VwGH Ra 2019/14/0545

VwGHRa 2019/14/054528.2.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, in den Revisionssachen 1. des A B, 2. der C D,

3. der E F und 4. des G H, alle vertreten durch Mag. Philipp Tagwerker, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Sterngasse 13, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Oktober 2019,

1. W226 2013486-2/10E, 2. W226 2013487-2/10E, 3. W226 2108497-2/8E und 4. W226 2173548-1/7E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
MRK Art8 Abs2
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140545.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Die vier Revisionswerber sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin stellten am 22. Dezember 2013 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Für ihre beiden in den Jahren 2015 und 2017 geborenen Kinder, die Drittrevisionswerberin und den Viertrevisionswerber, wurden am 10. April 2015 und am 23. Mai 2017 Anträge auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005 gestellt.

2 Mit den Erledigungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 3. Oktober 2014 und 22. Mai 2015 wurden die Anträge des Erstrevisionswerbers, der Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerberin abgewiesen und (unter anderem) Rückkehrentscheidungen erlassen. Die dagegen erhobene Beschwerde der Zweitrevisionswerberin wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Beschluss vom 31. März 2016 als unzulässig zurückgewiesen, weil es der Erledigung des BFA hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin an Formerfordernissen mangelte. Den Beschwerden des Erstrevisionswerbers und der Drittrevisionswerberin wurde stattgegeben und die Angelegenheiten zur Erlassung neuer Bescheide gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG iVm § 34 Abs. 4 AsylG 2005 an das BFA zurückverwiesen.

3 Mit den Bescheiden vom 21. September 2017 wurden die Anträge aller Revisionswerber als unbegründet abgewiesen, keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Russland zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA jeweils mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4 Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis des BVwG nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet abgewiesen. Unter einem wurde ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 8 Zu ihrer Zulässigkeit macht die Revision zusammengefasst geltend, das BVwG habe sich nicht (ausreichend) mit der überlangen Dauer des Asylverfahrens auseinandergesetzt. Sie wäre als positiver Aspekt bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen gewesen. Im vorliegenden Fall sei mit Blick auf die Stellung des ersten Antrages am 23. Dezember 2013 und die angefochtene Entscheidung des BVwG vom 3. Oktober 2019 von einer überlangen Verfahrensdauer im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG auszugehen. In der Rechtsprechung sei nicht geklärt, wann von einem überlangen Asylverfahren auszugehen sei. Auch fehle Rechtsprechung zu jenen Fällen, in denen eine überlange Verfahrensdauer im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG den Ausschlag zugunsten der revisionswerbenden Parteien gegeben habe und eine Rückkehrentscheidung aus diesem Grund für unzulässig zu erklären sei. Zudem habe sich das BVwG entgegen der Rechtsprechung nicht mit dem Privatleben der Drittrevisionswerberin und des Viertrevisionswerbers sowie deren Anpassungsfähigkeit auseinandergesetzt. Der Verwaltungsgerichtshof habe, soweit ersichtlich, Kleinkinder als anpassungsfähig qualifiziert (Hinweis auf VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251). Die Drittrevisionswerberin sei älter als das Kind im genannten Erkenntnis, im Bundesgebiet geboren, habe den Kindergarten besucht und werde hier in die Schule gehen. Die Drittrevisionswerberin und der Viertrevisionswerber seien hier sozialisiert, hätten altersadäquate Sprachkenntnisse und die Heimat ihrer Eltern nie besucht.

9 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan:

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 29.10.2019, Ra 2019/14/0390, mwN).

11 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.12.2019, Ra 2019/14/0242, mwN).

12 Der als grundsätzlich formulierten Rechtsfrage hinsichtlich der Bedeutung des Vorliegens einer überlangen Verfahrensdauer für die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK käme lediglich dann Relevanz für den Verfahrensausgang zu, wenn sich während der Verfahrensdauer schützenswerte familiäre oder private Interessen der revisionswerbenden Parteien herausgebildet hätten (vgl. VwGH 21.3.2018, Ra 2018/18/0122 und 0123). Im vorliegenden Fall verneinte das BVwG einen Eingriff in das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK, zumal alle Revisionswerber von den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen seien. Den privaten Interessen der revisionswerbenden Parteien wurde aufgrund dessen, dass bei ihnen keine tiefergehende Integration im Bundesgebiet vorliege, nur ein geringes Gewicht beigemessen. Dass die in Form einer Gesamtbetrachtung im Sinn der oben dargestellten Rechtsprechung vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung unvertretbar wäre, vermag die Revision nicht aufzuzeigen. 13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2019/19/0136 und 0137, mwN).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte zu einer Zeit gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Wenngleich minderjährigen Kindern dieser Vorwurf nicht zu machen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (vgl. erneut VwGH 21.5.2019, Ra 2019/19/0136 und 0137, mwN).

15 Im vorliegenden Fall berücksichtigte das BVwG den Kindergartenbesuch der Drittrevisionswerberin, das anpassungsfähige Alter der Drittrevisionswerberin und des Viertrevisionswerbers, die Kenntnis der Muttersprache sowie den Umstand, dass die beiden Kinder - wie auch ihre Eltern - über soziale und familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat verfügten, sodass ihnen insgesamt zugemutet werden könne, sich im Herkunftsstaat zu integrieren.

16 Vor diesem Hintergrund gelingt es der Revision nicht, aufzuzeigen, dass sich das BVwG von den in der Rechtsprechung entwickelten Leitlinien entfernt hätte, oder die fallbezogen - in Bezug auf alle Revisionswerber -vorgenommene Interessenabwägung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise erfolgt wäre.

17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 28. Februar 2020

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