AsylG 2005 §55
AsylG-DV 2005 §4 Abs1 Z2
AsylG-DV 2005 §4 Abs1 Z3
AsylG-DV 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:L518.1414130.3.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. STEININGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX (alias XXXX alias XXXX ), geb. XXXX (alias XXXX ), StA. Armenien, vertreten durch DIAKONIE Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.12.2019, Zl. 791552406-180784485, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Der seinen Angaben zufolge am XXXX geborene, später festgestellt am XXXX geborene, Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger Armeniens, reiste zunächst im Jahr 2002 mit seiner (laut deren und seinen eigenen Angaben) Adoptivmutter, später festgestellten Mutter, illegal in das Bundesgebiet ein und wieder aus und im Dezember 2009 wiederum illegal nach Österreich ein, wo die Familie Anträge auf internationalen Schutz stellte, die letztlich der Asylgerichtshof im Beschwerdeweg (jeweils) mit Erkenntnis vom 21.06.2011 - in Verbindung mit einer Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien - rechtskräftig abwies.
Am 25.08.2015 brachte der BF einen Antrag gemäß § 55 AsylG ein. Dieser wurde damit begründet, dass die Anknüpfungspunkte des BF gem. Art. 8 EMRK dermaßen ausgeprägt wären, dass die Erteilung eines Aufenthaltsrechts als geboten angenommen werden könne. Weiters beantragte der BF „gem. § 19 Abs. 8 NAG die Heilung von eventuellen Verfahrensmängeln, insbesondere die Nichtvorlage eines gültigen Reisedokuments, sowie einer Geburtsurkunde zuzulassen“. Es sei dem BF nicht möglich, einen Reisepass zu bekommen, da er nie einen besessen habe und der bürokratische Aufwand zum jetzigen Zeitpunkt nicht erledigt werden könne.
Der BF wurde seitens des Bundesamtes mit Schreiben vom 27.8.2015 aufgefordert, ua. ein gültiges Reisedokument bzw. einer Geburtsurkunde oder ein diesem gleichzusetzenden Dokument vorzulegen und wurde er über die Folgen der Nichtvorlage aufgeklärt. Dieser Aufforderung kam der BF bzw. seine gesetzliche Vertretung nicht nach.
Nachdem der BF dieser Aufforderung nicht nachkam, wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 23.09.2015 der Antrag gem. § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückgewiesen und der Antrag in Bezug auf die Heilung von Verfahrensmängeln gem. § 4 Abs. 2 AsylG-DV abgewiesen.
Gegen diese Entscheidung wurde eine Beschwerde eingebracht. In dieser ging die rechtsfreundliche Vertretung des BF davon aus, dass die Entscheidung sowohl Art. 8 EMRK als auch der Kinderrechtskonvention wegen der Verletzung des Kindeswohls, der GRC, sowie internationalen Übereinkünften zur Vermeidung der Staatenlosigkeit widerspreche. Es sei auch die Nichterstreckung des Asyls des Vaters, später festgestellt als Onkel des BF, auf den BF zu Unrecht erfolgt.
Ebenso sei es dem BF nicht möglich, über die armenische Botschaft die geforderten Dokumente zu beschaffen. Die armenische Botschaft kenne den BF nicht.
Nach Einlangen der Beschwerdesache führte das BVwG am 09.12.2015 eine Verhandlung durch. In einem Begleitschreiben zur Ladung wurde der BF neuerlich zur Mitwirkung im Verfahren aufgefordert.
Mit Erkenntnis des BVwG vom 18.12.2015 wurde die Beschwerde gem. §§ 28 VwGVG, 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005, BGBl. I 100/2005 idgF, 4 Asylgesetz-Durchführungsverordnung (AsylG-DV), BGBl II 496/2009 idgF, als unbegründet abgewiesen.
Begründend wurde insbesondere ausgeführt (bP = BF):
„Aufgrund der im Verfahren unterlassenen Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments bzw. sonstigen gleichwertigen Bescheinigungsmittels konnte die Identität der bP nicht festgestellt werden. Soweit diese namentlich genannt wird, legt das ho. Gericht auf die Feststellung wert, dass dies lediglich der Identifizierung der bP als Verfahrensparteien dient, nicht jedoch eine Feststellung der Identität im Sinne einer Vorfragebeurteilung iSd § 38 AVG bedeutet.
Anzuführen ist, dass es der bP bzw. ihrer Vertretung aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit möglich wäre, ihre Identität bei entsprechender Mitwirkung im Verfahren durch die Vorlage von unbedenklichen Unterlagen zu bescheinigen, zumal sie aus einem Staat stammen, welcher die Identität seiner Bürger durch die Ausstellung entsprechender Dokumente bescheinigt (vgl. z. B. Art. 4 des armenischen Staatsbürgerschaftsgesetzes).
Im gegenständlichen Fall verschleiern die bP bzw. ihre gesetzliche Vertretung sichtlich ihre Identitäten bzw. wirken an deren Feststellung nicht mit. Es wäre der bP, bzw. deren gesetzlicher Vertretung möglich und zumutbar, mit den armenischen Behörden in Kontakt zu treten, zumal sich etwa in Wien eine Botschaft der Republik Armenien befindet und es der Vertretung der bP freisteht, diese zwecks Ausstellung eines entsprechenden Dokuments aufzusuchen. Hier wird auch darauf hingewiesen, dass der Adoptivvater der bP im Asylverfahren angab, sämtliche Dokumente befänden sich nicht bei ihm, sondern bei der Adoptivmutter, welche jedoch hiervon abweichend vorbrachte, die Dokumente wären ihnen vom Schlepper abgenommen worden. Auch diese widersprüchlichen Angaben lassen es evident erscheinen, dass die Adoptiveltern der bP nicht bereit sind, an der Feststellung der Identität mitzuwirken und die entsprechenden Dokumente vorzulegen. Selbst wenn sich die Dokumente bei den Schleppern befänden, stünde es der bP bzw. ihrer Vertretung frei, die Ausstellung von Duplikaten zu erwirken.
Der Umstand, dass die Identität der bP bis dato nicht festgestellt werden konnte, ist letztlich auf die mangelnde Mitwirkung der bP bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung an der Identitätsfeststellung zurückzuführen und sind alle daran anknüpfenden Konsequenzen daher von der bP zu vertreten.
In Bezug auf die nicht mögliche Feststellbarkeit des bisherigen Lebensweges der bP bzw. von deren Adoptiveltern wird auf die bereits zitierten Ausführungen des AsylGH verwiesen, welchen sich das ho. Gericht anschließt. Auch das ho. Gericht geht davon aus, dass diese dort getroffenen und bereits wiedergegebenen Angaben nicht den Feststellungen zu Grunde gelegt werden können.
Ergänzend zu den Angaben des AsylGH ist auch besonders darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Adoptivmutter der bP behauptete, Armenisch gut, Russisch jedoch bloß mittel zu sprechen. Andererseits behauptet sie, bereits als Kleinkind nach Russland (damals noch innerhalb der UdSSR) gezogen, dort aufgewachsen zu sein und die Schule besucht zu haben. Erst als Erwachsene sei sie für einige Jahre 1996 nach Jerewan gezogen, wo sie bis 2001 gelebt hätte. Würde dies den Tatsachen entsprechen, erscheint es nicht nachvollziehbar, dass sie die armenische Sprache besser beherrscht als die russische. Auch sei darauf hingewiesen dass die Adoptivmutter vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ursprünglich noch angab, Christin zu sein. Erst im fortgesetzten Verfahrensstadium brachte sie vor, Muslimin zu sein. Auch brachte der Adoptivvater in sich widersprüchlich einerseits vor, es bestünde lediglich eine kirchlich geschlossene Ehe, andererseits wurde von einer standesamtlich geschlossenen Ehe gesprochen. Auf die seitens des AsyGH aufgezeigten und bereits zitierten Ungereimtheiten in Bezug auf den Ort der Eheschließung sie hier ebenfalls kurz hingewiesen.
Außer Zweifel steht, dass der Adoptivvater der bP armenischer Staatsbürger ist. Dies wurde von ihm auch eingeräumt und ausgeführt, dass er im Besitze eines entsprechenden Reisepasses war. Mangels der Feststellbarkeit einer anderen Staatsbürgerschaft, sowie der Sprach- und Ortskenntnisse, und der ursprünglichen Angaben vor den Behörden ist davon auszugehen, dass die Adoptivmutter der bP ebenfalls die armenische Staatsbürgerschaft besitzt. Hierfür spricht auch die armenische Rechtslage, wonach die Adoptivmutter ab dem Zeitpunkt, wo sie die Gattin bzw. Mutter eines armenischen Staatsbürgers ist, ebenfalls ein Anrecht auf die armenische Staatsbürgerschaft hat (vgl. Art. 13 armen. StbG) und sich in der der bP übermittelten Berichtslage nicht der geringste Hinweis zu finden ist, dass diese Rechtsgrundlage von den armenischen Behörden nicht angewandt wird. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Adoptivmutter der bP selbst vorbrachte, legal von Armenien in die Russische Föderation geflogen zu sein, was stark dafür spricht, dass sie im Besitze eines entsprechenden armenischen Reisedokuments war, welche ihr das Einchecken in das Flugzeug und die Einreise in die Russische Föderation ermöglichte. Sie brachte anfangs auch vor, über ein Reisedokument verfügt zu haben, in welchem ihr Familienname von ihrem Ledigennamen auf den nunmehrigen Namen geändert worden sei. Die Annahme des einvernehmenden Referenten des Bundesasylamtes, dass es sich hierbei um einen Reisepass handelte, ließ sie unwidersprochen gelten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, als sie ihre Ausreisegründe schilderte, und die Existenz eines von den armenischen Behörden ausgestelltes Reisedokuments sich zu den behaupteten Ausreisegründen als nicht stimmig darstellte, verneinte sie nunmehr die ursprüngliche Existenz eines solchen Reisedokuments.
Aufgrund des nunmehrigen Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens kann die Einschätzung des AsylGH, es hätte sich bei der bP um eine illegale Adoption gehandelt, nicht mehr aufrechterhalten werden. Dass die bP nicht das leibliche Kind der gesetzlichen Vertretung ist, wird zwar nach wie vor angenommen, zumal sich hier die Angaben im Verfahren als gleichlautend darstellen und diese nicht widerlegt wurden. Zu den näheren Umständen der Adoption wird zum einen auf die seitens des AsylGH aufgezeigten Widersprüche hingewiesen. Hierzu wird ergänzend angeführt, dass sich die Angaben der Adoptiveltern in Bezug auf die Aktionen der leiblichen Eltern darüber hinaus weitergehend als widersprüchlich darstellen, zumal die Adoptivmutter lediglich Belästigungen und Drohungen mit rechtlichen Schritten behauptet –wobei sie sich hier einmal stark widerspricht, indem sie einerseits behauptet sie wären bei Gericht gewesen, um sich zu beschweren, dass die leiblichen Eltern das Kind zurückwollten um gleich im nächsten Satz zu korrigieren, die Adoptiveltern wären bei Gericht gewesen (hier merkte sie offenbar, dass sie vom eingelernten Vorbringen abwich)- andererseits jedoch insbesondere vom Adoptivvater konkrete Gerichtsverfahren behauptet wurde, welche mit der Verpflichtung zur Herausgabe des Kindes geendet hätten. Auch war die Adoptivmutter der bP in der Beschwerdeverhandlung nicht in der Lage, ein stimmiges Bild über die nunmehr behaupteter maßen rechtswidrigen Vorgänge rund um die Adoption zu zeichnen. Sie brachte zuerst vor, sie hätten im Krankenhaus (welches widersprüchlich bezeichnet wurde) keine Dokumente erhalten, um dann anzugeben, beim Nachhause gehen hätten sie eine Geburtskunde zu erhalten um wiederum an einer anderen Stelle zu behaupten, sie hätten das Standesamt aufgesucht, dort der Adoptivmutter nicht näher bekannte Formulare ausgefüllt und dann im Anschluss eine Geburtsurkunde für die bP erhalten.
Aufgrund der oa. Ungereimtheiten geht das ho. Gericht davon aus, dass die Angaben zu den rechtswidrigen Vorgängen rund um die Adoption als frei erfunden darstellen und die ursprünglichen Angaben der bP, es hätte sich um eine legale Adoption gehandelt, der Wahrheit am nächsten kommen. Die Adoptiveltern der bP steigerten und modifizierten ihr Vorbringen sichtlich aus Opportunitätserwägungen im Hinblick auf den erhofften Verfahrenshergang wiederholt und brachten so –je nachdem welches Vorbringen sie für vorteilhaft hielten- situationselastisch verschiedene Facetten des behaupteten Sachverhalts vor, ohne einen mit der Tatsachenwelt übereinstimmenden Sachverhalt zu schildern.
…
Im Rahmen einer Gesamtschau ist somit davon auszugehen, dass die bP der Adoptivsohn von 2 armenischen Staatsbürgern ist und diese daher gem. Art. 18 des armenischen Staatsbürgerschaftsgesetzes ex lege als armenischer Staatsbürger anzusehen ist. Gem. Art. 4 leg. cit. würde der armenische Staat bei einem entsprechenden Begehren und der Preisgabe der wahren Identität ein von der bB gefordertes Dokument ausstellen. Die Möglichkeit der Ausstellung eines solches Dokuments wurde in der Beschwerdeverhandlung auch von der Mutter der bP eingeräumt. Der Vollständigkeit halber sei hier darauf hingewiesen, dass sich an dieser Einschätzung nichts ändern würde, wenn man dem Vorbringen der Adoptivmutter der bP folgen würde, dass sie staatenlos sei. Auch für diesen Fall würde Art. 18 des armenischen Staatsbürgerschaftsgesetzes eine Regelung enthalten und besäße die bP aufgrund der armenischen Staatsbürgerschaft ihres Vaters die armenische Staatsbürgerschaft. Die Adoptivmutter besäße in diesem Fall ein Aufenthaltsrecht in Armenien gemäß Art. 20 des armenischen Fremdengesetzes und ein Anwartschaftsrecht auf die armenische Staatsbürgerschaft gem. Art. 13 des armenischen Staatsbürgerschaftsgesetzes.
Die einschlägigen und im gegenständlichen Erkenntnis genannten Bestimmungen des Rechtsbestandes der Republik Armenien wurden der englischsprachigen Arbeitsübersetzung der Internetseite www.legislationline.org , welche unter Federführung der OSCE betrieben wird, entnommen und lagen in der Verhandlung zur Einsichtnahme auf.“
Der BF stellte am 20.08.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt; BFA) einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung plus nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005.
Gleichzeitig mit der Ausfüllung des Formulars wurde neben den vorgelegten Unterlagen (Dienstvorvertrag BF, Empfehlungsschreiben, Anfrage der BF an die armenische Botschaft aus Juli 2018) ein Schriftsatz vom 14.08.2018 übermittelt, in welchem ein Antrag auf Heilung gem. § 4 Abs. 1 3 AsylG-DV gestellt wurde. Ausgeführt wurde, dass die zuständigen Behörden seit 2011 mehrfach versucht hätten, bei der armenischen Vertretungsbehörde die Ausstellung eines Heimreisezertifikates zu erwirken, doch habe die armenische Botschaft mitgeteilt, dass eine Klärung der Identität nicht abschießend möglich bzw. die Ausstellung eines Heimreisezertifikates (HRZ) nicht möglich sei. Es sei unzulässig, einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gem § 55 AsylG wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten trotz Vorliegens der Voraussetzungen zurückzuweisen. Dem BF und seiner Mutter sei es aufgrund ihrer nicht endgültig geklärten Staatsangehörigkeit unmöglich, ein Reisedokument vorzulegen.
Mit Verbesserungsauftrag wurde dem BF aufgetragen, innerhalb von vier Wochen ein gültiges Reisedokument und eine Geburtsurkunde zum Nachweis der Identität vorzulegen. Der BF wurde darauf aufmerksam gemacht, dass für den Fall, dass ihm die Beschaffung von persönlichen Dokumenten nicht möglich oder nicht zumutbar ist, er dies nachzuweisen habe. Dieser Aufforderung ist der BF nicht nachgekommen bzw. wurden lediglich Zeugnisse des BF vorgelegt.
Am 17.09.2019 wurde der BF vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen.
Der BF gab im Rahmen der Einvernahme an:
„Befragt nach einem Personalausweis, gebe ich an, dass ich weder einen Reisepass noch ein sonstiges Ausweisdokument besitze. Ich kann keine Unterlagen vorlegen, welche meine Identität nachzuweisen geeignet sind.
Am 11.7.2011 wurde eine negative Entscheidung bezüglich Ihres Asylantrages mit einer durchsetzbaren Ausreiseentscheidung aus dem Österreichischen Bundesgebiet getroffen. Sie sind bis dato Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen.
Dazu gebe ich an:
Ich bin in Kenntnis von der negativen Entscheidung und meiner Ausreiseverpflichtung in Kenntnis. Deshalb habe ich auch im August 2015 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gestellt.
Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 23.9.2015 zurückgewiesen, da Sie die erforderlichen Identitätsdokumente nicht vorgelegt haben. Eine gegen diese Entscheidung eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.12.2015 als unbegründet abgewiesen.
Seither habe ich mich nicht mehr um die Erteilung eines Aufenthaltstitels bemüht.
Die Behörde stellt fest, dass Sie sich nach rechtskräftigem Abschluss Ihres Asylverfahrens seit nunmehr 8 Jahren unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.
Mit Bescheid vom 21.6.2019 wurde Ihnen eine Wohnsitzauflage erteilt, dieses Schriftstück wurde Ihnen durch Hinterlegung laut Bericht der LPD zugestellt. Aufgrund der Hinterlegung einer Verständigung wurden die Schriftstücke nicht bei der zuständigen Polizeiinspektion behoben.
Dazu gebe ich an, dass ich davon nicht in Kenntnis bin, wir sind umgezogen und haben eine neue Adresse.
Anmerkung: die Ab- und Anmeldungen erfolgten am 22.7.2019.
Sie haben am 20.8.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels und gleichzeitig einen Antrag auf Heilung des Mangels gem. § 4 AsylG-DV gestellt.
Da bereits mehr als sechs Monate nach Antragstellung vergangen sind, habe ich am 10.7.2019 eine Säumnisbeschwerde eingebracht.
Zu meinen persönlichen Verhältnisse befragt, gebe ich an:
Ich habe außer meiner Familie und der Mutter meines Adoptivvaters keine Angehörigen in Österreich.
Ich habe in Österreich die Schule besucht und arbeite zurzeit beim Schlüsseldienst.
Ich lege zum Nachweis meinen Dienstvertrag vor sowie einige Fotos aus meinem Privatleben vor.
(…)
Sie werden in Kenntnis gesetzt, dass Sie sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und nach Erlassung einer Ausweisung nicht an der Realisierung Ihrer Ausreise aus dem Bundesgebiet mitgewirkt haben.
Aufgrund Ihres bisherigen unrechtmäßigen Aufenthaltes werden Sie im Verwaltungsweg angezeigt und ein Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet.
Dazu gebe ich an:
Ich bin in Kenntnis davon, dass mein rechtswidriger Aufenthalt im Bundesgebiet eine verwaltungs-strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne des § 120 Abs 1a FPG nach sich zieht. Meine ha. getätigten Angaben erhebe ich hiermit auch zu meiner Stellungnahme in diesem Verwaltungsstrafverfahren vor der Landespolizeidirektion Wien, AFA 2 – Fremdenpolizei (1210 Wien, Hermann Bahr – Straße 3) und ergeht von dort diesbezüglich eine gesonderte Entscheidung. Meine Angaben in diesem Verfahren, können auch im Verwaltungsstrafverfahren verwendet werden.
(…)“
Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gem. § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gegen ihn gem. § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) sowie gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Armenien zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für eine freiwillige Ausreise des BF mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Der Antrag vom 10.02.2019 auf Heilung eines Mangels gem. § 8 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylGDV 2005 gem. § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 abgewiesen (Spruchpunkt V.).
Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht im vollem Umfang Beschwerde.
Am 07.01.2020 wurde die Beschwerde inklusive des mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsaktes dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
Am 01.03.2021 wurde eine mündliche Beschwerdeverhandlung beim Bundesverwaltungsgereicht durchgeführt und führte der BF in der Verhandlung an:
„RI: Besitzen oder besaßen Sie jemals einen Reisepass? Wann wurde dieser von welcher Behörde ausgestellt?
P: Nein.
RI: Haben Sie sich jemals bei der armenischen Botschaft um einen bemüht?
P: Ja. Die Botschaft hat gesagt, zu uns kann jeder kommen und behaupten, dass er armenischer Staatsbürgerschaft sei, aber wir können nicht jeder Person einen Reisepass ausstellen.
RI: Wo haben Sie gelebt? Wo sind Sie geboren und aufgewachsen?
P: Wie meine Familie behauptet, bin ich in Erewan geboren. Dann wurde ich adoptiert, wie man mir gesagt hat. Dann sind wir in verschiedene Städte in Armenien umgezogen, aber in welche kann ich nicht sagen. Ich war damals klein. Soviel ich weiß, war ich ein oder zwei Jahre alt, als meine Familie nach Moskau ging, von dort nach Frankreich. Von Frankreich kam ich nach Österreich.
RI: Haben Sie in Moskau oder Umgebung die Schule besucht?
P: Ich glaube nicht, dass ein Kind von drei oder vier Jahren die Schule besucht.
RI: Bis wann waren Sie in Frankreich?
P: Bis 2009.
RI: Haben Sie dort die Schule besucht?
P: Nein. Ich bin in Österreich in die Schule gegangen.
RI: Haben Sie noch Familie im Heimatland? Wo?
P: Das weiß ich nicht, ich habe keinen Kontakt.
(…)
RV: Wie lange haben Sie in Armenien gelebt?
P: Zwei Jahre glaube ich. Ich glaube, ich war zwei Jahre, als ich nach Russland gezogen bin, dann bin ich nach Frankreich. Nachgefragt gebe ich an, dass ich die armenische Sprache von meinem Vater erlernt habe, wobei mich meine armenischen Freunde auslachen, da ich mich manchmal falsch ausdrücke.“
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2021, GZ L518 1414130-3/7E, wurde die gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 09.12.2019 erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.04.2021 erhob der BF zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Beschluss vom 25.06.2021, E 2229/2821-7, lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 22.07.2021, E 2229/2021-09 gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
Mit Schreiben vom 01.10.2021 teilte das BFA mit, dass am 10.09.2021 der BF von der armenischen Delegation als XXXX , geb. XXXX , identifiziert wurde.
Der BF legte in einem verfassten Reuebrief vom 21.10.2021 ein Reuegeständnis zu seinen unwahren Identitätsangaben, mit Eingabe vom 28.10.2021 durch seine bevollmächtigte Rechtsvertretung RA Dr. XXXX , an den Verwaltungsgerichtshof vor.
Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29.01.2024, Ra 2021/17/0149-17, wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2021 wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Am 10.04.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, in welcher der BF ausführlich zu seinem Leben in Österreich und einer möglichen Rückkehr nach Armenien befragt wurde. Das Bundesamt blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
Der oben unter I. wiedergegebene Verfahrensgang wird als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt.
II.1.1. Identität und Herkunftsstaat:
Die Identität des BF steht fest. Beim BF handelt es sich um einen armenischen Staatsangehörigen. Aufgrund der Bestätigung durch die Botschaft am 10.09.2021 und des Schreibens des BFA vom 01.10.2021 wird der BF als XXXX , geb. XXXX identifiziert.
Der BF hat seine Mitwirkungsverpflichtung im Hinblick auf die Verpflichtung nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen in zentralen Punkten verletzt und versuchte dadurch die entscheidenden staatlichen Instanzen zur Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung zu täuschen.
Der BF verweigerte ein ihm zurechenbares Mitwirken im fremdenrechtlichen Verfahren. Trotz Volljährigkeit hat er es insbesondere unterlassen, bei der Antragstellung gemäß § 55 AsylG 2005 auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“, trotz mehrfacher Aufforderung, ein Reisedokument vorzulegen. In der Beschwerdeverhandlung vom 01.03.2021 zeigte er bewusst keine Bereitschaft seine wahre Identität vor dem erkennenden Gericht darzulegen.
Nachdem am 10.09.2021 die Identität von der Botschaft festgestellt wurde, legte der BF am 21.10.2021 ein Reuegeständnis ab.
II.1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:
Wohnort und konkrete Lebensverhältnisse in Armenien können nicht festgestellt werden. Diesbezüglich wurden jedoch auch keine Probleme vorgebracht. Der BF spricht die dortige Amtssprache und besuchte bis zur fünften Klasse die Schule im Herkunftsstaat.
II.1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:
Dazu können mangels Mitwirkung des BF keine Feststellungen getroffen werden.
II.1.4. Ausreisemodalitäten:
Der BF reiste rechtswidrig 2002 in das Bundesgebiet ein, aus diesem wieder aus und 2009 wiederum ein. Nach der zweiten Einreise stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz und kam er nach dem negativen Ausgang der Asylverfahren mit Entscheidung des AsylGH vom 21.06.2011 seiner Obliegenheit zum Verlassen des Bundesgebietes nicht nach und verblieb seitdem in rechtswidriger Weise in diesem.
Der BF ist in Besitz eines armenischen Reisepasses, welcher bis zum 22.07.2012 gültig war.
Die Fluchtgründe des BF wurden als unglaubwürdig beurteilt. Daraus sowie aus den Angaben in der gegenständlichen Verhandlung zu etwaigen Rückkehrbefürchtungen können keine Abschiebungshindernisse erkannt werden.
Ihm ist die Unrechtmäßigkeit und Unsicherheit des Aufenthalts seit Beginn des fremdenrechtlichen Verfahrens, insbesondere seit seiner Volljährigkeit, zuletzt bei der gegenständlichen Antragstellung in zurechenbarer Weise, bewusst gewesen.
Der BF hat keine Bereitschaft gezeigt, seinen rechtswidrigen Aufenthalt aus eigenem zu beenden.
II.1.5. Aktueller Gesundheitszustand:
Der BF steht zum Zeitpunkt der gegenständlichen mündlichen Verhandlung in keiner medizinischen oder therapeutischen Behandlung und ist gesund. Im Juni 2023 hatte er stressbedingt eine Gesichtslähmung, welche behandelt und austherapiert wurde.
Die vom BF genannte austherapierte Erkrankung ist in Armenien behandelbar und hat der BF auch Zugang zum armenischen Gesundheitssystem. Soweit er im Falle der Behandlung mit einem Selbstbehalt belastet wird, steht es ihm im Falle der Bedürftigkeit frei, die Kostenübernahme des Selbstbehaltes durch den Staat zu beantragen.
II.1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich:
Im Bundesgebiet leben die Mutter und Großmutter sowie die Lebensgefährtin des BF. Der Aufenthalt der Mutter und Großmutter im Bundesgebiet ist unrechtmäßig. Aufgrund seiner altersadäquaten Freizeitgestaltung (Treffen mit Freunden) und dem vorangegangenen Schulbesuch ist eine gewisse Integration vorhanden. Die maßgeblichen Integrationsschritte des BF wurden während einer Zeit erlangt, indem der BF über seine wahre Identität und Fluchtgründe die entscheidenden staatlichen Instanzen zu täuschen versuchte. Der BF hat die Anknüpfungspunkte zu seiner Lebensgefährtin während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war.
Der BF hat die Neue Mittelschule in Österreich absolviert und spricht sehr gut Deutsch. Weiterbildende Schulen (HTL) hat er in Österreich nicht positiv absolviert. Er engagiert sich ehrenamtlich bei der apostolisch-armenischen JHU Gemeinde. Er ist zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt kein Mitglied in einem weiteren Verein oder einer Organisation.
Der BF ist freiwillig mangels Arbeitsbewilligung bei einem Schlüsseldienst und Schuhservice beschäftigt. Der BF ging seit seiner Einreise in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach. Er schloss am 20.03.2024 einen Arbeitsvorvertrag als Handelsangestellter bei einem Schlüsseldienst und Schuhservice zu einem Bruttomonatslohn von 2.229,- Euro ab.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten.
II.1.7. Betreffend der persönlichen Sicherheit im Herkunftsstaat:
Der BF unterliegt in seinem Herkunftsstaat Armenien keiner Verfolgung oder sonstigen realen Gefährdung der persönlichen Sicherheit.
Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat Armenien, unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des BF als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht.
II.1.8. Betreffend der Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse im Herkunftsstaat:
Der BF hat hinsichtlich seiner persönlichen Versorgungssituation im Falle der Rückkehr nach Armenien keine konkrete Problemlage vorgebracht.
II.1.9. Zur abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei Armenien um einen sicheren Herkunftsstaat gem. § 19 BFA-VG handelt.
Aus nachfolgend genannten Quellen (einschließlich darin zitierter Berichte) ergeben sich nachfolgende Feststellungen über die relevante Lage:
Politische Lage
Letzte Änderung 2023-10-10 12:00
Die armenische Verfassung sieht eine parlamentarische Republik mit einer Einkammer-Legislative, der Nationalversammlung (Parlament), vor. Der vom Parlament gewählte Premierminister steht an der Spitze der Regierung; der ebenfalls vom Parlament gewählte Präsident hat weitgehend eine zeremonielle Funktion (USDOS 20.3.2023).
Die Nationalversammlung besteht aus mindestens 101 Mitgliedern, die für eine Amtszeit von fünf Jahren nach einem neu eingeführten Verhältniswahlsystem mit geschlossenen Listen gewählt werden, wodurch das frühere zweistufige Verhältniswahlsystem vereinfacht wird. Bis zu vier zusätzliche Sitze sind für Vertreter ethnischer Minderheiten reserviert, und es können weitere Sitze hinzugefügt werden, um sicherzustellen, dass die Oppositionsparteien mindestens 30 Prozent der Sitze halten (FH 10.3.2023).
Die internationalen Beobachter der OSZE haben die vorgezogene Parlamentswahl in Armenien am 20.06.2021 als demokratisch, fair und frei eingestuft. Den Wählern seien eine breite Palette von Möglichkeiten geboten, die freiheitlichen Grundrechte respektiert worden und die Kandidaten konnten einen freien Wahlkampf führen. Die Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan hatte die Parlamentswahl mit rund 54 % der Stimmen gewonnen (BAMF 28.6.2021; vgl EurasiaNet 21.6.2021, USDOS 20.3.2023, FH 10.3.2023). Die neue Regierung unter Pashinjan hat sich verpflichtet, seit Langem bestehende Probleme wie systemische Korruption, undurchsichtige Politikgestaltung, ein fehlerhaftes Wahlsystem und schwache Rechtsstaatlichkeit anzugehen (HRW 13.1.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, BAMF 16.8.2021).
Im April 2021 änderte das Parlament die bestehenden Wahlgesetze, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission und des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) der OSZE Rechnung zu tragen. Die vorgezogenen Wahlen im Juni 2021 wurden erfolgreich nach dem reformierten System durchgeführt, bei dem die territorialen Listen abgeschafft und das bestehende Wahlsystem vereinfacht wurde. Die Änderungen fanden breite Unterstützung bei den politischen Kräften und der Zivilgesellschaft; weitere Reformen wurden im Mai 2021 verabschiedet und sollen 2022 in Kraft treten (FH 10.3.2023).
Im April 2021 nahm das Parlament Änderungen an, die härtere Strafen für Stimmenkauf, Gewalt im Zusammenhang mit Wahlen und die Störung des Wahlprozesses vorsehen und die Behinderung von Wahlkampfaktivitäten unter Strafe stellen (FH 10.3.2023; vgl. USDOS 12.4.2022). Obwohl bei den Wahlen 2021 ein Rückgang solcher Praktiken zu verzeichnen war, berichteten internationale Beobachter über angebliche Wahlstörungen, darunter vereinzelte Vorfälle von Stimmenkauf und Missbrauch von Verwaltungsmitteln (FH 10.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023).
In der armenischen Hauptstadt Jerewan kam es nach der schnellen Kapitulation der politischen Führung Berg-Karabachs [Anm.: nach dem dortigen Einmarsch aserbaidschanischer Truppen im September 2023] zu massiven Protesten, Zusammenstößen mit der Polizei und zahlreichen Verhaftungen. Tausende Demonstrierende verlangten den Rücktritt von Ministerpräsident Paschinjan. Sie warfen ihm Verrat sowie Nachgiebigkeit gegenüber Aserbaidschan vor und forderten die Wiederaufnahme der militärischen Unterstützung von Berg-Karabach. Oppositionsvertretende erklärten, sie prüften im Parlament die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens (AA 25.9.2023).
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2023-10-10 15:10
Am 19.09.23 hat Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung der Region Berg-Karabach gestartet. Nur einen Tag später ergaben sich die Karabach-Armenier (AA 25.9.2023). Russland als traditionelle Schutzmacht Armeniens hatte die Aserbaidschaner bei ihrer Militäroffensive gewähren lassen. Armeniens Regierungschef Paschinjan machte Moskau deshalb Vorwürfe.
Russland warf Jerewan wiederum vor, mit seiner jüngsten Hinwendung zum Westen einen „großen Fehler“ zu begehen (derStandard 28.9.2023).
In der armenischen Hauptstadt Jerewan kam es nach der schnellen Kapitulation der politischen Führung Berg-Karabachs zu massiven Protesten, Zusammenstößen mit der Polizei und zahlreichen Verhaftungen. Tausende Demonstrierende verlangten den Rücktritt von Ministerpräsident Paschinjan. Sie warfen ihm Verrat sowie Nachgiebigkeit gegenüber Aserbaidschan vor und forderten die Wiederaufnahme der militärischen Unterstützung von Berg-Karabach. Oppositionsvertretende erklärten, sie prüften im Parlament die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens (AA 25.9.2023).
Viele Armenierinnen und Armenier werfen der traditionellen Schutzmacht Russland, die seit dem sechswöchigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 eine Friedenstruppe mit rd. 2.000 Soldaten vor Ort stationiert hat, vor, sie im Stich gelassen zu haben. Armenien ist militärisch betrachtet Aserbaidschan eindeutig unterlegen und kann nicht mehr auf die Unterstützung der russischen Führung bauen (AA 25.9.2023; vgl. DW 21.9.2023)).
Nach der Massenflucht der Armenierinnen und Armenier aus Berg-Karabach kamen die meisten Menschen in der armenischen Grenzstadt Goris an. Die Flüchtlinge besitzen in der Regel bereits auch die armenische Staatsangehörigkeit oder können sie nun problemlos beantragen. Berichten zufolge wollen viele Flüchtlinge versuchen, zunächst in der Hauptstadt Jerewan unterzukommen. Armenien mit seinen rd. drei Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern befindet sich in einer schweren innen- und außenpolitischen Krise, die durch die Flüchtlinge und die angespannte wirtschaftliche Situation verschärft wird. UN-Generalsekretär Guterres kündigte unterdessen eine UN-Mission in Berg-Karabach an, was laut Beobachtenden jedoch zu spät komme und an der völkerrechtswidrigen Vertreibung der armenischen Bevölkerung nichts mehr ändern könne. Armenien ist dringend auf Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft angewiesen. Auch gibt es in Armenien ernsthafte Befürchtungen, dass Aserbaidschan unter Umständen als nächstes Ziel die territoriale Integrität Armeniens infrage stellen könnte, um sich durch den Süden Armeniens einen Landweg bzw. Korridor in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan zu schaffen (AA 9.10.2023).
Regionale Konfliktzone: Bergkarabach (Berg-Karabach)
Letzte Änderung 2023-10-10 17:46
Sicherheitslage
Am 19.09.2023 hatte Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung der Region Berg-Karabach gestartet (AA 9.10.2023; vgl. AA 25.9.2023, derStandard 19.9.2023). Nur einen Tag später ergaben sich die Karabach-Armenier (AA 9.10.2023; vgl. AA 25.9.2023). Das Ende der Kämpfe in Berg-Karabach hat in Armenien eine politische Krise ausgelöst. Die Behörden der nicht anerkannten Republik Berg-Karabach gaben bekannt, dass sie eine Einigung über einen vollständigen Waffenstillstand in der Region erzielt hätten. Durch Vermittlung der dort stationierten russischen Truppen wurde vereinbart, dass das armenische Militär aus dem Einsatzgebiet des russischen Friedenskontingents abgezogen und die Formationen der „Verteidigungsarmee von Berg-Karabach“ aufgelöst und vollständig entwaffnet werden. Auch schwere militärische Ausrüstung und Waffen sollen aus dem Gebiet abgezogen werden (DW 21.9.2023). Am 21.09.2023 wurde die Auflösung der selbst ernannten Republik Berg-Karabach, die nahezu ausschließlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt war, zum 01.01.2024 angekündigt. Völkerrechtlich betrachtet ist Berg-Karabach ein Teilgebiet Aserbaidschans (AA 9.10.2023; vgl. der Standard 28.9.2023, Zeit online 28.9.2023).
Während der kurzen Kämpfe starben armenischen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen, rd. 400 weitere wurden demnach verletzt. Bereits im Dezember 2022 hatte Aserbaidschan die einzige Verbindungsstraße von Armenien nach Berg-Karabach, den sogenannten LatschinKorridor, blockiert und seit Juli 2023 auch keine humanitäre Hilfe erlaubt, wodurch es zu einer schwerwiegenden Krise in Bezug auf die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten in Berg-Karabach gekommen ist (AA 25.9.2023).
Nach der Militäroffensive Aserbaidschans haben offiziell 100.514 Armenierinnen und Armenier ihre Heimat in Berg-Karabach verlassen und damit nahezu die gesamte Bevölkerung der Region. Anscheinend war die geschätzte Zahl von 120.000 Menschen in Berg-Karabach zu hoch angesetzt, da bereits während des sechswöchigen Krieges im Herbst 2020 viele Armenierinnen und Armenier aus Berg-Karabach in die Republik Armenien geflohen und nicht alle danach wieder zurückgekehrt waren (AA 9.10.2023).
Seit dem erzwungenen Waffenstillstand warf Armenien Aserbaidschan vor, eine ethnische Säuberung in der Region zu planen bzw. durchzuführen (Zeit online 28.9.2023; vgl. derStandard 28.9.2023).
Nachdem die volle Kontrolle über das Gebiet von Berg-Karabach gewonnen wurde, geht die aserbaidschanische Regierung, Medienberichten zufolge, nun gegen Vertretende der dortigen bisherigen Autoritäten der international nicht anerkannten und sich zum 01.01.2024 auflösenden „Republik Arzach“ vor. Den Festgenommenen werde Terrorismus, Finanzierung von Terrorismus, Gründung bewaffneter Gruppen und von Gruppen, die in der Gesetzgebung nicht vorgesehen sind, vorgeworfen. Anderen führenden Vertretenden der Autoritäten von Berg-Karabach sei die Ausreise nach Armenien über den offiziellen Checkpoint hingegen gewährt worden, darunter dem ehemaligen Staatsminister (AA 9.10.2023).
Die aserbaidschanische Regierung habe erklärt, sie beabsichtige, Kämpfern aus Berg-Karabach grundsätzlich Amnestie zu gewähren, aber diejenigen zu verhaften, welche Kriegsverbrechen begangen hätten. Wie weiter mit Verweis auf armenische Medien berichtet wurde, sollen die aserbaidschanischen Behörden nach dem 19.09.2023 eine Liste von Vertretenden der „Republik Arzach“ erstellt haben, deren Auslieferung sie fordern (AA 9.10.2023).
Fast zwei Wochen nach dem Großangriff Aserbaidschans auf Bergkarabach ist eine UN-Mission in der mittlerweile nahezu menschenleeren Kaukasusregion eingetroffen. Die UN-Mission war in Karabach angekommen, um vor allem den humanitären Bedarf einzuschätzen. Es ist die erste UN-Mission für Bergkarabach seit über 30 Jahren. Inzwischen haben jedoch nahezu alle der geschätzt 120.000 armenischen Einwohner die Region fluchtartig aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen Aserbaidschans in Richtung Armenien verlassen. Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, es lebten dort bisher aber überwiegend ethnische Armenier. Die Region hatte sich 1991 nach einem Referendum für unabhängig erklärt. Dieses wurde international nicht anerkannt und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottiert (VN o.D.)
Historischer Rückblick:
Die Republik Berg-Karabach, die sich auch Republik Artsakh nannte, war seit einem Waffenstillstandsabkommen von 1994, das einen etwa zweijährigen offenen Krieg beendete, de facto von Aserbaidschan unabhängig, obwohl ihre Unabhängigkeit von keinem UN-Mitgliedstaat anerkannt wurde. Die Bevölkerung des Gebiets bestand zum größten Teil aus ethnischen Armeniern und war aufgrund ihrer geografischen und diplomatischen Isolation auf enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Armenien angewiesen. Ein Drittel von Berg-Karabach und einige angrenzende Gebiete wurden 2020 im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens, das einen wochenlangen Konflikt beendete, unter aserbaidschanische Kontrolle gestellt. Die Zivilbevölkerung war zuweilen der Gefahr von Gewalt durch aserbaidschanische Militäroperationen ausgesetzt (FH 2023 - Nagorno-Karabakh).
Armenien erkannte die „Republik Bergkarabach“ offiziell nicht an, praktisch waren beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Bergkarabach erhielten - neben ihrem „RBK“-Pass - armenische Pässe. In Eriwan gibt es eine bergkarabachische Vertretung, und auf armenischen Landkarten erscheint die „RBK“ - einschließlich der besetzten Gebiete - als unabhängiger Staat. Die „Republik Bergkarabach“ hatte einen eigenen Verteidigungsminister und eine Armee, die aber sicherheits-politisch eng mit den armenischen Streitkräften zusammenarbeitete. Sie verfügte über eigene quasi-staatliche Strukturen. Zum Teil galten eigene Gesetze, zum Teil wurden die armenischen Gesetze angewendet. Die eigenständigen Verwaltungsstrukturen waren eng an die Armeniens gebunden. Von der „RBK“ ausgestellte Pässe sind äußerlich nur anhand der dreistelligen Kennziffer des Ausstellungsortes von armenischen Pässen zu unterscheiden. „Amtssprache“ war armenisch; die „Währung“ war der armenische Dram (AA 25.7.2022).
Der zwischen Armenien, der sog. „RBK“ und Aserbaidschan geschlossene Waffenstillstand von
1994 war immer wieder – mit unterschiedlicher Intensität – gebrochen worden. Bis zum Tag des Ausbruchs des zweiten Berg-Karabach-Kriegs am 27. September 2020 hatte die „RBK“ das in Aserbaidschan früher als Autonome Region Bergkarabach verwaltete Gebiet sowie weitere sieben Provinzen Aserbaidschans in den Grenzgebieten zu Armenien und Iran und in der Region um Agdam kontrolliert (AA 25.7.2022). Es gab glaubwürdige Berichte, dass ethnische armenische und aserbaidschanische Streitkräfte während und in einigen Fällen nach den Kämpfen im November 2020 rechtswidrige Tötungen, Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen vornahmen (USDOS 12.4.2022; vgl. HRW 13.1.2022). Mit Ende des Krieges (9. November 2020) hatte Armenien alle bis 1994 von Aserbaidschan eroberten Gebiete sowie ca. 40 % der „RBK“ an Aserbaidschan verloren. Gemäß einem zwischen Russland, Aserbaidschan und Armenien am 9. November 2020 geschlossenen Waffenstillstand hatte Russland entlang der Frontlinie in der „RBK“ mit mittelschweren Waffen ausgerüstete Friedenstruppen stationiert. Des Weiteren waren russische Friedenstruppen zu dessen Sicherung im Latschin-Korridor stationiert, der die Republik Armenien mit der „RBK“ verband (AA 25.7.2022).
Die Sicherheitslage an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze blieb mit häufigen Gefechten angespannt (AI 27.3.2023). Nach intensiven Kämpfen zwischen aserbaidschanischen und armenischen Streitkräften Mitte September 2022 gab es glaubwürdige Berichte über rechtswidrige Tötungen, bei denen armenische Soldaten in aserbaidschanischem Gewahrsam im Schnellverfahren hingerichtet wurden. Ebenso gab es Berichte, dass aserbaidschanische Streitkräfte medizinische Rettungsfahrzeuge und andere für die Zivilbevölkerung benötigte Gegenstände beschossen (USDOS 20.3.2023).
Seit dem 12.12.2022 war der Zugang von Armenien zur fast ausschließlich armenisch besiedelten Exklave Bergkarabach, die völkerrechtlich betrachtet zu Aserbaidschan gehört, gesperrt. Mit der Blockade sollte der Druck auf Armenien erhöht werden, mit Aserbaidschan ein Friedensabkommen zu unterzeichnen, das den Forderungen der aserbaidschanischen Führung entgegenkommt. Auch die als Garanten der Sicherheit der Berg-Karabach-Armenier stationierten russischen Friedenstruppen konnten oder wollten die Blockade nicht verhindern. Infolge der Blockade des Latschin-Korridors waren rd. 120.000 Menschen in Berg-Karabach von Armenien abgeschnitten und die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und teilweise auch Energie unterbrochen (BAMF 16.1.2023; vgl. derStandard 23.8.2023, t-online 31.7.2023).
Justizwesen/Rechtsschutz
Letzte Änderung 2023-10-10 12:02
Obwohl das Gesetz eine unabhängige Justiz vorsieht, wurde diese aufgrund ihrer Geschichte von Korruption und politischer Einflussnahme, ihres Widerstands gegen Reformen und der jüngsten öffentlichkeitswirksamen Skandale nicht als unabhängig oder unparteiisch angesehen. Es gab unbestätigte Berichte über Versuche der Regierung, Richter zu beeinflussen. Die hohe Zahl der Fälle, das mangelnde Vertrauen der Öffentlichkeit und der Vorwurf des Drucks durch die Regierung hielten Fachleute davon ab, sich auf Richterstellen zu bewerben (USDOS 20.3.2023). Richter fühlen sich Berichten zufolge unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig.
Die Behörden wenden das Recht selektiv an, und ein ordnungsgemäßes Verfahren ist weder in Zivil- noch in Strafsachen gewährleistet (FH 10.3.2023).
Das zivil- und strafrechtliche Gerichtssystem besteht aus drei Instanzen; daneben existieren eine Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Verfassungsgericht. Die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis hat sich seit Mitte 2018 verbessert. Die Regierung treibt eine Justizreform mit dem Ziel größerer Effizienz der Justiz voran, die allerdings seit 2020 ins Stocken geraten ist. Kollektivhaft (z. B. innerhalb der Familie) gibt es in Armenien nicht (AA 25.7.2022). Die Regierung veröffentlichte 2019 eine auf fünf Jahre angelegte Strategie zur Reform der Justiz; die Reformen wurden 2022 fortgesetzt, kamen jedoch nur langsam voran (FH 10.3.2023).
Beobachter stellten fest, dass die Bestechung von Richtern zwar kein weitverbreitetes Problem mehr sei, dass aber Verteidiger von ihren Mandanten Geld erpressten, indem sie behaupteten, es sei für die Bestechung eines Richters bestimmt, wodurch das Vertrauen in das System untergraben wurde (USDOS 20.3.2023).
Am 6. Juli nahm das Parlament Änderungen am Gerichtsgesetzbuch an, die Disziplinarverfahren gegen Richter ermöglichen, die über Fälle entschieden haben, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu irgendeinem Zeitpunkt während des Verfahrens Menschenrechtsverletzungen festgestellt hat (USDOS 20.3.2023).
Die Bürger hatten auch die Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Rechtsakten, die ihre Grundrechte und -freiheiten verletzten, vor dem Verfassungsgericht anzufechten. Bürger, die den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft haben, können bei angeblichen Verstößen der Regierung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention den EGMR anrufen (USDOS 20.3.2023). Die Regierung hielt sich im Allgemeinen an die vom EGMR ausgesprochenen Entschädigungszahlungen (USDOS 12.4.2022).
Die Verfassung und das Gesetz verbieten willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen und sehen das Recht jeder Person vor, die Rechtmäßigkeit ihrer Festnahme oder Inhaftierung vor Gericht anzufechten. Bei der Prüfung der Festnahme muss das Gericht auch die Rechtmäßigkeit der Verhaftung prüfen. Das Gesetz schreibt vor, dass die Polizei die Festgenommenen über die Gründe für ihre Festnahme sowie über ihr Recht zu schweigen, einen Rechtsbeistand zu haben und einer Person ihrer Wahl ihren Aufenthaltsort mitzuteilen, informieren muss. Eine Kaution war eine legale Option (USDOS 20.3.2023).
Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren vor, aber die Justiz setzte dieses Recht nicht durch. Das Gesetz sieht die Unschuldsvermutung vor, aber Verdächtige kamen in der Regel nicht in den Genuss dieses Rechts. Die Pflichtverteidiger waren überlastet. Das Gesetz sieht vor, dass Angeklagte Zeugen zur Rede stellen, Beweise vorlegen und die Argumente im Vorfeld eines Prozesses prüfen können, doch hatten Angeklagte und ihre Anwälte kaum die Möglichkeit, den Zeugen oder der Polizei zu widersprechen, während die Gerichte dazu neigten, das Material der Staatsanwaltschaft routinemäßig zu akzeptieren (USDOS 20.3.203).
Menschenrechtsanwälten zufolge wurde weiterhin in erheblichem Umfang von der Untersuchungshaft Gebrauch gemacht, wobei die Verdächtigen die Beweislast dafür tragen, dass sie keine Fluchtgefahr darstellen oder die Ermittlungen nicht behindern. Mit der neuen Strafprozessordnung wurden auch neue Präventivmaßnahmen wie Hausarrest und Verwaltungsaufsicht eingeführt, die die Inanspruchnahme der Untersuchungshaft möglicherweise verringern könnten (USDOS 20.3.2023).
Die lange Untersuchungshaft blieb ebenso ein Problem (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 10.3.2023). Einige Beobachter sahen in der übermäßig langen Untersuchungshaft ein Mittel, um Angeklagte zu einem Geständnis oder zur Offenlegung selbstbelastender Beweise zu bewegen. Mit der neuen Strafprozessordnung wurden strenge Beschränkungen für die Dauer der Untersuchungshaft und die Dauer der Ermittlungen eingeführt. Nach der neuen Strafprozessordnung darf die Höchstdauer der Untersuchungshaft die in dem angeklagten Artikel vorgesehene Freiheitsstrafe nicht überschreiten (USDOS 20.3.2023).
Die Behörden setzten Gerichtsbeschlüsse im Allgemeinen durch (USDOS 12.4.2022). Der Partnerschaftsrat der EU bekräftigte das gemeinsame Bekenntnis der EU und Armeniens zu den Menschenrechten, den Grundfreiheiten, der Rechtsstaatlichkeit und den demokratischen Grundsätzen. Der Partnerschaftsrat begrüßte die bisherigen Erfolge bei der Umsetzung der nationalen Strategie Armeniens für Justiz- und Rechtsreformen, räumte jedoch ein, dass nach wie Herausforderungen bestünden (EU - Rat der EU 18.5.2022).
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2023-10-10 12:03
Die nationale Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst für die nationale Sicherheit, nachrichtendienstliche Tätigkeiten und die Grenzkontrolle verantwortlich ist (CIA 26.9.2023; vgl. AA 25.7.2022). Seit dem 30. Dezember ist der Polizeichef dem Innenminister unterstellt, der wiederum direkt dem Premierminister untersteht. Der Innenminister wird vom Präsidenten auf Vorschlag des Premierministers ernannt. Der Leiter des Nationalen Sicherheitsdienstes ist ebenfalls direkt dem Premierminister unterstellt (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 25.7.2022). Die zivilen Behörden behielten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte. Es gab Berichte, wonach Angehörige der Sicherheitskräfte einige Missbräuche begangen haben (USDOS 20.3.2023).
Polizei und Nationaler Sicherheitsdienst (NSD) sind direkt der Regierung unterstellt. Ein Innenministerium gibt es nicht. Die Aufgaben beider Organe sind voneinander abgegrenzt. Hin und wieder treten aber Kompetenzstreitigkeiten auf, z. B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 25.7.2022).
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2023-10-10 12:21
Die Verfassung und das Gesetz verbieten derartige Praktiken. Dennoch gab es Berichte, dass Angehörige der Sicherheitskräfte weiterhin Personen in ihrem Gewahrsam folterten oder anderweitig misshandelten. Menschenrechtsanwälten zufolge definiert das Strafgesetzbuch zwar Folter und stellt sie unter Strafe, nicht aber andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (USDOS 20.3.2023).
Es gibt keine systematischen Folterungen (AA 25.7.2022). Gleichwohl ist bekannt, dass festgenommene Personen in Polizeistationen mitunter geschlagen wurden (AA 25.7.2022; vgl. FH 10.3.2023, USDOS 20.3.2023). Folteropfer können den Rechtsweg nutzen, einschließlich der Möglichkeit, sich an den Verfassungsgerichtshof bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden (AA 25.7.2022). Menschenrechtsaktivisten behaupteten, dass die fehlende Rechenschaftspflicht für alte und neue Fälle von Missbrauch durch die Strafverfolgungsbehörden weiterhin zum Fortbestehen des Problems beiträgt (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 20.6.2021).
Mit der Auflösung des Sonderermittlungsdienstes (SIS) im Jahr 2021 wurde die Untersuchung von Folterfällen zunächst auf den Nationalen Sicherheitsdienst (NSS), den Internationalen Strafgerichtshof und den neu geschaffenen Antikorruptionsausschuss umverteilt. Mit der Inkraftsetzung einer neuen Strafprozessordnung am 1. Juli wurde die Zuständigkeit für die Untersuchung von Folterstrafsachen auf den Untersuchungsausschuss übertragen, aber die Funktion der Voruntersuchung von Straftaten (einschließlich Folter), die von Ermittlern des Untersuchungsausschusses begangen wurden, wurde dem NSS übertragen (USDOS 20.3.2023).
Die Strafverfolgungsbehörden verließen sich weiterhin auf Geständnisse und Informationen, die sie bei Verhören erhalten hatten, um Verurteilungen zu erreichen. Nach Ansicht von Menschenrechtsanwälten waren die verfahrensrechtlichen Schutzmaßnahmen gegen Misshandlungen bei polizeilichen Vernehmungen, wie die Unzulässigkeit von durch Gewalt oder Verfahrensverstöße erlangten Beweisen, unzureichend, ebenso wie das in den Polizeistationen installierte Videoüberwachungssystem (USDOS 20.3.2023).
Folter und Misshandlung im Gewahrsam halten an und werden häufig ungestraft verübt. Selbst wenn strafrechtliche Ermittlungen aufgrund von Foltervorwürfen eingeleitet werden, werden sie meist mit der Begründung eingestellt, dass keine Straftat begangen wurde, oder sie werden eingestellt, weil ein Verdächtiger nicht identifiziert werden konnte. Sieben Jahre, nachdem Folter in Armenien zu einem spezifischen Straftatbestand wurde, fällte ein Gericht im März sein erstes Urteil zu solchen Vorwürfen und verurteilte einen ehemaligen Gefängnisbeamten zu sieben Jahren und sechs Monaten. Zuvor mussten sich Beamte, die wegen körperlicher Misshandlung zur Rechenschaft gezogen wurden, mit dem allgemeinen Straftatbestand des „Amtsmissbrauchs“ auseinandersetzen (HRW 12.1.2023).
Zur Bekämpfung der Folter veranstaltete die Regierung im Laufe des Jahres gezielte Schulungen für Richter, Staatsanwälte, Ermittler, militärisches Führungspersonal, Militärpolizei, Polizei und Gefängnispersonal (USDOS 12.4.2022).
Am 25. Mai [2021] veröffentlichte das Komitee des Europarats zur Verhütung von Folter (CPT) einen Bericht über seinen letzten regelmäßigen Besuch im Land im Dezember 2019. Das CPT stellte fest, dass die große Mehrheit der von seiner Delegation befragten Personen, die sich in Polizeigewahrsam befanden oder kürzlich befunden hatten, angaben, dass sie angemessen behandelt worden waren (USDOS 12.4.2022).
Korruption
Letzte Änderung 2023-10-10 12:54
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen bei behördlicher Korruption vor (USDOS 20.3.2023).
Das Land hat ein Erbe von systemischer Korruption in vielen Bereichen (USDOS 12.4.2022). Die Behörden ergriffen Maßnahmen zur Stärkung des institutionellen Rahmens für die Korruptionsbekämpfung, einschließlich der Schaffung des rechtlichen Rahmens für den Antikorruptionsgerichtshof, der als Spezialgericht für Korruptionsfälle dienen soll. Der Antikorruptionsausschuss, der als Hauptuntersuchungsorgan für Korruptionsfälle dient, nahm im Laufe des Jahres seine Tätigkeit auf (USDOS 20.3.2023).
Im April 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Möglichkeiten der Staatsanwälte erweitert, korrupte Handlungen ehemaliger Beamter zu untersuchen. Nach dem neuen Gesetz können Staatsanwälte leichter die Beschlagnahme unrechtmäßig erworbener Vermögenswerte beantragen, wenn deren Status vor Gericht bewiesen wird, und sie dürfen Taten untersuchen, die zehn Jahre zurückliegen (FH 3.3.2021). Im November 2022 traten der neue Anti-Korruptionsgerichtshof und die Anti-Korruptionskammer des Kassationsgerichtshofs in Kraft, nachdem die beiden Gremien im April 2021 per Gesetz geschaffen worden waren. Im August 2022 leitete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren zur Wiedererlangung gestohlener Vermögenswerte von angeblich korrupten ehemaligen Beamten des vorrevolutionären Regimes ein (FH 10.3.2023).
Die Korruption ist nach den politischen Ereignissen im Jahr 2018 deutlich zurückgegangen. Die Regierung unternimmt Schritte zur Beseitigung von oligarchischen Strukturen und Hindernissen. Im November 2019 wurde vom Parlament eine neue Kommission zur Vorbeugung von Korruption gewählt. Die Regierung hat im Jahr 2021 eine Sonderermittlungsbehörde für Korruptionsbekämpfung eingerichtet (AA 25.7.2022).
Das Gesetz verlangt von hochrangigen Beamten und ihren Familien, jährliche Vermögenserklärungen abzugeben, die teilweise im Internet öffentlich zugänglich waren. Die Kommission zur Verhinderung von Korruption (CPC), die im November 2019 die Ethikkommission für hochrangige Beamte ersetzt hat, führt die Analyse der Vermögenserklärung durch (USDOS 30.3.2021).
Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) vonTransparencyInternationalfür das Jahr 2022 belegte Armenien Rang 63 von 180 bewerteten Ländern (TI2023). Im Vergleich zu 2021: Platz 58 (TI1.2022).
NGOs und Menschrechtsaktvisten
Letzte Änderung 2023-10-10 12:54
Die meisten inländischen und internationalen Menschenrechtsgruppen arbeiteten im Allgemeinen ohne staatliche Einschränkungen und konnten ihre Erkenntnisse über Menschenrechtsfälle frei untersuchen und veröffentlichen (USDOS 20.3.2023). Während einige Regierungsbeamte mit ihnen kooperierten und auf ihre Ansichten eingingen, berichteten zivilgesellschaftliche Organisationen, dass es nur wenige Treffen mit Regierungsbeamten (sowohl online als auch persönlich) gab und dass die Regierung die Ansichten von NGO-Sachverständigen in mehreren wichtigen Bereichen, wie etwa der Rede- und Pressefreiheit, ignorierte oder nicht einholte. In anderen Bereichen, wie z. B. bei den Reformen zur Förderung einer unparteiischen, unabhängigen Justiz, sammelte die Regierung Berichte und Empfehlungen der Zivilgesellschaft, aber es war unklar, inwieweit die Empfehlungen berücksichtigt wurden (USDOS 12.4.2022).
Die Regierung unternahm nichts, um zivilgesellschaftliche Organisationen vor Desinformation oder Drohungen zu schützen, einschließlich Drohungen, einzelnen Aktivisten zu schaden (USDOS 20.3.2023). Ein Trend, der im Jahr 2020 einsetzte, führte dazu, dass Akademiker und andere Meinungsführer, einschließlich derjenigen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, aufgrund von Hasskampagnen, die von nationalistischen Gruppen und Personen, die der Opposition und Russland nahestehen, angezettelt wurden, zögerten, ihre Meinung öffentlich zu äußern, insbesondere online. Infolgedessen nahm der konstruktive Diskurs über Menschenrechte allgemein ab. Die Regierung verfolgte keine Aufrufe zur Schädigung zivilgesellschaftlicher Akteure im Rahmen der 2020 verabschiedeten Gesetzgebung, die öffentliche Aufrufe zur Gewalt unter Strafe stellt (USDOS 20.3.2023).
In Armenien sind zahlreiche NGOs tätig, die meisten von ihnen haben ihren Sitz in Eriwan. Diese NGOs verfügen nicht über nennenswerte lokale Finanzmittel und sind häufig auf ausländische Geber angewiesen (FH 10.3.2023).
Die Tätigkeit von Menschenrechtsorganisationen ist nach der „Samtenen Revolution“ 2018 wirksamer geworden. Die Regierung Pashinyan bezieht die NGOs in die Entscheidungsprozesse mit ein, auch wenn sich einige NGOs, z. B. im Umweltbereich, eine noch stärkere Wahrnehmung wünschen. Angehörige von NGOs werden seit den Wahlen im Dezember 2018 in größerer Zahl zu Abgeordneten gewählt (AA 25.7.2022).
Ombudsperson
Letzte Änderung 2023-10-10 12:55
Das Amt des Menschenrechtsverteidigers (die Ombudsperson) hat den Auftrag, die Menschenrechte und Grundfreiheiten auf allen Ebenen der Regierung vor Missbrauch zu schützen. Das Büro arbeitete unabhängig und fungierte als wirksamer Anwalt in Einzelfällen (USDOS 20.3.2023). Das Büro lehnte es jedoch ab, einige Fälle im Zusammenhang mit LGBTQI+ Personen zu übernehmen (USDOS 12.4.2022).
Die vom Parlament gewählte und als unabhängige Institution in der Verfassung verankerte
„Ombudsperson für Menschenrechte“ muss einen schwierigen Spagat zwischen Exekutive und den Rechtsschutz suchenden Bürgern vollziehen. Die Kompetenzen der Ombudsperson wurden im Jahr 2016 durch ein eigenes Gesetz erweitert (AA 25.7.2022).
Die Ombudsperson kann Empfehlungen aussprechen, hat aber nicht die Befugnis, diese durchzusetzen (USDOS 2.6.2022).
Wehrdienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung 2023-10-10 12:57
Männer armenischer Staatsangehörigkeit unterliegen vom 18. bis zum 27. Lebensjahr der allgemeinen Wehrpflicht (24 Monate) (AA 25.7.2022; vgl. CIA 26.9.2023). Die Einberufung von Wehrdienstleistenden erfolgt jeweils im Frühjahr und im Herbst. Auf Antrag besteht die Möglichkeit der Befreiung oder Zurückstellung vom Wehrdienst sowie der Ableistung eines militärischen oder zivilen Ersatzdienstes. Bei der Zurückstellung vom Militärdienst aus sozialen Gründen (z. B. pflegebedürftige Eltern, zwei oder mehr Kinder) muss bei Wegfall der Gründe der Betreffende bis zum 27. Lebensjahr noch einrücken. Wenn die Gründe nach dem 27. Lebensjahr noch bestehen, ist eine Einrückung in Friedenszeiten nicht mehr vorgesehen. Derjenige muss sich allerdings als Reservist zur Verfügung stellen (bis zum 50. Lebensjahr. CIA 26.9.2023). Eine Zurückstellung aus Gesundheitsgründen ist ebenfalls möglich (AA 25.7.2022).
Der vertragliche Wehrdienst beträgt 3-12 Monate oder 3 oder 5 Jahre; Männer unter 36 Jahren, die noch nicht als Vertragsbedienstete gedient haben und in der Reserve registriert sind, sowie Frauen, unabhängig davon, ob sie in der Reserve registriert sind, können zum vertraglichen Wehrdienst gemeldet werden (CIA 26.9.2023).
Männliche Armenier ab 16 Jahren sind zur Wehrregistrierung verpflichtet. Sofern sie sich im Ausland aufhalten und sich nicht vor dem Erreichen des 16. Lebensjahres aus Armenien abgemeldet haben, müssen sie zur Musterung nach Armenien zurückkehren; andernfalls darf ihnen kein Reisepass ausgestellt werden. Nach der Musterung kann die Rückkehr ins Ausland erfolgen (AA 25.7.2022).
Mit der Ende 2017 erfolgten Novellierung des Wehrpflichtgesetzes bietet das armenische Verteidigungsministerium im Rahmen des Konzepts „Armee-Nation“ zwei neue flexible Optionen für den Wehrdienst. Das Programm „Jawohl“ ermöglicht den Rekruten einen flexiblen Wehrdienst von insgesamt drei Jahren mit mehrmonatigen Unterbrechungen. Im Anschluss erhalten die Rekruten ca. 9.000 Euro für eine Existenzgründung sowie einen Wohnungskredit. Diese Regelung ist seit Dezember 2017 in Kraft. Das Programm „Es ist mir eine Ehre“ erlaubt Hochschulstudenten das Studium abzuschließen und erst dann als Offizier ihren Wehrdienst abzuleisten. Im Laufe des Studiums werden für diese Studenten Pflichtveranstaltungen im Militärinstitut organisiert. Diese Regelung trat im Mai 2018 in Kraft (AA 25.7.2022).
Laut Auskunft eines lokalen Anwaltes verleiht ein Aufenthaltsstatus im Ausland der betroffenen Person keine Privilegien in Bezug auf die Befreiung vom Militärdienst (VP 6.2.2020).
Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, äußerten weiterhin ihre Besorgnis über Todesfälle in der Armee, die nicht auf Kampfhandlungen zurückzuführen waren, und über das Versäumnis der Strafverfolgungsbehörden, glaubwürdige Untersuchungen dieser Todesfälle durchzuführen. Nach Ansicht von Organisationen der Zivilgesellschaft und Familienangehörigen der Opfer hat die Praxis, viele Todesfälle außerhalb von Kampfhandlungen zu Beginn der Ermittlungen als Selbstmord einzustufen, die Wahrscheinlichkeit verringert, dass Missbräuche aufgedeckt und untersucht werden (USDOS 20.3.2023).
Obwohl in der armenischen Rechtsordnung Homosexualität nicht als psychische Erkrankung gilt, gilt diese jedoch innerhalb der Streitkräfte als Persönlichkeitsstörung, wodurch der Betroffene als nicht wehrtauglich gilt (VP 22.7.2023).
Es gab weiterhin Berichte über erniedrigende Behandlung in der Armee, deren Ausmaß unbekannt war. Die Rechte einiger besonders schutzbedürftiger Militärangehöriger, einschließlich derer, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer und intersexuell (LGBTQI+) identifizierten, wurden sowohl von den Befehlshabern als auch von anderen Militärangehörigen in grober Weise verletzt, einschließlich unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Arbeitsausbeutung (USDOS 20.3.2023).
Wehrersatzdienst, Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung 2023-10-10 13:07
Auf Antrag besteht die Möglichkeit der Befreiung oder Zurückstellung vom Wehrdienst sowie der Ableistung eines militärischen oder zivilen Ersatzdienstes. In anderen Fällen gilt eine Zurückstellung vom Militärdienst aus sozialen Gründen (arbeitsunfähige Eltern, mutterlose Kinder, zwei oder mehrere Kinder, Ehefrau mit Behinderungen der 1. oder 2. Kategorie, arbeitsunfähige Geschwister mit Behinderungen, Beschluss des Verteidigungsministeriums auf Grundlage der Stellungnahme der Gesundheitskommission) bis zum 27. Lebensjahr. Fallen diese Gründe vor Vollendung des 27. Lebensjahrs weg, ist der Wehrdienst abzuleisten. Bleiben die Gründe nach Vollendung des 27. Lebensjahrs bestehen, muss sich der Betreffende als Reservist zur Verfügung halten und wird in Friedenszeiten nicht mehr eingezogen. Eine Zurückstellung aus Gesundheitsgründen ist ebenfalls möglich (AA 25.7.2022; vgl. CIA 26.9.2023).
Wehrpflichtige, die sich ihrer Wehrpflicht entzogen haben, werden strafrechtlich belangt. Nach der Vollendung des 27. Lebensjahres wurde früher ein faktischer Freikauf vom Wehrdienst über eine Ersatzzahlung durch das sogenannte „Freikaufsgesetz“ der Republik Armenien vom 17.12.2003 ermöglicht. Dieses Gesetz trat am 31.12.2019 außer Kraft (AA 25.7.2022).
Es gibt einen Ersatzdienst, der sich in einen innerhalb der Streitkräfte zu leistenden alternativen Wehrdienst und einen außerhalb der Streitkräfte zu leistenden alternativen Arbeitsdienst gliedert.
Man ist berechtigt, einen alternativen Dienst zu leisten, wenn die Leistung des obligatorischen Militärdienstes in militärischen Einheiten sowie das Tragen, Halten,Aufbewahrung und die Benutzung von Waffen der Konfession oder den religiösen Überzeugungen des Wehrdienstpflichtigen widersprechen. Der alternative Wehrdienst dauert 30 Monate, der alternative Arbeitsdienst 36 Monate. Die Anzahl derjenigen, die den Ersatzdienst beantragen, ist sehr gering (AA 25.7.2022; vgl. USDOS 12.5.2021).
Zu Fällen von Misshandlung von Ersatzdienstleistenden durch Vorgesetzte liegen keine Erkenntnisse vor (AA 25.7.2022).
Offen homosexuelle Männer fürchten um ihre körperliche Sicherheit beim Militär und einige versuchen, sich von der Wehrpflicht befreien zu lassen (HRW 13.1.2021).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2023-10-10 13:08
Die Verfassung enthält einen ausführlichen Grundrechtsteil modernen Zuschnitts, der auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte mit einschließt. Durch Verfassungsänderungen im Jahr 2015 wurde der Grundrechtekatalog noch einmal erheblich ausgebaut. Ein Teil der Grundrechte können im Ausnahmezustand oder im Kriegsrecht zeitweise ausgesetzt oder mit Restriktionen belegt werden. Gemäß Artikel 80 der Verfassung ist der Kern der Bestimmungen über Grundrechte und –freiheiten unantastbar. Extralegale Tötungen, Fälle von Verschwindenlassen, unmenschliche, erniedrigende oder extrem unverhältnismäßige Strafen, übermäßig lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil bzw. Verurteilungen wegen konstruierter oder vorgeschobener Straftaten sind nicht bekannt (AA 25.7.2022).
Die Regierung Pashinyan geht bestehende Menschenrechtsdefizite weitaus engagierter als die Vorgängerregierungen an. Die Menschenrechtslage hat sich insgesamt verbessert. Mängel bestehen jedoch nach wie vor bei der konsequenten Umsetzung der Gesetze. Vor allem im Kampf gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität und beim Aufbrechen der alten verkrusteten Strukturen hat Premierminister Pashinyan sichtbare Erfolge erzielt (AA 25.7.2022). Daneben bestehen allerdings weiter Defizite bei der Untersuchung und Bestrafung mutmaßlicher Übergriffe durch ehemalige und derzeitige Regierungsbeamte und Strafverfolgungsbehörden (UDOS
20.3.2023).
Die Verfassung verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion, der politischen Meinung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögensstatus, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder anderer persönlicher oder sozialer Umstände. Das Strafgesetzbuch verbietet die ungleiche Behandlung von Personen aus den genannten Gründen, wenn eine solche Behandlung die Menschenrechte und die rechtmäßigen Interessen einer Person verletzt, und betrachtet die gleiche Handlung, wenn sie von Beamten begangen wird als einen erschwerenden Umstand. Die Regierung setzte das Gesetz gegen rassistische/ethnische Gewalt und Diskriminierung uneinheitlich durch (USDOS 20.3.2023).
Das Gesetz schützt die Freizügigkeit und das Recht des Einzelnen, seinen Wohnsitz, seinen Arbeitsplatz und seine Ausbildung zu wechseln. In der Praxis wird der Zugang zur Hochschulbildung durch eine Kultur der Bestechung etwas erschwert. Das armenische Recht schützt die Eigentumsrechte in angemessener Weise, auch wenn die Beamten diese in der Vergangenheit nicht immer eingehalten haben (FH 10.3.2023).
Die Regierung Armeniens erfüllt die Mindeststandards für die Beseitigung des Menschenhandels nicht vollständig, unternimmt aber erhebliche Anstrengungen, um diese zu erreichen. Es gab keine Berichte über das Verschwinden von Personen durch oder im Namen von Regierungsbehörden. Es gab keine Berichte darüber, dass die Regierung oder ihre Vertreter im Laufe des Jahres willkürliche oder rechtswidrige Tötungen begangen haben (USDOS 20.3.2023).
Die Verfassung verbietet unbefugte Durchsuchungen und sieht das Recht auf Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation vor. Die Behörden dürfen keine Telefone abhören, keine Korrespondenz abfangen und keine Durchsuchungen durchführen, ohne die Erlaubnis eines Richters einzuholen, der zwingende Beweise für kriminelle Aktivitäten vorlegt. Die Verfassung sieht jedoch Ausnahmen vor. Die Bürger haben die Möglichkeit, ihre Regierung in freien und fairen, regelmäßig stattfindenden, geheimen Wahlen auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu wählen (USDOS 20.3.2023).
Meinungs- und Pressefreiheit
Letzte Änderung 2023-10-10 14:09
In der Verfassung und im Gesetz ist das Recht auf freie Meinungsäußerung verankert, auch für Mitglieder der Presse und anderer Medien. Die Regierung hat dieses Recht im Allgemeinen respektiert, wenn auch mit einigen Einschränkungen. Einzelpersonen durften die Regierung kritisieren, ohne Repressalien befürchten zu müssen (USDOS 20.3.2023). Im Juli 2022 entfernte der Justizminister Bestimmungen aus dem Strafgesetzbuch, die Verleumdung unter Strafe stellten. Diese Bestimmungen waren im Juli 2021 in Kraft getreten und hatten zur Einleitung von mindestens neun Strafverfahren gegen Personen geführt, die der Beleidigung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beschuldigt wurden (FH 10.3.2023).
Unabhängige und investigative Medien arbeiten in Armenien relativ frei und veröffentlichen in der Regel online. Kleine unabhängige Medien bieten oft eine solide Berichterstattung, die die Darstellungen der staatlichen Rundfunkanstalten und anderer etablierter Medien infrage stellt. Im Vergleich dazu sind die meisten Printmedien und Rundfunkanstalten mit politischen oder größeren kommerziellen Interessen verbunden (FH 10.3.2023).
Die meisten Rundfunk- und Fernsehsender und Zeitungen waren im Besitz von Privatpersonen oder Gruppen, von denen die meisten Berichten zufolge mit der früheren Regierung oder den parlamentarischen Oppositionsparteien in Verbindung standen und die tendenziell die politischen Neigungen und finanziellen Interessen ihrer Eigentümer widerspiegelten. Derzeitige und frühere Regierungsbehörden und Oppositionsparteien erwarben weitere Medien, was die Polarisierung noch verschärfte. Es gab nur noch wenige unabhängige Medien, die nicht von der finanziellen Unterstützung politisch verbundener Geber abhingen; diejenigen, die noch existierten, waren aufgrund ihrer begrenzten Einnahmen aus Werbung und Abonnementgebühren auf die Unterstützung internationaler Geber angewiesen (USDOS 20.3.2023).
Die Rundfunkmedien, insbesondere das öffentliche Fernsehen, blieben für die Mehrheit der Bevölkerung eine der wichtigsten Nachrichten- und Informationsquellen. Einigen Medienbeobachtern zufolge präsentierte das öffentlich-rechtliche Fernsehen weiterhin Nachrichten und politische Debatten von einem regierungsfreundlichen Standpunkt aus, obwohl es auch weiterhin für oppositionelle Stimmen zugänglich war (USDOS 20.3.2023).
Journalist:innen sind, außer in Fällen schwerer Straftaten, nicht verpflichtet, vertrauliche Quellen offen zu legen. Das Fernsehen ist nach wie vor das am weitesten verbreitete Informationsmedium. Zahlreiche TV-Medien werden von alten Einflussgruppen kontrolliert und versuchen gezielt, die öffentliche Meinung zu manipulieren bzw. Stimmung gegen die Regierung zu machen. Die Vergabe der (befristeten) Sendelizenzen ist weiterhin problematisch. Die Printmedien genießen große Unabhängigkeit, haben jedoch – insbesondere außerhalb der Hauptstadt – ein wesentlich kleineres Publikum als die elektronischen Medien. Internetseiten sind frei zugänglich (AA 25.7.2022).
Das Komitee zum Schutz der Meinungsfreiheit (CPFE), eine lokale NRO, stellte eine Zunahme der Gewalt gegen Journalisten fest. Bis Juni 2022 dokumentierte es 12 Vorfälle mit 13 Opfern
(HRW 12.1.2023; vgl. FH 10.3.2023, AI 27.3.2023), die sowohl von Beamten als auch von Privatpersonen verübt wurden. Die meisten Vorfälle ereigneten sich während verschiedener Proteste der Opposition (HRW 12.1.2023).
Am 25. Mai verabschiedeten regierungsnahe Gesetzgeber ein Gesetz, das es staatlichen Stellen erlaubt, Journalisten die Zulassung zu entziehen, wenn sie zweimal innerhalb eines Jahres gegen die „Arbeitsregeln“ der zuständigen Stellen verstoßen haben (USDOS 20.3.2023).
Das Recht auf Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation ist grundsätzlich vorhanden. Ohne richterliche Erlaubnis und der Angabe zwingender Beweise für kriminelle Aktivitäten, dürfen Behörden keine Telefone abhören, Korrespondenzen abfangen oder Durchsuchungen durchführen. Die Verfassung sieht jedoch Ausnahmen vor (USDOS 20.3.2023).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit für 2022 befindet sich Armenien auf Platz 51 von 180 gelisteten Ländern (RSF 2023). Im Vergleich zu 2021: Platz 63 (RSF 2022).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Letzte Änderung 2023-10-11 06:14
In der Verfassung und in den Gesetzen sind die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verankert. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen, es gab jedoch einige Einschränkungen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 10.3.2023).
Die Strafverfolgungsbehörden griffen während des gesamten Jahres bei Protesten in die Versammlungsfreiheit ein. Das armenische Helsinki-Komitee, eine Nichtregierungsorganisation, dokumentierte einen unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt bei Oppositionsprotesten im Mai und Juni (HRW 12.1.2023). Es wurde mehrfach berichtet, dass die Polizei während der Proteste im Laufe des Jahres willkürlich Demonstranten festnahm. Ein Bericht der Ombudsperson stellte außerdem fest, dass die Polizei unverhältnismäßige Gewalt anwandte, um Demonstranten festzuhalten, aber auch, dass die Demonstranten die Polizei provozierten, indem sie Beleidigungen riefen, und Schultergurte und Abzeichen abrissen (USDOS 20.3.2023; vgl. AI 27.3.2023).
Das Gesetz schützt das Recht aller Beschäftigten, unabhängige Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, mit Ausnahme des nicht zivilen Personals der Streitkräfte und der Strafverfolgungsbehörden (FH 10.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Das Gesetz sieht auch das Streikrecht vor, mit denselben Ausnahmen, und lässt Tarifverhandlungen zu (USDOS 20.3.2023).
Sowohl die Oppositionsparteien als auch die außerparlamentarische Opposition können sich frei äußern (AA 25.7.2022). Im Januar 2021 traten Änderungen des Parteiengesetzes in Kraft, mit denen die öffentliche Finanzierung politischer Parteien an die Vertretung von Frauen und des ganzen Landes gebunden und individuelle Spenden begrenzt wurden. An den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2021 nahm eine noch nie da gewesene Anzahl politischer Einheiten (22 politische Parteien und 4 Bündnisse) teil (FH 10.3.2023).
Das Gesetz schränkt weder die Registrierung noch die Tätigkeit von politischen Parteien ein (USDOS 20.3.2023).
Im Januar 2021 traten Änderungen des Parteiengesetzes in Kraft, die die öffentliche Finanzierung politischer Parteien an die Vertretung von Frauen und des Landes binden und die Spenden von Einzelpersonen begrenzen (FH 10.3.2023).
Es gibt keine Berichte darüber, dass Personen, die im Ausland politisch aktiv waren, nach ihrer Rückkehr nach Armenien Repressionen erfahren hätten (AA 25.7.2022).
Es gab keine glaubwürdigen Berichte über politische Gefangene oder Inhaftierte (USDOS
20.3.2023).
Haftbedingungen
Letzte Änderung 2023-10-11 07:44
In Berichten wurden Menschenrechtsbedenken im Zusammenhang mit den Haftbedingungen geäußert, u. a. in Bezug auf die physischen Bedingungen, den Zugang zu medizinischer Versorgung und psychologischer Betreuung, die Behandlung von LGBTQI+-Personen und die Ausbeutung durch hierarchische organisierte Kriminalitätsstrukturen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 10.3.2023). Die Regierung hat am 1. Januar zwei Strafvollzugsanstalten geschlossen. Das Parlament verabschiedete am 15. Juni ein neues Strafvollzugsgesetz, das am 1. Juli zusammen mit dem im Vorjahr verabschiedeten neuen Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung in Kraft trat, um die großen Probleme im Strafvollzug systematisch anzugehen (USDOS 20.3.2023).
Die hygienischen und räumlichen Verhältnisse sind zufriedenstellend. Angebote für Freizeitaktivitäten gibt es kaum. Häftlinge dürfen Besuch empfangen und mit Telefonkarten telefonieren. Bewegungseinschränkende Maßnahmen wie z. B. Handschellen gibt es nicht. Der vorigen Überbelegung der Gefängnisse wurde durch Aussetzung von Haftstrafen zur Bewährung, Verkürzung von Haftstrafen und Freilassung auf Kaution entgegengewirkt, sodass zum 01.01.2022 zwei Gefängnisse geschlossen werden konnten (AA 25.7.2022; vgl. USDOS 20.3.2023).
Beobachtern zufolge besteht weiterhin Bedarf an besseren psychologischen Diensten und Personal in den Gefängnissen, obwohl die Regierung Programme zur Erhöhung der Gehälter und zur Umverteilung von Psychologen aus geschlossenen Haftanstalten aufgelegt hat (USDOS 20.3.2023).
In seinem Bericht nahm das CPT[Committeefor the Preventionof Torture] die laufende Reform des Gesundheitsdienstes in den Gefängnissen und die Einrichtung eines strafvollzugsmedizinischenZentrums, einer öffentlichen, nicht kommerziellen Organisation für die Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen, zur Kenntnis, äußerte jedoch seine Besorgnis darüber, dass sich die Insassen nach wie vor über mangelnden Zugang zu spezialisierter Versorgung beklagten. In den meisten Gefängnissen fehlte es an Unterbringungsmöglichkeiten für Insassen mit Behinderungen (USDOS 12.4.2022).
Die Regierung bekräftigte ihre Null-Toleranz-Politik gegenüber Korruption in den Gefängnissen und brachte ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die organisierte, hierarchische kriminelle Struktur, die das Leben in den Gefängnissen beherrschte, zu beseitigen. Beobachter stellten einige Fortschritte bei der Bekämpfung der systemischen Korruption fest, doch Experten schätzten ein, dass die Korruption so lange fortbestehen würde, wie die kriminelle Subkultur weiter bestünde (USDOS 20.3.2023).
Die Behörden führten keine zeitnahen Untersuchungen zu glaubwürdigen Misshandlungsvorwürfen durch (USDOS 20.3.2023).
Die Regierung erlaubte in- und ausländischen Menschenrechtsgruppen, einschließlich des CPT, die Bedingungen in den Gefängnissen und Haftanstalten zu überwachen, was sie auch regelmäßig taten. Die Behörden gestatteten den Beobachtern, privat mit Gefangenen zu sprechen, und erlaubten dem IKRK, Gefängnisse und Untersuchungshaftanstalten zu besuchen (USDOS 20.3.2023).
Todesstrafe
Letzte Änderung 2023-10-11 07:44
Armenien hat im September 2003 die Todesstrafe abgeschafft; dies ist in Artikel 24 der Verfassung verankert (AA 25.7.2022; vgl. AI 21.4.2020, Standard 19.4.2003, Frankreich Diplomatie 10.2022).
Religionsfreiheit
Letzte Änderung 2023-10-11 07:47
Die Religionsfreiheit ist verfassungsrechtlich garantiert und darf nur durch Gesetze und nur soweit eingeschränkt werden, wie dies für den Schutz der staatlichen und öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral notwendig ist. Gemäß Artikel 17 der Verfassung wird zudem die Freiheit der Tätigkeit von religiösen Organisationen garantiert. Es gibt keine verlässlichen Angaben zum Anteil religiöser Minderheiten an der Gesamtbevölkerung; Schätzungen zufolge machen sie weniger als 5 % aus. Auch in den 2015 beschlossenen Verfassungsänderungen genießt die Armenisch-Apostolische Kirche (AAK) nach wie vor Privilegien, die anderen Religionsgemeinschaften nicht zuerkannt werden (Zulässigkeit der Eröffnung von Schulen, Herausgabe kirchengeschichtlicher Lehrbücher, Steuervorteile u. a. bei Importen, Wehrdienstbefreiung von Geistlichen, Kirchenbau). Bei der Diskussion über ein überfälliges und erst Ende 2017 verabschiedetes Gesetz gegen häusliche Gewalt spielte die Kirche eine konstruktive Rolle. Zunehmend nimmt die Kirche ihre soziale Verantwortung wahr (etwa durch Aufbau von Jugendzentren). Religionsgemeinschaften sind nicht verpflichtet, sich registrieren zu lassen. Religiöse Organisationen mit mindestens 200 Anhängern können sich jedoch amtlich registrieren lassen und dürfen dann Zeitungen und Zeitschriften mit einer Auflage von mehr als 1.000 Exemplaren veröffentlichen, regierungseigene Gelände nutzen, Fernseh- oder Radioprogramme senden und als Organisation Besucher aus dem Ausland einladen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Religionsgemeinschaften die Registrierung verweigert wurde bzw. wird.
Bekehrungen durch religiöse Minderheiten sind zwar gesetzlich verboten; missionarisch aktive Glaubensgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas oder die Mormonen sind jedoch tätig und werden staatlich nicht behindert. Dies wird von offiziellen Vertretern der Zeugen Jehovas bestätigt (AA 25.7.2022; vgl. USDOS 2.6.2022).
Laut der Volkszählung von 2011 bekennen sich etwa 92 % der Bevölkerung zum armenischapostolischen Glauben. Andere religiöse Gruppen umfassen römische Katholiken, armenische unierte (mekhitaristische) Katholiken, orthodoxe Christen und evangelikale Christen, einschließlich Anhänger der Armenischen Evangelischen Kirche, Angehörige der Pfingstkirche, Siebenten-Tags-Adventisten, Baptisten, charismatische Christen und Zeugen Jehovas. Es gibt auch Anhänger der Kirche Jesu Christi und der Heiligen Apostolischen Katholischen Assyrischen Kirche des Ostens, Molokan-Christen, Jeziden, Juden, Baha’is, schiitische Muslime, sunnitische Muslime und Heiden, die Anhänger eines vorchristlichen Glaubens sind. Nach Angaben von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gibt es etwa 800 bis 1.000 Juden im Land (USDOS 15.5.2023; vgl. CIA 26.9.2023).
Die meisten religiösen Minderheiten, einschließlich der Siebenten-Tags-Adventisten, evangelikaler christlicher Gruppen, der Zeugen Jehovas und der Baha’is, berichteten, dass die öffentliche Einstellung ihnen gegenüber im allgemeinen positiv sei und dass es nur wenig oder gar keine negative Medienberichterstattung über sie gebe, obwohl mehrere Medien im Laufe des Jahres negative Berichte über sie brachten (USDOS 15.5.2023).
Gesellschaftlicher und familiärer Druck war weiterhin eine große Abschreckung für ethnische Armenier, eine andere Religion als den armenisch-apostolischen Glauben zu praktizieren (USDOS 2.6.2022).
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2023-10-11 14:52
Das Gesetz sieht garantierte Bewegungsfreiheit im Inland, Auslandsreisen, Auswanderung und
Repatriierung vor. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 20.3.2023).
Aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus und der geringen territorialen Ausdehnung gibt es kaum Ausweichmöglichkeiten gegenüber zentralen Behörden. Bei Problemen mit lokalen Behörden oder mit Dritten kann jedoch ein Umzug Abhilfe schaffen (AA 25.7.2022).
Die Einreise nach Aserbaidschan über die Landgrenze aus Armenien ist nicht möglich. Das betrifft auch die Region Bergkarabach und den sogenannten „Latschin-Korridor“. Die Landgrenze zum Iran ist nur unter strengen Gesundheitsauflagen passierbar. Die Grenzen zur Türkei sind seit Jahren dauerhaft geschlossen (AA 2.10.2023; vgl. BMEIA 2.10.2023).
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 2023-10-11 14:53
In Armenien ist ein breites Warenangebot in- und ausländischer Herkunft vorhanden. Auch umfangreiche ausländische Hilfsprogramme tragen zur Verbesserung der Lebenssituation von benachteiligten Gruppen bei. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ist nach wie vor finanziell nicht in der Lage, seine Versorgung mit den zum Leben notwendigen Gütern ohne Unterstützung durch humanitäre Organisationen sicherzustellen. Nach Schätzungen der Weltbank für 2020 leben 27 % der Armenier unterhalb der Armutsgrenze. Ein Großteil der Bevölkerung wird finanziell und durch Warensendungen von Verwandten im Ausland unterstützt. Das die Armutsgrenze bestimmende Existenzminimum beträgt in Armenien ca. AMD 60.000 [ca EUR 146] im Monat, der offizielle Mindestlohn AMD 55.000. Das durchschnittliche Familieneinkommen ist mangels zuverlässiger Daten schwer einzuschätzen. Der Großteil der Armenier geht mehreren Erwerbstätigkeiten und darüber hinaus privaten Geschäften und Gelegenheitstätigkeiten nach (AA 25.7.2022).
Im Jahr 2022 hat die Arbeitslosenquote in Armenien geschätzt rund 12,50 % betragen. Für das Jahr 2023 wird die Arbeitslosenquote in Armenien auf rund 12,50 % prognostiziert (statista 3.8.2023). Im Jahr 2022 ist die Arbeitslosigkeit auf den niedrigsten Stand seit vielen Jahren gefallen (WKO 4.2023).
Armenien verfügt über reiche Vorkommen mineralischer Rohstoffe. Die armenische Wirtschaft wuchs 2022 um +12,1 %. Das ist die höchste jährliche Wachstumsrate der letzten 15 Jahren. Aufgrund der begrenzten Verarbeitungskapazität werden die Bergbauprodukte bisher als Rohstoffe exportiert. Die Landwirtschaft gehört zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren des Landes, auch wenn dieser Sektor 2022 stagnierte. Das Wirtschaftswachstum konzentrierte sich bislang primär auf die Hauptstadt Jerewan. Das Entwicklungsgefälle zwischen der Hauptstadt Jerewan und den Regionen des Landes bleibt groß. Die ländlichen Regionen haben eine hohe Unterbeschäftigung und niedriges Einkommen. Um die regionale Entwicklung weiter anzukurbeln, verfolgt die armenische Regierung eine aktive Regionalpolitik (WKO 4.2023).
Die durch den Krieg ausgelöste massive Migration von Russen nach Armenien förderte die Wirtschaftsleistung, trug aber auch zu einem Anstieg der Mietpreise und der Lebenshaltungskosten im Allgemeinen bei (AI 27.3.2023).
Das Gesetz verbietet und kriminalisiert alle Formen von Zwangs- und Pflichtarbeit.Am 5. Oktober nahm die Regierung eine Definition von Zwangs- und Pflichtarbeit in das Arbeitsgesetzbuch auf.
Die Strafverfolgung war nicht proaktiv und stützte sich weitgehend auf die Selbstauskunft der Opfer (USDOS 20.3.2023).
Das Gesetz sieht eine 40-Stunden-Woche, 20 Tage bezahlten Jahresurlaub und einen Ausgleich für Überstunden und Nachtarbeit vor (USDOS 20.3.2023).
Sozialbeihilfen
Letzte Änderung 2023-10-16 09:31
Das Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten verwaltet das Sozialschutzsystem in Armenien. Zu den wichtigsten Arten staatlicher Sozialleistungen in Armenien gehören: Familienbeihilfe, Sozialleistungen, dringende Unterstützungen, pauschales Kindergeld, Kinderbetreuungsgeld bis zum Alter von zwei Jahren, Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, Mutterschaftsgeld, Altersbeihilfe, Invaliditätsleistungen, Leistungen bei Verlust der geldverdienenden Person, Bestattungsgeld (IOM 2021).
Personen, die das 63. Lebensjahr vollendet und mindestens 10 Jahre Berufserfahrung haben, haben Anspruch auf eine arbeitsbedingte Rente. Personen, die keinen Anspruch auf eine arbeitsbedingte Rente haben, haben mit 65 Jahren Anspruch auf eine altersbedingte Rente. In Armenien gibt es zwei Kategorien von Renten: Arbeitsrenten umfassen Altersrenten, privilegierte Renten, Renten für langjährige Betriebszugehörigkeit, Invalidenrenten und Hinterbliebenenrenten. Militärrenten umfassen Renten für Langzeitdienstleistern, Invaliditätsrenten und Hinterbliebenenrenten (IOM 2021).
Das Ministerium für Arbeit und Soziales (MLSA) implementiert Programme zur Unterstützung von schutzbedürftigen Personen: Behinderte, ältere Personen, RentnerInnen, Waisen, Opfer von Menschenhandel, Frauen und Kinder. Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt über die 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice (IOM 2021).
Die staatliche Arbeitsagentur des Ministeriums für Arbeit und Soziales setzt die staatlichen Programme um, die darauf abzielen, eine nachhaltige Beschäftigung für Arbeitssuchende und die Befriedigung der Nachfrage nach Arbeitskräften zu sichern und eine effektive Nutzung der verfügbaren Arbeitskräfte zu gewährleisten. Eine detaillierte Beschreibung der Programme ist auf der offiziellen Website der staatlichen Arbeitsagentur unter www.employment.am zu finden. In Armenien gibt es auch private Arbeitsvermittlungsagenturen, die freie Stellen ausschreiben (IOM 2021).
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2023-10-11 14:53
Krankenhäuser – insbesondere außerhalb der großen Städte – entsprechen nicht dem europäischen Standard (BMEIA 5.10.2023). Die medizinische Grundversorgung ist flächendeckend gewährleistet. Das Gesundheitssystem besteht aus einer staatlich garantierten und kostenlosen Absicherung sowie einer individuellen und freiwilligen Krankenversicherung. Jeder Mensch in der Republik Armenien hat Anspruch auf medizinische Hilfe und Dienstleistungen, unabhängig von Nationalität, Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Alter, politischen und sonstigen Überzeugungen, sozialer Herkunft, Eigentum oder sonstigem Status (IOM 2020). Die primäre medizinische Versorgung wird in der Regel entweder durch regionale Polikliniken oder ländliche Behandlungszentren erbracht. Die sekundäre medizinische Versorgung wird von 37 regionalen Krankenhäusern und einigen der größeren Polikliniken mit speziellen ambulanten Diensten übernommen, während die tertiäre medizinische Versorgung größtenteils den staatlichen Krankenhäusern und einzelnen Spezialeinrichtungen in Jerewan vorbehalten ist (AA 25.7.2022).
Die primäre medizinische Versorgung ist grundsätzlich kostenfrei. Kostenlose medizinische
Versorgung gilt nur noch eingeschränkt für die sekundäre und die tertiäre Ebene. Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden ist. Viele Menschen sind nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der meisten Familien bei Weitem (AA 25.7.2022).
Informationen über soziale Bevölkerungsgruppen, die berechtigt sind, kostenlose Medikamente durch lokale Polikliniken zu erhalten, sind verfügbar unter: www.moh.am (IOM 2020).
Die Versorgung mit Arzneimitteln, inklusive Einwegspritzen kann nicht immer gewährleistet werden (BMEIA 5.10.2023). Die Einfuhr von Medikamenten zum persönlichen Gebrauch ist beschränkt auf 10 Arzneimittel, mit jeweils 3 Packungen (IOM 2020; vgl. BMEIA 5.10.2023).
Verschreibungen müssen in russischer oder armenischer Sprache mitgeführt werden (BMEIA
5.10.2023).
Ein Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge ist die schlechte Bezahlung des medizinischen Personals (für einen allgemein praktizierenden Arzt ca. EUR 250/Monat). Hochqualifizierte und motivierte Mediziner wandern in den privatärztlichen Bereich ab, wo Arbeitsbedingungen und Gehälter deutlich besser sind. Der Ausbildungsstand des medizinischen Personals ist zufriedenstellend. Die Ausstattung der staatlichen medizinischen Einrichtungen mit technischem Gerät ist dagegen teilweise mangelhaft. In einzelnen klinischen Einrichtungen – meist Privatkliniken – stehen hingegen moderne Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, Mammografie sowie Computer- und Kernspintomografie zur Verfügung (AA 25.7.2022).
Die größeren Krankenhäuser in Eriwan sowie einige Krankenhäuser in den Regionen verfügen über psychiatrische Abteilungen und Fachpersonal. Die technischen Untersuchungsmöglichkeiten haben sich durch neue Geräte verbessert. Die Behandlung von posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) und Depressionen ist auf gutem Standard gewährleistet und erfolgt kostenlos. Die Anzahl der kostenlosen Behandlungsplätze für Dialyse ist begrenzt, aber gegen Bezahlung von ca. USD 100 jederzeit möglich. Selbst Inhaber kostenloser Behandlungsplätze müssen aber noch in geringem Umfang zuzahlen. Derzeit ist die Dialysebehandlung in fünf Krankenhäusern in Eriwan möglich, auch in den Städten Armavir, Gjumri, Kapan, Noyemberyan und Vanadsor sind die Krankenhäuser entsprechend ausgestattet (AA 25.7.2022).
Problematisch ist die Verfügbarkeit von Medikamenten, da nicht immer alle Präparate vorhanden sind. Nach dem Regierungsbeschluss vom 23.11.2006 ist die Ausgabe von Medikamenten in Polikliniken kostenlos bei bestimmten Krankheiten und für Menschen, die in die Kategorie 1 besonders schutzbedürftiger Personen fallen. Hierzu gehören insbesondere Kinder und Menschen mit mittlerer bis schwerer Behinderung. Patienten der Kategorie 2 müssen 50 %, Patienten der Kategorie 3 müssen 70 % ihrer Medikamentenkosten selbst tragen (AA 25.7.2022).
Rückkehr
Letzte Änderung 2023-10-12 06:23
Rückkehrende werden grundsätzlich nach Ankunft in die Gesellschaft integriert. Sie haben Zugang zu allen Berufsgruppen, auch im Staatsdienst, und überdurchschnittlich gute Chancen, Arbeit zu finden. Für rückkehrende Migranten wurde ein Beratungszentrum geschaffen; es handelt sich um ein Projekt der französischen Büros für Einwanderung und Migration (OFFI). Rückkehrer können sich auch an den armenischen Migrationsdienst wenden, der ihnen mit vorübergehender Unterkunft und Beratung zur Seite steht. Fälle, in denen Rückkehrer festgenommen oder misshandelt wurden, sind nicht bekannt (AA 25.7.2022).
Seit 2019 führ der Migrationsdienst der Republik Armenien das „Staatliche Programm zur primären Unterstützung der Wiedereingliederung von zurückgekehrten (einschließlich unfreiwillig zurückgekehrten) Staatsbürger:innen in die Republik Armenien“ durch. Das Programm bietet armenischen Staatsbürger:innen, die nach Armenien zurückkehren primäre Unterstützung, um ihre vollständige und nachhaltige Wiedereingliederung zu gewährleisten (IOM 2020).
Das Reintegrationsprogramm „Frontex − Joint Reintegration Services“ (FX JRS) bietet in Kooperation mit einer lokalen Partnerorganisation Unterstützung bei Reintegration nach der Rückkehr nach Armenien an (return from Austria, ohne Datum).
2. Beweiswürdigung
II.2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.
II.2.2. Identität und Herkunftsstaat:
Da dem BVwG anhand des Vorbringens vom 02.04.2024 eine herkunftsstaatliche Geburtsurkunde in Kopie sowie ein Reisepass in Kopie vorlag und mit Schreiben der belangten Behörde vom Oktober 01.10.2021 die Identität des BF durch die Botschaft festgestellt wurde (OZ 22), konnte durch das Gericht selbst eine Feststellung der Identität erfolgen.
Beim BF handelt es sich um einen armenischen Staatsangehörigen, dessen Identität XXXX , geb. XXXX , ist.
Der BF verweigerte wissentlich in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 01.03.2021 eine Offenlegung seiner wahren Identität, indem er eine wahrheitsgemäße Darlegung seiner Identität und die Vorlage vorhandener Identitätsdokumente, wie jene des Reisepasses, ausgestellt am 22.07.2009, gültig bis zum 22.07.2012, welcher in Kopie dem Vorbringen vom 02.04.2024 beigeschlossen wurde, unterließ. Mit Reuegeständnis vom 21.10.2021 wurde durch die Eingabe der bevollmächtigten Rechtsvertretung am 28.10.2021 den staatlichen Instanzen zur Kenntnis gebracht, dass der BF unrichtige Angaben betreffend seine Identität tätigte und bewusst trotz Aufforderung in der Beschwerdeverhandlung vom 01.03.2012 der Vorlage vorhandener Identitätsdokumente nicht nachkam und auf Nachfrage des erkennenden Richters den Besitz eines Reisepasses sogar explizit verneinte (OZ 5, S. 10).
Begründet wurde die Identitätsverschleierung damit, dass der BF sich in einer psychischen Zwangslage befunden habe (OZ 39, S. 4). Faktum ist, dass der BF lediglich in der gegenständlichen Verhandlung angibt, seine Mutter und seinen Onkel nicht unter Druck setzen haben zu wollen, da sie für ihn alles getan hätten (OZ 39, s. 5 und S. 6). Festgestellt kann nachweislich nicht werden, dass sich der BF in einer psychischen Zwangslage aufgrund familiärer Nötigung befunden habe und führt er dies auch befragt zu seiner Identitätsverschleierung nicht konkret an (OZ 39, S. 5).
Feststeht, dass der BF zum Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung und in der am 01.03.2021 durchgeführten mündlichen Beschwerdeverhandlung volljährig und somit rechts- und geschäftsfähig war. Ein gegenteiliges ärztliches Attest wurde nicht in Vorlage gebracht.
Die nicht wahrheitsgemäßen Angaben zu seiner Identität wurden vom BF vor dem Bundesamt und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 01.03.2021 intendiert und bewusst getätigt. Der Umstand, dass die Identität bis zum 10.09.2021 nicht festgestellt werden konnte ist letztlich auf die mangelnde Mitwirkung des BF an der Identitätsfeststellung zurückzuführen und sind alle daran anknüpfenden Konsequenzen daher von dem BF zu vertreten.
Auf Nachfrage des erkennenden Richters in der gegenständlichen Verhandlung, weshalb es dem BF nicht möglich sei, sich einen Reisepass ausstellen zu lassen, verwies lediglich die Lebensgefährtin darauf, dass dies aufgrund des armenischen Militärs für den BF nicht möglich sei (OZ 39, S. 9). Die Lebensgefährtin des BF gibt weiters an, dass sie mit dem BF bei mehreren Stellen um Information bezüglich einer Trauung anfragte, unter anderem bei Ehe ohne Grenzen, jedoch sie die Auskunft erhielten, dass ohne Aufenthaltstitel und Reisepass eine aufrechte Ehe im Bundesgebiet nicht rechtmäßig eingegangen werden könne (OZ 39, S. 9).
Dabei legte der BF in der gegenständlichen Verhandlung offen, sich mit Erwägungen eines Freikaufes von der Militärpflicht oder einer Ableistung eines Ersatzdienstes im Herkunftsstaat nicht befasst zu haben (OZ 39, S. 9). Es wird von ihm nicht vorgebracht, bei der Botschaft neuerlich vorstellig gewesen zu sein und sich näher über die Ausstellung eines Reisedokumentes informiert zu haben.
Feststeht im Lichte der vorliegenden Länderfeststellungen, dass für im Ausland aufhältige armenische Staatsangehörige eine Verpflichtung zur Musterung in Armenien besteht. Armenische Staatsangehörige, welche sich in Drittstaaten befinden, haben zur Musterung in den Herkunftsstaat zurückzukehren, anderenfalls kann ihnen die Ausstellung eines Reisepasses verweigert werden. Nach der erfolgten Musterung kann die Rückkehr ins Ausland erfolgen (Länderinformation der Staatendokumentation Armenien, S. 15).
Für das erkennende Gericht erschließt sich, dass, wie im Vorverfahren, der BF keine Bemühungen und Bestrebungen zeigt, aktiv ein Reisedokument zu erwirken. Auch wurde von ihm nicht angeführt bei der Botschaft vorstellig gewesen zu sein und sich näher über die Ausstellung eines Reisedokumentes informiert zu haben. Lediglich die Lebensgefährtin führt an, dass aufgrund der Wehrpflicht eine Ausstellung eines Reisepasses für den BF nicht möglich sei. Der BF selbst führt in der gegenständlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung an, sich nicht um Informationen betreffend die Wehrpflicht, dem Wehrersatzdienst oder einen Freikauf von der Wehrpflicht informiert zu haben (OZ 39, S. 9).
Feststeht, dass der BF versuchte, während seines gesamten Aufenthalts innerhalb der EU bzw. Österreich, seit seiner Volljährigkeit, durch sein rechtsmissbräuchliches Verhalten einen Aufenthaltstitel zu erlangen bzw. den rechtswidrigen Aufenthalt aufgrund seiner Identitätsverschleierung bis zum Reuegeständnis nach seiner Identitätsfeststellung durch das Bundesamt missbräuchlich zu verlängern.
II.2.3. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnissen vor der Ausreise:
Mangels zumutbarer Mitwirkung konnten dazu keine Feststellungen getroffen werden.
Die wesentliche Sozialisation als Kind bis zum zehnten Lebensjahr hat nicht in Österreich stattgefunden (OZ 5, S. 10; OZ 39, S. 11).
Die in Armenien vorherrschende Sprachkompetenz ergibt sich aus den Einvernahmen beim Bundesamt und den Ausführungen des BF und der Mutter des BF im Vorverfahren sowie den Angaben in der gegenständlichen mündlichen Verhandlung sowie der Zugehörigkeit zur apostolisch-armenischen Kirchengemeinde. Die Messe wird auf Armenisch gelesen (OZ 39, S. 6). Der BF gibt in der gegenständlichen Verhandlung an, entgegen den Ausführungen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 01.03.2021 („RI: Wie lange haben Sie in Armenien gelebt? P: Zwei Jahre glaube ich. (…)“ OZ 5, S. 10 und 13), bis zur fünften oder sechsten Schulstufte im Herkunftsstaat die Schule besucht zu haben („RI: Wie viele Klassen haben Sie in Armenien die Schule besucht? P: Ich war bis zur fünften oder sechsten Klasse in Armenien. (…)“ OZ 39, S. 11).
Unter der Prämisse, dass der BF ein Mitglied in der apostolisch-armenischen Kirchengemeinde ist (OZ 39, S. 4) und bis zur fünften Stufe in Armenien die Schule besuchte (OZ 39, S. 11), erscheint es dem erkennenden Gericht nicht schlüssig nachvollziehbar, im Hinblick der getätigten Angaben des BF, dass er zwar die armenische Sprache spreche, allerdings über gar keine Lese- oder Schreibkompetenzen verfüge (OZ 39, S. 6). Festzuhalten bleibt, dass es der Teilnahme am apostolisch-armenischen Gottesdienst dementsprechend innewohnend ist, Gebetsbücher, welche in der armenischen Schrift verfasst sind, zu lesen. Weiters erscheint es aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben in den mündlichen Verhandlungen vom 01.03.2021 und 10.04.2024 nicht glaubhaft, dass der BF nach einem Besuch bis zur fünften Schulstufe in seinem Herkunftsstaat überhaupt keine Lese- und Schreibkompetenz der armenischen Sprache beherrscht und dem BF angelastet werden kann, dass er zu seinen Schulbesuchen im Herkunftsstaat bereits im Vorverfahren unrichtige Aussagen tätigte und diese in der gegenständlichen mündlichen Verhandlung korrigierte (vgl. OZ 5, S. 13 und OZ 39, S. 11).
II.2.4. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:
Mangels zumutbarer Mitwirkung konnten dazu keine Feststellungen getroffen werden.
II.2.5. Ausreisemodalitäten:
Dies ergibt sich nachvollziehbar aus seinen diesbezüglich stimmigen Angaben im Vorverfahren und aus der Aktenlage.
II.2.6. Aktueller Gesundheitszustand:
Dies ergibt sich aus seinen eigenen Aussagen in der gegenständlichen Beschwerdeverhandlung, dass er bis auf eine Gesichtslähmung im Jahr 2023, welche medizinisch und therapeutisch behandelt wurde, gesund ist und sich aktuell in keiner medizinischen Behandlung befindet (OZ 39, S. 2).
II.2.7. Aktuelles Privatleben / Familienleben in Österreich:
Dies ergibt sich plausibel aus seinen persönlichen Angaben, den von ihm vorgelegten Bescheinigungsmitteln sowie den zitierten amtswegigen Ermittlungsergebnissen des Bundesverwaltungsgerichtes und dem Vorverfahren.
Der BF engagiert sich ehrenamtlich bei der apostolisch-armenischen JHU Gemeinde und legt in der gegenständlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung eine Bestätigung vor. In der gegenständlichen mündlichen Verhandlung führt er dazu aus, dass die Messe auf Armenisch gehalten wird. Er ist aktuell kein Mitglied in einem weiteren Verein oder einer Organisation und liegt keine außergewöhnliche gesellschaftliche Integration vor (OZ 39, S. 4 und 5).
Der BF arbeitet mangels Arbeitsbewilligung im Bundesgebiet unentgeltlich (OZ 39, S. 5). Er übt seit Jänner 2019 ein freiwilliges Praktikum von Montag bis Samstag bei einem Schlüsseldienst aus und liegt ein arbeitsrechtlicher Vorvertrag dieser Firma aus als Handelsangestellter 2024 (Brutto EUR 2.229,- monatlich) vor (OZ 39, S. 3 und 5; OZ 38). Im Rahmen der ehrenamtlichen Arbeitstätigkeit ist dem BF anzulasten, dass er aufgrund seines unrechtmäßigen Aufenthaltes in Kenntnis davon ist, dass er keiner legalen Beschäftigung nachgehen kann. Der BF ist seit Abbruch der HTL und seiner Ausbildung nicht selbsterhaltungsfähig und bemühte sich nachweislich nicht, weitere Kurse oder Ausbildungen zu besuchen. Dem Bezug von staatlichen Leistungen in Anbetracht seines unrechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet kann damit betreffend den Arbeitsvorvertrag keine berufliche Integration beigemessen werden.
Aufgrund seiner altersadäquaten Freizeitgestaltung (Treffen mit Freunden) und dem vorangegangenen Schulbesuch der Neuen Mittelschule und HTL ist eine gewisse Integration vorhanden (OZ 39, S. 4) und verfügt der BF über sehr gute Deutschkenntnisse.
Der BF hat die Neue Mittelschule (8. Schulstufe) im Schuljahr 2014/2015 mit ausgezeichnetem Erfolg absolviert. In der HTL war er aufgrund der Noten, insbesondere einem Nicht Genügend in Deutsch, im Schuljahr 2016/2017 (ua. 5 in Deutsch) nicht mehr zum Aufstieg in die nächste Schulstufe berechtigt. Weitere Kurse oder schulische Ausbildungen, wie oben bereits dargelegt, hat der BF seit seinem Schulabgang nicht nachweislich absolviert, obwohl ihm ein Wechsel in eine andere schulische Ausbildung oder Kursen jedenfalls auch ohne legalen Beschäftigungsnachweis in den letzten Jahren möglich gewesen wäre.
Die Mutter und Großmutter des BF sind nach Angaben des BF und der Lebensgefährtin des BF unrechtmäßig in Österreich aufhältig (OZ 39, S. 4 und S. 9). Die Mutter des BF hält sich unrechtmäßig im Bundesgebiet auf (vgl. Ra 2021/21/0196-16 und OZ 39, S. 4). Durch Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2021, GZ L518 1414130-3/7E wurde bereits festgestellt, dass die Großmutter sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
Der BF lebt seit 01.06.2023 in einer Lebensgemeinschaft mit einer ukrainischen Staatsangehörigen (OZ 39, S. 7). Anhand der nachträglichen Beweismittelvorlage des Mutter-Kind-Passes/Schwangerschaftsbestätigung vom 18.04.2024 erwartet die Lebensgefährtin ihr erstes Kind (OZ 41). Dabei gibt der BF an, dass er der Vater des Kindes sei (OZ 39, S. 4).
Der BF wird von der Lebensgefährtin mangels rechtmäßiger Beschäftigung finanziell unterstützt, und finanziert die Lebensgefährtin unter anderem die Fitnessstudiomitgliedschaft; ein anderweitig geartetes Abhängigkeitsverhältnis der Lebensgefährtin zum BF ist nicht ersichtlich (OZ 39, S. 5).
Die Lebensgefährtin des BF gibt bei ihrer zeugenschaftlichen Einvernahme in der gegenständlichen mündlichen Verhandlung an, dass es ihr möglich ist und sie gewillt ist, bei einer negativen Entscheidung des Verfahrens, mit dem BF nach Armenien auszureisen. Die Lebensgefährtin begleitet den BF zur apostolisch-armenischen Kirche und führt aus, dass sie über geringe armenische Sprachkenntnisse verfügt. Der Lebensgefährtin war der unrechtmäßige Aufenthalt des BF stets bewusst (OZ 39, S. 8).
Zum unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet und dem Entstehen eines Privat- und Familienlebens:
Hinsichtlich des konkreten Verhaltens des BF erblickt das erkennende Gericht, ein beharrliches Verweigern im Zuge der Vorverfahren und des gegenständlichen Verfahrens, die wahre Identität und Nationalität darzulegen und so die entscheidenden staatlichen Instanzen zu täuschen (vgl. Punkt II.2.2.). Die Täuschung über seine wahre Identität im Verfahren ist ihm ebenso, wie jeder strafmündigen Person nach dem österreichischem Recht, anzulasten, da schon mit Erreichen des Alters von 14 Jahren, einer Person vom Gesetzgeber zugetraut wird, die Folgen seiner Handlungen so weit zu überblicken, dass er bewusst Dritten schaden kann und infolgedessen auch ausgegangen wird, für Handlungen strafrechtliche (verwaltungsstrafrechtliche) Verantwortung zu übernehmen (z. B. § 10 BFA-VG, § 1 in Verbindung mit § 4 JGG, [§ 9 AVG in Verbindung mit] § 21, §§ 170 ff ABGB).
Feststeht, aufgrund der Identitätsfeststellung, dass der BF während des Ausgang seines Verfahrens gemäß § 55 AsylG und der rechtskräftigen Entscheidung zu L515 1414130 2/18E im Jahr 2015 bereits 18 Jahre alt und damit volljährig war.
Auch wenn dem BF tatsächlich die vorherige unbegründete Asylantragstellung sowie der unrechtmäßige Aufenthalt als Minderjähriger nicht im gleichen Ausmaß zugerechnet werden kann wie einem Erwachsenen, so ist dennoch festzuhalten, dass der BF im Zeitpunkt der Antragstellung 2009 12 Jahre alt und im Zeitpunkt der Abweisung des Asylantrages am 11.07.2011 14 Jahre alt war. Mit fortschreitender Verfahrensdauer und zugleich fortschreitendem Lebensalter des BF erscheint dies umso wahrscheinlicher, dass der BF ein gewisses Bewusstsein in Bezug auf seinen unsicheren Aufenthalt entwickelt haben wird, zumal das österreichische Recht durchaus Anhaltspunkte für eine Differenzierung innerhalb der Altersgruppe der Minderjährigen hinsichtlich der Rechte, Pflichten, Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten bietet (z. B. § 10 BFA-VG, § 1 in Verbindung mit § 4 JGG, [§ 9 AVG in Verbindung mit] § 21, §§ 170 ff ABGB).
Feststeht, dass der weitere Aufenthalt nach der rechtskräftigen Entscheidung im Jahr 2015 nicht rechtmäßig erfolgte und der unrechtmäßige Verbleib im Bundesgebiet dem BF voll zurechenbar ist. Dies war dem BF auch bewusst, wie sich aus seiner Aussage vor dem Bundesamt am 17.09.2018 zeigt. Damals gab der BF an, dass er gerade in Kenntnis der Ausreiseverpflichtung den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus den Gründen des Art. 8 EMRK gestellt habe. Die demnach danach bis zum Entscheidungszeitpunkt über ca. 8 Jahre nicht erfolgte Ausreise sowie die neuerliche Antragstellung gem. § 55 AsylG am 20.08.2019 - wiederum unter bewusster Angabe der falschen Identität – ist dem seit 07.06.2015 volljährigem BF damit voll vorwerfbar.
Soweit in der Beschwerde dazu ausgeführt wurde, dass diese Entscheidung dem BF und seiner Mutter nie zugegangen sei, ist anzumerken, dass es sich dabei um eine weitere Schutzbehauptung des BF und seiner Mutter handelt. Sie führten auch zur Wohnsitzauflage vom 21.06.2019 aus, dass ihnen diese nicht zugestellt worden sei, da sie damals umgezogen wären.
Die Behauptung, dass von ihnen regelmäßig alle Zustellungsmöglichkeiten betreffend die Bescheide zu ihren Anträgen nach § 55 AsylG kontrolliert worden sei, erscheint dem erkennenden Gericht nicht plausible, denn hätten sie eine entsprechende Sorgfalt walten lassen, so wäre ihnen weder die Wohnsitzbeschränkungen noch die Abweisung des Antrags des BF gemäß § 55 AsylG entgangen und hätten sie zu letzterem auch jedenfalls bei ihrer rechtsfreundlichen Vertretung nachfragen können. Dass sie dies nicht getan hätten erscheint dem erkennendem Gericht nicht nachvollziehbar, insbesondere, da ihnen die Säumnisbeschwerde zu ihren letzten Anträgen nach § 55 AsylG möglich war und ihnen ihre Rechte damit bekannt waren.
Die Ummeldungen lt. ZMR erfolgten am 22.07.2019 und wäre es ihnen bei tatsächlich bereits erfolgtem Umzug während des Zustellungsversuches eine Verletzung der Meldepflichten anzulasten, was umso schwerer wiegt, da ihnen das laufende Verfahren bekannt war.
Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang neuerlich, dass der BF und seine Mutter durchgängig von mit Asylverfahren vertrauten Organisationen betreut worden sind. Dem BF war demnach auch der rechtswidrige Aufenthalt bewusst.
Mit der amtswegigen Pflicht zur Sachverhaltsfeststellung korrespondiert die Pflicht der Parteien, an der Ermittlung des Sachverhaltes mitzuwirken. Die Offizialmaxime befreit die Parteien nicht davon, durch ein substantiiertes Vorbringen zur Ermittlung des Sachverhaltes beizutragen, wenn es einer solchen Mitwirkung bedarf; eine solche Mitwirkungspflicht ist dann anzunehmen, wenn der behördlichen Ermittlung faktische Grenzen gesetzt sind und die Behörde von sich aus nicht in der Lage ist, ohne Mitwirkung der Partei tätig zu werden (siehe die Nachweise bei Hengstschläger-Leeb, AVG § 39 Rz. 9 f; Erk. d. VwGH vom 24.4.2007,
Auf die Mitwirkung des Asylwerbers im Verfahren ist Bedacht zu nehmen (§ 15 AsylG 2005) und im Rahmen der Beweiswürdigung – und damit auch bei der Beurteilung der Glaubhaftmachung - zu berücksichtigen (Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005 Kommentar, S 385 mwN auf die Judikatur des VwGH). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279). Wenn Sachverhaltselemente im Ausland ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungspflicht und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, als die Pflicht der Behörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht der Partei in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihr, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhalte beizuschaffen (VwGH 12.07.1990, Zahl 89/16/0069).
Bei entsprechender Weigerung kann die Mitwirkung nicht erzwungen werden, es steht den Asylbehörden jedoch frei, diese Verweigerung der freien Beweiswürdigung zu unterziehen, hieraus entsprechende Schlüsse abzuleiten und die verweigerte Mitwirkung an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes damit auch bei der Beurteilung der Glaubhaftmachung -idR zum Nachteil der Partei- zu berücksichtigen (VwGH 26.2.2002, 2001/11/0220; Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Auflage, S 172; Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005 Kommentar, S 385 mwN auf die Judikatur des VwGH).
Hinsichtlich der persönlichen Unglaubwürdigkeit des BF ist anzuführen, dass es in notorischer Weise bekannt ist, dass Antragsteller geneigt sind, ihre persönliche Rückkehrbefürchtung nicht den realen Tatsachen entsprechend darzustellen. Dass es der allgemeinen Lebenserfahrung nach auch oftmals im Wunsch der Erlangung eines Aufenthaltsrechtes und/oder wirtschaftlichen Verbesserung begründet liegt, Falschaussagen im Verfahren zur Erlangung eines Aufenthaltstitels zu tätigen, resultiert daraus, da in gewissen Konstellationen mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen im Rahmen einer legalen Zuwanderung der gewünschte Aufenthaltstitel nicht erlangt werden kann.
Umgelegt auf den konkreten Fall bedeutet dies, dass der BF seiner Obliegenheit zur Mitwirkung im vollen Bewusstsein nicht nachgekommen ist, indem er vorhandenen Identitätsnachweise nicht vorlegte:
Zur Unglaubwürdigkeit des BF sei auf seine Angaben zuletzt hinzuweisen, Anschreiben betreffend die Mitwirkung zu Erlangung eines Identitätsnachweises an die Botschaft, welche dem erkennenden Gericht im Zuge der Verhandlung vom 01.03.2021 vorgelegt wurden, gerichtet zu haben. Diese Angaben erweisen sich aufgrund des Reuegeständnisses als bewusste Täuschungshandlungen und der bewussten Verletzung seiner Mitwirkungspflicht im Zuge des Verfahrens. Insbesondere diente dieses Beweismittel, dessen Inhalt nicht den Tatsachen entspricht dazu, die wahre Identität des BF weiter zu verschleiern.
Resümierend ist festzuhalten, dass der relevante Aufenthalt von 15 Jahren des BF damit aus der unbegründeten Asylantragstellung von ihm und seiner Mutter, dem unrechtmäßigen Aufenthalt seither im Bundesgebiet und der Stellung mehrerer Anträge gem. § 55 AsylG, welche alle negativ entschieden wurden, resultiert. Aufgrund der Identitätsfeststellung ergibt sich zum heutigen Entscheidungszeitpunkt, dass der BF bereits im Verfahren zu L515 1414130 2/18E volljährig war. Voll vorwerfbar ist ihm jedenfalls der jahrelange unrechtmäßige Aufenthalt seit dem rechtskräftigen Erkenntnis vom 18.12.2015 sowie das Nichtnachkommen der Verpflichtung zur freiwilligen Ausreise, seiner missbräuchlichen Stellungen des gegenständlichen Antrages, welcher ihm, aufgrund seiner Volljährigkeit bei Antragsstellung und seinem mangelnden wahrheitsgemäßes Mitwirken am Verfahren auch voll vorwerfbar ist.
Die zum Großteil unrechtmäßige und lange Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet resultiert damit aus dem vom BF rückführbaren, eigenen, rechtsmissbräuchlichen Verhalten.
II.2.8. Betreffend seiner persönlichen Sicherheit im Herkunftsstaat:
In der gegenständlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung führt der BF an, bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Angst zu haben, sein Leben in Armenien zu verlieren, da in dem Land ständig Krieg herrscht und 2016 und 2019 Armenien vom Krieg betroffen gewesen ist (OZ 39, S. 6). Diesbezüglich äußert der BF in der gegenständlichen mündlichen Verhandlung allerdings, es bisher nicht in Erwägung gezogen zu haben, sich vom Militärdienst in Armenien freizukaufen oder einen Ersatzdienst zu leisten (OZ 39, S. 9). Für das erkennende Gericht erschließt sich aus den Angaben des BF, wie bereits unter Punkt II.2.2. festgehalten, dass der BF keine Bereitschaft zeigt, sich mit detaillierten Informationen betreffend die Wehrpflicht im Herkunftsstaat auseinanderzusetzten und an der daran gekoppelten Erlangung eines Identitätsdokuments mitzuwirken, sondern lediglich auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels zuwartet, um einer Abschiebung nach Armenien entgegenzuwirken.
Wie unter Punkt II.2.7. dargelegt, erweist sich auch dieses Vorbringen, im Herkunftsstaat um sein Leben zu fürchten, als unglaubwürdig, zumal die vorliegenden Länderfeststellungen eine andere Sachlage betreffend die Konfliktsituation im Herkunftsstaat bezüglich der Wehrpflicht und dem Einsatz von Rekruten untermauern:
Aus den vorliegenden Länderberichten ergibt sich nicht stichhaltig, dass der BF selbst bei Ableistung des Wehrdienstes an der Front bzw. in der Konfliktregion Berg-Karabach herangezogen werden würde: Im Generellen erschließt sich aus den Länderfeststellungen der Staatendokumentation zu Armenien, dass derzeit die Behörden der nicht anerkannten Republik Berg-Karabach bekannt gaben, dass sie eine Einigung über einen vollständigen Waffenstillstand in der Region erzielt hätten. Durch Vermittlung der dort stationierten russischen Truppen wurde vereinbart, dass das armenische Militär aus dem Einsatzgebiet des russischen Friedenskontingents abgezogen und die Formationen der „Verteidigungsarmee von Berg-Karabach“ aufgelöst und vollständig entwaffnet werden. Auch schwere militärische Ausrüstung und Waffen sollen aus dem Gebiet abgezogen werden (DW 21.9.2023). Am 21.09.2023 wurde die Auflösung der selbst ernannten Republik Berg-Karabach, die nahezu ausschließlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt war, zum 01.01.2024 angekündigt.
Ein Zwang zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kann ebenfalls nicht erkannt werden, zumal den zum Wehrdienst in Armenien und zur allgemeinen politischen Lage vorliegenden Berichten keine Hinweise dahingehend entnommen werden konnten, dass in Armenien derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden würde. Laut vorliegenden Länderfeststellungen ist zwei Wochen nach dem Großangriff Aserbaidschans auf Bergkarabach eine UN-Mission in der Kaukasusregion eingetroffen (S. 4f).
Insgesamt erblickt das erkennende Gericht demnach die Republik Armenien als sicheren Herkunftsstaat im Sinne des § 19 BFA-VG und ist daher von der normativen Vergewisserung der Sicherheit Armeniens auszugehen ist.
Ergänzend sei noch angeführt, dass für den BF im Lichte der oben angeführten Länderfeststellungen der Staatendokumentation zu Armenien (S. 19ff), im Herkunftsstaat die Möglichkeit besteht einen militärischen oder zivilen Ersatzdienst zu leisten. Dabei gliedert sich der Ersatzdienst im Herkunftsstaat in einen alternativen Wehrdienst innerhalb der Streitkräfte oder einen alternativen Arbeitsdienst außerhalb der Streitkräfte. Berechtigt zum Ableisten eines alternativen Dienstes sind demnach auch jene, die entweder körperlichen Einschränkungen (Tragen, Halten, Aufbewahrung und Nutzung von Waffen) vorweisen oder aus Gewissensgründen der Wehrpflicht widersprechen. Zu Fällen von Misshandlungen von Ersatzdienstleistenden durch Vorgesetzte liegen keine Erkenntnisse vor.
Das erkennende Gericht erachtet das Vorbringen des BF insgesamt als nicht glaubhaft und erblickt keine konkrete Gefährdungslage, dass der BF bei einer Rückkehr einen Wehrdienst an den Frontlinien in Armenien oder einer Bestrafung oder Verfolgung aufgrund des bisherigen Nichtableistens des Wehrdienstes seitens staatlicher oder ziviler Akteure im Herkunftsstaat unterliegt, da ihm die Möglichkeit zur Ableistung eines Ersatzdienstes offensteht.
Im Lichte der vorliegenden Länderfeststellungen kann insgesamt vom Bundesverwaltungsgericht keine konkrete Gefährdung des BF im Herkunftsstaat erkannt werden.
In Bezug auf den festgestellten Herkunftsstaat Armenien hat der BF keine weitere entscheidungsrelevante Problemlage geäußert und ergibt sich eine solche auch nicht aus der aktuellen Berichtslage zu Armenien.
II.2.9. Betreffend der aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft) im Herkunftsstaat:
Der BF hat im gesamten Verfahren und in der zuletzt am 10.04.2024 durchgeführten mündlichen Verhandlung nicht in konkreter Weise dargelegt, dass er im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat der realen Gefahr einer existentiellen Notlage ausgesetzt wäre.
Beim volljährigen BF handelt es sich um einen jungen, gesunden, arbeitsfähigen Mann. Der BF stammt aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist. Er gehört keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellen als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Betreffend die vom BF abzuleistende Wehrverpflichtung im Herkunftsstaat ist anzumerken, dass Armenien mit dem Programm „Jawohl“ es den Rekruten ermöglicht, einen flexiblen Wehrdienst von insgesamt drei Jahren mit mehrmonatigen Unterbrechungen zu leisten. Im Anschluss erhalten die Wehrpflichtigen ca. 9.000,- Euro für eine Existenzgründung sowie einen Wohnungskredit. Die Regelung ist seit Dezember 2017 in Kraft (Länderfeststellungen der Staatendokumentation Armenien, S. 15).
Festzuhalten bleibt, dass selbst beim Ableisten des Wehrdienstes der BF der Gefahr einer existentiellen Notlage nicht ausgesetzt ist und erhält er auch aufgrund diverser Modalitäten betreffend den Wehr- oder Wehrersatzdienst, staatliche Unterstützung, um sein Fortkommen im Herkunftsstaat zu sichern.
Aufgrund der oben dargelegten Erwägungen zur sozioökonomischen Lage kann schließlich nicht die reale Gefahr erkannt werden, dass der BF im Rückkehrfall von einer unzureichenden Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern oder von Unterernährung betroffen wäre. Hinweise auf Versorgungsengpässe bzw. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern liegen ausweislich der Feststellungen nicht vor.
II.2.10. Zur abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen - sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges - handelt, welche es ermöglichen, sich ein umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Die getroffenen Feststellungen ergeben sich durch eine ausgewogene Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen ausreichende Aktualität zu.
Der BF trat auch den Quellen und deren Kernaussagen nicht konkret und substantiiert entgegen und wird neuerlich darauf hingewiesen, dass die Republik Österreich die Republik Armenien als sicheren Herkunftsstaat im Sinne des § 19 BFA-VG betrachtet und daher von der normativen Vergewisserung der Sicherheit Armeniens auszugehen ist.
3. Rechtliche Beurteilung
II.3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter, Anzuwendendes Verfahrensrecht, Sicherer Herkunftsstaat
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.
Dass Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idgF geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, es den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Ad A)
II.3.2. Zur Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:
II.3.2.1. Gesetzliche Grundlagen:
Die maßgeblichen Bestimmungen des AsylG 2005 lauten wie folgt:
§ 10. AsylG 2005 Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme:
(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.
§ 55 AsylG 2005 Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK:(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.
§ 58 AsylG 2005, Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln:
(1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,
4. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder
5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
(2) Das Bundesamt hat einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde. § 73 AVG gilt.
(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Abs. 3) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Abs. 11 gilt.
(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.
(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Abs. 11 gilt.
(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,
2. bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder
3. gemäß § 95 FPG über einen Lichtbildausweis für Träger von Privilegien und Immunitäten verfügt oder gemäß § 24 FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist
soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.
(10) Anträge gemäß § 55 sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art. 8 EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß §§ 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist
1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder
2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.
Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.
(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.
(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn
1. ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß § 56 eingeleitet wurde und
2. die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Z 1, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben.
§ 9 BFA-VG, Schutz des Privat- und Familienlebens:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.
Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
§ 52 FPG, Rückkehrentscheidung:
(1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre,
1a. nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß § 31 Abs. 1 wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist,
2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Liegt ein Fall des § 55a vor, so wird die Rückkehrentscheidung mit dem Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise durchsetzbar. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.
§ 55 FPG, Frist für die freiwillige Ausreise
(1 ) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
II.3.2.2. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG sowie gem. § 52 Abs. 3 FPG ist die Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55-57 mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden.
Es liegen im Lichte des Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise vor, dass dem BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargetan.
Das Bundesamt erteilte dem BF zurecht kein Aufenthaltsrecht gem. § 57 AsylG, zumal der Aufenthalt der BF nicht gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, dies nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel erforderlich ist und der BF auch nicht Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der BF auch nicht glaubhaft machte, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
II.3.2.3. Die Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann einen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Vom Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. (vgl. dazu EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981, 118; EKMR 14.3.1980, 8986/80, EuGRZ 1982, 311; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK- Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayr, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1, ebenso VwGH vom 26.1.2006, 2002/20/0423).
Bei dem Begriff „Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK“ handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Nicht näher substantiierte – bloße – Behauptungen können keine maßgebliche Verstärkung der Interessen des Fremden dartun (vgl. etwa VwGH 24.9.2009, 2009/18/0294).
II.3.2.4. Basierend auf den getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung einen Eingriff in das Recht auf das Privat- und Familienleben darstellt.
Da die Rückkehrentscheidung einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt, bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen an einem Verbleib mit den öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendung, somit, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Im vorliegenden Fall ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Art 8 Abs 2 EMRK legitime Ziele, nämlich
• die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist;
• das wirtschaftliche Wohl des Landes;
Es besteht ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Das verlangt von Fremden grundsätzlich, dass sie nach negativer Erledigung ihres Antrags auf internationalen Schutz das Bundesgebiet wieder verlassen (VwGH 26.04.2018, Ra 2018/21/0062).
Der BF tätigte im Verfahren unrichtige Identitätsangaben gegenüber Behördenorganen. Dies beeinträchtigt das Interesse an einem geordneten Fremdenwesen erheblich und damit auch die öffentlichen Interessen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (VwGH 05.07.2011, 2008/21/0384).
II.3.2.5. Im Einzelnen ergibt sich unter zentraler Beachtung der in § 9 Abs 2 Z 1-9 BFA-VG genannten Determinanten Folgendes:
- Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war:
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessensabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff).
Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer eines Fremden in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 03.12.2019, Ra 2019/18/0471, mwN), wobei nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes selbst die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor dem Hintergrund einer Aufenthaltsdauer von knapp vier Jahren keine "außergewöhnliche Integration" darstellt (vgl. VwGH 18.09.2019, Ra 2019/18/0212).
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und grundsätzlich nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig anzusehen (vgl. VwGH 17.09.2021, Ra 2020/19/0420, mwN). Von der in diesem Zusammenhang vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Judikatur, die bei einem über zehnjährigen Aufenthalt (sofern diese Dauer nicht durch gewisse Umstände relativiert wird) regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich ausgeht, befindet sich der BF seit seiner unrechtmäßigen Einreise zum Entscheidungszeitpunkt seit ca. 15 Jahren im Bundesgebiet. Die Aufenthaltsdauer von ca. 15 Jahren des BF ist sohin als erheblich lange zu bewerten. Jedoch kann aufgrund weiterer Determinanten nicht von einem Überwiegen am Verbleib in Österreich automatisch ausgegangen werden.
Wie dargelegt ist der BF seit 2009 in Österreich durchgehend aufhältig. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und konnte seinen Aufenthalt lediglich durch die Stellung eines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz vorübergehend legalisieren. Der weitere relevante Aufenthalt, nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens, von 12 Jahren, resultiert aus rechtsmissbräuchlichen Antragstellungen gem. § 55 AsylG, dem jahrelangen unrechtmäßigen Aufenthalt durch das Nichtnachkommen der Verpflichtung zur freiwilligen Ausreise des BF, sowie der beharrlichen Weigerung, seine wahre Identität in den Verfahren darzulegen und damit die entscheidenden staatlichen Instanzen über seine Identität zu täuschen. Die Verschleierung der Identität verfolgte gerade den Zweck den Aufenthalt in Österreich, wenn auch rechtswidrig möglichst lange zu gestalten.
Es kam nicht hervor, dass der BF zu irgendeinem Zeitpunkt seit der rechtskräftigen Entscheidung des Asylgerichtshofes im Beschwerdeweg (jeweils) mit Erkenntnis vom 21. Juni 2011 über einen anderen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt hätte.
Im Rahmen der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass es im Sinne des § 9 Abs 2 Z 8 BFA-VG (dazu vgl. fortführende Ausführungen) grds. maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich (spätestens nach Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz durch das Bundesamt) der BF seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH 10.04.2017, Ra 2016/01/0175). Daran kann auch eine allenfalls lange Dauer eines Rechtsmittelverfahrens, mag den Fremden daran auch kein Verschulden treffen, nichts ändern (VwGH 15.03.2018, Ra 2018/21/0034).
Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013; vgl. zum unsicheren Aufenthaltsstatus auch die Entscheidungen des VwGH vom 27.6.2019, Ra 2019/14/0142, vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0015, vom 06.05.2020, Ra 2020/20/0093 vom 27.02.2020, Ra 2019/01/0471 und VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0428).
Der BF ist 15 Jahre, davon rechtswidrig ca. 12 Jahre, im Bundesgebiet aufhältig. Wäre er seiner Ausreiseverpflichtung nachgekommen, würde er sich nicht mehr im Bundesgebiet seit Beendigung seines Asylverfahrens letztlich vom Asylgerichtshof im Beschwerdeweg mit Erkenntnis vom 21.06.2011 aufhalten. Die Schutzwürdigkeit des Privat- und Familienlebens des BF ist dadurch als deutlich gemindert anzusehen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/21/0180), zumal der Aufenthalt des BF auch nicht geduldet war.
Bei der Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden zu einem Zeitpunkt entstand, zu dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass Kindern ihr fremdenrechtliches Fehlverhalten zwar nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Es schlägt aber auf die Kinder durch, wenn die Eltern die während des Aufenthalts erlangten Gesichtspunkte der Integration in einem Zeitraum erworben haben, als sie sich der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst waren, sie also nicht mit einem dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet rechnen durften, was spätestens mit der erstinstanzlichen Abweisung ihrer Asylanträge der Fall ist; vgl. mwN VwGH 20.03.2012, 2010/21/0471.
In seiner Entscheidung vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0065, sprach der Verwaltungsgerichtshof unter Verweis auf VfGH 07.10.2014, U 2459/2012, hingegen aus, dass einem im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern eingereisten Minderjährigen ein fremdenrechtliches Fehlverhalten (Erzwingung eines längerfristigen Aufenthalts durch Stellung unbegründeter Anträge auf internationalen Schutz) nicht in dem Maß angelastet werden kann wie den Eltern. Indem der Verwaltungsgerichtshof entschied, dass minderjährigen Fremden ein fremdenrechtliches Fehlverhalten nicht in dem Maß angelastet werden wie den Eltern, setzte er voraus, dass dem Grunde nach auch minderjährigen Kindern ein fremdenrechtliches Fehlverhalten sehr wohl angelastet, das heißt: vorgeworfen (https://www.duden.de/rechtschreibung/anlasten [02.06.2020], werden kann. Ob diese Rechtsprechung nur für Fälle, in denen mehrere Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, also mindestens auch ein Folgeantrag, gilt, ist nicht ersichtlich. Jedenfalls kommt dem Umstand des Entstehens des schützenswerten Privatlebens während unsicheren Aufenthalts bei Minderjährigen, die ihre Eltern nach Österreich begleitet haben, nicht der gleiche Stellenwert zu wie bei den Eltern; vgl. auch VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251.
Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2011, mit der es über die Beschwerde der Mutter des BF absprach, musste der Mutter, die zeitgleich mit dem BF einreiste und einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, von Anfang an bewusst sein, dass sie sich überhaupt nur deshalb im Bundesgebiet aufhalten durfte bzw. darf, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, und dass ihr Aufenthalt für den Fall der Abweisung dieses Antrags nur von vorübergehender Dauer sein kann. Vgl. auch mwN VwGH 12.09.2012, 2011/23/0201: Demnach muss ein Fremder spätestens nach der erstinstanzlichen Abweisung des Asylantrags im Hinblick auf die negative behördliche Entscheidung des Antrags von einem nicht gesicherten Aufenthalt ausgehen.
Im Hinblick darauf, dass aus VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0065, folgt, dass durchaus auch Minderjährigen ein fremdenrechtliches Fehlverhalten angelastet werden kann, merkt das Bundesverwaltungsgericht an: Wenngleich es (im gegebenen Fall) für die Frage der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung keineswegs darauf ankommt, ist gegenständlich nicht schlechthin ausgeschlossen, dass auch der BF selbst – auch unter Berücksichtigung seines Alters von ca. 12 Jahren zum Zeitpunkt der Antragstellung – zumindest im Ansatz bewusst gewesen sein könnte, dass er sich nur deshalb im Bundesgebiet aufhalten durfte bzw. darf, weil er und seine Mutter je einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatten, und dass sein Aufenthalt für den Fall der Abweisung dieser Anträge nur von vorübergehender Dauer sein kann. In diesem Zusammenhang sind nämlich die von der Mutter geschilderten Umstände, unter denen sie und der BF (sowie der Onkel) im Jahr 2002 Armenien verließen, 2009 nach Österreich kamen und hier Anträge auf internationalen Schutz stellten zu berücksichtigen, dass die Mutter des BF einen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz gestellt und als gesetzliche Vertreterin in der behördlichen Einvernahme ausdrücklich verneint hatte, dass der BF eigene Fluchtgründe habe. Mit fortschreitender Verfahrensdauer und zugleich fortschreitendem Lebensalter des BF erscheint dies umso wahrscheinlicher, dass der BF ein gewisses Bewusstsein in Bezug auf seinen unsicheren Aufenthalt entwickelt haben wird, zumal das österreichische Recht durchaus Anhaltspunkte für eine Differenzierung innerhalb der Altersgruppe der Minderjährigen hinsichtlich der Rechte, Pflichten, Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten bietet (z. B. § 10 BFA-VG, § 1 in Verbindung mit § 4 JGG, [§ 9 AVG in Verbindung mit] § 21, §§ 170 ff ABGB) und hinsichtlich der Identitätsverschleierung das Bundesverwaltungsgericht auf seine bisherigen Ausführungen verweist, das dem BF zumindest ab dem 14 Lebensjahr vorgeworfen werden kann, dass er im Zuge der weiteren Asyl- und Antragsverfahren seine wahre Identität hätte offenlegen können, da ihm das Bewusstsein, einem Dritten durch wahrheitswidrige Angaben zu schädigen, auch vom Gesetzgeber angemaßt wird.
Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet ist seit 21.06.2011, sohin seit 13 Jahren rechtswidrig. Der BF verfügt über keine Aufenthaltsberechtigung oder Niederlassungsbewilligung. Gemäß § 58 Abs. 13 AsylG 2005 und § 16 Abs. 5 BFA-VG begründen weder die Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG, noch die Erhebung der gegenständlichen Beschwerde ein Aufenthalts- oder Bleiberecht in Österreich. Der Aufenthalt des BF basierte bisher zudem nur auf einem unbegründeten Asylverfahren. Wie beweiswürdigend dargelegt, ist dem BF schon seit dem Erkenntnis vom 18.12.2015 der unrechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet vorwerfbar.
- Tatsächliches Bestehen eines Familienlebens:
Hinsichtlich der Großmutter des BF und der Mutter des BF ist, wie beweiswürdigend unter Punkt II.2.7. dargelegt, festzuhalten, dass diese sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Zum Familienleben mit der Mutter hält das Bundesverwaltungsgericht auch an dieser Stelle fest, dass die Mutter im gleichen Maße wie der BF von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffen ist. Ein schützenswertes Familienleben zu diesen wurde demnach in der gegenständlichen mündlichen Verhandlung weder vorgebracht, noch kann davon ausgegangen werden, dass diese in Österreich weiterhin unrechtmäßig verbleiben, wenn BF nach Armenien zurückkehrt.
Gegenständlich lebt der BF seit 01.06.2023 in einer Lebensgemeinschaft mit einer ukrainischen Staatangehörigen und erwartet die Lebensgefährtin ein Kind. Demnach ist eine Beurteilung der Auswirkungen der Entscheidung in Bezug auf ein im Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses noch ungeborenes Kind bzw auf dessen Kindeswohl vorzunehmen (VwGH 07.03.2019, Ra 2018/21/0141; VwGH 19.04.2023, Ra 2022/17/0232; vgl zuletzt VwGH 28.11.2023, Ra 2022/22/0043).
Eine Rückkehrentscheidung würde einen Eingriff in das Familienleben des BF darstellen und ist die Auswirkung der Erlassung einer gegen den BF gerichteten Rückkehrentscheidung, in Anbetracht der Beziehungs- und Betreuungsintensität, auf das Wohl des ungeborenen Kindes zu prüfen.
- Zur Schutzwürdigkeit des Privat- und Familienlebens / Die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstaates bewusst waren:
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B8986/80, EuGRZ 1982, 311), zwischen Eltern und erwachsenen Kindern und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1).
In Bezug auf die seit Juni 2023 bestehenden Lebensgemeinschaft des BF mit seiner Partnerin, welche eine ukrainische Staatsangehörige ist und der zukünftigen Geburt des gemeinsamen Kindes, ist zunächst festzuhalten, dass bei der Gewichtung der für den Fremden sprechenden Umstände, wie bereits oben dargelegt, im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend einbezogen werden darf, dass sich der BF seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste, und daher umso mehr für eine in einer solchen Situation begründete Lebensgemeinschaft (vgl. VwGH 5.8.2020, Ra 2020/14/0199, mwN). Nach der Rechtsprechung des EGMR kann sich ein Beschwerdeführer im Kontext des Art. 8 MRK nicht auf eine Beziehung zu einer neuen Freundin und die Geburt eines Kindes aus dieser Beziehung berufen, wenn sie zu einem Zeitpunkt zustande kam, als der Aufenthalt unsicher war (vgl. VwGH 31.01.2022, Ra 2021/20/0486, mwN und Verweis auf EGMR 16.4.2013, Udeh/Schweiz, 12020/09, Z 50). Vor dem Hintergrund, dass dem BF – abgesehen von seiner temporären Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber – zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zukam, durften weder der BF noch in gleicher Weise die Lebensgefährtin je darauf vertrauen, ihr schützenswertes Familienleben gemeinsam in Österreich fortsetzen zu können. Der seitens des Verwaltungsgerichtshofes in ständiger Rechtsprechung ins Treffen geführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 MRK nicht akzeptiert werden, dass ein Fremder mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 29.06.2022, Ra 2021/20/0403, mwN), trifft insoweit auch auf den vorliegenden Beschwerdefall zu und erweist sich die Schutzwürdigkeit des Familienlebens des BF mit der Lebensgefährtin und der Geburt des gemeinsamen Kindes insoweit als maßgeblich gemindert. Die wesentlichen familiären Anknüpfungspunkte wurden danach begründet. Spätestens mit Erkenntnis vom 18.12.2015, war dem BF der unrechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet, vor allem aufgrund seiner Volljährigkeit zum Entscheidungszeitpunkt und der damit vorwerfbaren Identitätsverschleierung in den Verfahren, zum Zeitpunkt der Zeugung des Kindes bewusst.
Dass seine Lebensgefährtin auf eine besondere Unterstützung des BF während der Schwangerschaft angewiesen sei, kam im Verfahren nicht hervor. Die Intensität des Familienlebens zwischen dem BF, seiner Lebensgefährtin und der Geburt des Kindes wird darüber hinaus erheblich abgeschwächt, angesichts dessen, dass der BF in Österreich auch zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nachging und kein finanzielles oder anderweitig geartetes Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Lebensgefährtin und dem BF für die zukünftige Betreuung des Kindes sohin besteht.
Hinsichtlich der zukünftigen Geburt des Kindes der Lebensgefährtin ist zunächst zu berücksichtigen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt entsteht und diese besonders geschützte Verbindung in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden kann. Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0105, mwN und Verweisen auf die Judikatur des VfGH und des EGMR).
Überdies hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) kürzlich festgehalten, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben (vgl. EuGH 11.03.2021, Rs C-112/20).
Art. 24 Abs. 2 GRC (der Art. 1 Satz 2 BVG über die Rechte von Kindern entspricht) normiert, dass das Kindeswohl bei allen Kindern betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen eine vorrangige Erwägung sein muss. Eine absolute Priorisierung ist damit gleichwohl nicht gefordert; im Einzelfall kann die volle Entfaltung auch zugunsten der (höheren) Schutzwürdigkeit anderer Interessen zurücktreten (vgl. Fuchs ins Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar (2014) Art. 24 Rz. 33). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Auswirkungen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf das Kindeswohl zu bedenken und müssen bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 MRK bzw. § 9 BFA-VG hinreichend berücksichtigt werden. Dies gilt auch dann, wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um die Minderjährigen selbst, sondern - wie hier - um ihren Vater handelt (vgl. VwGH 03.12.2021, Ra 2021/18/0299, mwN und Verweis auf EuGH 11.3.2021, C-112/20, Rs. M.A.).
Wie dargelegt, geht der BF keiner legalen Beschäftigung nach und kann der BF zukünftig die Familie nicht in finanzieller Hinsicht bei deren täglicher Versorgung unterstützen. Die Lebensgefährtin trug bisher offenkundig alleine die finanzielle Komponente. Der BF leistete in finanzieller Hinsicht keinen Beitrag zum Haushaltseinkommen. Anzumerken ist, wie bereits beweiswürdigend ausgeführt, dass der BF finanziell von seiner Verlobten unterstützt wird und er sich unter anderem die Fitnessstudiomitgliedschaft von ihr bezahlen lässt; ein anderweitig geartetes Abhängigkeitsverhältnis der Lebensgefährtin zum BF ist nicht ersichtlich. Bei einer Übersiedelung des BF nach Armenien, wäre die Betreuung, in Österreich durch die Kindesmutter weiterhin sichergestellt. Somit liegen fallgegenständlich auch keine außergewöhnlichen Umstände vor, aufgrund derer das Kind in Zukunft im Falle ihrer Abschiebung "de facto gezwungen" wäre, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen (vgl. VwGH 03.12.2021, Ra 2021/18/0299, mwN und Verweis auf EuGH 08.05.2018, C-82/16, Rs. K.A. u.a.).
Anzumerken ist, dass es dem BF nicht verwehrt ist, bei der Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG, wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (so auch VfSlg. 19.086/2010 unter Hinweis auf Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 861). Eine Trennung des BF von seiner Lebensgefährtin und dem zu erwartenden Kind, ist auch bei entsprechender Berücksichtigung des Kindeswohles, nach Ansicht des BVwG für die Dauer des ordentlichen Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels sehr wohl zumutbar, da es dem BF in Zukunft möglich und zumutbar ist, die Beziehung zu seinem Kind und seiner Lebensgefährtin durch Treffen in Armenien oder Drittstaaten fortzuführen. Schließlich kamen aus den vorliegenden Länderfeststellungen keine Hinweise auf eine Unmöglichkeit von Besuchen in der Herkunftsregion des BF in Armenien hervor. Soweit in diesem Zeitraum ein persönlicher Kontakt zwischen dem BF und seiner Lebensgefährtin, sowie des gemeinsamen Kindes, nur eingeschränkt möglich sein wird, ist festzuhalten, dass dieser zwischenzeitig (hinsichtlich der Lebensgefährtin) im Wege moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden kann. Verkannt wird dabei nicht, dass nach Rechtsprechung des VfGH es als lebensfremd anzunehmen ist, dass der Kontakt zwischen Kleinkindern, und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könnte (vgl. VfGH 14.06.2022, E2681/2021). Gegenständlich wird im Lichte dieser Judikatur berücksichtigt, dass ein einstweiliges Kontakthalten aufgrund des Alters des noch ungeborenen Kindes im Wege moderner Kommunikationsmittel nicht möglich sein wird, doch ist dies hinsichtlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Interessen zur Vollziehung des Fremdenrechts und der höchstgerichtlichen Judikatur, wonach sich der BF nicht auf eine Lebensgemeinschaft zu einer im Bundesgebiet aufhältigen Partnerin und der Geburt eines Kindes aus dieser Beziehung berufen kann, wenn sie zu einem Zeitpunkt zustande kam, als der Aufenthalt unsicher war, geboten. Es erscheint aufgrund all der soeben dargelegten Aspekte in Zusammenschau mit dem Umstand, dass sich das ungeborene Kind unstreitig, nach der Geburt, noch in einem anpassungsfähigen Alter befindet und in Ansehung seines Lebensalters eines Säuglings von bislang ohnedies nur eingeschränkt wahrnehmungsfähig ist, eine das Kindeswohl beeinträchtigende Umsiedelung des Vaters nach Armenien unter zentraler Berücksichtigung des Kindeswohls zumutbar. Dass der Kontakt zwischen dem BF und der Lebensgefährtin als Kindesmutter zumindest temporär weiterhin über moderne Kommunikationsmittel oder allenfalls über Besuchsaufenthalte der Lebensgefährtin mit dem gemeinsamen Kind in Drittstaaten oder in Armenien aufrechterhalten wird, ist für den BF möglich und zumutbar, zumal es dem BF wie bereits dargelegt naturgemäß jederzeit offensteht, wieder nach Österreich zurückzukehren und sich auf legalem Wege um ein Aufenthaltsrecht für Österreich zu bemühen. Die mit der Rückkehrentscheidung bewirkte (vorübergehende) Trennung erweist sich daher als zumutbar und ist daher nicht geeignet, eine Verletzung des Kindeswohls zu bewirken, schließlich ist im gesamten Verfahren nicht zu erkennen, dass die Rückkehrentscheidung einen tatsächlichen Abbruch eines bestehenden Kontaktes bewirken würde bzw. eine Beschränkung des künftigen Kontaktes mit negativen Auswirkungen auf das Wohl des ungeborenen Kindes einhergehen würde.
Unabhängig von den bereits dargelegten Aspekten gab die Lebensgefährtin in der gegenständlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung indes an (vgl. Punkt II.2.7.), bei einer negativen Entscheidung des BF, gewillt zu sein, mit ihrem Lebenspartner nach Armenien zu übersiedeln.
Hinsichtlich des Freundeskreises des BF ist weiters festzuhalten, dass der BF nicht gezwungen ist, nach einer Ausreise allenfalls bestehende Bindungen zur Gänze abzubrechen. So stünde es ihm frei, diese durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten (vgl. Peter Chvosta: „Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK“, ÖJZ 2007/74 mwN).
Keinesfalls entspricht es der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Systematik, dass das Knüpfen von privaten bzw. familiären Anknüpfungspunkten nach rechtswidriger Einreise oder während eines auf einen unbegründeten Antrag fußenden Asylverfahrens im Rahmen eines Automatismus zur Erteilung eines Aufenthaltstitels führen. Dies kann nur ausnahmsweise in Einzelfällten, beim Vorliegen eines besonders qualifizierten Sachverhalts der Fall sein, welcher hier bei weitem nicht vorliegt (vgl. hier etwa Erk. d. VfGH U 485/2012 15 vom 12.06.2013).
- Grad der Integration:
Zu prüfen ist darüber hinaus ein etwaiger weiterer Eingriff in das Privatleben des BF. Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EGMR 16.06.2006, Sisojeva u.a. gegen Lettland, EuGRZ 2006, 554).
Wie bereits dargelegt ist im Rahmen einer Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden in der Regel von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen (vgl. VwGH 01.02.2019, Ra 2019/01/0027, mwN).
Ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale können nach dem Erkenntnis des VwGH vom 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden. Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung (vgl. E 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165; E 10. November 2015, Ro 2015/19/0001; B 3. September 2015,
Ra 2015/21/0121; B 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften (zB AuslBG, E 16. Oktober 2012, 2012/18/0062; B 25. April 2014, Ro 2014/21/0054), eine zweifache Asylantragstellung (vgl. B 20. Juli 2016, Ra 2016/22/0039; E 26. März 2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082), unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (vgl. E 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253; E 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165), sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. E 31. Jänner 2013, 2012/23/0006).
Der BF hält sich nun bereits ca. 15 Jahre im Bundesgebiet auf, davon hielt er sich insgesamt nur rund 3 Jahre rechtmäßig während des Erstverfahrens als vorläufig aufenthaltsberechtigter Asylwerber, insgesamt aber seit Juni 2011 (ca. 12 Jahre) unrechtmäßig im Bundesgebiet auf, somit die überwiegende Zeit.
Während dieser Zeit hat der BF wiederholt eine ehrenamtliche Beschäftigung bei einem Schlüsseldienst und in der apostolisch-armenischen JHU Gemeinde ausgeübt. Er bringt vor, bislang Deutschkenntnisse im Zuge seiner schulischen Ausbildung (Mittelschule positiv absolviert) erlangt zu haben und zahlreiche soziale Kontakte in Österreich geknüpft zu haben. Letzteres ergibt sich durch Empfehlungsschreiben Dritter.
Dieser Umstand stellt angesichts eines mehrjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet und der Schulbesuche im Bundesgebiet während seines unsicheren Aufenthaltes keine außergewöhnliche Integration dar. Der Schulbesuch ist jedenfalls als Aspekt des Privatlebens iSd Art. 8 EMRK zu werten, allerdings ist dahingehend festzuhalten, dass der Schulbesuch die Erfüllung einer durchsetzbaren gesetzlichen Verpflichtung darstellen, welcher im Rahmen der Interessensabwägung nur sehr untergeordnete Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 26.9.2007 2006/21/0288 mwN).
Mit Erkenntnis vom 21.06.2011 wurden vom Asylgerichtshof im Beschwerdeweg die Anträge auf internationalen Schutz – in Verbindung mit einer Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien – rechtskräftig abgewiesen. Die Familie des BF verblieb danach unrechtmäßig in Österreich und stellte der volljährige BF am 25.08.2015 und zuletzt am 20.08.2018 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach § 55 AsylG 2005. Dabei täuschte er die entscheidenden staatlichen Instanzen im gesamten Verfahren bis zu seinem Reuegeständnis vom 21.02.2021 über seine wahre Identität und unterließ die Vorlage von vorhandenen Identitätsdokumenten. Dem Vorbringen vom 02.04.2024 (Reuegeständnis) beigelegt wurde eine Geburtsurkunde in Kopie samt beglaubigter Übersetzung, eine Bestätigung der Eintragung der Geburt in Kopie samt beglaubigter Übersetzung sowie ein Reisepass, ausgestellt am 22.07.2009, in Kopie samt beglaubigter Übersetzung.
Wie beweiswürdigend unter Punkt II.2.2. dargelegt, hätte der BF nicht nur im Verfahren zu L515 1414130 2/18E sondern auch bei den gegenständlichen Einvernahmen vor dem Bundesamt und in der Verhandlung vom 01.03.2021 seine wahre Identität jederzeit wahrheitsgemäß darlegen können. Dies unterließ er bewusst bzw. verschleierte der BF seine Identität aktiv, um Aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu unterlaufen und seinen rechtswidrigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu verlängern. Insgesamt ist daher angesichts der bewussten Täuschung über seine Identität in sämtlichen rechtskräftigen negativ abgeschlossenen Vorverfahren, sowie der vom BF dennoch beharrlich missachteten Ausweisungen bzw. Rückkehrentscheidungen, fallbezogen zu erkennen gewesen, dass auch aufgrund seines bislang 15-jährigen Aufenthaltes, in Zusammenschau mit der erkennbar insgesamt vergleichsweise festzustellenden geringen Integration, die Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet kein maßgebliches Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Denn wie bereits dargelegt sprechen gegen eine gute Integration nach der höchstgerichtlicher Judikatur unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (VwGH 04. 08. 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253).
Anhaltspunkte, welche für eine positive Wandlung des BF in Zukunft sprächen, können insofern vom erkennendem Gericht nicht erblickt werden, als der BF nun mit der Zeugung eines Kindes seinen Verbleib in Österreich weiterhin versucht zu legalisieren, obwohl ihm der unsichere Aufenthalt im Bundesgebiet bekannt war und er mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich, vollendete Tatsachen zu schaffen.
Selbst wenn man davon ausginge, dass der BF ab 2009 mehrheitlich seinen Lebensmittelpunkt in Österreich gehabt hätte, ist letztlich für ihn nichts gewonnen. So ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt bei Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren würden (vgl. etwa VwGH 15.9.2021, Ra 2021/17/0059, mwN), wie etwa unrichtige Identitätsangaben (vgl. VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
Die Umstände, dass der Fremde einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat und er der deutschen Sprache mächtig ist, können seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet hier nicht maßgeblich verstärken (vgl. VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.6.2010, 2010/18/0226).
Aus dem Betreuungsinformationssystem ergibt sich, dass keine Anhaltspunkte ersichtlich sind, dass eine relevante berufliche Integration in Österreich vorliegt. Der BF ist derzeit nicht erwerbstätig. Es scheint im AJ-WEB-Auszug kein einziges Beschäftigungsverhältnis auf. Er verfügt über keine Beschäftigungsbewilligung des AMS und ist von finanziellen Unterstützungen der Lebensgefährtin und karitativen Organisationen abhängig. Daraus resultierte folglich, dass der BF selbst in Österreich über keine Vermögenswerte verfügt, um daraus seinen Unterhalt zu bestreiten.
Die Frage einer zukünftig erwartbaren Selbsterhaltungsfähigkeit durch eine erlaubte Beschäftigung ist in die Beurteilung miteinzubeziehen und dabei auf den hypothetischen Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, der die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich gestattet abzustellen (siehe zu den diesbezüglichen Voraussetzungen § 54 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005), abzustellen gewesen (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, Rn. 18, mit dem Hinweis auf VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135, Rn. 30; vgl. in diesem Sinn auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0106, Rn. 8, mwN; 19.12.2019, Ra 2019/21/0282-13).
Verfügt ein Fremder über keine für die Ausübung einer Tätigkeit notwendige arbeitsmarktbehördliche Berechtigung, darf dieses Fehlverhalten nicht bagatellisiert werden. Deshalb kann auch nicht gesagt werden, der Fremde weise bereits eine nachhaltige Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt auf (vgl. VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135).
Jedoch ist vom VwG auch die Frage einer zukünftig erwartbaren Selbsterhaltungsfähigkeit durch eine erlaubte Beschäftigung einzubeziehen und dabei auf den hypothetischen Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, der die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich gestattet (§ 54 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005), abzustellen (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100; VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135; VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0106). (VwGH 19.12.2019 Ra 2019/21/0282)
Zum Entscheidungszeitpunkt geht der BF, wie dargelegt, keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze iSd § 5 Abs. 2 ASVG erreicht wird. Gegenständlich legt der BF XXXX XXXX vom 20.03.2024 einen „arbeitsrechtlichen Vorvertrag“ vor. Sonstige Kurse oder Ausbildungen besuchte der BF nicht. Im gegenständlichen Verfahren und somit während seines bereits unrechtmäßigen Aufenthaltes legte er einen konkreten Arbeitsvorvertrag als Handelsangestellter in einem Schlüsseldienst und Schuhservice vor, der nicht begründet wird. Die Ernsthaftigkeit dieses Arbeitsvorvertrages ist daher – auch in Anbetracht des Umstandes, dass er seit dem Abschluss seines Asylverfahrens 2011 seit 13 Jahren sohin keinen rechtmäßigen Aufenthalt begründet – in Zweifel zu ziehen. Einer Arbeitsplatzzusage kann in einem Verfahren betreffend Aufenthaltsbeendigung mangels Aufenthaltsberechtigung und Arbeitserlaubnis des Fremden keine wesentliche Bedeutung zukommen (vgl. zB VwGH 21.1.2010, 2009/18/0523; 29.6.2010, 2010/18/0195; 17.12.2010, 2010/18/0385; 22.02.2011, 2010/18/0323).
Es liegt gesamt keine maßgebliche berufliche Integration des BF vor.
In sozialer Hinsicht brachte der BF vor, Mitglied in apostolisch-armenischen JHU Gemeinde zu sein, worin jedoch mehr eine Verbundenheit mit seiner Heimat als eine Bindung an Österreich zu erblicken ist. Demgegenüber ist nach wie vor von einer engen Bindung des BF zu Armenien auszugehen, zumal er die Landessprachen spricht und wie beweiswürdigend festgehalten, davon ausgegangen werden kann, das er nicht nur über Sprach- sondern auch über Lese- und Schreibkompetenzen verfügt, zumal der BF im Rahmen der öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung angibt, von seiner Verlobten zur apostolisch-armenischen Kirche begleitet zu werden und die Messe in Armenischer Sprache vorgetragen wird (S5 des Verhandlungsprotokolls).
Weitere Integrationsschritte bringt der BF in der gegenständlichen Beschwerdeverhandlung nicht vor. Die ehrenamtliche Tätigkeit in der „zweiten Gruft“ wird durch ihn wie zu Beginn des Verfahrens nicht mehr belegt.
In einer Gesamtschau ist sohin festzuhalten, dass der weitere Aufenthalt des BF aufgrund seiner Identitätsverschleierung sowie seiner mangelnden Integrationsbemühungen seit dem Aufenthalt von 15 Jahren im Bundesgebiet nicht durch weitere integrative Bemühungen trotz Kenntnis des unsicheren Aufenthaltes ergänzt wurde. Zu bedenken ist auch, dass dem BF spätestens seit der negativen erstinstanzlichen Entscheidung bewusst sein musste, dass er mit seiner Verschleierung der wahren Identität im gegenständlichen Verfahren keine begründete Aussicht auf Erlangung eines dauerhaften Aufenthaltes erlangen konnte. Insbesondere wurde der BF am 1.3.2021 im Rahmen der öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung aufgefordert nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen und belehrt, dass unrichtige Angaben bei der Entscheidungsfindung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sind.
Auf Grund seiner nicht wahrheitsgemäßen Angaben führt dies gegenständlich zu einer Minderung der privaten Interessen des BF und zu einer Stärkung der genannten öffentlichen Interessen.
- Bindung zum Herkunftsstaat:
Bei der Interessensabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Bedacht zu nehmen (VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0135). Ein diesbezügliches Vorbringen hat freilich im Rahmen der Gesamtabwägung nicht in jeder Konstellation Relevanz. Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern sind vielmehr – letztlich auch als Folge eines seinerzeitigen, ohne ausreichenden [die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes – im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0188 mwN).
Es kann nach wie vor von einem Bestehen von Bindungen des BF zu seinem Herkunftsstaat Armenien ausgegangen werden, zumal er dort keine Enkulturation erfahren hat, da der BF den Besuch der apostolisch-armenischen JHU Gemeinde auch im Bundesgebiet kontinuierlich bisher fortführt. Wie beweiswürdigend dargelegt besuchte er bis zur fünften Klasse in Armenien die Schule. Er spricht naturgemäß nach wie vor Armenisch als Muttersprache und ist mit den regionalen Sitten und Gebräuchen seines Heimatlandes vertraut. Raum für die Annahme, dass sie iSd § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG gar keine Bindungen zu ihrem Heimatstaat mehr hat, besteht sohin nicht.
Ergänzend zur Sicherheitslage im Herkunftsstaat wird, wie beweiswürdigend unter Punkt II.2.8. festgehalten, dass für den Fall, dass der BF bei einer Rückkehr nach Armenien im Rahmen einer Musterung für tauglich befunden wird und er den Wehrdienst ableisten muss, die Heranziehung zum Militärdienst in Armenien und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung keine Form politischer Verfolgung darstellt, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben und somit Umständen entgegen Art. 2 oder 3 EMRK unterliegen würden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Slg. Nr. 14.089/A; VwGH 21.08.2001, Zl. 98/01/0600; 11.10.2000, Zl. 2000/01/0326).
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass – unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK – aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu berücksichtigen sind, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaige wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Eine diesbezüglich maßgeblich zu berücksichtigende Situation ist jedoch im Falle dem jungen, gesunden und erwerbsfähigen BF, welcher überdies über die armenische Sprachkompetenz verfügt, nicht gegeben. Wie beweiswürdigend unter Punkt II.2.8/9 ausgeführt, würde selbst die Ableistung des verpflichtenden Wehrdienstes oder eines Ersatzdienstes keine existenzielle Notlage für ihn im Herkunftsstaat begründen.
- Strafgerichtliche Unbescholtenheit:
Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.
Diese Feststellung stellt laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Der VwGH geht wohl davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:
Es besteht ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Das verlangt von Fremden grundsätzlich, dass sie nach negativer Erledigung ihres Antrags auf internationalen Schutz das Bundesgebiet (freiwillig) wieder verlassen (VwGH 26.04.2018, Ra 2018/21/0062).
Der BF täuschte die entscheidenden staatlichen Instanzen über seine wahre Identität und Verletzte seine Mitwirkungspflicht im Verfahren.
Zudem stellt das beharrliche unrechtmäßige Verbleiben eines Fremden im Bundesgebiet bzw. ein länger dauernder unrechtmäßiger Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf die Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens dar, was wiederum eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen den Fremden als dringend geboten erscheinen lässt (vgl. VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).
- Die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist:
Ein behördliches Verschulden, welche die zeitliche Komponente dermaßen in den Vordergrund treten lassen würde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig sei, kann aus der Aktenlage nicht entnommen werden und wurde vom BF auch nicht konkret vorgebracht (in Bezug auf ein gewisses Behördenverschulden in Bezug auf die Verfahrensdauer vgl. auch bei Vorliegen weitaus engeren Bindungen im Sinne des Art. 8 EMRK und einem ca. zehnjährigen Aufenthalt im Staat der Antragstellung das Urteil des EGMR Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der BF erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Überdies würde dies dazu führen, dass Fremde, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten oder sogar rechtsmissbräuchlichen Asylantrages erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, vgl. VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007; überdies VfSlg. 19.086/2010, wo der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang erklärt, dass „eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde“).
Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der oa. Judikatur der Höchstgerichte ist gegenständlich im Ergebnis ein überwiegendes öffentliches Interesse – nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, konkret das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung und Stärkung der Einwanderungskontrolle, das wirtschaftliche Wohl des Landes insbesondere in Bezug auf den verwaltungsstrafrechtlich pönalisierten, nicht rechtmäßigen Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet, an der Aufenthaltsbeendigung des BF festzustellen, dass seine Interessen an einem Verbleib in Österreich überwiegt. Die Rückkehrentscheidung ist daher als notwendig und nicht unverhältnismäßig zu erachten.
Die persönlichen Bindungen in Österreich lassen keine besonderen Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK erkennen, die es der beschwerdeführenden Partei schlichtweg unzumutbar machen würde, auch nur für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Aufenthalts- bzw. Niederlassungsverfahrens in ihr Heimatland zurückzukehren (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2008/18/0332; 25.02.2010, 2008/18/0411; 25.02.2010, 2010/18/0016; 21.01.2010, 2009/18/0258; 21.01.2010, 2009/18/0503; 13.04.2010, 2010/18/0087; 30.04.2010, 2010/18/0111; 30.08.2011, 2009/21/0015), wobei bei der Rückkehrentscheidung mangels gesetzlicher Anordnung hier nicht auf das mögliche Ergebnis eines nach einem anderen Gesetz durchzuführenden (Einreise- bzw. Aufenthalts)Verfahrens Bedacht zu nehmen ist (vgl. VwGH 18.9.1995, 94/18/0376).
Aus dem Gesagten schlägt die im vorliegenden Beschwerdefall vorzunehmende Interessensabwägung im Rahmen einer Gesamtschau auch unter zentraler Berücksichtigung des Familienlebens mit der Lebensgefährtin und des Kindeswohls des ungeborenen Kindes und zugunsten des öffentlichen Interesses an seiner Ausreise aus. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ergibt eine individuelle Abwägung der berührten Interessen, dass ein Eingriff in sein Privat- und Familienleben durch ihre Ausreise als iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig angesehen werden kann und war die von der belangten Behörde erlassene Rückkehrentscheidung daher nicht zu beanstanden, weshalb die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK daher nicht geboten ist und spruchgemäß zu entscheiden war.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
II.3.3. Zulässigkeit der Abschiebung
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
§ 50 FPG Verbot der Abschiebung
(1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Im gegenständlichen Fall sind keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung nach Armenien unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in gegenständlichen Vorbringen und in der mündlichen Verhandlung nicht schlüssig dargelegt und wurden bzw. werden hierzu bereits an entsprechend passenden Stellen des gegenständlichen Erkenntnisses Ausführungen getätigt, welche die in § 50 Abs. 1 und 2 FPG erforderlichen Subsumtionen bereits vorwegnehmen.
Eine im § 50 Abs. 3 FPG genannte Empfehlung des EGMR liegt ebenfalls nicht vor.
Es kamen keine Umstände hervor, die im Abschiebungsfall zu einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK führen würden. Es kamen auch keine Umstände hervor, welche insbesondere beim Ausspruch betreffend die Abschiebung zu berücksichtigen gewesen wären.
Zur individuellen Versorgungssituation des BF wird festgestellt, dass dieser in Armenien über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügt. Bei den volljährigen BF handelt es sich um einen jungen, gesunden, arbeitsfähigen Menschen. Einerseits stammt der BF aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehört der BF keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Auch steht es dem BF frei, eine Beschäftigung bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten anzunehmen oder das Sozialsystem des Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen.
Darüber hinaus ist es dem BF unbenommen, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen und sich im Falle der Bedürftigkeit an eine im Herkunftsstaat karitativ tätige Organisation zu wenden oder das armenische Unterstützungsprogramm für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen.
Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht in eine, allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage gerät.
Die Zumutbarkeit der Annahme einer –ggf. auch unattraktiven- Erwerbsmöglichkeit wurde bereits in einer Vielzahl ho. Erkenntnisse bejaht.
Die Asylbehörde hat auch Umstände im Herkunftsstaat des BF zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova &Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.
Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).
Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung nach Armenien nicht zulässig wäre, wenn durch die Überstellung eine existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.
Im vorliegenden Fall konnten somit seitens des BF keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung nach Armenien belegt werden, respektive die Notwendigkeit weitere Erhebungen seitens des Bundesverwaltungsgerichts. Aus der Aktenlage sind keine Hinweise auf das Vorliegen (schwerer) Erkrankungen ersichtlich.
Allgemeine Erkrankungen wie Gesichtslähmungen sind jedenfalls behandelbar und Medikamente wie Schmerzmittel verfügbar.
Im gegenständlichen Fall besteht im Lichte der Berichtslage kein Hinweis, dass der BF vom Zugang zu medizinsicher Versorgung in Armenien ausgeschlossen wäre und bestehen auch keine Hinweise, dass die seitens des BF beschriebene austherapierte Gesichtslähmung bei zukünftigen Auftreten nicht behandelbar wäre. Auch faktische Hindernisse, welche das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person des BF gelegenen Umständen belegen würden, kamen nicht hervor.
Ebenso ist davon auszugehen, dass Österreich in der Lage ist, im Rahmen aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausreichende medizinische Begleitmaßnahmen zu setzen (VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723, VfGH v. 12.6.2010, Gz. U 613/10-10 und die bereits zitierte Judikatur; ebenso Erk. des AsylGH vom 12.3.2010, B7 232.141-3/2009/3E mwN).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist die Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat zulässig. Es sind keine konkreten Umstände dahingehend hervorgekommen, dass - auch unter dem Gesichtspunkt des Privat- und Familienlebens des BF - unter Berücksichtigung der konkreten Situation in Armenien die Abschiebung in den Herkunftsstaat unzulässig wäre (vgl VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).
II.3.4. Frist für freiwillige Ausreise
Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
§ 55 FPG Frist für die freiwillige Ausreise
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
Gegenständlich hat das Bundesamt die Frist für die freiwillige Ausreise iSd § 55 Abs 2 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides festgelegt. Insbesondere wurden keine besonderen Umstände dargelegt, wonach eine längere Frist erforderlich wäre.
Da die Anträge gemäß § 55 AsylG abzuweisen waren, alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Rückkehrentscheidung vorliegen, eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG gewährt wurde und keine Umstände gegen die Zulässigkeit der Abschiebung
sprechen, sind die Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.
Die Verhältnismäßigkeit der seitens der belangten Behörde getroffenen fremdenpolizeilichen Maßnahme ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich hierbei um das gelindeste fremdenpolizeiliche Mittel handelt, welches zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet erschien.
II.3.5. Zum Antrag auf Mängelheilung:
II.3.5.1. Die gesetzlichen Bestimmungen lauten:
§ 4 AsylG-DV (BGBl II Nr 448/2005 idF BGBl II Nr 40/2020)
(1) Die Behörde kann auf begründeten Antrag von Drittstaatsangehörigen die Heilung eines Mangels nach § 8 und § 58 Abs 5, 6 und 12 AsylG zulassen:
1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen zur Wahrung des Kindeswohls,
2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK oder
3. im Fall der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise, wenn deren Beschaffung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.
(2) Beabsichtigt die Behörde den Antrag nach Abs 1 zurück- oder abzuweisen, so hat die Behörde darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
Urkunden und Nachweise für Aufenthaltstitel
§ 8 AsylG-DV
(1) Folgende Urkunden und Nachweise sind – unbeschadet weiterer Urkunden und Nachweise nach den Abs. 2 und 3 – im amtswegigen Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 3) beizubringen oder dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels (§ 3) anzuschließen:
1. gültiges Reisedokument (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG);
2. Geburtsurkunde oder ein dieser gleichzuhaltendes Dokument;
3. Lichtbild des Antragstellers gemäß § 5;
4. erforderlichenfalls Heiratsurkunde, Urkunde über die Ehescheidung, Partnerschaftsurkunde, Urkunde über die Auflösung der eingetragenen Partnerschaft, Urkunde über die Annahme an Kindesstatt, Nachweis oder Urkunde über das Verwandtschaftsverhältnis, Sterbeurkunde.
(2) Zusätzlich zu den in Abs. 1 genannten Urkunden und Nachweisen sind dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 weitere Urkunden und Nachweise anzuschließen:
1. Nachweis des Rechtsanspruchs auf eine ortsübliche Unterkunft, insbesondere Miet- oder Untermietverträge, bestandrechtliche Vorverträge oder Eigentumsnachweise;
2. Nachweis über einen in Österreich leistungspflichtigen und alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz, insbesondere durch eine entsprechende Versicherungspolizze, sofern kein Fall der gesetzlichen Pflichtversicherung bestehen wird oder besteht;
3. Nachweis des gesicherten Lebensunterhalts, insbesondere Lohnzettel, Lohnbestätigungen, Dienstverträge, arbeitsrechtliche Vorverträge, Bestätigungen über Pensions-, Renten- oder sonstige Versicherungsleistungen, Nachweise über das Investitionskapital, Nachweis eigenen Vermögens in ausreichender Höhe oder in den bundesgesetzlich vorgesehenen Fällen eine Haftungserklärung oder Patenschaftserklärung.
(3) Ein Nachweis über die Duldung ist zusätzlich zu den in Abs. 1 genannten Urkunden und Nachweisen dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 anzuschließen.
(4) Beruft sich der Antragsteller betreffend Abs. 2 Z 1, 2 oder 3 auf Leistungen oder die Leistungsfähigkeit eines verpflichteten Dritten, so ist darüber jeweils ein Nachweis anzuschließen.
(5) Das Erfordernis der Vorlage des gültigen Reisedokumentes (Abs. 1 Z 1) entfällt bei einem Kind binnen sechs Monaten nach der Geburt, sofern das Kind noch nicht über ein gültiges Reisedokument verfügt (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG).
Die vom BF beantragte „Aufenthaltsberechtigung“ gemäß § 55 Abs 2 AsylG ist dabei explizit in § 3 Abs 2 Z 2 AsylG-DV genannt.
§ 58 Abs 11 AsylG (BGBl I Nr 100/2005 idF BGBl I Nr 110/2021) lautet wie folgt:
Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist
1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs 4) ohne weiteres einzustellen oder
2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen
Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.
3.1.2.1. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall:
Fallgegenständlich wurde seitens der belangten Behörde sowohl Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK gemäß § 55 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch sein Antrag auf Mängelheilung gemäß § 4 Abs 1 Z 2 und Z 3 iVm § 8 AsylG-DV abgewiesen (Spruchpunkt V.).
Zur Heilung nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass die Bedingung, wonach die Erteilung des Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 MRK erforderlich sein muss, in jenen Konstellationen, in denen von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG zu erteilen ist, voraussetzungsgemäß erfüllt ist. Auch im Fall eines Antrags auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels gilt, dass die Voraussetzungen für die verfahrensrechtliche Heilung nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV die gleichen sind wie für die materielle Stattgabe des verfahrenseinleitenden Antrags. Die Prüfung, ob einem Heilungsantrag nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV stattzugeben ist, unterscheidet sich also inhaltlich nicht von der Beurteilung, ob der Titel nach § 55 AsylG zu erteilen ist. Daraus folgt auch, dass bei einem Antrag nach § 55 AsylG in Bezug auf die Heilung nach § 4 Abs 1 AsylG-DV in erster Linie und vorrangig die Voraussetzungen der Z 2 der genannten Bestimmung zum Tragen kommen und dass es unzulässig ist, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG trotz Vorliegens der hierfür erforderlichen Voraussetzungen wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (vgl. VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0168 mit Hinweis auf VwGH 15.09 2016, Ra 2016/21/0187 und VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0314).
Nach der eindeutigen Bestimmung des § 4 Abs. 2 AsylGDV 2005 ist über einen Antrag auf Zulassung der Heilung - sofern ihm nicht stattgegeben wird - in Form der Zurückweisung oder der Abweisung abzusprechen (vgl. VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0314).
Der VwGH hielt in seinem jüngeren Erkenntnis vom 07.03.2019, Ra 2018/21/0153, zur Rechtslage nach dem FrÄG 2017, fest, dass das Fehlen jeglicher Eigeninitiative zur Erlangung von Identitäts- bzw. Heimreisedokumenten einen vom Fremden zu vertretenden Grund für die Unmöglichkeit seiner Abschiebung darstellt. Im Weiteren legte er dar:
„Selbst wenn der Revisionswerber bereits seine richtige Identität angegeben haben sollte, konnte nämlich davon ausgegangen werden, dass eine persönliche Vorsprache bei der Botschaft - anders als die bloß schriftliche Kontaktaufnahme durch das BFA - möglicherweise zur Ausstellung eines Reisedokuments geführt hätte. Die Beurteilung, dass er die Unmöglichkeit seiner Abschiebung insgesamt im Sinn des § 46a Abs. 3 FPG selbst zu vertreten hat, erscheint daher zumindest nicht als unvertretbar.
Soweit die Revision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung weiters geltend macht, dass sich das Bundesverwaltungsgericht zum Nachteil des Revisionswerbers auf eine zum Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht geltende Rechtslage (die Verpflichtung zur eigenständigen Einholung eines Reisedokuments nach § 46 Abs. 2 FPG idF des FrÄG 2017) berufen habe, ist ihr entgegenzuhalten, dass die Neuregelung auf den Revisionswerber seit ihrem Inkrafttreten mit 1. November 2017 anzuwenden war; der zuvor gestellte Antrag auf Ausstellung einer Karte für Geduldete bzw. das noch anhängige (Rechtsmittel-)Verfahren vermochten daran nichts zu ändern. Die genannte Verpflichtung nach § 46 Abs. 2 FPG ist auch von jener nach § 46 Abs. 2a FPG zu unterscheiden, die die Erlangung eines Ersatzreisedokuments betrifft und lediglich die Auferlegung von Mitwirkungspflichten in Verbindung mit einer behördlichen Amtshandlung erlaubt (vgl. noch zur Rechtslage vor dem FrÄG 2017 grundlegend VwGH 23.3.2017, Ro 2017/21/0005, sowie - den Revisionswerber betreffend - VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0102). Im Übrigen konnte mangelnde Eigeninitiative schon bisher ein Anhaltspunkt für die Annahme sein, dass der Fremde das Erlangen von Identitäts- bzw. Heimreisedokumenten selbst verhindert habe (vgl. idS VwGH 31.8.2017, Ro 2016/21/0019, Rn. 33).“
Zu § 46 Abs. 2 FPG stellt die Rechtsprechung nunmehr klar, dass die darin normierte Verpflichtung zur eigenständigen Einholung eines Reisedokuments auch gilt, wenn der Fremde bereits seine richtige Identität angegeben hat (VwGH 07.03.2019,Ra 2018/21/0153), sowie dass ein Vorbringen, die Abschiebung sei faktisch unmöglich, weil der Beschwerdeführer über kein Reisedokument verfüge, im Fall mangelnder Eigeninitiative nicht zur Annahme führt, der Aufenthalt sei zu dulden und eine Karte für Geduldete auszustellen (VwGH 04.03.2020, Ra 2019/21/0331). Festgehalten wird in der Entscheidung des VwGH vom 04.03.2020, Ra 2019/21/0331 zudem, dass eine kausale Verknüpfung zwischen den Handlungen bzw Unterlassungen des Fremden mit den Gründen für die Unmöglichkeit der Abschiebung gefordert wird.
Wie § 58 Abs 11 AsylG überdies zum Ausdruck bringt, treffen einen Drittstaatsangehörigen im Antragsverfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "allgemeine Mitwirkungspflichten", unter welche nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch die in § 8 Abs 1 AsylG-DV angeordnete Vorlage von Identitätsurkunden wie etwa eines gültigen Reisedokuments sowie einer Geburtsurkunde oder eines dieser gleichzuhaltenden Dokuments zu subsumieren ist (vgl. VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0039).
Die allgemeine Mitwirkungspflicht wurde für das hier anhängige Verfahren auch durch § 8 AsylG-DV näher konkretisiert, wonach der BF im gegenständlichen Fall ein gültiges Reisedokument (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG) bzw. eine Geburtsurkunde oder ein diesem gleichzuhaltenden Dokument vorzulegen hätte und werden in § 4 leg. cit Fälle genannt, in welchen die Heilung von Mängeln eintreten kann.
Fallgegenständlich brachte der BF im Rahmen seiner Antragstellung entgegen den Anforderungen in § 8 Abs 1 AsylG-DV kein gültiges Reisedokument in Vorlage. Obgleich dem BF im Zuge des Verbesserungsauftrages seitens der belangten Behörde sowohl im vorangegangenen Verfahren als auch im gegenständlichen Verfahren aufgetragen wurde, ein gültiges Reisedokument vorzulegen und er zugleich darauf hingewiesen wurde, dass bei einem Nichtnachkommen des Verbesserungsauftrages der Antrag zurückgewiesen wird, kam er dieser Aufforderung abermals nicht nach. Wie durch die Botschaft zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt, und vom BF auch durch sein Reuegeständnis bestätigt, hat der BF bewusst seine Identität verschleiert und die Mitwirkung an der Erlangung eines Reisedokumentes verhindert. Wäre er im Zuge des gegenständlichen Verfahrens tatsächlich bei der Botschaft vorstellig gewesen und wäre ihm eine Bestätigung ausgestellt worden, wäre zu erwarten gewesen, dass er diese auch vorlegt, was jedoch nicht geschah. Aufgrund des Verhaltens des BF (vgl. auch Beweiswürdigung) erhellt sich, dass der BF jedenfalls mangels nachgewiesener persönlicher Vorsprache bei der Botschaft, seine Mitwirkungspflichten verletzt hat.
Den Angaben in der gegenständlichen Verhandlung, dass eine Ausstellung eines Reisedokuments aufgrund des nichtabgeleisteten Wehrdienstes im Herkunftsstaat nicht möglich sei, erweist sich wie beweiswürdigend dargelegt, als neuerliche Schutzbehauptung und ist sie dem BF anzulasten, da er keinen gegenteiligen Nachweis erbringt, dass ihm die Erlangung eines gültigen Reisedokuments unmöglich bzw. unzumutbar wäre. Anzumerken ist, dass in der gegenständlichen mündlichen Verhandlung der BF ausführte, dass er sich über weitere Modalitäten betreffend den Wehrdienst im Herkunftsstaat (Freikauf) auch nicht informiert hätte.
Der BF hat nicht dargetan bzw. hat er keine Bestätigung vorgelegt, dass er mit der armenischen Botschaft Kontakt aufgenommen habe, obwohl ihm die Einholung einer solchen Bestätigung bei der armenischen Botschaft in Wien möglich und zumutbar war.
Zumal der BF entsprechend seinen weiteren Darlegungen auch nicht von jemanden dabei gehindert wurde, ein Reisedokument zu beantragen, lag damit die Nichtbeantragung des Reisedokuments ausschließlich in seiner eigenen Sphäre begründet.
Vor diesem Hintergrund sei anzumerken, dass der BF keine konsistenten Angaben zum Verbleib etwaiger schon ausgestellter Reisedokumente im Verfahren erstattete bis zum 21.10.2021 und über die Jahre trotz mehrfacher Aufforderung, sich um die Ausstellung eines Reisedokuments zu bemühen, bewusst untätig geblieben ist und seine wahre Identität auch bewusst verschleierte. Mit Vorbringen vom 02.04.2024 legte der BF einen mit Ablaufdatum am 22.07.2012 Reisepass in Kopie vor.
Der BF erfüllte sohin den Auftrag damit nicht ansatzweise und kam somit seiner Mitwirkungsverpflichtung im Verfahren nicht nach.
Es waren daher keine außerhalb der Sphäre des BF liegende Gründe festzustellen, sondern scheiterte die Ausstellung eines Reisedokuments ausschließlich am BF selbst.
Der Antrag des BF auf Heilung des Mangels der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise war demnach auch gemäß § 4 Abs 1 Z 3 iVm § 8 Abs 1 AsylG-DV abzuweisen, da ihm ob der obigen Ausführungen die Beschaffung eines Reisedokuments weder nachweislich unmöglich noch unzumutbar war.
Da im gegenständlichen Fall schon die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Z 1. – 3. AsylG-DV (der BF ist nicht minderjährig, ein schützenswertes Privat- und Familienleben wurde bereits bei der Prüfung zu § 55 AsylG verneint und wurden auch keine stichhaltigen Gründe zur Nichtvorlage von Geburtsurkunde und Reisepass angegeben) nicht vorliegen, hat das Bundesamt die Heilung der hier zur Disposition stehenden Mängel zu Recht nicht zugelassen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und die Beschwerden gegen Spruchpunkt V. der angefochtenen Bescheide gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 und 2 iVm § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 AsylG-DV als unbegründet abzuweisen.
Ad B)
Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zur Auslegung des Begriffs des internationalen Schutzes, sowie des durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienlebens abgeht. Im Hinblick auf die Auslegung des Rechtsinstituts des sicheren Herkunftsstaates orientiert sich das ho. Gericht ebenfalls an der hierzu einheitlichen höchstgerichtlichen Judikatur.
Aus dem Umstand, dass das ho. Gericht und die belangte Behörde mit 1.1.2014 ins Leben gerufen wurden, bzw. sich die asyl- und fremdenrechtliche Diktion, sowie Zuständigkeiten zum Teil änderte, und das Asyl- und Fremdenrecht eine verfahrensrechtliche Neuordnung erfuhr kann ebenfalls kein unter Art. 133 Abs. 4 zu subsumierender Sachverhalt hergeleitet werden, zumal sich am substantiellen Inhalt der anzuwendenden Normen keine relevante Änderung ergab. Im Falle verfahrensrechtlicher Neuordnungen wird auf die einheitliche Judikatur zu den Vorgängerbestimmungen verwiesen (z. B. in Bezug auf § 18 BFA-VG auf § 38 AsylG aF).
Aufgrund der oa. Ausführungen war die Revision nicht zuzulassen.
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