Normen
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AVG §37
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
MRK Art8 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140199.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein iranischer Staatsangehöriger, stellte erstmals am 19. Mai 2010 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 19. November 2010 wurde der Antrag abgewiesen und ausgesprochen, dass der Revisionswerber in den Iran ausgewiesen werde. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 14. Oktober 2013 wurde die dagegen gerichtete Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
2 Am 10. April 2015 stellte der Revisionsweber seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass er im vorangegangenen Verfahren aus Angst nicht erwähnt habe, dass er vor zwei Jahren zum Christentum konvertiert sei.
3 Mit Bescheid vom 17. Mai 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionsweber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Iran zulässig sei, erkannte der Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab und legte keine Frist für eine freiwillige Ausreise fest.
4 Mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 8VwGG) zu überprüfen.
8 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe eine mangelhafte Interessenabwägung durchgeführt, in diesem Zusammenhang das bestehende Familienleben des Revisionswerbers fälschlicherweise als ein „abgeschwächtes Familienleben“ gewertet, das Kindeswohl nicht berücksichtigt und sich nicht näher mit den einzelnen Aspekten des schützenwerten Privatlebens des Revisionswerbers befasst. Außerdem fehle es den herangezogenen Länderberichten an der gebotenen Aktualität, das BVwG habe sich nicht mit der COVID‑19‑Pandemie im Iran auseinandergesetzt und eine mangelhafte Beweiswürdigung hinsichtlich der Konversion des Revisionswerbers zum Christentum durchgeführt.
9 Soweit die Revision das Ergebnis der vom BVwG vorgenommenen Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK für unzutreffend erachtet, ist zunächst festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. für viele etwa VwGH 18.12.2019, Ra 2019/14/0461, mwN).
10 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 31.3.2020, Ra 2019/14/0417, mwN).
11 Das BVwG stellte nach der Einvernahme des Revisionswerbers und seiner Lebensgefährtin fest, dass ein bestehendes Familienleben zu bejahen sei. Ein Eingriff in dieses sei jedoch gerechtfertigt, weil es zu einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem gegen den Revisionswerber eine rechtskräftige Ausweisung in den Iran bestanden habe und er der Verpflichtung, aus dem Bundesgebiet auszureisen, nicht nachgekommen sei. Der Revisionswerber und seine Lebensgefährtin hätten sich daher des unsicheren Aufenthaltes bewusst sein müssen. Das Familienleben werde auch dadurch relativiert, dass der Revisionswerber mit seiner Lebensgefährtin und deren drei Kindern erst seit Oktober 2019, demnach erst seit etwa einem halben Jahr, in einem gemeinsamen Haushalt zusammen lebe und der Kontakt zuvor nur durch Besuche stattgefunden habe. Als Alternativbegründung führte das BVwG an, dass das Familienleben auch außerhalb Österreichs bzw. im Iran fortgeführt werden könne, zumal die Lebensgefährtin in der mündlichen Verhandlung angegeben habe, bereit zu sein auch woanders hinzuziehen. Im Iran drohe dem Revisionswerber keine asylrelevante Verfolgung und die Situation der Kurden sei nicht derart problematisch, dass dort ein Familienleben nicht möglich sei. Der Kontakt könne auch über Briefe oder im elektronischen Wege fortgesetzt werden (vgl. diesbezüglich etwa VwGH 22.2.2018, Ra 2018/18/0037).
12 Entgegen dem Vorbringen der Revision setzte sich das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung auch mit dem Kindeswohl (bezogen auf die Unterstützung, die der Revisionswerber bei der Kinderbetreuung leistet) auseinander. Die Lebensgefährtin des Revisionswerbers und deren Kinder würden demnach ihr Leben in Österreich auch ohne die Unterstützung des Revisionswerbers aufrechterhalten können, zumal diese ‑ wie schon vor dem Umzug des Revisionswerbers zu seiner Lebensgefährtin nach Wien vor etwa einem halben Jahr ‑ Unterstützung und Betreuung unter anderem durch Sozialarbeiter sowie Sozialpädagogen der Stadt Wien erhalten würden. Dies würde auch den Angaben der einvernommenen Sozialarbeiterin entsprechen.
13 In seinen Erwägungen verwies das BVwG dabei zutreffend auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach bei der Gewichtung der für den Fremden sprechenden Umstände im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend einbezogen werden darf, dass er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. dazu etwa VwGH 28.2.2020, Ra 2019/14/0545, mwN). Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste (vgl. VwGH 14.10.2019, Ra 2019/18/0396, mwN) und daher umso mehr für eine in einer solchen Situation begründeten Lebensgemeinschaft (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0187). Das BVwG hat in diesem Zusammenhang auch bereits auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hingewiesen, wonach sich ein Beschwerdeführer im Kontext des Art. 8 EMRK nicht auf eine Beziehung zu einer neuen Freundin und die Geburt eines Kindes aus dieser Beziehung berufen könne, wenn sie zu einem Zeitpunkt zustande kam, als der Aufenthalt unsicher war (EGMR 16.4.2013, Udeh/Schweiz, 12020/09, Z 50).
14 Es trifft zwar zu, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei und nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen wurden. Auch hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass der Aspekt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG (Relativierung aufgrund unsicheren Aufenthaltsstatus) schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz hat, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könnte. Das gilt insbesondere bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt (vgl. jeweils VwGH 6.4.2020, Ra 2020/20/0055, mwN).
15 Im Hinblick darauf, dass der Inhaltsaufenthalt des Revisionswerbers noch keine zehn Jahre angedauert hat, trotz der Aufenthaltsdauer keine überragend ausgeprägten Deutschkenntnisse festzustellen waren, der Revisionswerber keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und sich um eine solche auch nie bemüht hat, somit Merkmale einer beruflichen Integration gar nicht vorhanden sind und auch in sozialer Hinsicht eine bedeutende Integration in die österreichische Gesellschaft nicht zu erkennen ist, und er abgesehen von seiner Freundin und deren Kindern auch sonst keine engeren sozialen Kontakte oder freundschaftlichen Beziehungen in Österreich geltend gemacht hat, ist die umfassende Interessenabwägung des BVwG mit dem Ergebnis des Überwiegens der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung nicht als unvertretbar anzusehen. Die in der Revision in diesem Zusammenhang bekämpfte mangelnde Feststellbarkeit weiterer enger sozialer Kontakte oder freundschaftlichen Beziehungen ist trotz der Angabe des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung, er habe „viele Freunde“, nicht als unvertretbar zu beanstanden, konnte er doch deren Namen (mit zwei Ausnahmen) nicht angeben.
16 Ausgehend davon wirft die Auffassung des BVwG, wonach fallbezogen der Eingriff in das Privat- und Familienleben gerechtfertigt sei, keine Rechtsfragen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG auf.
17 Die Revision rügt, das BVwG habe nicht hinreichend aktuelle Länderberichte herangezogen und sich nicht mit den aktuellen Entwicklungen aufgrund der COVID‑19‑Pandemie im Iran auseinandergesetzt.
18 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen hat. Eine Verletzung dieser Vorgabe würde einen Verfahrensmangel darstellen. Werden jedoch Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. (vgl. VwGH 29.5.2020, Ra 2020/14/0191, mwN).
19 Der Revision, die sich diesbezüglich vornehmlich auf einen schlechten Gesundheitszustand der Lebensgefährtin des Revisionswerbers bezieht, gelingt in diesem Zusammenhang nicht, die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels darzulegen, weil eine Übersiedelung der Lebensgefährtin des Revisionswerbers in den Iran lediglich in der Alternativbegründung des BVwG, wonach das Familienleben auch im Iran fortgesetzt werden könne, vorausgesetzt wird. Primär erachtete das BVwG jedoch auch die mit dem Verbleib der Lebensgefährtin und deren Kinder in Österreich einhergehende Trennung vom Revisionswerber als gerechtfertigt. Somit wird mit diesem Vorbringen allein nicht dargetan, weshalb bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können.
20 Beim Revisionswerber selbst hingegen handelt es sich ‑ von der Revision unbestritten ‑ um einen aktuell gesunden, jungen Mann. Dass dieser in Bezug auf COVID‑19 einer Risikogruppe angehören würde, wird in der Revision nicht vorgebracht und ist auch nicht ersichtlich. Die Revision legt auch nicht dar, dass ‑ im Hinblick auf die bloße Möglichkeit einer COVID‑19‑Erkrankung ‑ solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die bei Außerlandesschaffung des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat die reale Gefahr einer Verletzung seiner nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte darstellten (vgl. etwa VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188).
21 Zuletzt macht die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung der Sache nach einen Verfahrensmangel im Zusammenhang mit der Ermittlung des Sachverhaltes zum Religionswechsel des Revisionswerbers geltend, indem sie die unterbliebene Vernehmung eines Priesters bzw. Pastors oder sonst irgendeines Zeugen zu seinen religiösen Aktivitäten und seiner religiösen Überzeugung rügt.
22 Nach der Rechtsprechung kommt es bei der Beurteilung eines behaupteten Religionswechsels und der Prüfung einer Scheinkonversion auf die aktuell bestehende Glaubensüberzeugung des Konvertiten an, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung anhand einer näheren Beurteilung der vorliegenden Beweismittel, etwa von Zeugenaussagen und einer konkreten Befragung des Asylwerbers zu seinen religiösen Aktivitäten, zu ermitteln ist (vgl. VwGH 25.3.2020, Ra 2020/14/0130, mwN).
23 Entgegen der Ansicht des Revisionswerbers ist daraus jedoch nicht abzuleiten, dass zwingend in jedem Fall Zeugen zu religiösen Aktivitäten und religiösen Überzeugungen zu vernehmen wären. Eine solche Zeugenvernehmung wurde im vorliegenden Fall nicht beantragt. Die Frage, ob auf Basis eines konkret vorliegenden Standes eines Ermittlungsverfahrens ein ausreichend ermittelter Sachverhalt vorliegt oder ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind, stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung dar (vgl. VwGH 28.1.2020, Ra 2020/20/0011, mwN). Gründe dafür, dass die unterbliebene Einvernahme von Zeugen nach Lage des vorliegenden Falles einen krassen, die Rechtssicherheit beeinträchtigenden und daher eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfenden Verfahrensfehler darstellen könnte, sind nicht ersichtlich.
24 In der Revision werden demnach keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 5. August 2020
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