der Mitbeteiligte im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. - im vorliegenden Fall - des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen
rechnen müsste (VwGH 27.6.2019, Ra 2018/14/0274, mwN). 18 Den dazu getroffenen - oben wiedergegebenen - bloß kursorischen Feststellungen des BVwG kann weder entnommen werden, aus welchen Gründen im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK der Mitbeteiligte verfolgt wurde, noch ob ihm auch aktuell bzw. in Zukunft eine Verfolgung droht.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher infolge Rechtswidrigkeit wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Wien, am 16. April 2020
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