BVwG L508 2254265-1

BVwGL508 2254265-110.10.2023

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:L508.2254265.1.00

 

Spruch:

 

L508 2254319-1/18E

L508 2254318-1/18E

L508 2254265-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

1) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch Rechtsanwälte Kocher & Bucher, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.03.2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.08.2023, zu Recht erkannt:

 

A)

Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat: „Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen.“

 

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

2) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch Rechtsanwälte Kocher & Bucher, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.03.2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.08.2023, zu Recht erkannt:

 

A)

Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat: „Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen.“

 

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

3) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch die Mutter XXXX , diese wiederum vertreten durch Rechtsanwälte Kocher & Bucher, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.03.2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.08.2023, zu Recht erkannt:

 

A)

Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat: „Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen.“

 

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang

1. Der Erstbeschwerdeführer (nachfolgend: BF1), ist mit der Zweitbeschwerdeführerin (nachfolgend: BF2), in aufrechter Ehe verheiratet, der minderjährige Drittbeschwerdeführer (nachfolgend: BF3) ist das leibliche Kind des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Sämtliche Beschwerdeführer sind Staatsangehörige aus der Türkei und der kurdischen Volksgruppe sowie der islamischen Religionsgemeinschaft zugehörig. Sie reisten im April 2021 gemeinsam auf dem Luftweg aus der Türkei aus und etwa Mitte April 2021 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 20.04.2021 jeweils - die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin ihres mitgereisten Kindes, nämlich des minderjährigen Drittbeschwerdeführers - einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

 

2. Am Tag der Antragstellung erfolgte eine Erstbefragung nach dem AsylG des BF1 und der BF2 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdiensts. Der BF1 gab zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, dass er aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit von der Polizei gesucht worden sei. Er hätte für fünf Jahre einen Haftbefehl erhalten und könne daher nicht mehr in der Türkei leben. Er würde immer wieder von der Polizei gesucht werden. Dies sei für ihn und seine Familie kein Leben mehr gewesen. Er würde als Kurde verfolgt werden. Bei einer Rückkehr fürchte er aufgrund des Haftbefehls um sein Leben und das Leben seiner Familie. Die Zweitbeschwerdeführerin führte zu den Gründen der Ausreise befragt, an, sie habe die Türkei verlassen, da sie Kurdin sei. Gegen ihren Gatten bestünde ein Haftbefehl und werde dieser von der Polizei gesucht. Ihre Schwestern seien vor drei Jahren von den Behörden ermordet worden. Bei einer Rückkehr fürchte sie um ihr Leben, das Leben ihres Gatten und ihres Sohnes.

 

3. Nach Zulassung der Verfahren wurden der BF1 und die BF2 am 14.09.2021 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nachfolgend: BFA) niederschriftlich von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen. Im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte der BF1 im Wesentlichen dar, dass er 2012 für 45 Tage festgenommen worden sei, weil er der Halkların Demokratik Partisi (nachfolgend: HDP) geholfen hätte. Er hätte auch an Demos und an den Newroz-Feiern teilgenommen. Im Mai 2015 sei er wieder für vier Jahre und einen Monat wegen Unterstützung der HDP festgenommen worden. Nach der Entlassung hätte er sofort geheiratet und nach rund sechs Monaten sei er abermals für rund vier Monate ins Gefängnis gekommen. Er hätte alle Unterlagen, wann er verhaftet worden sei. Bei den vorgelegten Beweismitteln befänden sich auch die Unterlagen, wonach er in der Türkei gesucht werden würde. Im Gefängnis sei er gefoltert worden. Er sei in seiner Zelle sogar angezündet worden. Dazu gebe es Unterlagen. Er sei auch einmal 20 Tage in eine dunkle Einzelzelle gesteckt worden. In dieser Zeit seien sie immer wieder in die Zelle gekommen und hätten ihn geschlagen und gefoltert. Ein weiterer Grund stehe in Zusammenhang mit der Schwester seiner Ehegattin. Sein Sohn - der BF3 - besitze keine eigenen Fluchtgründe. Die BF2 gab wiederum, befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates, zu Protokoll, dass sie wegen ihres Ehegatten und auch wegen ihrer Familie geflohen sei. Die Familie ihrer Eltern sei immer wieder von der Polizei belästigt worden. Auch die Familie ihres Ehegatten habe keine Ruhe vor der Polizei. Ihre Schwester - und auch eine Cousine - seien Mitglieder in der HDP gewesen. Beide seien nicht weit von ihrer Wohnung in Kovanlı umgebracht worden. Danach sei die Polizei immer wieder gekommen und habe sie aufgefordert, die Gegend zu verlassen. Sie hätten auch ihre Sachen zerstört. Ihre Schwestern hätten früh geheiratet, um von dort wegzukommen und wieder in Ruhe leben zu können. Ihre Eltern würden auch jetzt noch bedroht werden. Diesen seien auch dadurch bedroht worden, dass man ihnen gesagt habe, ihr und ihren Schwestern würde etwas geschehen. Deshalb sei sie auch bereits mit 13 verlobt worden. Ihr Ehegatte sei dann aber sechs Jahre im Gefängnis gewesen, weshalb sie erst später geheiratet hätten. Abschließend bestätigte auch die BF2, dass ihr Sohn - der BF3 - keine eigenen Fluchtgründe besitze.

Weitere Angaben zu den behaupteten Problemen machten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nach entsprechenden Fragen durch den Leiter der Amtshandlung.

Im Zuge der Einvernahme legte der BF1 insbesondere einen türkischen Auszug aus dem Geburtseintrag, einen türkischen Auszug aus dem Heiratseintrag, ein türkisches Familienregister und türkische Unterlagen zur Bescheinigung seines Fluchtvorbringens (samt deutscher Übersetzung) in Kopie vor. Die BF2 brachte eine Sterbeurkunde einer im Jahr 2018 verstorbenen Schwester in Vorlage.

4. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.03.2022 wurde der jeweilige Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den „Herkunftsstaat …“ gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkte III. bis V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Dem ausreisekausalen Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin bezüglich der Gewährung von Asyl wurde im Rahmen der Beweiswürdigung - mag sich der BF1 auch mehrfach in Haft befunden haben - die Glaubhaftigkeit versagt. Der Drittbeschwerdeführer hat keine eigenen ausreisekausalen Fluchtgründe vorgebracht.

 

In der rechtlichen Beurteilung wurde jeweils begründend dargelegt, warum der von den Antragstellern vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wurde, weshalb gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wider die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass deren Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Ferner wurde erläutert, weshalb gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestehe.

5. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.03.2022 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und diese ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass sie verpflichtet seien, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

 

6. Der BF1 einerseits und die BF2 und der BF3 andererseits erhoben gegen die oa. Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils fristgerecht mit einem eigenen Schriftsatz vom 01.04.2022 in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für die Beschwerdeführer jeweils günstigerer Bescheid erzielt worden wäre, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Hinsichtlich des genauen Inhalts der Beschwerden wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.

6.1. Im Rahmen des Schriftsatzes des BF1 wurde zunächst - nach kurzer Wiedergabe des Sachverhalts und des bisherigen Verfahrensgangs - moniert, dass die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken habe, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrags geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrags notwendig erscheinen.

Diesen Anforderungen habe die belangte Behörde nicht entsprochen, zumal die belangte Behörde, obwohl der BF1 die HDP politisch unterstütze und angegeben habe, eine Inhaftnahme zu befürchten, nicht näher darauf eingegangen sei und keine weiteren Ermittlungen bezüglich der Haftbedingungen in der Türkei angestellt habe. Der BF1 sei zudem durch die Ehe mit seiner Gattin, die Schwester einer „Terroristin“ sei, einem erhöhten Risiko ausgeliefert, in das Blickfeld der Polizei zu gelangen. Bezüglich einer solchen Gefahr wurde in diesem Zusammenhang auch auf einen Bericht des UK Home Office „Bericht einer vom 17. bis 21. Juni 2019 durchgeführten Fact-Finding-Mission zu KurdInnen, der HDP und der PKK“ verwiesen. Ebenso wenig habe das BFA ausreichende Ermittlungen getätigt, die die Familienverhältnisse des BF1 aufklären. Des Weiteren sei die belangte Behörde der Meinung, dass der BF1 zu Recht eingesperrt gewesen sei. Die belangte Behörde behaupte, dass es sich beim BF1 um einen gewalttätigen Verbrecher handle und er eigentlich zu Recht im Gefängnis gewesen sei. Werde tatsächlich angenommen, dass der BF1 nicht willkürlich, sondern rechtmäßig verurteilt gewesen sei, sei zu prüfen, ob nicht eine stärkere Bestrafung des BF1 nur aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit vorliege. Es sei aus dem Bescheid nicht ersichtlich, ob die Behörde geprüft habe, ob die Strafbemessung in der Türkei, abhängig von der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, variiere. Es sei wahrscheinlich, dass die Gerichte in der Türkei bei der Strafbemessung darauf achten, ob es sich beim Beschuldigten um einen Kurden oder einen ethnischen Türken handle, wobei in diesem Zusammenhang auszugsweise auf die vom BFA herangezogenen Länderfeststellungen zur Thematik „Justizwesen“ verwiesen werde.

Ferner würden sich die getroffenen Länderfeststellungen nicht ausreichend mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF1 befassen und würden sich die herangezogenen Länderberichte als unvollständig und teilweise unrichtig erweisen. Insofern wurde bezüglich der Situation der Kurden und der Menschenrechtslage für Personen, die der Opposition angehören, sowie der Haftbedingungen auszugsweise auf zahlreiche weitere Länderberichte verwiesen (AS 163 - 179 im Akt 2254319). Aus diesen Berichten gehe hervor, dass Kurden weiter diskriminiert werden würden und dass sie Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt seien. Des Weiteren würden die Berichte zeigen, dass Personen, die der politischen Opposition angehören würden, und vor allem Kurden in der politischen Opposition, oftmals das Ziel von Gewalttaten und Verfolgung, etwa auch von Sicherheitsbehörden, werden würden. Haftbedingungen in der Türkei würden grobe Menschenrechtsverletzungen aufweisen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Großstädten stünde dem BF1 nicht offen.

Ferner wurde moniert, dass die Feststellungen auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung und einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung basieren und § 60 AVG verletzen würden. Das BFA werfe dem BF1 vor, dass er für seine Verurteilung selbst verantwortlich sei und dass er ein Gewalttäter sei. Dabei untersuche es nicht das Justizwesen in der Türkei und berücksichtige nicht einmal die Berichte, die es selbst als Beweise benütze. Der BF1 habe allerdings wahrheitsgetreu angegeben, dass er aufgrund seiner politischen Aktivitäten von der Polizei unter Druck gesetzt und willkürlich verurteilt sowie inhaftiert worden sei. Das BFA habe es verabsäumt zu würdigen, dass dem BF1 bei drohender Haft in der Türkei aufgrund der schlechten Haftbedingungen Verletzungen seiner durch Artikel 2 und 3 EMRK garantierten Rechte drohen würden. Das BFA verharmlose auch die Ermordung der Schwägerin. Der BF1 könnte aufgrund seiner Familienzugehörigkeit zusätzlich ins Visier der türkischen Behörden geraten.

Im Rahmen rechtlicher Ausführungen wurde schließlich dargelegt, dass - insofern der BF1 in der Türkei wegen seiner politischen Einstellung, wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie verfolgt werde - dies für ihn die Definition eines Flüchtlings iSd GFK zutreffen lasse. Eine wirtschaftliche Absicherung des BF1 wäre nicht gegeben. Auch seine Familie könnte und wollte ihn dahingehend nicht unterstützen. Dem Erstbeschwerdeführer hätte jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen, wenn die belangte Behörde ihre Ermittlungspflicht in angemessener Weise wahrgenommen und den vorliegenden Sachverhalt rechtlich richtig beurteilt hätte.

6.2. Im Rahmen des Schriftsatzes der BF2 und des BF3 wurde zunächst - nach kurzer Wiedergabe des Sachverhalts und des bisherigen Verfahrensgangs - ebenfalls moniert, dass die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken habe, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrags geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrags notwendig erscheinen. Die eingebrachten Länderberichte seien bereits deutlich veraltet und zum Entscheidungszeitpunkt des BFA teilweise bereits über ein Jahr alt gewesen.

Ferner habe das BFA der Entscheidung unzureichende Länderberichte zugrunde gelegt bzw. die ihr zur Verfügung stehenden Berichte nicht korrekt ausgewertet. Die BF2 befürchte politischer Verfolgung aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit ausgesetzt zu sein. Die BF2 habe wahrheitsgemäß ausgesagt, dass ihre Schwester und eine Cousine von der türkischen Polizei ermordet worden seien. Ihr Ehegatte sei mehrmals verhaftet worden. Das BFA habe einfach nicht an die Verfolgung geglaubt, ohne dies näher zu begründen. Insofern wurde bezüglich der Situation der Kurden und der Menschenrechtslage für Personen, die der Opposition angehören, sowie der Haftbedingungen auszugsweise auf zahlreiche weitere Länderberichte verwiesen (AS 99 - 107 im Akt 2254318).

Des Weiteren wurde bezüglich unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund mangelhafter Beweiswürdigung Folgendes festgehalten: Während sich Feststellungen iSd AVG auf bewiesene Tatsachen beziehen, also auf Tatsachen, an deren Existenz kein vernünftiger Zweifel bestehe, sei an die Glaubhaftmachung ein wesentlicher anderer Maßstab anzulegen. Es genüge die Beachtlichkeit der Wahrscheinlichkeit, um die Glaubhaftigkeit eines Sachverhalts anzunehmen. Bei korrekter Auswertung des Vorbringens und der Länderberichte hätte die Behörde zum Schluss kommen müssen, dass der BF2 als Kurdin wegen der Familienzugehörigkeit oppositionelle Gesinnung und Unterstützung des Terrorismus vorgeworfen werden könne.

Im Rahmen rechtlicher Ausführungen wurde schließlich dargelegt, dass bei einer Rückkehr die staatliche Verfolgung nicht auszuschließen sei, da die vorgelegten Berichte bestätigen würden, dass die Schwelle, als Terrorist angeklagt zu werden, äußerst niedrig und willkürlich sei und die BF2 bei einer Rückkehr mit Sicherheit von den türkischen Behörden festgenommen werde. Die BF2 werde vom türkischen Staat politisch verfolgt und hätte daher unmenschliche Behandlung und eine Bedrohung ihres Lebens zu erwarten. Das lasse für sie die Definition eines Flüchtlings iSd GFK zutreffen. Hätte das BFA seine eigenen Länderfeststellungen sowie die in der Beschwerde angeführten Berichte berücksichtigt, wäre es zum Schluss gekommen, dass der BF2 angesichts der derzeitigen politischen Unruhen in der Türkei jedenfalls subsidiärer Schutz gewährt werden müsste, da sie als Kurdin überall Opfer willkürlicher Gewalt werden könne, wie die einschlägigen Länderberichte bestätigen würden.

Eine Prüfung und Bewertung der Frage eines tatsächlichen und effizienten Schutzes im Heimatstaat finde im jeweils angefochtenen Bescheid ebenfalls nicht statt.

6.3. Was die jeweiligen Rückkehrentscheidungen betrifft, so seien die angefochtenen Bescheide rechtswidrig, da das BFA verkannt habe, dass die Beschwerdeführer durch eine Rückkehrentscheidung in ihren Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt werden. Das BFA habe eine mangelhafte Interessenabwägung vorgenommen und sei daher zu Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verhängung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Unter Verweis auf zwei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts wurde hierbei ausgeführt, dass dem BF1 und der BF2 bei einer Abschiebung in die Türkei eine Festnahme und eine Haftstrafe drohe, weshalb ihnen aufgrund der Haftbedingungen in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verletzungen ihrer durch Artikel 2 und 3 EMRK garantierten Rechte drohen würden.

6.4. Gemäß Artikel 47 Abs. 2 GRC habe jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt werde.

In den gegenständlichen Beschwerden sei die Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens aufgezeigt worden. Da das BVwG seiner Entscheidung aktuelle Länderberichte zugrunde zu legen habe und die Feststellungen des Bundesamtes zumindest insofern zu ergänzen haben werde, sei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung schon allein aus diesem Grunde erforderlich. Zudem sei der Beweiswürdigung des Bundesamtes substantiiert entgegengetreten worden. Da die entscheidungswesentlichen Feststellungen von der Beurteilung der Glaubwürdigkeit abhängig seien, habe sich das BVwG einen persönlichen Eindruck von den Beschwerdeführern zu verschaffen. Auch in Hinblick auf die bekämpfte aufenthaltsbeendende Maßnahme und die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen der Beschwerdeführer in Österreich, habe der VwGH wiederholt festgestellt, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände, besondere Bedeutung zukomme und diese nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden könne. Zweck einer Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sei darüber hinaus nicht nur die Klärung des Sachverhalts und die Einräumung von Parteiengehör zu diesem, sondern auch das Rechtsgespräch und die Erörterung der Rechtsfragen. Dies gelte insbesondere dann, wenn sich die Rechtslage während des Verfahrens in einem entscheidungswesentlichen Punkt ändere, sich daraus eine Rechtsfrage ergebe, die im bisherigen Verfahren noch nicht erörtert worden sei und zu der der Beschwerdeführer noch keine Gelegenheit zur Äußerung gehabt habe.

6.5. Abschließend wurde jeweils beantragt,

- eine mündliche Verhandlung anzuberaumen;

- falls nicht alle zu Lasten der Beschwerdeführer gehenden Rechtswidrigkeiten in den angefochtenen Bescheiden geltend gemacht wurden, diese amtswegig aufzugreifen;

- die angefochtenen Bescheide zu beheben und den Beschwerdeführern den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen;

- hilfsweise die angefochtenen Bescheide bezüglich des Spruchpunktes II. zu beheben und den Beschwerdeführern den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen;

- hilfsweise die angefochtenen Bescheide bezüglich der Spruchpunkte II. bis IV. aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt und den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikels 8 EMRK erteilt werde;

- hilfsweise die angefochtenen Bescheide bezüglich des Spruchpunktes V. aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass eine Abschiebung für unzulässig erklärt werde;

- hilfsweise die angefochtenen Bescheide ersatzlos zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

6.6. Mit diesen Rechtsmitteln wurde jedoch kein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet, welches geeignet wäre, zu einer anderslautenden Entscheidung zu gelangen.

 

7. Mit Schreiben vom 19.05.2022 (OZ 3 im Akt 2254319) wurde seitens der Beschwerdeführer im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung eine Beschwerdeergänzung erstattet. Darin wurde zunächst - nach kurzer Wiedergabe des Sachverhalts und des bisherigen Verfahrensgangs - erneut moniert, dass die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt und das Verfahren mit einer mangelhaften Begründung sowie Beweiswürdigung belastet hätte. In der Folge wurden die ausreisekausalen Ereignisse von Seiten der Beschwerdeführer chronologisch umfassend darzustellen vesucht (OZ 3 im Akt 2254319, S 3 - 9), wobei angemerkt wurde, dass es dem BF1 zwar offensichtlich schwer gefallen sei, das Vorbringen geradlinig und ohne abzuschweifen, vorzubringen. Daraus sei aber gerade im konkreten Fall der traumatischen Erlebnisse nicht auf die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens an sich zu schließen. Des Weiteren wurde unter Wiedergabe einschlägiger Rechtsnormen und Zitate aus der Rechtsprechung sowie der auszugsweisen Zitierung zahlreicher Länderberichte zur Situation der Kurden und der Menschenrechtslage für Personen, die der Opposition angehören, sowie zu den Haftbedingungen (OZ 3 im Akt 2254319, S 13 f, 18 f, 20 - 23) ausgeführt, dass entgegen der Ansicht des BFA die Beschwerdeführer die Voraussetzungen erfüllen würden, den Status eines Asylberechtigten, jedenfalls aber jenen eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt zu erhalten. Es sei davon auszugehen, dass das BFA bei einem entsprechenden Ermittlungsverfahren zu einem anderen, für die Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre und den Beschwerdeführern Asyl gemäß § 3 AsylG 2005, zumindest aber subsidiären Schutz gemäß § 8 AsylG 2005 gewährt hätte.

Abschließend wurde nochmals beantragt,

- eine mündliche Verhandlung durchzuführen und in Stattgebung der Beschwerde

- den Beschwerdeführern den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen und festzustellen, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt;

- hilfsweise den Beschwerdeführern den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG zu erteilen;

- hilfsweise die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführer für auf Dauer unzulässig festzustellen und ihnen eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG zu erteilen;

- hilfsweise die angefochtenen Bescheide aufzuheben und das Verfahren zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

8. Am 21.04.2023 wurde vom Bundesverwaltungsgericht – nach eingeholter schriftlicher Zustimmungserteilung durch die Beschwerdeführer - eine Anfrage an die Staatendokumentation gerichtet, um nähere Informationen bezüglich der von den Beschwerdeführern geschilderten ausreisekausalen Ereignisse und den diesbezüglich vorgelegten Behördendokumenten zu erlangen und langte Mitte Mai 2023 die bezughabende Anfragebeantwortung ein.

9. Am 25.05.2023 wurde vom Bundesverwaltungsgericht zudem eine Anfrage an die Österreichische Botschaft in Ankara gestellt, um nähere Informationen bezüglich der von den Beschwerdeführern geschilderten ausreisekausalen Ereignisse und den diesbezüglich vorgelegten Behördendokumenten zu erlangen und langte am 05.06.2023 die bezughabende Anfragebeantwortung ein.

10. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für 30.08.2023 eine öffentliche mündliche Verhandlung an. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte des Weiteren das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für die Türkei (Version 7, Datum der Veröffentlichung: 29.06.2023) und stellte dem BF1 und der BF2 eine Stellungnahme hierzu bis spätestens eine Woche vor der mündlichen Verhandlung frei. Ferner wurden der BF1 und die BF2 aufgefordert bis spätestens eine Woche vor der Verhandlung eine umfassende Stellungnahme zu ihrem Privat- und Familienleben abzugeben und diese mit geeigneten Beweismitteln zu untermauern sowie sämtliche Unterlagen hinsichtlich ihrer Integration in Vorlage zu bringen.

11. Mit Eingabe vom 24.08.2023 (OZ 15 im Akt 2254319) erstatteten die Beschwerdeführer im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung eine Stellungnahme. Demnach wurde unter abermaliger Zitierung zahlreicher Länderberichte zur Situation der Kurden in der Türkei ausgeführt, dass der BF1 ein konkretes Vorbringen erstattet habe, welches vor dem Hintergrund der Ausführungen zur generellen Lage der kurdischen Minderheit sehr wohl glaubhaft mache, dass ihm im Falle seiner Rückkehr in asylrelevanter Weise und als Kurde auch Verfolgung aufgrund seiner Volkszugehörigkeit und politischen Gesinnung drohen würde. Zudem habe der BF1 angegeben, dass er bereits mehrmals in einem Gefängnis untergebracht gewesen sei, wo er Misshandlungen, Folter und Schlägen ausgesetzt gewesen sei. Ausdrücklich sei betont worden, dass im Gefängnis in Tekirdag in der Westtürkei politische Gefangene und Kurden besonders schlecht behandelt werden würden. Nach Einbeziehung der aktuellen Quellenlage könne nicht von einer Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates ausgegangen werden.

12. Am 30.08.2023 wurde vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung abgehalten, an welcher die Beschwerdeführer, die mit ihrer rechtsfreundlichen Vertretung erschienen, teilnahmen. Die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter, beantragte jedoch die Abweisung der Beschwerde. Im Verlauf der mündlichen Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt, Erörterung der aktuellen Länderberichte zur Situation in der Türkei sowie ergänzende Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin als Parteien.

13. Hinsichtlich des Verfahrenshergangs und des Parteivorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Verfahrensbestimmungen

1.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

 

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

 

Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.

 

1.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

 

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

 

§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

 

Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.

 

1.3. Prüfungsumfang

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

 

Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

 

Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

 

Gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

 

1.4. Familienverfahren

§ 34 AsylG 2005 lautet:

„(1) Stellt ein Familienangehöriger von1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder3. einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn1. dieser nicht straffällig geworden ist und

(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn1. dieser nicht straffällig geworden ist;

(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)3. gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und4. dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:1. auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;2. auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;3. im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30 NAG).“

 

Gemäß § 2 Absatz 1 Z 22 leg. cit. ist somit ein Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten ist, wer Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten ist, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat, ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten und der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat

 

Im gegenständlichen Fall liegt ein Familienverfahren zwischen dem BF1 und der BF2 sowie dem minderjährigen Kind - BF3 - und den Eltern [BF1 und BF2] vor.

 

2. Zur Entscheidungsbegründung:

Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in die Verfahrensakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, der bekämpften Bescheide, der Beschwerdeschriftsätze und der am 30.08.2023 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

Das erkennende Gericht hat durch die vorliegenden Verwaltungsakte Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt.

 

Aufgrund der vorliegenden Verwaltungsakte, des Ergebnisses des ergänzenden Ermittlungsverfahrens sowie der Beschwerdeverhandlung ist das erkennende Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

 

2.1. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens gelangt das BVwG nach Maßgabe unten dargelegter Erwägungen zu folgenden entscheidungsrelevanten Feststellungen:

 

2.1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer und deren Fluchtgründen:

Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Kurden an und sind islamischen Glaubens.

 

Die Identität der Beschwerdeführer steht fest. Der BF1 trägt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Die BF2 trägt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Die BF3 trägt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren.

 

Dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin fehlt es an persönlicher Glaubwürdigkeit.

 

Die BF2 hat ihre Verfolgungsgründe im Wesentlichen auf das ausreisekausale Vorbringen des Erstbeschwerdeführers gestützt. Der BF3 hat keine eigenen Verfolgungsgründe dargelegt, sondern sich auf die Fluchtgründe von BF1 und BF2 - seinen Eltern - bezogen.

 

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an.

 

Die erwachsenen Beschwerdeführer zeigen Interesse für die kurdischen Belange und sympathisier(t)en - ebenso wie der Großteil der Familien des BF1 und der BF2 - mit der Halkların Demokratik Partisi. Der Erstbeschwerdeführer hat an Veranstaltungen und Demonstrationen der HDP teilgenommen und nicht näher präzisierte Hilfstätigkeiten übernommen.

Der Erstbeschwerdeführer entfaltete während seines Aufenthalts in Österreich kein (exil-)politisches Engagement und schloss sich auch keiner hier tätigen kurdischen Organisation an.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehören nicht der Gülen-Bewegung an und waren nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Eine Schwägerin des Erstbeschwerdeführers bzw. eine Schwester der Zweitbeschwerdeführerin - eine Kämpferin der Volksverteidigungskräfte (bewaffneter Arm der PKK) - verlor im Zuge von Kampfhandlungen mit den türkischen Sicherheitskräften im Juli 2018 ihr Leben. Die genauen Umstände ihres Todes waren nicht feststellbar.

Der Erstbeschwerdeführer möchte den Wehrdienst nicht ableisten. Er unterliegt als männlicher türkischer Staatsangehöriger der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei. Der BF1 konnte mit seinem Vorbringen, in der Türkei den Wehrdienst ableisten zu müssen, keine ihm im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohende Verfolgungsgefahr aus den in der GFK genannten Gründen, die dem Herkunftsstaat zurechenbar wäre, glaubhaft machen. Er wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer die Ableistung des Wehrdiensts aus Gewissensgründen verweigert.

 

Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer im Fall einer Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der Wehrpflicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Kampfhandlungen eingesetzt würde oder er sich im Rahmen seines Wehrdiensts an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müsste. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden.

 

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten systematischen Misshandlungen durch Vorgesetzte bzw. Offiziere unterliegen bzw. der BF1 im Zuge der Verrichtung seines Militärdiensts solche zu erwarten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem Erstbeschwerdeführer - sollte er sich weigern, seinen Militärdienst abzuleisten - eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.

 

Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa während der Schulzeit, beim Verwenden der kurdischen Sprache oder bei Straßenkontrollen, aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit sind durchaus glaubhaft.

 

Von 07.08.2011 bis 09.08.2011 wurde der BF1 - ein Sympathisant der prokurdischen Partei HDP bzw. deren Vorgängerpartei - mit Beschluss des 1. Jugendgerichts Mersin und von 01.01.2013 bis 02.01.2013 mit Beschluss des 2. Jugendgerichts Mersin in Zusammenhang mit gegen ihn gerichteten Strafverfahren in Gewahrsam genommen. Ferner befand sich der BF1 von 19.03.2012 bis 03.05.2012 in Untersuchungshaft. Das 1. Jugendgericht Mersin verurteilte ihn wegen einer am 07.08.2011 begangenen Straftat nach Artikel 174 Abs. 1 und 2 türkisches Strafgesetzbuch wegen „Besitz oder Austausch von gefährlichen Stoffen ohne Erlaubnis“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, einen Monat und 15 Tagen und wegen einer am 23.08.2012 begangenen Straftat nach Artikel 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Regulierung des Tabak-, Tabakprodukt- und Alkoholmarkts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Aufgrund einer Entscheidung des 2. Jugendgerichts Mersin wurde der BF1 wegen einer am 01.01.2013 begangenen Straftat nach Art. 314 Abs. 2 ("Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation") iVm Art. 220 Abs. 6 türkisches StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Ferner wurde der BF1 aufgrund einer Entscheidung des 1. Jugendgerichts Mersin wegen einer am 16.03.2012 begangenen Straftat abermals nach Artikel 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Regulierung des Tabak-, Tabakprodukt- und Alkoholmarkts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Das 1. Jugendgericht Mersin verurteilte den BF1 schließlich wegen einer am 01.01.2013 begangenen Straftat nach Artikel 151 Abs. 1 und 2a türkisches Strafgesetzbuch wegen „Qualifizierter Sachbeschädigung“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, einen Monat und 10 Tagen. Der konkrete Inhalt dieser Entscheidungen kann nicht festgestellt werden.

 

Der BF1 verbüßte diese Freiheitsstrafen ab 15.05.2015 in verschiedenen Gefängnissen und wurde zuletzt bereits am 16.06.2020 bedingt aus der Haft entlassen. Im Zuge der Verbüßung seiner Haftstrafen wurde wider den BF1 wegen absichtlicher Brandstiftung eine Disziplinarmaßnahme verhängt. Weitere Konsequenzen bezüglich dieser Verurteilungen gab es nicht und sind auch weder gegenwärtig noch für den Fall der Rückkehr in den Heimatstaat zu erwarten.

 

Dass das Verfahren wider den BF1 wegen (einer) am 15.03.2012 begangenen Straftat(en), nämlich Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubter Besitz von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, nach einem Unzuständigkeitsurteil vom 13.06.2014 und einer Entscheidung der 5. Strafkammer des Obersten Gerichts Anfang 2015 nunmehr wieder beim 3. Schwurgericht Mersin fortgesetzt/ wiedereröffnet wird und/oder ein Haftbefehl wider ihn vorliegt, kann nicht festgestellt werden.

Die vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin vorgebrachten weiteren Schilderungen, wonach der BF1 während seiner Inhaftierungen ständig Folter und Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei, es nach der zuletzt erfolgten Enthaftung bei ihm eine Hausdurchsuchung gegeben habe, der BF1 im Anschluss kurzfristig für einen Tag für einen Rekrutierungsversuch (für eine Tätigkeit als Informant) festgenommen worden sei, die Familien der beiden erwachsenen Beschwerdeführer ständig bedroht und nach der Enthaftung des BF1 auch die BF2 ständig von der Polizei belästigt und unter Druck gesetzt worden sei, werden der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.

Dem Erstbeschwerdeführer wurde im Rahmen der Strafverfahren Gelegenheit eingeräumt, sich zu verteidigen. Er ist in den Strafverfahren, etwa auch im Strafverfahren wegen „Qualifizierter Sachbeschädigung“, rechtsanwaltlich vertreten gewesen.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass wider den BF1 wegen (einer) am 15.03.2012 begangenen Straftat(en), nämlich Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubter Besitz von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, beim 3. Schwurgericht Mersin ein Verfahren in ersten Instanz anhängig ist, kann nicht festgestellt werden, dass die wider den Erstbeschwerdeführer in diesem Zusammenhang erhobene Anklage aus einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund erhoben wurde oder dass die strafrechtliche Verfolgung des Erstbeschwerdeführers auf anderen unsachlichen Motiven beruht. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die Strafverfolgung dem Zweck dient, den Erstbeschwerdeführer etwa wegen der persönlichen Nähe zu seiner im Jahr 2018 verstorbenen Schwägerin und/oder seinen früheren politischen Aktivitäten zu bestrafen. Ferner kann zum Entscheidungszeitpunkt weder festgestellt werden, ob bzw. wann ein (erstinstanzliches) Urteil infolge des wider den Erstbeschwerdeführer eröffneten Strafverfahrens ergehen würde. Ebenso wenig kann gegenwärtig festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer der ihm zur Last gelegten Taten ganz oder teilweise schuldig erkannt wird oder ein gänzlicher oder teilweiser Freispruch ergeht bzw. zu welcher Strafe er im Fall eines Schuldspruchs verurteilt werden würde. Ausgehend davon kann auch nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und er anschließend seine Strafe in einer Typ-F-Hochsicherheitsstrafvollzugsanstalt verbüßen müsste. Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer im Fall einer Anhaltung in Haft mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gefoltert würde.

Der Beschwerdeführer befand sich seit Mitte Juni 2020 bis zur endgültigen Ausreise im April 2021 auf freiem Fuß und wurde er mit keinem Ausreiseverbot belegt.

Den türkischen Strafverfolgungsbehörden ist bekannt, dass sich der Erstbeschwerdeführer in Europa aufhält. Dass ein Verfahren zur Auslieferung des Erstbeschwerdeführers angestrengt wurde, kann nicht festgestellt werden.

Die Beschwerdeführer unterlagen vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat keiner individuellen Gefährdung und waren keiner psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt und werden im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.

Die Beschwerdeführer haben die Türkei aus wirtschaftlichen bzw. privaten Gründen verlassen und reisten nach Österreich respektive stellten hier einen Antrag auf internationalen Schutz, um beispielsweise ihrem Sohn - dem BF3 - ein besseres Leben zu ermöglichen.

Es kann sohin nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer aus Gründen der GFK asylrelevant verfolgt bzw. deren Leben bedroht wurde beziehungsweise dies im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte.

Es konnten im konkreten Fall auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer Gefahr liefen, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Türkei in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würden.

Im Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung der Beschwerdeführer in ihrem Heimatland festgestellt werden.

Die Beschwerdeführer sind gesund. Die Beschwerdeführer leiden weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Die Zweitbeschwerdeführerin ist schwanger und befindet sich im Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung etwa am Ende des ersten Trimesters der Schwangerschaft.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin befinden sich in einem arbeitsfähigen Zustand und Alter.

Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer wurden in der Provinz Mersin an der Mittelmeerküste geboren. Die Beschwerdeführer lebten zuletzt vor ihrer Ausreise in Mersin bei den Eltern des Erstbeschwerdeführers. Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin besuchten in ihrem Herkunftsstaat mehrere Jahre die Schule. Der Erstbeschwerdeführer und dessen Familie bestritten ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von (Shisha) Tabak. Die Zweitbeschwerdeführerin führte den Haushalt der Familie und übernahm die Erziehung und Pflege des minderjährigen BF3. Ihre finanzielle Situation war in Ordnung. Der Drittbeschwerdeführer verließ die Türkei im Alter von etwa einem Jahr und somit weit vor Erreichen des schulpflichtigen Alters. Die Beschwerdeführer haben in ihrem Herkunftsstaat in der Provinz Mersin Familie/Verwandte, namentlich etwa die Eltern, fünf Schwestern und zwei Brüder des Erstbeschwerdeführers und die Eltern und neun Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stehen mit den zuvor genannten Familienangehörigen regelmäßig in Kontakt.

 

Die Beschwerdeführer verließen die Türkei erstmals 2020 - das konkrete Ausreisedatum kann nicht festgestellt werden - und hielten sich im Anschluss für einige Wochen in der Ukraine auf. Aufgrund der ihnen an der ukrainisch/polnischen Grenze verweigerten Weiterreise kehrten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin mit ihrem Kind - dem BF3 - in die Türkei zurück. Im April 2021 - ob die Ausreise legal erfolgte, kann nicht festgestellt werden - reisten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin erneut gemeinsam mit dem minderjährigen Drittbeschwerdeführer aus der Türkei aus und reisten nach einem etwa zweiwöchigen Aufenthalt in Serbien Mitte April 2021 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 20.04.2021 jeweils den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

 

Die Beschwerdeführer verfügten noch nie über ein Aufenthaltsrecht für Österreich außerhalb des Asylverfahrens.

 

Der private und familiäre Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführer befindet sich in der Türkei. In Österreich halten sich keine Verwandten der Beschwerdeführer auf. Zwei Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin leben in den Niederlanden.

 

Die Beschwerdeführer verfügen hier über einen normalen Freundes- und Bekanntenkreis. Zwischen den Beschwerdeführern und ihren Bekannten/Freunden besteht kein ein- oder wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis und auch keine über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindung. Die Beschwerdeführer brachten keine Unterstützungserklärungen in Vorlage.

 

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin besuch(t)en in Österreich weder einen Deutschkurs, noch haben sie eine Deutschprüfung erfolgreich absolviert. Sie beherrschen die deutsche Sprache überhaupt nicht und waren nicht in der Lage, die an sie in deutscher Sprache gerichteten Fragen zu verstehen geschweige denn zu beantworten.

Der Drittbeschwerdeführer verfügt aufgrund seines Alters von dreieinhalb Jahren und des daraus resultierenden überwiegenden Kontakts mit seinen Eltern über keine altersadäquaten Kenntnisse der deutschen Sprache. Er erwirbt seit ca. zweieinhalb Monaten Kenntnisse der deutschen Sprache während seines Kindergartenbesuchs. Er pflegt dort einen altersentsprechenden Umgang mit Freunden.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Österreich in der Vergangenheit keine Bildungsangebote in Anspruch genommen und keine Aus-, Fort-, oder Weiterbildungen besucht.

Die Beschwerdeführer beziehen seit ihrer Einreise Mitte April 2021 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und leben von staatlicher Unterstützung. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren im Bundesgebiet bislang nicht legal erwerbstätig und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Gegenwärtig verfügen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin weder über eine aktuelle Einstellungszusage noch haben sie eine bestimmte Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in verbindlicher Weise durch Abschluss eines (bedingten) Dienstvertrags in Aussicht.

 

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind als erwerbsfähig anzusehen, etwaige - eine Teilnahme am Arbeitsleben ausschließende - gesundheitliche Einschränkungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sind nicht aktenkundig. Sie leisten keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit und sind nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich.

 

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

 

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration der Beschwerdeführer in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.

 

Sie haben mit Ausnahme ihres nunmehrigen Aufenthalts in Europa ihr Leben zum überwiegenden Teil in der Türkei verbracht, wo sie auch sozialisiert wurden und wo sich ihre engsten Familienangehörigen, ihre Bekannten und ihre Freunde aufhalten.

 

Es ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei wieder in ihrer Heimatprovinz bei Familienangehörigen wohnen werden können. Davon abgesehen sind der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin als arbeitsfähig und -willig anzusehen, was einerseits durch die in der Vergangenheit in der Türkei seitens des BF1 erfolgte Verrichtung einer Erwerbstätigkeit und andererseits durch die Schilderungen der Zweitbeschwerdeführerin, in Österreich einer Arbeit nachgehen zu wollen, belegt wird. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin (sowie der Drittbeschwerdeführer seinem Alter entsprechend) sprechen Türkisch und Kurdisch. Der Erstbeschwerdeführer ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit mehrjähriger Ausbildung in der Schule. Auch der Zweitbeschwerdeführerin ist - soweit es die Betreuungspflicht in Ansehung des minderjährigen Drittbeschwerdeführers und des noch ungeborenen Kindes zulässt - etwa die Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten zur Unterstützung des Familienauskommens im Rückkehrfall grundsätzlich möglich und zumutbar. Die Beschwerdeführer verfügen im Rückkehrfall außerdem über Unterstützung durch das familiäre Netzwerk des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer verfügt in seiner Herkunftsprovinz über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage, ferner ist eine hinreichende Betreuung und eine hinreichende Absicherung in seinen altersentsprechenden Grundbedürfnissen durch die Eltern und den Familienverband gegeben.

Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nicht vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Zulässigkeit der Abschiebung der Beschwerdeführer in die Türkei festzustellen ist.

 

2.1.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei war insbesondere festzustellen:

Zur Lage in der Türkei werden unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber den Beschwerdeführern offengelegten Quellen folgende - mit Note vom 11.08.2023 bzw. im Zuge der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführte - Länderfeststellungen dem Verfahren zugrunde gelegt:

COVID-19-Pandemie

Während der Covid-19-Pandemie wurde das staatliche Gesundheitssystem extrem belastet, konnte aber seine Aufgaben bisher weitgehend erfüllen. Es häuften sich Berichte über personelle Erschöpfung und beschränkte Behandlungsmöglichkeiten (AA 28.7.2022, S. 21).

Mit Stand Ende Dezember 2022 verzeichnete die Türkei offiziell rund 101.200 Menschen, die an den Folgen von COVID-19 verstarben, wobei für die letzten vier Wochen des Jahres 2022 kein einziger Todesfall verzeichnet wurde (JHU 29.12.2022). Bereits Mitte April 2022 sah die türkische Ärztekammer (TTB) die Zahl der COVID-19-Toten nach zwei Jahren Pandemie, im Widerspruch zu den zu jenem Zeitpunkt offiziell vermeldeten rund 98.000 Verstorbenen (bei insgesamt circa 14,78 Millionen Fällen), bei geschätzten 274.000. Die Berechnungen der Ärztekammer erfolgten anhand der Übersterblichkeitsrate (Ahval 14.4.2022). Angesichts der erneuten Sommerwelle im Juli 2022, zurückzuführen auf das Ende fast aller Maßnahmen, erneuerte die Ärztekammer den Vorwurf falscher COVID-19-Infektionszahlen. Die tatsächliche Infektionszahl wäre mit 235.000 demnach doppelt so hoch wie die vom Gesundheitsministerium angegebene (Ahval 16.7.2022).

Beginnend mit 1.6.2022 wurde das Tragen von Masken sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen sowie im öffentlichen Verkehr aufgehoben. In Gesundheitseinrichtungen wird das Tragen von Masken aber weiterhin empfohlen. Seit 1.6.2022 wird für die Einreise aus Österreich in die Türkei kein Nachweis über eine Impfung oder Genesung bzw. kein negativer PCR-Test oder negativer Antigen-Schnelltest mehr verlangt (WKO 15.2.2023).

Politische Lage

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu, insbesondere als Folge der Teuerung und des damit verbundenen Kaufkraftverlustes und der einhergehenden, zunehmenden Verarmung von Teilen der Bevölkerung. Die Opposition versucht, die Regierung in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen, und fördert eine migrantenfeindliche Stimmung. Die einst gegenüber Flüchtlingen mehrheitlich freundlich eingestellte Bevölkerung ist mittlerweile nicht mehr bereit, weitere Menschen aufzunehmen (ÖB 30.11.2022, S. 4). Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert (WZ 7.5.2023; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 4, EC 12.10.2022, S. 11) zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagierten ein "stolzes Türkentum", islamischen Wertvorstellungen wurde zusehends mehr Gewicht verliehen, Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpften um ihr Dasein (WZ 7.5.2023).

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 12.10.2022, S. 3, 11; vgl. WZ 7.5.2023).

Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 10.2022, S. 6; vgl. DE 31.12.2023, Günay 2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 10.2022, S. 6; vgl. Esen/Gumuscu 19.2.2016).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 12.10.2022, S. 11f.). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 12.10.2022, S. 6).

Das Präsidialsystem

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, S. 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2022, S. 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55; vgl. EC 12.10.2022, S. 4, 13). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. Das Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei der Türkei, der HDP, ist noch nicht abgeschlossen [Anm.: Stand Mai 2023], und es werden immer mehr parlamentarische Immunitäten der Mandatare der Opposition aufgehoben (EC 12.10.2022, S. 4, 13).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck. So wurden zwei stellvertretende Gouverneure und ein Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Zentralbank entlassen (EC 12.10.2022, S. 9, 14).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 12.10.2022, S. 13; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 5). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2022, S. 5) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S. 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Das Parlament hat 2021 nur 87 von 732 vorgeschlagenen Gesetzen verabschiedet. Dem gegenüber standen im April 2022 bereits wieder 98 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 12.10.2022, S. 13). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S.4; vgl. PRT 10.3.2023).

Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (ZO 22.5.2023). Drei Tage vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hatte Muharrem İnce, Vorsitzender der Partei Memleket (Vaterland) seine Kandidatur zurückgezogen (ZO 11.5.2023; vgl. ARD 11.5.2023, Standard 19.5.2023), erhielt dennoch 0,43 % der Stimmen (Standard 19.5.2023).

Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" war, dass Erdoğan während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage zeigte, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023), und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" (ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).

In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (Anadolu 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023, taz 28.5.2023).

Das Parlament

Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S., 6f.).

Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische IYI-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023). Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023). Am 30.5.2023 bestätigte der Oberste Wahlrat in der Bekanntgabe des finalen Wahlergebnisses diese Mandatsverteilung, sodass die Regierungskoalition über eine Mehrheit von 268 Sitzen verfügt (BAMF 5.6.2023, S. 15).

Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S. 2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021). Entgegen der nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung von Selahattin Demirtaş, des seit November 2016 inhaftierten Parlamentariers und Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, zu veranlassen, kamen die türkischen Behörden dem Begehr bislang nicht nach [Stand Juni 2023] (CoE-CoM 2.12.2021).

Eingriffe in die lokale Demokratie

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15). Bis April 2022 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister inhaftiert und 39 Bürgermeister verhaftet. Derzeit befinden sich acht Ko-Bürgermeister der HDP [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] in Haft (EC 12.10.2022, S. 12, 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).

Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).

Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S. 13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, insbesondere gegen jene der HDP, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern, und dies trotz Urteilen des EGMR zu deren Gunsten (EC 12.10.2022, S. 13).

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 5).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SDZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 12.2022, S. 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (NL-MFA 18.3.2021, S. 12). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 2.3.2022, S. 13), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 12.10.2022, S. 5, 17). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis24, 24.11.2022).

Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023, S. 3, 29). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 12.10.2022, S. 17). Die häufigen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 16.5.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023, S.29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 16.5.2023).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2021 346 Personen, innerhalb und außerhalb [Anmerkung: Grenzgebiete zu Irak und Syrien] der Türkei bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon mindestens 69 Angehörige der Sicherheitskräfte 275 bewaffnete Militante und acht Zivilisten (İHD 6.11.2022, S. 40). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.7.2015 bis 3.3.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht (ICG 3.3.2023). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 12.10.2022, S. 18). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 12.5.2023; vgl. EDA 16.5.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis24, 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023, S. 29).

Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April 2022 die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vgl. ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Dohuk [aka Duhok] in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet (ICG 8.2022). Auch im September und Oktober 2022 stand das irakisch-kurdische Dohuk im Fokus türkischer Militäroperationen. So kamen am 11.9.2022 bei Zusammenstößen mit der PKK vier türkische Soldaten ums Leben und am 1. Oktober ein weiterer (ICG 9.2022, ICG 10.2022). Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). Nach einem Bombenanschlag in Istanbul begann das Militär am 20.11.2022 mit der "Operation Klauenschwert", bei der Luftangriffe in Nordsyrien und im Irak gegen zahlreiche mutmaßliche PKK- und YPG-Ziele durchgeführt wurden. Am nächsten Tag kündigte Präsident Erdoğan mögliche Bodenangriffe in beiden Ländern an. Die grenzüberschreitenden Vergeltungsangriffe aus Nordsyrien nahmen zu: Bei einem Raketenangriff am 21.11.2022 wurden in der Provinz Gaziantep drei Zivilisten getötet (ICG 11.2022). Auch im Dezember 2022 hielten die türkischen Militäraktionen gegen die PKK bzw. YPG in Nordsyrien und dem Nordirak an, obgleich mit geringerer Intensität als im Vormonat (ICG 12.2022). Gleiches galt für den Jänner 2023, wobei sich die Militäroperationen in der Türkei gegen die PKK auf die Provinzen Diyarbakır, Bingöl, Muş und Batman konzentrierten, bei gleichzeitigen Luftangriffen auf deren Stellungen im Nordirak und Syrien (ICG 1.2023).

Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS (Daesh) wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, ICG 7.2022), gefolgt von weiteren 90 Festnahmen im Oktober (ICG 10.2022) und rund ebenso vielen im November (ICG 11.2022) sowie 85 im Dezember 2022 (ICG 12.2022). Auch 2023 wurden die Verhaftungen vermeintlicher IS-Anhänger bzw. IS-Mitglieder fortgesetzt: - Von Jänner bis April wurde seitens der Behörden die Festnahme von in Summe rund 420 Personen vermeldet (ICG 4.2022). Für weitere Informationen und Daten siehe das Unterkapitel Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)

2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SDZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine jüngste Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AM 20.4.2022). Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26. September das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vgl. ICG 9.2022, Arab News 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (Arab News 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vgl. HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AM 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vgl. AM 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (Anadolu 18.11.2022).

Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).

Laut türkischem Innenminister hatten mit Ende November 2022 116 Personen infolge von Überzeugungsarbeit der Behörden 2022 freiwillig ihre Waffen niedergelegt (Anadolu 30.11.2022).

Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei in Kraft, vorerst für drei Monate. Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, S. 12; vgl. UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).

Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind." (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023).

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Im Nachgang an die Erdbeben gilt in folgenden Provinzen der Ausnahmezustand (Stand Ende Mai 2023): Kahramanmaraş, Gaziantep, Malatya, Diyarbakır, Kilis, Sanlıurfa, Adiyaman, Hatay, Osmaniye, Adana (EDA 16.5.2023; vgl. GOV.UK 20.4.2023). Die türkische Regierung hat erklärt, dass nur Fahrzeuge, die Hilfsteams und Hilfsgüter transportieren, in die Städte fahren dürfen, die im Katastrophengebiet liegen (GOV.UK 20.4.2023).

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016) und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).

Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfassungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach (Taş 16.5.2017, S. 4). Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Militärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, S. 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Insbesondere das Gesetz über anonyme Zeugen aus 2008 wurde vor allem von der Gülen-Bewegung genutzt. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sondergerichte konnten jeden Fall, den sie wollten, in Zusammenarbeit einleiten und die gewünschte Entscheidung herbeiführen. Die AKP hat diese Situation in jeder Hinsicht unterstützt (Mezopotamya 2.8.2022). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins 15.4.2014; vgl. Cagaptay 2021, S. 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen "tiefen Staat" kämpft (Cagaptay 2021, S. 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulation von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vgl. Jenkins 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins 15.4.2014).

Schrittweise Kriminalisierung durch den Staat: von der kriminellen Vereinigung zur Terrororganisation

Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S. 4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, S. 4).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vgl. Sabah 17.6.2017).

Es ist wichtig anzumerken, dass man nicht formell Mitglied der Gülen-Bewegung werden kann. Eine Person, die sich dieser Bewegung anschließt, erhält keine Mitgliedskarte. In der Vergangenheit umfasste die Gülen-Bewegung in der Türkei verschiedene Einrichtungen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen, welche infolge ihres guten Rufes auch Nicht-Gülenisten anzogen. Folglich ist es durchaus möglich, dass jemand an einer Gülen-Einrichtung studiert, für diese gearbeitet, oder etwa ein Konto bei der Asya Bank (galt als Hausbank der Gülen-Bewegung) gehabt hat, ohne Gülenist im ideologischen Sinne zu sein. Eine solche Person kann dennoch mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden und infolgedessen persönliche Probleme mit den türkischen Behörden bekommen. Umgekehrt konnten in einigen Fällen wohlhabende tatsächliche oder angebliche Gülenisten persönliche Probleme mit den türkischen Behörden vermeiden, indem sie korrupte Beamte bestachen. Diese Praxis ist als FETÖ Borsası (wörtlich "FETÖ-Börse") bekannt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern oder die Übergabe eines Unternehmens konnte ein (mutmaßlicher) Gülenist erreichen, dass sein erzwungener beruflicher Rücktritt rückgängig gemacht oder er von der Fahndungsliste gestrichen wurde. Zudem gab es Fälle von AKP-Politikern, die Verbindungen zur Gülenbewegung hatten, aber durch ihren politischen Einfluss einer strafrechtlichen Verfolgung entrannen (NL-MFA 2.3.2022, S. 36, 38).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 28.7.2022, S. 4; vgl. UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Ausmaß der Verfolgung

Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete, inklusive Wissenschaftler, wurden entlassen (MEI 20.10.2022; vgl. SCF 5.10.2020). Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Laut der regierungstreuen Zeitung Sabah wurden zwischen dem 15.7.2016 und dem 15.11.2022 339.247 Verdächtige festgenommen. Über 102.000 von ihnen wurden formell verhaftet und befinden sich nun in Haft, wo sie entweder auf das Urteil in ihrem Prozess warten oder verurteilt wurden und ihre Strafe verbüßen. Mit Stand Mitte November 2022 waren 17.787 Personen formell inhaftiert, während nach 23.969 Gülen-Anhänger noch gefahndet wurde (DS 20.11.2022).

Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 22). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten. Die Verhaftungen erfolgen in Wellen und können sich über das ganze Land erstrecken. Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2022, S. 22f.). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).

Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Anfang 2022 angeführt [Anm.: Weiter zurückliegende Beispiele finden sich in älteren Länderinformationen zur Türkei]: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. DS 4.1.2022). Eine Woche später, am 11.1.2022, wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, S. 14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 (Ahval 22.2.2022) und am 1.3.2022 weitere 96 Verdächtigte bei landesweiten Operationen festgenommen, wobei die Generalstaatsanwaltschaft 19 Personen einem mutmaßlichen Netzwerk der Gruppe unter dem Kommando der Luftstreitkräfte zuordnete (BAMF 7.3.2022, S. 9; vgl. DS 1.3.2022). Bereits eine Woche später wurden 105 von 127 gesuchten Verdächtigen in den Streitkräften in rund 50 Städten festgenommen (DS 8.3.2022). Der April 2022 sah mehrere Verhaftungswellen (DS 13.4.2022; DS 26.4.2022). Bei der größten Operation wurden 133 Personen, insbesondere in Izmir, verhaftet, darunter sowohl Beamte als auch ehemalige und aktive Mitglieder der Streitkräfte (DS 19.4.2022). Nachdem am 17.5.2022 35 Personen, darunter Lehr- und Krankenhauspersonal, festgenommen wurden (DS 17.5.2022; vgl. BAMF 23.5.2022, S. 13f.), wurden eine Woche später bei landesweiten Operationen, mit Schwerpunkten in Ankara und Izmir, 92 vermeintliche Gülen-Unterstützer verhaftet (DS 24.5.2022). Außerdem gab der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) am 17.5.2022 bekannt, dass 15 Richter und Staatsanwälte, die der Gülen-Mitgliedschaft beschuldigt werden, dauerhaft von ihren Posten enthoben wurden (BAMF 23.5.2022, S. 14). Am 14. Juni vermeldeten die Medien die Festnahme von 53 und eine Woche später die Verhaftung von weiteren 44 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern, die vornehmlich die Streitkräfte infiltriert hätten (DS 14.6.2022; DS 21.6.2022). Da Gülen-Mitglieder einer privaten Bildungseinrichtung versucht haben sollen sich neu zu organisieren, erließ die Staatsanwaltschaft Anfang Oktober 2022 Haftbefehle gegen 40 Verdächtige. 35 Personen wurden infolge im Istanbuler Bezirk Üsküdar festgenommen (HDN 5.10.2022). Am 18.10.2022 wurden mindestens 660 vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung verhaftet (DS 18.10.2022). Bei der größten Operation in diesem Rahmen wurden 542 Personen in 59 der 81 Provinzen festgenommen, unter Verdacht Geld gesammelt oder weiterverteilt zu haben, das von Gülen-Anhängern aus dem Ausland geschickt worden war (Ahval 18.10.2022; vgl. DS 18.10.2022).

Auch 2023 setzten sich die Verhaftungen von vermeintlichen Mitgliedern oder Anhängern der Gülenbewegung fort. - Am 30.1.2023 verhaftete die Polizei zehn Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung (BAMF 6.2.2023, S. 11). Tags darauf wurden im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft Ankara eingeleiteten Untersuchung Haftbefehle gegen 35 Akademiker erlassen, die vormals an Gülen-Universitäten tätig waren. Bei Polizeioperationen in 32 Provinzen wurden 27 Personen festgenommen (BAMF 6.2.2023, S. 11; vgl. HDN 1.2.2023). Mitte März 2023 wurden 58 Personen, darunter Lehrer, Geschäftsleute, aktive und entlassene Militäroffiziere und ehemalige Kadetten wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen (SCF 17.3.2023). Nur wenige Tage später wurden 47 Personen bei einer Operation in İzmir, die auch in den Provinzen İstanbul, Ankara, Samsun und Muğla durchgeführt wurde, festgenommen, weil sie den Familien von Personen geholfen hatten, die wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert waren. Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung führte die Polizei Hausdurchsuchungen bei 57 Verdächtigen durch, nahm 47 von ihnen fest und beschlagnahmte ihre Ersparnisse, Schmuck, Mobiltelefone und Computer (SCF 20.3.2023; vgl. Anadolu 19.3.2023). Ende April bis Anfang Mai 2023 wurden über 30 Personen, darunter Lehrer, Studenten und Geschäftsleute, aufgrund von Haftbefehlen der Staatsanwaltschaften von Istanbul, Ankara und Bursa wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen (SCF 5.5.2023).

Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, S. 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020).

Gerichtsurteile

Der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge haben türkische Gerichte bis Juli 2022 4.891 Angeklagte in 289 Fällen im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch von 2016 verurteilt (TM 8.12.2022). Über 200 Klagen wurden gegen vermeintliche Putschisten eingereicht, und seit den ersten Prozessen im Jahr 2017 wurden über 8.725 Personen strafrechtlich verfolgt, während 1.634 Angeklagte zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden (DS 8.12.2022). Rund 1.400 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und mehr als 1.800 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vgl. ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vgl. AP 7.4.2021). Im Prozess gegen 138 Militärangehörige in Istanbul am 8.12.2022 wurden gegen 38 der Angeklagten Haftstrafen zwischen 12,5 und 15 Jahren wegen des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen, verhängt. Zwei der Angeklagten wurden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu Haftstrafen von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Zwei weitere Angeklagte erhielten Bewährungsstrafen wegen desselben Vorwurfs. Das Gericht entschied, 73 Angeklagte nicht für die ihnen vorgeworfenen Straftaten zu verurteilen, weil sie auf Anweisung ihrer Vorgesetzten gehandelt hatten, die sie irrtümlich für rechtmäßig hielten. Das Gericht sprach 23 Angeklagte von allen Vorwürfen frei (TM 8.12.2022; vgl. DS 8.12.2022).

Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S. 9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 28.7.2022, S. 7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 28.7.2022, S. 7; vgl. SCF 6.8.2019).

Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen (NL-MFA 18.3.2021, S. 38f.). Während praktisch jeder mit einem Gülen-Hintergrund strafrechtlich belangt werden kann, stehen mutmaßliche Gülenisten im Sicherheitsapparat, wie Militärs und Gendarme, besonders im Visier. Auch Personen, die Führungspositionen in Gülen-Institutionen wie den Gülen-Schulen, der Fatih-Universität in Istanbul und der Tageszeitung Zaman innehatten, fallen den Behörden eher negativ auf (NL-MFA 2.3.2022, S. 38).

Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen, oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein (NL-MFA 2.3.2022, S. 39). Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, S. 41). Zu dieser Unberechenbarkeit trägt u.a. der Umstand bei, dass die Behörden weder objektive Kriterien verwenden, noch sie diese konsequent anwenden. Darüber hinaus besteht ein praktisches Hindernis bei der Verfolgung von Gülen-Anhängern in ihrer schieren Anzahl in der Vergangenheit. So schätzen Quellen, dass im Jahr 2010 zwischen acht und zehn Millionen Menschen in der Türkei in irgendeiner Weise mit der Gülen-Bewegung verbunden waren (NL-MFA 2.3.2022, S. 39).

Die Verwandten von hochrangigen Gülenisten sind besonders gefährdet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen. Es gab jedoch auch mehrere Fälle von Familien, die einen Gülen-Unterstützer in ihren Reihen hatten, ohne dass die Angehörigen Probleme mit den türkischen Behörden hatten (NL-MFA 2.3.2022, S. 41).

Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).

Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolgedessen haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder auch ihren Arbeitsplatz verloren oder fanden keine (neue) Anstellung (NL-MFA 2.3.2022, S. 41). Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, S. 43).

Urteile des EGMR und des türkischen Kassationsgerichtes

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine "in flagranti"-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S. 14). Anfang September 2022 entschied der EGMR, dass die Untersuchungshaft von 230 Richtern und Staatsanwälten nach dem gescheiterten Putsch 2016 rechtswidrig war und dass die Türkei jedem Antragsteller 5.000 Euro Schadenersatz zahlen muss. Bei 209 Beschwerdeführern habe die Untersuchungshaft nicht in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren stattgefunden, während bei den übrigen 21 Klägern die Verdachtsmomente keine Begründung für die Verhängung einer Untersuchungshaft konstituierten (TM 6.9.2022).

Das Kassationsgericht (i.e. Oberstes Appelationsgericht) sprach am 21.6.2022, sechs Jahre nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei, 71 ehemalige Militärschüler frei, die wegen Beteiligung am Umsturzversuch zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren (Spiegel 23.6.2022; vgl. Bianet 22.6.2022).

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2022, S. 21). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIH 7.6.2022, S. 259; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 21). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH 7.6.2022, S. 259; vgl. PKK 7.10.2021).

Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2022, S. 21). Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel Sicherheitslage.

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (i.e. Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2022, S. 21). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Aktionen der Exekutive gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde von Staatspräsident Erdoğan für gescheitert erklärt. Ab August 2015 trug die PKK den bewaffneten Kampf in die Städte des Südostens: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu versperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2022, S. 21).

Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.3.2023 4.310 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d. h., diese wurden getötet oder festgenommen (ICG 3.3.2023).

Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen "Adlerklaue" und "Tigerkralle" gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S. 261).

Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).

Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen HDP, 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022). Im April 2022 nahmen die türkischen Behörden 46 Personen - von insgesamt 91 Verdächtigen - fest, darunter ehemalige lokale Funktionäre der HDP. Der Generalstaatsanwalt wirft ihnen vor, finanzielle Mittel im Namen PKK bereitgestellt zu haben und Teil der wirtschaftlichen Struktur der PKK zu sein, Geldwäsche zu betreiben und Anweisungen des PKK-Kommandeurs Murat Karayilan entgegengenommen zu haben (AP 12.4.2022). Ende November 2022 haben Sicherheitskräfte bei Razzien in 14 Provinzen im Rahmen von Ermittlungen gegen die PKK 19 Frauen festgenommen. Den Verdächtigten wird vorgeworfen seit 2014 in Syrien, Irak, Iran und in der Türkei Aktivitäten für die Fraueneinheiten der PKK durchgeführt zu haben. Die Aktivitäten sollen die Finanzierung von Terrorismus, die Verbreitung terroristischer Propaganda und Treffen mit mutmaßlichen Terroristen umfassen. Insgesamt wurde nach 50 Verdächtigen gefahndet. Unter ihnen befinden sich auch der HDP-Bürgermeister des Diyadin-Distrikts in der Provinz Ağrı und weitere HDP-Mitglieder (BAMF 6.12.2022, S. 9; vgl. DS 29.11.2022). Laut Jahresbilanz des Innenministeriums sollen 2022 gegen die PKK und syrische Schwesterorganisation YPG [der militärische Arm der PYD] 134.713 Operationen durchgeführt und dabei 8.410 Personen verhaftet worden sein. Bereits im Jänner 2023 folgten gemäß Innenministerium weitere 378 Festnahmen (BAMF 6.2.2023, S. 11; vgl. YŞ 31.1.2023). Drei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahl (14.5.2023) startete die türkische Polizei einen sogenannten Anti-Terror-Einsatz. In 21 Provinzen wurden 110 Personen gefasst, die der verbotenen Kurden-Organisation PKK nahestehen sollen (DW 25.4.2023; vgl. Standard 25.4.2023).

Am 9.2.2023 verkündete die PKK angesichts des Erdbebens in der Türkei einen einseitigen temporären Waffenstillstand (ANF 9.2.2023; vgl. France24 10.2.2023).

In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vgl. T24 18.7.2022).

In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2022, S. 22).

Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)

Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkâri 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neun Monaten und 17,5 Jahren verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Zu 17,5 Jahren wurde Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV 26.1.2022).

Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans)

Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer Abdullah Öcalan verhaftet worden war (CEP 3.6.2021; vgl. SWP 16.12.2016). Für Rayk Hähnlein von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sind die TAK eine urbane Jugendorganisation, die vor allem benachteiligte und ideologisch leicht beeinflussbare kurdische Jugendliche in den Städten des Südostens anspricht, deren Idol Abdullah Öcalan ist. Das Durchschnittsalter liegt bei rund 25 Jahren. Keiner ihrer Selbstmordattentäter war älter als 30 Jahre. Der militärische Arm der PKK hatte damit einen radikalen und eigenständigen Stadtableger geschaffen, um das bis dahin vor allem auf den ländlichen Raum konzentrierte Netzwerk zu erweitern und für junge Städter attraktiv zu machen (SWP 16.12.2016).

Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab (CEP 3.6.2021; vgl. SWP 16.12.2016). Zwischen 2010 und 2015 setzten die TAK ihre Anschläge aus, um die Annäherung und den Friedensprozess zwischen AKP-Regierung und PKK nicht zu gefährden. Erst nach dessen Scheitern im Sommer 2015 und den sich anschließenden militärischen Großoffensiven gegen die PKK in Cizre, Silopi und anderen Städten begaben sich die TAK wieder auf den Pfad der Gewalt (SWP 16.12.2016). Seit 2004 haben die TAK mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 24.2.2023; vgl. CEP 3.6.2021). Während die PKK behauptet, nur Polizei und Militär anzugreifen, wird weithin angenommen, dass sie die TAK als Fassade benutzt, um Angriffe in Städten durchzuführen, in denen ein hohes Risiko für zivile Opfer besteht, um eine weitere internationale Verurteilung zu vermeiden (AM 20.4.2022). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).

Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), hervorgegangen aus der politisch-militärischen Organisation "Devrimci Sol" (kurz: "Dev-Sol", Revolutionäre Linke), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C möglich. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). Hauptfeinde sind die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und der "US-Imperialismus". Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIH 7.6.2022, S. 245, 295; vgl. CEP 21.4.2020; S. 7). Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein (BMIBH 15.6.2021, S. 274).

Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. Im Februar 2021, beispielsweise, wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021). Mitte Oktober kam es zur Verhaftung von 54 Personen, welche laut Medienberichten Terroranschläge geplant hatten (BAMF 18.10.2021, S. 14; vgl. Anadolu 15.10.2021). Anfang Dezember 2021 wurden mindestens 25 Verdächtige in sieben Provinzen wegen angeblichen Verbindungen zur DHKP-C festgenommen (Anadolu 3.12.2021). Mitte Juni 2022 wurden bei gleichzeitigen Operationen in sieben Provinzen 22 Verdächtige verhaftet, denen eine Mitgliedschaft in der DHKP-C unterstellt wurde (TPE 15.6.2022; vgl. Sabah 15.6.2022). Und Ende November 2022 wurde Gulten Matur, ein Führungsmitglied der Organisation, in Istanbul verhaftet (Anadolu 28.11.2022).

Die türkische Regierung verdächtigt auch die Musikgruppe "Grup Yorum", die für ihre Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan bekannt ist, Verbindungen zur DHKP/C zu haben. Im Jahr 2020 starben drei Bandmitglieder an den Folgen eines Hungerstreiks aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder, wiederholte Razzien im Kulturzentrum von Grup Yorum und gegen das Verbot von Konzerten der Band (NL-MFA 18.3.2021). Der deutsche Verfassungsschutz sieht eine eindeutige Verbindung zwischen DHKP-C und Grup Yorum. Die Konzertveranstaltungen der Grup Yorum dienen neben der Finanzierung der DHKP-C vor allem der Verbreitung ihrer Ideologie (BMIH 7.6.2022, S. 247f.).

Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)

Die Türkei ist ein Herkunfts- und Transitland für ausländische (terroristische) Kämpfer, sogenannte "Foreign Terrorist Fighters" (FTF), die sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS, ISIS, Daesh) und anderen terroristischen Gruppen anschließen wollen und in Syrien und im Irak kämpfen, bzw. auch solche, welche die beiden Länder zu verlassen trachten (USDOS 16.12.2021). Die Türkei hat den IS im Jahr 2013 als terroristische Organisation eingestuft, doch wird sie seit Langem beschuldigt, als "Dschihad-Highway" zu dienen, da die türkischen Sicherheitskräfte wegschauen bzw. wegschauten, als Tausende von ausländischen Kämpfern und türkischen Staatsbürgern illegal über die 911 Kilometer lange, durchlässige Grenze nach Syrien strömten (AM 25.8.2020). Seit 2013 war die Türkei eine führende Quelle von Rekrutierungen für den IS und eine Drehscheibe für den Schmuggel von Waffen, anderen Lieferungen und Menschen über die türkisch-syrische Grenze (ICG 29.6.2020, S. 1). Der IS nutzt weiterhin die Türkei als logistische Drehscheibe, um Gelder in den und aus dem Irak und Syrien zu verschieben. So sammelt und schickt der IS häufig Gelder an Mittelsmänner in der Türkei, die das Geld nach Syrien schmuggeln (USDOT-OIG 4.1.2021, S. 3).

Aus einem geleakten Bericht des MASAK (eng.: Financial Crimes Investigation Board), einer dem türkischen Finanzministerium unterstellten Behörde, vom 8.3.2021 geht hervor, dass IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Ausrüstung und Teile zur Herstellung von Drohnen und improvisierten Sprengsätzen erworben und Wechselstuben, Juweliergeschäfte, Postämter und Banken für Geldtransfers genutzt haben. Darüber hinaus hätten einige der untersuchten IS-nahen Personen die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Türkische Mitglieder der Gruppe waren laut Bericht aktiv an den Bemühungen des IS beteiligt, Geld zu beschaffen, um die Flucht von Mitkämpfern und ihren Angehörigen aus dem Lager al-Hol in Nordsyrien zu unterstützen (AM 15.2.2022).

Die Türkei leistet einen aktiven Beitrag in internationalen Foren zur Terrorismusbekämpfung. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums hat die Türkei von 2015 bis Dezember 2020 8.143 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrorismus abgeschoben, wobei die türkische "Einreiseverbotsliste" Berichten zufolge rund 100.000 Namen enthält. Öffentlichen Angaben zufolge hatten die türkischen Behörden bis Ende 2020 2.343 mutmaßliche IS-Anhänger zwecks Verhörs festgenommen und gegen 333 von ihnen Anklage erhoben (USDOS 16.12.2021). Bis April 2017 haben nach offiziellen Zählungen der Regierung etwa 2.100 Türken das Land verlassen, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, meist beim IS (CEP 3.6.2021, S. 7). Andere, regierungsunabhängige Schätzungen gehen von einer weit höheren Zahl von 5.000 bis 9.000 aus (ICG 29.6.2020, S. 1, FN 2). Es wird angenommen, dass inzwischen mehr als 600 Personen in die Türkei zurückgekehrt sind (CEP 3.6.2021, S. 7). Laut den Prozessakten von Kasım Güler, der angeblich der Türkei-Beauftragte des IS war, hätte IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi vor seiner Ermordung angeordnet, dass die Türkei als Rückzugsgebiet zum Wiederaufbau des IS dienen sollte. Gülers Aussagen zufolge hätte der IS Waffen und Munition vergraben, und zwar in den Provinzen: Istanbul, Izmir, Mersin, Denizli, Van und Adana, um später Anschläge in Europa zu verüben. Zudem hätten sich IS-Gruppen in zwölf Provinzen (Adana, Hatay, Osmaniye, Gaziantep, Şanlıurfa, Elazığ, Antalya, Kayseri, Adıyaman, Ankara, Konya und Istanbul) organisiert (DW 2.2.2022; vgl. Bianet 23.8.2022). Das regierungskritische Internet-Portal Bianet nennt unter Berufung auf Prozessakte und öffentlich zugängliche Quellen zusätzlich die Provinzen Antakya, Batman, Bursa, Diyarbakır, Kırşehir, Yalova und Yozgat, an denen infolgedessen Antiterrormaßnahmen gegen den IS durchgeführt wurden (Bianet 23.8.2022).

Das Verständnis der türkischen Behörden für die IS-Gefahr hat sich weiterentwickelt. Zunächst unterschätzten sie die Bedrohung, die von Rückkehrern ausgehen könnte, und blieben 2014-2015 weitgehend zwiespältig gegenüber der Rekrutierung durch den IS. Diese Wahrnehmung begann sich im Laufe des Jahres 2016 zu verlagern, insbesondere nach dem ersten IS-Angriff im Mai 2016 auf eine staatliche Institution, auf die Polizeizentrale in Gaziantep (ICG 29.6.2020, S. 2). Laut offiziellen Angaben gab es in der Türkei bislang mindestens zehn Selbstmordattentate, sieben Bombenanschläge und vier bewaffnete Angriffe, bei denen 315 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Die türkischen Behörden machen den IS seit Mitte 2015 für mehrere große Terroranschläge innerhalb des Landes verantwortlich. Im Juli 2015 starben bei einem Selbstmordattentat in Suruç 32 Menschen, und im Oktober desselben Jahres kamen ebenfalls durch ein Selbstmordattentat bei einer Friedenskundgebung in Ankara 102 Menschen ums Leben. Die türkischen Behörden brachten den IS auch in Verbindung mit einem Selbstmordanschlag vom August 2016 auf eine Hochzeit in Gaziantep, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen. Der IS bekannte sich zum Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina am Morgen des 1.1.2017, der 39 Tote und Dutzende weitere Verletzte zur Folge hatte (CEP 3.6.2021, S. 4). Seitdem haben die Sicherheitsbehörden den IS in Schach gehalten, indem sie Anschläge durch Überwachung, Verhaftung und strengere Grenzsicherung vereitelt haben. Aber die Bedrohung ist nicht völlig verschwunden, wie türkische Beamte selbst zugeben (ICG 29.6.2020; vgl. CGRS-CEDOCA 5.10.2020).

Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; BS 23.2.2022, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022), trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022). Nicht nur, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz verschlechtert hat, mangelt es ebenso an Verbesserungen des Funktionierens der Justiz im Ganzen (EC 12.10.2022, S. 23f.; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 2, 16).

Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, nebst jener der Demokratie sowie der Menschen- und Grundrechte, wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam sogar zu Rückschritten (EC 12.10.2022, S. 23; vgl. CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA vom Juni 2021 ergab, dass 64 % der Befragten kein Vertrauen in das Justizsystem haben. Unter den Befragten mit kurdischem Hintergrund lag der Wert sogar bei 85 % (USDOS 12.4.2022, S. 15).

Faires Verfahren

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 73 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 16 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2023). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB 30.11.2022, S. 7)

Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, S. 12; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 8, AI 26.10.2020, HRW 10.4.2019). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB 30.11.2022, S. 8).

Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023, S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2022, S. 11; vgl. Turkish Tribunal 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S.12, Pt.15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).

Geheime bzw. anonyme Zeugen

Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf der Tagesordnung. Trotz Dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument. So soll die Gülen-Bewegung, als sie gemeinsam mit der regierenden AKP die Macht teilte, anonyme Zeugen gegen ihre Gegner verwendet haben. Nach dem Putschversuch 2016 waren es dann vor allem vermeintliche Gülen-Mitglieder, gegen welche sich das Instrument der geheimen Zeugen richtete. Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person nicht gibt (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut HDP Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).

Im Februar 2022 stellte das türkische Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW[T] 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).

Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2020; vgl. TM 26.11.2022).

Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes. Opposition, Zivilgesellschaft und namhafte Juristen kritisieren die Einschränkungen als eine Perpetuierung des Ausnahmezustands. (ÖB 30.11.2022, S. 6). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S.18, Pt.29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).

Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44).

Politisierung der Justiz

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB 30.11.2022, S. 6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.) (ÖB 10.2019, S. 17).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).

Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2022 auf Rang 116 von 140 Ländern (2021: Platz 117 von 139 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator stagnierte auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,30 (Rang 134 von 140) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 135 von 140) sowie bei der Strafjustiz mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,73, der annähernd dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 26.10.2022).

Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB 30.11.2022, S. 7). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 10.3.2023, F1).

Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission waren es 3.985 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch 2016, wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, entlassen wurden. Nur 515 wurden bislang wieder in ihre Ämter eingesetzt. Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, standardisierter und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 6, 26).

Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgehaltenen Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos (EC 12.10.2022, S. 26). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2022, S. 8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S. 6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (EC 19.10.2021, S. 23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2022, S. 8; vgl. SCF 3.2021, S. 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2022, S. 8).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S. 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S. 3). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 10.3.2023, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2022, S. 8).

Aufbau des Justizsystems

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2022, S. 6).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB 30.11.2022, S. 6f.). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24).

Rolle des Verfassungsgerichts

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht (AA 28.7.2022, S. 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).

Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten (ÖB 30.11.2022, S. 7).

Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 20.3.2023, S. 18). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2022, S. 9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2022, S. 9).

Die Fälle Kavala und Demirtaş als prominente Beispiele der Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Kultur-Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S. 16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f). Im Falle Kavalas lehnte ein Gericht in Istanbul auch 2022 trotz Aufforderung des Europarats die Enthaftung ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies das Ministerkomitee nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022). Trotzalledem wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022). Ende Dezember 2022 bestätigte trotz alledem ein Berufungsgericht in Istanbul die lebenslängliche Strafe gegen Kavala sowie die Verurteilung von sieben weiteren Angeklagten zu 18 Jahren Haft als rechtens (ZO 28.12.2022).

Sicherheitsbehörden

Das Präsidialsystem verleiht der Exekutive weitreichende Befugnisse über die Sicherheitskräfte. Die zivile Aufsicht über die Sicherheitskräfte ist jedoch nicht konsolidiert worden. Die Rechenschaftspflicht des Militärs, der Polizei und der Nachrichtendienste bleibt sehr begrenzt. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin weit verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung nach wie vor weitreichenden gerichtlichen und administrativen Schutz. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 12.10.2022, S. 17). Allerdings wurde der historisch starke politische Einfluss des Militärs seit 2003 und verstärkt seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 eingeschränkt. So hat der Generalstab einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium abgegeben, und die drei Teilstreitkräfte sind nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt. Zudem wird der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen zunehmend zivil besetzt (BICC 12/2022, S. 18f.)

Die Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (USDOS 20.3.2023, S. 1, ÖB 30.11.2022, S. 16). Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 20.3.2023, S. 1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2022, S. 2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 192.978 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2022, S. 16; vgl. BICC 12.2022, S. 18). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2022, S. 18, 26). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2022, S. 19). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende schossen, die versuchten die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019).

Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2022, S. 19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, S. 6).

Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 2.3.2022; S. 19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, S. 6; vgl. NL-MFA 2.3.2022; S. 19, BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (NL-MFA 2.3.2022; S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Ístanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020). Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2022, S. 17).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2022, S. 32).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2022, S. 32). Immer noch kommen Folter und Misshandlung in Haftzentren (der Polizei, Gendarmerie, des Militärs) sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, auf der Straße und insbesondere bei Demonstrationen vor (NL-MFA 2.3.2022, S. 32; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 32, EC 12.10.2022, S. 18, 33, İHD 6.11.2022, S. 11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Außerdem wird regelmäßig von Misshandlungen, einschließlich schwerer Schläge und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, sowie von Überbelegung in Abschiebezentren berichtet, in denen ausländische Staatsangehörige, darunter auch Asylbewerber und Migranten, bis zum Abschluss des Abschiebungsverfahrens in Verwaltungshaft genommen werden (HRW 12.1.2023). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022).

Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 20.3.2023, S. 5). Menschenrechtsvereinigungen wie Human Rights Watch, lokale Anwaltsvereinigungen sowie Menschenrechtsaktivisten aus den Reihen der oppositionellen HDP berichteten über einen Anstieg von Übergriffen der Polizei, der Gendarmerie und Spezialeinheiten in den vom Erdbeben im 2023 betroffenen Gebieten des Südens und Südostens, wobei es auch Vorwürfe von Folter mit Todesfolge gibt. Besonders vulnerabel sind hier wiederum die syrischen Flüchtlinge. Die Sicherheitskräfte argumentierten meist, dass es sich um Plünderer handelte, gegen die vorgegangen wurde (AM 21.2.2023; vgl. DW 16.2.2023).

Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2022, S. 32). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD 6.11.2022, S. 11; vgl. TİHV 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).

Reaktionen des Verfassungsgerichts und der Behörden auf Foltervorwürfe

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).

Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudsstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - TİHEK, eng.: HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S. 34; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2021 531 Personen, darunter zwölf Kinder, in offiziellen und 704 Personen (inklusive 25 Kinder) informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 1.414 weitere in den Gefängnissen. 2.835 Demonstranten wurden während 409 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 6.11.2022, S. 11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S. 26).

Beispiele:

Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).

Anfang Dezember 2021 starb Garibe Gezer in Einzelhaft in Kandıra, einem Hochsicherheitsgefängnis des Typs F außerhalb Istanbuls. Gezer, eine kurdische Politikerin der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der lokalen Schwesterpartei der HDP, war 2016 zu lebenslanger Haft wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK verurteilt worden. Nachdem Gezer enthüllt hatte, dass sie von Gefängniswärtern gefoltert und sexuell missbraucht worden war, forderten Ende Oktober 2021 sowohl die HDP als auch die Menschenrechtsvereinigung (İHD) von den Behörden Gezers Beschwerden zu untersuchen. Eine Untersuchung unterblieb, und als Gezer Anfang Dezember 2021 im Gefängnis starb, sprachen HDP und İHD von einem "Tod unter verdächtigen Umständen". Die Gefängnisbehörden erklärten jedoch, Gezer habe Selbstmord begangen (NL-MFA 2.3.2022, S. 33; vgl. TM 29.1.2022, Bianet 15.12.2021).

Augenzeugenberichten zufolge schlugen im April 2022 zahlreiche Wärter im Istanbuler Marmara-Gefängnis (ehemals Silivri-Gefängnis) auf Insassen ein und versuchten sie in den Selbstmord zu treiben. Der Häftling Ferhan Yılmaz starb im April 2022 im Krankenhaus, nachdem er mutmaßlich von Gefängniswärtern gefoltert und misshandelt worden war. Zehn weitere Gefangene sollen in verschiedene Gefängnisse im ganzen Land verlegt worden sein, nachdem auch sie angegeben hatten, dass Gefängniswärter sie geschlagen hätten (AI 28.3.2023).

Nach dem massiven Erdbeben im Februar 2023 gab es Vorwürfe von eskalierender Polizeigewalt in den betroffenen Gebieten, die in manchen Fällen auch Gegenreaktionen auslöste. So gab die HDP bekannt, dass sie Strafanzeige gegen den Gouverneur von Hatay und den Polizeichef von Iskenderun wegen "schwerer Folter" von zehn Bürgern erstattete, die bei den Erdbeben ihre Angehörigen und ihr Zuhause verloren hatten. Unter den Opfern war auch ein HDP-Funktionär. Laut HDP seien die Betroffenen geschlagen worden, sodass sie schwere Verletzungen im Gesicht und am Körper aufwiesen. Sie seien überdies beleidigt und erniedrigend behandelt worden (AM 21.2.2023). In den Tagen nach dem Erdbeben wurden viele Menschen gelyncht, weil sie angeblich geplündert hatten, was nach den schweren Erdbeben vom 6. Februar zu einem großen Problem wurde. Eine dieser Personen war Muhammet Gündüz, der in der südlichen, vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay von der Polizei verprügelt wurde. Er gab an, dass er und sein Freund sofort, ohne vorhergehende Leibesvisitation, zusammengeschlagen wurden. Nachdem sich herausstellte, dass Gündüz im Gegenteil an Rettungsaktionen teilnahm, erstattete dieser auf der Polizeiwache einer entfernteren Provinz Anzeige gegen die Beamten, die ihn geschlagen hatten (Duvar 18.2.2023).

Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland

Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen innerhalb Türkei und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in die Türkei zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (Turkey Tribunal 7.2021, S. 2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z. B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (Turkey Tribunal 7.2021, S. 2; vgl. FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Im September 2021 wurde beispielsweise bekannt, dass Hüseyin Galip Küçüközyiğit, der neun Monate lang vermisst worden war, sich im Gefängnis von Ankara befand. Wo er sich all die Zeit befand, ist bislang unbekannt. Die Behörden hatten bestritten, dass sich der ehemalige Rechtsberater des Ministerpräsidenten, dem Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden, in Gewahrsam befand (AI 29.3.2022; vgl. Duvar 14.9.2021). - Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten Betroffenen nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022).

Gemeinsame Recherchen des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) und acht internationaler Medien, koordiniert vom gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des "gewaltsamen Verschwindenlassens" (EC 12.10.2022, S. 33; vgl. FR 15.2.2021, AM 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden (EC 12.10.2022, S. 33; vgl. AM 17.9.2021, NL-MFA 2.3.2022, S. 34), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (Turkey Tribunal 7.2021, S. 3; vgl. HRW 29.4.2020).

Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er-Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet. 14 hiervon endeten mit einem Freispruch (EC 12.10.2022, S. 19). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2022 von fast 240 Fällen noch immer fast 85 als ungelöst (OHCHR 12.8.2022, S. 28). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP, geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei "verschwunden" sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S. 50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AM 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S. 2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (Turkey Tribunal 7.2021, S. 2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert (FR 15.2.2021; vgl. AM 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri vom türkischen Menschenrechtsverband İHD habe diese in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AM 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).

Korruption

Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020). Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vgl. DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).

Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 43; vgl. BACP 6.2020, DFAT 10.9.2020), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 10.3.2023, C2). Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt (BACP 6.2020; vgl. DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021).

Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung weiterhin keine Fortschritte (EC 12.10.2022, S. 6, 28). Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 43). Ein grundlegendes Problem ist das Fehlen einer unabhängigen und präventiven Korruptionsbekämpfungsstelle sowie einer interinstitutionellen Koordinierung der Korruptionsbekämpfung (BS 23.2.2022, S. 35; vgl. EC 12.10.2022, S. 6, 28). Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die vorhandenen türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 10.3.2023, C2; vgl. BACP 6.2020). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020). So stellte auch die OECD-Arbeitsgruppe für Bestechung Ende Juni 2021 fest, dass die Türkei keine ausreichenden Schritte unternommen hätte, um die Bedenken hinsichtlich der Umsetzung des OECD-Übereinkommens zur Bekämpfung der Bestechung durchzusetzen. Außerdem wäre die sehr geringe Durchsetzung des Straftatbestandes der Auslandsbestechung auszuräumen. Die Arbeitsgruppe hat die Türkei seit 2014 nachdrücklich aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Auslandsbestechung wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt wird, unter anderem durch den Schutz der Unabhängigkeit der Strafverfolgung, die Stärkung der Rechtsvorschriften über die Haftung juristischer Personen für Auslandsbestechung und die Einführung eines angemessenen Schutzes für Informanten, die einen Verdacht auf Auslandsbestechung melden (OECD 29.6.2021).

Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet. Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 12.10.2022, S. 6, 28). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen, umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).

Sorge besteht auch hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 20.3.2023, S. 75; vgl. BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst (BACP 6.2020). So haben beispielsweise die neuen CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara Korruptionsermittlungen gegen die früheren lokalen AKP-Regierungen eingeleitet und eine Reihe von Änderungen vorgenommen, um die Transparenz in der kommunalen Verwaltung zu fördern. Das eigentliche Hindernis für die Versuche der Oppositionsbürgermeister, Korruptionsermittlungen einzuleiten, bleibt jedoch die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz (BS 23.2.2022, S. 13).

Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den durch das Business Anti-Corruption Portal (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfindet Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020).

Eine Handvoll Holding-Gesellschaften erhält einen großen Teil der öffentlichen Ausschreibungen, und dieselben Unternehmen kontrollieren ebenso die meisten türkischen Mediennetzwerke. Darüber hinaus hat die Regierung seit 2016 Hunderte von Unternehmen und NGOs beschlagnahmt und Treuhänder für die Verwaltung von Vermögenswerten in Milliardenhöhe ernannt (FH 10.3.2023, C2).

Die Schattenwirtschaft bleibt eine zentrale Herausforderung für die Türkei (EC 12.10.2022, S. 97). Die Schattenwirtschaft soll in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der politischen Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an Freunde der regierenden AKP. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AM 21.5.2021).

Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten (USDOS 12.4.2022, S. 63f.). Während Oppositionspolitiker die Regierungspartei häufig der Korruption beschuldigen, gibt es nur vereinzelte journalistische oder offizielle Untersuchungen der Korruption in der Regierung. Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass sie Vergeltungsmaßnahmen für ihre Berichterstattung über Korruption befürchten. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 20.3.2023, S. 75).

Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 mit einem Punktewert von 36 (2021: 38) von 100 (bester Wert) auf Platz 101 (2021: 96) von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein, was somit einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr, um fünf Ränge bzw. zwei Basispunkte entsprach. Den besten Wert in der vergangenen Dekade erreichte das Land 2013 mit 50 von 100 Punkten (TI 31.1.2023). Auch kritische Berichte über Korruptionsfälle in der Regierung ziehen im negativen Sinne die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden auf sich (NL-MFA 2.3.2022, S. 25).

Wehrdienst

In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (NL-MFA 11.7.2019). Eine Entbindung von der Wehrpflicht aus Gewissensgründen besteht nicht (PMRT-OSCE 13.6.2022, S. 19).

Mit dem Gesetz Nr. 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt (ÖB 30.11.2022, S. 18). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019).

Selbiges Gesetz sieht nun die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor. Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden (ÖB 30.11.2022, S. 18). Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe wird jedes Jahr im Jänner und Juli entsprechend dem monatlichen Koeffizienten für Beamte neu festgelegt (RN 14.1.2023). Betrug die Summe im Sommer 2022 noch 80.064,72 Lira (ca. 4.400 Euro) (ÖB 30.11.2022, S. 18), wurde diese im Jänner 2023 gemäß dem Rundschreiben des Finanzministeriums für den Zeitraum Jänner bis Juli auf 104.000,84 Lira festgelegt (4.876 Euro - laut Wechselkurs vom 24.4.2023) (RN 14.1.2023).

Die Ableistung eines Grundwehrdienstes oder Wehrersatzdienstes außerhalb der Türkei wird nicht anerkannt. Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Die Aufschiebung wird bei denjenigen annulliert, von denen angenommen wird, dass sie die Bedingungen nicht erfüllen, z. B. mehr als die Hälfte eines Kalenderjahres in der Türkei verbracht haben und eine Begründung für eine Aufschiebung nicht mehr besteht, sowie denjenigen, die auf ihr Freikaufrecht verzichten. Sie haben wie die in der Türkei Wohnhaften die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht freizukaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren. Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 30.11.2022, S. 18f.). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun (NL-MFA 11.7.2019). Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke bzw. für Personen, welche geistig oder körperlich nicht in der Lage sind, den Militärdienst zu absolvieren, sowie für Wehrpflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor (PMRT-OSCE 13.6.2022, S. 18; vgl. NL-MFA 11.7.2019). Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes Nr.1111/Art. 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (NL-MFA 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 30.11.2022, S. 18). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (NL-MFA 11.7.2019).

Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u. a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 30.11.2022, S. 19).

Einige Wehrpflichtige sind Berichten zufolge schweren Schikanen, körperlichen Misshandlungen und Folter ausgesetzt, die mitunter zum Tod oder Selbstmord führen. Menschenrechtsgruppen berichten über verdächtige Todesfälle beim Militär, insbesondere unter Wehrpflichtigen, die der alevitischen und kurdischen Minderheit angehören. Die Regierung hat solche Vorfälle nicht systematisch untersucht und gibt auch keine Daten darüber heraus (USDOS 20.3.2023, S. 8). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) vermeldete für das Jahr 2021 mindestens 22 Todesfälle während der Dienstausübung (İHD 6.11.2022, S. 9)

Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee

Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (NL-MFA 11.7.2019). Die Wehrpflichtigen haben keine Wahl, wo sie stationiert werden. Wehrpflichtige Kurden können daher im Südosten der Türkei stationiert werden, wo sich die türkischen Streitkräfte im Konflikt mit der PKK befinden. Da die türkischen Behörden keine Angaben zu den Wehrpflichtigen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit machen, kann nicht festgestellt werden, wie viele kurdische Wehrpflichtige in der Südosttürkei stationiert sind und ob sie am Kampf gegen die PKK beteiligt sind. Es liegen laut niederländischem Außenamt keine Informationen darüber vor, ob kurdische Wehrpflichtige den Einsatz in der Südosttürkei verweigern dürfen und wenn nicht, welche Strafe dafür vorgesehen ist. Zurzeit jedenfalls werden Wehrpflichtige grundsätzlich nicht zu Kampfeinsätzen herangezogen (NL-MFA 2.3.2022, S. 64f.).

Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten, wie der kurdischen, im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 30.11.2022, S. 21). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (NL-MFA 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (NL-MFA 11.7.2019; vgl. K24 10.5.2018).

Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion

Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (AA 28.7.2022, S. 13, vgl. NL-MFA 11.7.2019, DFAT 10.9.2020), trotz deutlicher Mahnungen des Ministerkomitees des Europarats (AA 28.7.2022, S. 13). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 30.11.2022, S. 18). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçağı) (VB 11.10.2022), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (NL-MFA 11.7.2019). In der Türkei werden Wehrdienstverweigerung und Desertion als zwei verschiedene Arten von Straftaten angesehen und als solche bestraft. Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren geahndet (NL-MFA 2.3.2022, S. 62). Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 28.7.2022, S. 13; vgl. DFAT 10.9.2020). Wer seinen Wehrdienst trotz Vorladung nicht ableistet, gilt als Deserteur. Soldaten und Appellflüchtige werden mit Ordnungsgeldern bestraft. Soldaten die sich selbst stellen, werden mit fünf, und diejenigen, die aufgegriffen mit zehn Lira pro Tag bestraft. - Werden die Deserteure zur Erfüllung ihres Wehrdienstes aufgegriffen, werden sie unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 24 Stunden, zur nächsten Militärdienststelle gebracht. Aber selbst wenn Deserteure ausfindig gemacht werden, können sie nicht zum Militärdienst gezwungen werden. In der Praxis sieht es so aus, dass Deserteure einen Bericht unterschreiben und freigelassen werden (VB 1.3.2023).

Die türkischen Behörden gehen aktiv gegen Wehrdienstverweigerer und Deserteure vor (NL-MFA 2.3.2022, S. 63). Das Verteidigungsministerium leitet nach Art. 26 die Daten der Wehrdienstverweigerer an das Innenministerium weiter, damit sie verhaftet und zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet werden können (NL-MFA 2.3.2022, S. 63; vgl. AA 28.7.2022, S. 13). Sie werden dann als Wehrdienstverweigerer bzw. Deserteure in der Datenbank des Genel Bilgi Toplama Sistemi (Allgemeines Informationssammlungssystem, GBT) registriert, zu der die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, Zugang haben. Die Registrierung im GBT schränkt die Bewegungsfreiheit von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren stark ein. So laufen sie beispielsweise Gefahr, bei einer Passkontrolle, einer routinemäßigen Identitätskontrolle auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln oder sogar durch das Einchecken in einem Hotel (Personalien von Hotelgästen werden obligatorisch an die örtliche Polizei weitergeleitet) festgenommen zu werden. Wehrdienstverweigerern und Deserteuren werden manchmal auch folgende Rechte und Leistungen verweigert: Beantragung eines Reisepasses und eines Führerscheins, Heiraten, Erhalt einer Bankkontonummer und einer Mehrwertsteuernummer und Anzeige einer Straftat bei den Behörden (NL-MFA 2.3.2022, S. 63).

Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt bis zu acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (AA 28.7.2022, S. 13).

Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 30.11.2022, S. 18). Der Europarat, insbesondere dessen Ministerkomitee kritisiert die wiederholten Verurteilungen und Inhaftierungen von Kriegsdienstverweigerern wegen Verweigerung des Wehrdienstes; das Fehlen eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens zur Feststellung des Status als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und das Fehlen einer Alternative zum obligatorischen Militärdienst in der Türkei (CoE 27.9.2021, S. 3).

Allgemeine Menschenrechtslage

Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB 30.11.2022, S. 30; vgl. EC 12.10.2022, S. 6, 30). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB 30.11.2022, S. 30). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 30).

Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 12.10.2022, S. 6, 30). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden für die Grundrechte und die damit zusammenhängenden erlassenen Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen bleiben in Kraft und haben weiterhin tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (EC 12.10.2022).

Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023, S. 1f., 96; vgl. AI 28.3.2023, EU 30.3.2022, S. 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023, S. 1f., 96; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 30).

Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich Anfang Mai 2022 das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie der Lage der Rechtsstaatlichkeit" und "fordert[e] die Staatsorgane der Türkei auf, der gerichtlichen Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, Wissenschaftlern, Journalisten, geistlichen Führern und Rechtsanwälten ein Ende zu setzen" (EP 5.5.2022, Pt. 4).

Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 45).

Mit Stand 30.11.2022 waren 20.300 Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 26,8 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Denn mit Jahresende 2021 stammten 15.250 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 21,7 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 21.1.2022). Im Jahr 2022 stellte der EGMR in 73 Fällen (von 80) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 27, betrafen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, gefolgt vom Recht auf Eigentum (20) und dem Recht auf ein faires Verfahren (16) (ECHR 1.2023).

Das Recht auf Leben

Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD 6.11.2022, S. 9).

Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt. Zu einigen der in den Medien berichteten Todesfälle gibt es noch immer keine glaubwürdigen Untersuchungen. Die gemeldeten Tötungen durch die Sicherheitsbehörden im Südosten, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen im Jahr 2015, werden nach wie vor nicht effektiv untersucht, beziehungsweise sanktioniert (EC 12.10.2022, S. 33).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022).

Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Medien- und Pressefreiheit

Die türkischen Mainstream-Medien, die einst für einen lebhafteren Ideenkonflikt sorgten, sind zum Glied einer straffen Befehlskette mit von der Regierung genehmigten Schlagzeilen, Titelseiten und Themen für Fernsehdebatten geworden. Die größten Medienmarken werden von Unternehmen und Personen kontrolliert, die Staatspräsident Erdoğan und seiner AK-Partei (AKP) nahestehen, nachdem sie seit 2008 eine Reihe von Übernahmen getätigt haben. Diese beeinflussen wesentlich die Berichterstattung. Der Trend verstärkte sich im Zuge des gescheiterten Putschversuches 2016, als danach 150 vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehende Media-Outlets liquidiert wurden. Die letzte große Übernahme war 2018 jene der Tageszeitung Hürriyet sowie anderer Medien des regierungskritischen Verlegers und Milliardärs Aydin Doğan durch die regierungsnahe Demirören Gruppe (Reuters 31.8.2022). Somit gelten gegenwärtig 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 28.7.2022, S. 9; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 37, FH 10.3.2023, D1). Wirtschaftseliten mit engen Verbindungen zu Erdoğan werden beschuldigt, Journalisten zu bestechen und eine negative Presse gegen die Opposition zu inszenieren (FH 10.3.2023, D1). In diesem Sinne wird auch durch die staatliche Presse-Anzeigenagentur [auch: Pressewerberat] (Basın İlan Kurumu - BİK) Druck ausgeübt. Diese ist für die Vergabe staatlicher Anzeigen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel an die Printmedien und seit 18.10.2022 auch an digitale Medien zuständig, eine wichtige Einnahmequelle für die Medien. 2020 waren zwei große Printmedien nach kritischer Berichterstattung gegen Regierungsmitglieder von einer Anzeigensperre betroffen (ÖB 30.11.2023, S. 34),

Auch 2022 setzte sich der umfassende Angriff auf die Pressefreiheit als systematische Unterdrückung unabhängiger Medien fort und eskalierte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022. Die Türkei ist nach wie vor einer der größten inhaftierenden Staat von Journalisten in der Welt (EFJ/ IPI/ ECPMF 9.2022, S.20). Mit Stand 3.5.2023 waren laut Media and Law Studies Association (MLSA) 66 Journalisten und Medienmitarbeiter inhaftiert (MLSA 3.5.2023).

Da 90 % der nationalen Medien inzwischen von der Regierung kontrolliert werden, hat sich die Öffentlichkeit in den letzten fünf Jahren an den Rest der kritischen oder unabhängigen Medien verschiedener politischer Couleur gewandt, um sich über die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Krise auf das Land zu informieren. Dazu gehören lokale Fernsehsender wie Fox TV, Halk TV, Tele1 und Sözcü sowie internationale Nachrichten-Websites wie BBC Turkish, VOA Turkish und Deutsche Welle Turkish (RSF 3.5.2023).

Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck, werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 10.3.2023, D1; vgl. BS 23.2.2022, S. 10) oder deren Inhalte werden entfernt (HRW 12.1.2023). Dies gilt insbesondere bei Nachrichten, die sich kritisch über hochrangige Regierungsmitglieder und Mitglieder der Familie von Präsident Erdoğan äußern, oder die nach dem äußerst restriktiven Anti-Terror-Gesetz als strafbar gelten (HRW 13.1.2022).

Der Druck auf Journalisten dauert an. Ihre Arbeitssituation ist schwierig, die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe sowie im Medienbereich allgemein hoch. Zukunftsängste und mangelnde Jobsicherheit begünstigen ebenso die Selbstzensur (ÖB 30.11.2022, S. 34) wie die Furcht vor Repressionen durch rechtliche und wirtschaftliche Schritte im Falle von Kritik an der Regierung (USDOS 20.3.2023, S. 33; vgl. BS 23.2.2022, S.10). Journalisten sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche oftmals nicht geahndet werden (ÖB 30.11.2022, S.35; vgl. BS 23.2.2022; S. 10, USDOS 20.3.2023, S. 33). Tätlich angegriffen werden vor allem diejenigen, die über Politik, Korruption oder Verbrechen berichten (FH 10.3.2023, D1). Körperliche Übergriffe auf Journalisten erfolgen sowohl durch die Polizei als auch durch Privatpersonen, in seltenen Fällen auch mit tödlichen Folgen. - Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Eigentümer und Chefredakteur einer Lokalzeitung, vor seinem Büro in Ízmit erschossen. Er prangerte die örtliche Korruption und die Mafia an (SDZ 21.2.2022) und verfasste dahingehend Artikel gegen den dortigen Provinzpräsidenten und Anwalt der Grauen Wölfe (EFJ/ IPI/ ECPMF 9.2022, S. 20).

Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu - RTÜK), die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom AKP-kontrollierten Parlament ernannt (FH 10.3.2023, D1). Das Europäische Parlament zeigte sich 2021 "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und die staatlichen Pressewerberat (BİK), der als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S. 12, Pt. 27; vgl. RSF 3.5.2023). So verhängte der RTÜK auch im Jahr 2022 54 Bußgelder gegen fünf unabhängige oder der Opposition nahestehende Fernsehsender, die sich kritisch über die Regierung äußerten (FH 10.3.2023, D1).

Anweisungen an die Nachrichtenredaktionen kommen, auch via Telefon oder Whatsapp, oft von Beamten aus der Direktion für Kommunikation (İletişim Başkanlığı), die für die Beziehungen zu den Medien zuständig ist. Die Direktion unter der Leitung von Fahrettin Altun ist eine Schöpfung Erdoğans und beschäftigt rund 1.500 Mitarbeiter. 48 Auslandsbüros in 43 Ländern beobachten überdies, wie im Ausland über die Türkei berichtet wird. Bei wichtigen Nachrichten, die Erdoğan oder seine Regierung in Bedrängnis bringen könnten - insbesondere bei Ereignissen, die die Wirtschaft oder das Militär betreffen - setzt sich Altun laut Reuters-Quelle regelmäßig mit Redakteuren und leitenden Korrespondenten in Verbindung, um einen Plan für die Berichterstattung aufzustellen (Reuters 31.8.2022).

Im Juni 2022 forderte das EP den Vorsitzenden des RTÜK auf, "die übermäßige Verhängung von Geldbußen und Sendeverboten, mit denen die legitime Meinungsfreiheit von Journalisten und Rundfunksender aus der Türkei eingeschränkt wird, einzustellen" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 14). Beispielsweise belegte der RTÜK Ende Mai 2022 vier Fernsehsender (Tele1, KRT, Flash und Halk TV) mit einer Geldstrafe im Ausmaß von 3 % ihrer Jahreseinnahmen, weil sie die Rede des Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, ausgestrahlt hatten, in der er behauptete, Präsident Erdoğan bereite sich darauf vor, im Falle einer Wahlniederlage mit seinen Familienangehörigen aus der Türkei zu fliehen (Duvar 30.5.2022). Am 19.10.2022 sperrte RTÜK den Fernsehsender TELE 1 für drei Tage zur Strafe, weil im Programm ein Oppositionspolitiker behauptet hatte, die Religionsbehörde Diyanet sei ein politisches Instrument (BI 20.10.2022).

Die BİK, die staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Direktion für Kommunikation, die Presseausweise ausstellt, wenden eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021). - Wenn die BİK feststellt, dass ein Medien-Artikel gegen seinen Ethikkodex verstößt, bestraft sie die betreffende Zeitung mit der Aussetzung der staatlichen Werbung, d. h. der Werbung der Regierung und der ihr nahestehenden Einrichtungen, wie z. B. der staatlichen Banken. So wurden 2020 fast alle Suspendierungen gegen die fünf bekanntesten unabhängigen Zeitungen verhängt. Zusammen wurden den fünf rund vier Millionen Lira an staatlichen Werbegeldern für das Jahr 2020 entzogen (Reuters 31.8.2022). Seit Dezember 2018 wurden 1.371 Pressekarten türkischer Journalisten nicht verlängert und 1.238 Pressekarten türkischer Journalisten annulliert. Ausländische Journalisten, die jährlich eine neue Pressekarte beantragen müssen, warten zum Teil mehrere Monate auf deren Ausstellung (ÖB 30.11.2022, S. 35).

Das Verfassungsgericht, allerdings, das mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, dass die von der staatlichen BİK verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Den betroffenen Zeitungen müssen jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022; vgl. Reuters 31.8.2022). Als Folge gab die BİK bekannt, dass sie die Verhängung von Strafen für Verstöße gegen die Berufsethik ausgesetzt habe. Die Regierung schwieg zum Urteil des Verfassungsgerichts (Reuters 31.8.2022).

Beim Recht auf freie Meinungsäußerung setzte sich der in den letzten Jahren beobachtete gravierende Rückschritt fort. Die Umsetzung von Strafgesetzen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung verstößt weiterhin gegen die EMRK und andere internationale Standards und weicht von der Rechtsprechung des EGMR ab. Restriktive Maßnahmen staatlicher Institutionen und zunehmender Druck mit gerichtlichen und administrativen Mitteln untergraben weiterhin die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Es kommt weiterhin zu Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten, Künstlern und Nutzern sozialer Medien (EC 12.10.2022, S. 6f., 35). Die Staatsanwälte klagen Journalisten am häufigsten wegen terroristischer Verbindungen oder Aktivitäten an (EFJ/ IPI/ ECPMF 9.2022, S. 21 , S. 20; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 33, TM 10.11.2022).

Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62 % die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S. 28f). Die Türkei verschlechterte sich im World Press Freedom Index 2023 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] merklich innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder, nämlich um 16 Plätze, von Rang 149 auf Platz 165. Verschlechtert hat sich auch der absolute Wert von 41,25 auf 33,97 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert] (RSF 3.5.2023).

Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit der Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation, mit Terrorpropaganda oder "provokativen Inhalten" begründet. Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere auf Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 28.7.2022, S. 9) über Korruption berichten (Reuters 31.8.2022; vgl. AA 28.7.2022, S. 9, FH 10.3.2023, D1). Journalisten wurden auch wegen der Berichterstattung über Proteste strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 12.1.2023; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzu kommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020).

Meinungsfreiheit

Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 20.3.2023, S. 33). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022). Allerdings reduzierte sich der Anteil im Jahr 2022. Nur mehr acht von 73 Fällen, bei denen zumindest ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, betrafen die Meinungsfreiheit (ECHR 1.2023).

Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/ Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes). Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen (ÖB 30.11.2022, S. 33).

Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards, so die Europäische Kommission. Die selektive und willkürliche Anwendung von Rechtsvorschriften gibt überdies weiterhin Anlass zur Sorge, da sie gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts auf ein faires Verfahren verstößt (EC 12.10.2022, S. 36). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Letztere stimmt nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein (PACE 22.4.2021, S. 3). Zwar stellt nunmehr Art. 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 9).

Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021). Die Behörden hatten Kiliç im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig (inklusive des türkischen Richters), dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kiliç eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wurde (DW 31.5.2022; vgl. AP 31.5.2022). Fünf Jahre nach der ersten Verhaftung erging im November 2022 das Urteil des Kassationsgerichts zu den Verurteilungen von Taner Kılıç (verurteilt zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation) und drei weiteren Menschenrechtsverteidigern (verurteilt zu 25 Monaten wegen Unterstützung einer Terrororganisation) im Fall Büyükada. Der Fall von Taner Kılıç wurde wegen "unvollständiger Ermittlungen" aufgehoben und an das Gericht der ersten Instanz zurückverwiesen (AI 22.11.2022).

Die Behörden klagen Bürger, darunter auch Minderjährige, wegen Beleidigung der Staatsführung und Verunglimpfung des "Türkentums" an. Fürsprecher der Meinungsfreiheit wiesen darauf hin, dass führende Politiker und Abgeordnete von Oppositionsparteien zwar regelmäßig mehrfach wegen solcher Beleidigungen angeklagt wurden, im umgekehrten Falle, nämlich der Beleidigung von Oppositionellen, AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023, S. 42). Jüngstes Beispiel einer Verurteilung einer Journalistin wegen Präsidentenbeleidigung ereignete sich im März 2022. - Ein Ístanbuler Gericht sprach Sedef Kabas wegen Präsidentenbeleidigung schuldig und verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Die Journalistin hatte während einer Fernsehsendung unter anderem das harte Vorgehen der türkischen Regierung gegen Kritiker angeprangert. Dort und später auf Twitter zitierte sie ein Sprichwort: "Wenn ein Ochse in einen Palast geht, wird er kein König, sondern der Palast wird zum Stall." (DW 11.3.2022; vgl. Ahval 11.3.2022). Insbesondere Oppositionspolitiker, darunter gewählte Mandatare sehen sich mit Strafverfolgung und Verurteilung wegen Beleidigung von staatlichen Würdenträgern oder des türkischen Staates bzw. des Türkentums konfrontiert (ZO 23.6.2020, FH 3.3.2021, Duvar 8.12.2022, HRW 14.12.2022, Evrensel 14.12.2022).

Auch gegen Rechtsanwälte wird vorgegangen. - Im Jänner 2021 erteilte das Justizministerium die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen zwölf Mitglieder der Anwaltskammer von Ankara. Die Anwälte wurden der "Beleidigung eines Amtsträgers" beschuldigt, weil sie homophobe und diskriminierende Äußerungen des Präsidenten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, geäußert während eines Freitagsgebets, kritisiert hatten. Im April 2021 akzeptierte das zuständige Gericht in Ankara die Anklage. Im Juli 2021 wurden auch Ermittlungen gegen Mitglieder der Anwaltskammern von Ístanbul und Ízmir wegen "Beleidigung religiöser Werte" genehmigt (AI 29.3.2022).

Ein Beispiel der Beleidigung der türkischen Nation, der Regierung und der Staatsorgane war im November 2022 der Präsident der Istanbuler Bäcker-Gewerkschaft, Cihan Kolivar. Dieser wurde festgenommen, weil er in einer Fernsehsendung den übermäßigen Brotkonsum der Türken und einen möglichen Anstieg der Brotpreise angesprochen hatte. - "Brot ist das Grundnahrungsmittel einer dummen Gesellschaft. Da unser Volk seinen Hunger mit Brot stillt, haben wir seit 20 Jahren [korrupte] Politiker in der Regierung", so Kolivar. Ein Sprecher der regierenden AKP bezeichnete Kolivars Äußerungen als Beispiel für Hassreden und sagte, dieser handele rücksichtslos, indem er mit seinen Äußerungen "unsere Nation und unser Brot beleidigt" (TM 9.11.2022).

Soziale Medien und Internet

Die Bedingungen für ein offenes und freies Internet sind laut Europäischer Kommission in der Türkei nicht gegeben (EC 12.10.2022, S. 38). Die Internetfreiheit hat weiter abgenommen. Die türkischen Behörden verfügen über ein ganzes Arsenal an Instrumenten zur Zensur von Online-Inhalten. Das Gesetz über soziale Medien aus dem Jahr 2020 wird genutzt, um Plattformen zu zwingen, Inhalte zu entfernen, vor allem von den Websites unabhängiger und kritischer Medienunternehmen. Tausende von Online-Nutzern, darunter auch Mitglieder der politischen Opposition, wurden wegen ihrer Aktivitäten in den sozialen Medien strafrechtlich belangt. Selbstzensur, die Verbreitung einerseits regierungsnaher Medien und die Sperrung von Websites unabhängiger Medien andererseits haben zu einem weniger vielfältigen Online-Raum geführt. Einsprüche gegen Entscheidungen über inhaltliche Beschränkungen sind selten wirksam. Darüber hinaus organisieren regierungsnahe Troll-Netzwerke Verleumdungskampagnen gegen engagierte Aktivisten, und prominente Journalisten sehen sich als Vergeltung für ihre Online-Berichterstattung körperlicher Gewalt ausgesetzt (FH 18.10.2022).

Kritische und uneinsichtige Nutzer sozialer Nutzer sozialer Medien werden häufig überprüft, strafrechtlich verfolgt und verurteilt (NL-MFA 2.3.2022, S. 25; vgl. EC 12.10.2022, S. 38). Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen, z. B. auf Facebook, geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Präsidenten führen (Article19 8.4.2022). Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen werden, werden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5). Dem niederländischen Außenministerium zufolge ziehen folgende kritische Berichte in den sozialen Medien eine negative Aufmerksamkeit der türkischen Behörden nach sich: Präsident Erdoğan und seine Familie, die Coronavirus-Politik der Regierung, die militärischen Operationen der Türkei im In- und Ausland, die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung, Gülen und seine Bewegung, der Islam und Homosexualität (NL-MFA 2.3.2022, S. 25; vgl. FH 18.10.2022). Websites können wegen "Obszönität" gesperrt werden oder wenn sie als verleumderisch für den Islam angesehen werden, was auch Inhalte einschließt, die den Atheismus fördern. Zusätzlich zu den weitverbreiteten Sperrungen fordern staatliche Behörden proaktiv die Löschung oder Entfernung von Inhalten. Die meisten Sperrungsverfügungen werden von der BTK und nicht von den Gerichten erlassen (FH 18.10.2022).

Die Generaldirektion für Sicherheit teilte mit, dass im Jahr 2021 insgesamt 106.000 Social-Media-Konten in der Türkei aufgrund von Beiträgen untersucht wurden, die von den Behörden als problematisch eingestuft wurden. Die behördlichen Untersuchungen der Accounts richteten sich gegen Beleidigungen des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda oder Aufstachelung zu Feindschaft und Hass unter der Bevölkerung, wobei diesbezüglich 46.646 Nutzer identifiziert wurden (TM 15.3.2022). Anderen Angaben des Innenministeriums zufolge verdoppelten sich 2021 die Zahlen der untersuchten Konten sowie der Verfahren verglichen mit 2020. - 146.167 Konten in sozialen Medien wurden untersucht und rechtliche Schritte gegen 60.051 Personen eingeleitet. In der Folge wurden 1.911 Personen festgenommen und 73 inhaftiert (Article19 8.4.2022).

Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).

Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AM 13.12.2021).

Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Wenn ein Gericht oder Richter feststellt, dass ein veröffentlichter Inhalt das Gesetz verletzt, und der Provider innerhalb von 24 Stunden den Inhalt nicht entfernt oder nicht sperrt, haftet er für die entstandenen Schäden. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB 30.11.2022, S. 33f.). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu - BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK ist die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 30.11.2022, S. 34). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020).

Das sog. "Desinformationsgesetz"

Das türkische Parlament verabschiedete am 13.10.2022 das sogenannte "Desinformationsgesetz". Dieses stellt die Verbreitung "falscher oder irreführender Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes" unter Strafe. Unter die Regelung fallen auch Nachrichten, "die der öffentlichen Gesundheit schaden, die öffentliche Ordnung stören sowie Angst oder Panik in der Bevölkerung verbreiten könnten". Sowohl akkreditierte Journalisten als auch normale Nutzer von Online-Netzwerken können im Extremfall zu drei Jahre Haft verurteilt werden (DW 14.10.2022; vgl. Guardian 13.10.2022). Das Gesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Onlinenetzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben (ZO 14.10.2022). Das Gesetz verpflichtet auch Messenger-Dienste, wie WhatsApp, dazu, dem Staat Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen, wenn die staatliche Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien dies verlangt. Emre Kızılkaya, Leiter des türkischen Zweigs des Internationalen Presseinstituts mit Sitz in Wien, nimmt an, dass dieses Gesetz auch digitale Plattformen wie Google News oder Facebook dazu zwingen wird, der Regierung ihre Algorithmen offenzulegen (Guardian 13.10.2022). Journalistenverbände warnen, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der türkischen Geschichte werden (ZO 14.10.2022). Kritik stammt nicht nur von NGOs, wie Human Rights Watch und Artikel 19, die insbesondere auf die möglichen Auswirkungen auf den Wahlkampf für die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023 hinweisen (HRW 14.10.2022; Article 19), sondern bereits im Vorfeld auch von europäischen und internationalen Institutionen. - So zeigte sich die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Teresa Ribeiro, besorgt, dass die vagen Definitionen und der breite Anwendungsbereich der (neu vorgeschlagenen) Gesetzgebung zu willkürlichen und politisch motivierten Maßnahmen auf Kosten der Meinungsfreiheit und des Medienpluralismus führen können (OSCE 10.10.2022). Auf dringendes Ersuchen des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) hatte die Venedig-Kommission eine Stellungnahme zu den Änderungsentwürfen des Gesetzes veröffentlicht. Die Venedig-Kommission sah einen Eingriff in das durch Artikel 10 EMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegen und wies darauf hin, dass es alternative, weniger einschneidende Maßnahmen als die strafrechtliche gibt, um das Delikt der Verbreitung von Falschinformationen zu bekämpfen (CoE 10.10.2022).

Urteile des Verfassungsgerichts

Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S.101-104; vgl. LoC 7.1.2022).

Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Journalisten, die seit dem schweren Erdbeben vom 6. Februar versuchten, über die Lage vor Ort in der Türkei zu berichten, wurden von den türkischen Behörden wiederholt und auf vielfältige Weise behindert. Zu den beobachteten Verletzungen der Pressefreiheit gehören: physische Gewalt, Verhaftungen, Gerichtsverfahren, verbale Online-Angriffe, etwa durch Internet-Trolle, aber auch Politiker, und Einschränkungen des Zugangs zu Twitter. Journalisten wurden beschuldigt, "die Polizei oder den Staat zu diffamieren". Der Hohe Rundfunkrat (RTÜK) - der von der regierenden AKP und ihrem Koalitionspartner, der MHP, dominiert wird - schlug bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben am 6. Februar einen aggressiven Ton an und sprach eine strenge Warnung an kritische Medien aus, welche die zunehmenden Reaktionen und Hilferufe aus den von der Katastrophe betroffenen Regionen in Südostanatolien wiedergaben. Versuche, die Berichterstattung über die Katastrophe und das Verhalten der Behörden zu kontrollieren, wurden laut Reporter ohne Grenzen (RSF) immer deutlicher (RSF 14.2.2023). So wurden laut kritischen Journalisten keine Aufnahmen von bedürftigen Menschen oder frierenden Kindern gezeigt. Etliche Sendungen mit Interviews wurden unterbrochen, als die Befragten Kritik an der Regierung äußerten (FAZ 14.2.2023). Am 22.2.2023 verhängte der RTÜK gegen Fox-TV Bußgelder wegen eines Berichts, wonach die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD verhindert habe, dass Hilfe von Nichtregierungsgruppen die von Erdbeben betroffenen Gebiete erreicht. Zwei weitere unabhängige Sender, Halk TV und TELE1, wurden beide mit einer Geldstrafe belegt und vorübergehend vom Äther genommen (AM 22.2.2023; vgl. Duvar 22.2.2023).

Bereits unmittelbar nach dem Erdbeben verhaftete die türkische Polizei im Zusammenhang mit Beiträgen in sozialen Medien 37 Nutzer. Sie hätten Beiträge geteilt, "mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten", so die Polizei (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023). Mitte Februar gab die türkische Generaldirektion für Sicherheit bekannt, 613 Personen identifiziert zu haben, die der Veröffentlichung provokativer Beiträge beschuldigt wurden, und gegen 293 seien rechtliche Schritte eingeleitet worden. Von dieser Gruppe hat der Generalstaatsanwalt die Verhaftung von 78 Personen angeordnet, wobei über 20 von ihnen eine Untersuchungshaft verhängt wurde (Reuters 15.2.2023).

Zwischen dem 6. und 9.2.2023 wurden mindestens vier Journalisten vorübergehend festgenommen, als sie versuchten, vor Ort von den Ereignissen zu berichten, meist unter dem Vorwand keine Dreherlaubnis oder Pressekarte zu besitzen (MLSA 9.2.2023). Zwischenzeitlich war Twitter in der Türkei gesperrt. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am Krisenmanagement unterdrücken zu wollen (RND 10.2.2023; vgl. MLSA 9.2.2023, NetBlocks 8.2.2023). Überdies wurde am 8.2.2023 der Zugang zu Mediaplattformen im Internet gedrosselt (MLSA 9.2.2023).

Opposition

Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre limitiert. Dies geschieht zudem durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 20.3.2023, S. 69). Das Europäische Parlament zeigte sich wie schon im Juli 2021 (EP 8.7.2021; Pt. 1) auch in einer Entschließung vom 7.6.2022 "zutiefst besorgt über die anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien, insbesondere auf die [...] HDP und andere Parteien, einschließlich der [...] CHP, indem etwa Druck auf sie ausgeübt, ihre Auflösung erzwungen und ihre Mitglieder inhaftiert werden, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren des demokratischen Systems untergraben wird" (EP 7.6.2022, S. 16f., Pt. 22).

Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi - HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind - so werden die Büros der HDP regelmäßig von der Polizei durchsucht und von rechtsextremen Gruppen angegriffen - erleben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe (FH 10.3.2023, B1). Die Justiz geht auch weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 12.10.2022, S. 5; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2022 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).

Vorgehen gegen die CHP und andere Oppositionsparteien (Beispiele)

Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017 (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Im Dezember 2020 erfolgte eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" (Duvar 14.12.2020). Am 12.5.2022 bestätigte der Kassationsgerichtshof die Verurteilung in drei Anklagepunkten: "Beleidigung eines Beamten", "Beleidigung des Präsidenten" und "Beleidigung des türkischen Staates". Dies hatte eine Haftstrafe von fast fünf Jahren zur Folge. Die Anklagen wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung wurden fallen gelassen (Ahval 12.5.2022; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.). Kaftancıoğlu wurde am 31.5.2022 ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul gebracht, jedoch noch am selben Tage wieder freigelassen. Sie wurde jedoch von einer Kandidatur bei den damals anstehenden Wahlen ausgeschlossen (FAZ 1.6.2022; vgl. MEE 31.5.2022). Ende April 2023, schlussendlich, entschied das Strafgericht auf Freispruch, da ihre Äußerungen nicht als "beleidigend" angesehen wurden (Duvar 26.4.2023).

Im November 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara ein Eilverfahren gegen den CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu eingeleitet. Ihm wurde vorgeworfen, "Propaganda für eine terroristische Organisation" gemacht zu haben, weil er sich zu den Vorwürfen geäußert hat, die türkischen Streitkräfte hätten bei ihren Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) chemische Waffen eingesetzt. Laut der Generalstaatsanwaltschaft steht Tanrıkulus Äußerung im Einklang mit den strategischen Zielen der PKK und dem entsprechenden Diskurs und den Aktionen in diesem Zusammenhang (Duvar 7.11.2022).

Mitte Dezember 2022 verurteilte ein Gericht den amtierenden Bürgermeister Istanbuls und CHP-Politiker, Ekrem İmamoğlu, zu zwei Jahren und siebeneinhalb Monaten Gefängnis wegen Beleidigung der Wahlbehörde anlässlich der Lokalwahlen 2019. Die Richter verhängten außerdem ein Politikverbot (HRW 14.12.2022; vgl. Evrensel 14.12.2022). Sowohl die Haftstrafe als auch das Politikverbot müssen vom Kassationsgericht (i.e. oberstes Appellationsgericht) bestätigt werden (Duvar 15.12.2022). Das Berufungsverfahren kann bis zu zwei Jahren dauern (Standard 15.12.2022). Solange das Berufungsverfahren läuft, darf İmamoğlu im Amt bleiben (ZO 15.12.2022; vgl. Standard 15.12.2022). Als Reaktion auf das Urteil demonstrierten Zehntausende in Istanbul vor dem Amtssitz der Stadtregierung (ARD 15.12.2022; vgl. Duvar 15.12.2022). Am 19.1.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft vier Jahre Haft für den ehemaligen Abgeordneten der CHP, Eren Erdem, wegen eines Tweets über Präsident Recep Tayyip Erdoğan. In seinem Tweet schrieb Erdem: "Hunger ist gleich RTE" und verwendete die Initialen des Präsidenten (Duvar 20.1.2023).

Das türkische Innenministerium gab am 24.12.2022 bekannt, dass es Strafanzeige gegen die von der CHP-Opposition geführte Stadtverwaltung von Istanbul erstattet hat, nachdem es davon ausgeht, dass 1.668 Mitarbeiter mit Verbindungen zu "terroristischen Organisationen" in der Stadtverwaltung beschäftigt sind. Das Innenministerium hatte bereits seit einem Jahr behauptet, dass Hunderte von Mitarbeitern der Stadtverwaltung im Verdacht stünden, Verbindungen zu "terroristischen Gruppen" zu haben, darunter die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (DHKP/C) sowie die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) - und sogar Mitglieder der Gülen-Bewegung dort tätig sind (Duvar 25.12.2022; vgl. FH 10.3.2023, B1).

Der Oppositionspolitiker Metin Gürcan, Mitbegründer der oppositionellen Demokratie- und Fortschrittspartei (DEVA), war am 13.5.2022, einen Tag nach seiner Freilassung, wegen Spionagevorwürfen erneut verhaftet worden. Ihm drohten bis zu 35 Jahre Haft. Dem Politiker und Militäranalysten wurde vorgeworfen, mutmaßlich geheime Informationen an ausländische Diplomaten verkauft zu haben (FH 10.3.2023, B1; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.).

Vorgehen gegen die HDP

Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terroristen (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen, diese systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020). Auch während des Wahlkampfes 2023 versuchte die Regierung die HDP als politischen Arm der PKK zu inkriminieren (ÖB 30.11.2022, S. 4).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S. 69). Das Europäische Parlament "fordert[e] die türkischen Staatsorgane auf, davon Abstand zu nehmen, zur Aufwiegelung gegen die HDP weiter anzustacheln" (EP 8.7.2021, Pt. 5).

Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen nach wie vor, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar. Inzwischen verwendet Daily Sabah durchgehend die Bezeichnung "pro-PKK HDP". - Jüngste Beispiele: So soll laut Daily Sabah Anfang April 2023 ein bei einer Anti-Terror-Operation in der südöstlichen türkischen Provinz Diyarbakır Verhafteter gestanden haben, dass er in der HDP-Zentrale ausgebildet wurde, um sich danach der PKK anzuschließen (DS 3.4.2023). Und anlässlich des Rückzuges der HDP von den Parlamentswahlen 2023 angesichts des laufenden Verbotsverfahrens und Kandidatur ihrer Politiker auf der Liste der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti - YSP) vermeldete Daily Sabah, dass trotz Namensänderung die Ideologie dieselbe geblieben sei, da das Manifest Verbindung zur PKK-Terrorgruppe offenlegen würde. Als Beweis führte die Zeitung die Ankündigung Partei an, wonach im Falle einer Machtübernahme die Anti-Terror-Operationen der Türkei im Irak und in Syrien beendet und der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan auf Bewährung freigelassen zu würde (DS 31.3.2023).

Nicht nur die angebliche Beleidigung des Staatspräsidenten (siehe weiter unten zum Urteil gegen Demirtaş), sondern auch die vermeintliche Herabwürdigung der türkischen Nation führen zur strafrechtlichen Verfolgung von HDP-Führungskadern. So hat die Generalstaatsanwaltschaft Ankara im Dezember 2022 eine Klage gegen elf ehemalige Mitglieder des Zentralen Vorstands der HDP eingereicht, mit der Forderung, dass diese wegen einer Presseerklärung vom 24.4.2021, in der sie den Begriff "Völkermord an den Armeniern" erwähnten, nach Art. 301 des Strafgesetzbuchs - "Beleidigung des Türkentums" - verurteilt werden (Duvar 8.12.2022).

Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder wurden seit 2015 inhaftiert und etwa 5.000 befinden sich noch immer in Haft (MedyaNews 3.7.2022; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 46, AA 28.7.2022, S. 8). Demnach sitzen rund 12 % aller HDP-Mitglieder im Gefängnis, denn laut offiziellen Zahlen des Kassationsgerichtes hatte die HDP mit Stand 4.10.2021 genau 41.022 Mitglieder (NL-MFA 2.3.2022, S. 46f.). Im Dezember 2022 gab die HDP in einem Bericht bekannt, dass in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 mindestens 2.465 Provinz- und Bezirksvorstände und einfache Mitglieder festgenommen wurden, und zwar aufgrund von Pressemitteilungen, Parteiaktivitäten und der Teilnahme an Veranstaltungen zum Frühlingsfest Newroz. Laut Eigenangaben der HDP gingen nicht nur die Verhaftungen, sondern auch die physischen Angriffe weiter. Seit 2015 wurden mindestens 340 physische Angriffe auf Gebäude, Stände, Kundgebungen und Demonstrationen der HDP in den Provinzen und Bezirken sowie auf die für diese Veranstaltungen verantwortlichen Personen verübt (HDP 10.12.2022). Davon abgesehen leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021; vgl. MedyaNews 3.7.2022).

Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurden am 25.4.2023, je nach Quelle, bis zu 150 Personen, darunter Dutzende HDP-Mitglieder und hochrangige Funktionäre wie die stellvertretende Co-Vorsitzende Özlem Gündüz, verhaftet. Doch gingen die Behörden auch gegen Anwälte und Zeitungs- sowie Agenturjournalisten vor. Nach HDP-Angaben wurden in 21 Provinzen Razzien im Rahmen einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft Diyarbakır durchgeführt. Die Verhafteten wurden verdächtigt, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu finanzieren, z.B. aus dem Gemeindebudget, oder neue Mitglieder für diese anzuwerben (DW 25.4.2023; vgl. WZ 25.4.2023, HDP 25.4.2023, FAZ 25.4.2023). In einer Aussendung vom 5.5.2023 sprach die HDP davon, dass es am Vorabend zu den Parlamentswahlen innerhalb eines Monats zu mindestens 295 Festnahmen bzw. 61 Verhaftungen von HDP-Mitgliedern kam, darunter auch Funktionäre, wie der stellvertretende HDP-Vorsitzende der Provinz Urfa (Bereits am 4.3.2023) oder der Ko-Vorsitzende des Distrikts Gebze, inklusive vier seiner Parteimitarbeiter (HDP 5.5.2023).

Vorgehen gegen einfache HDP-Mitglieder und deren Umfeld

Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist jedoch kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 47). Die Entscheidung allerdings, welche HDP-Mitglieder verhaftet und inhaftiert werden und welche nicht, wird demzufolge zufällig und willkürlich getroffen. Diese Willkür diene laut Quellen wahrscheinlich dem Zweck, Angst und Unsicherheit zu verbreiten und die Menschen davon abzuhalten, aktiv für die HDP zu arbeiten. Aus vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums geht hervor, dass eine Reihe von Umständen und Aktivitäten in der Praxis eine Rolle bei Festnahmen, Inhaftierungen, strafrechtlichen Ermittlungen und Verurteilungen spielen können. Dies bedeutet nicht, dass diese Umstände und Aktivitäten bei allen HDP-Mitgliedern, Mitarbeitern, Aktivisten und/oder Sympathisanten zu persönlichen Problemen mit den türkischen Behörden führen. Faktoren, die zu negativer Aufmerksamkeit seitens der türkischen Behörden führen können (Die Liste ist keineswegs als erschöpfend anzusehen): die HDP-Mitgliedschaft an sich; die Wahlbeobachtungen; die Teilnahme an HDP-Demonstrationen, an HDP-Pressekonferenzen, an HDP-Wahlkampagnen, an HDP-Versammlungen; das Posten und Teilen von Pro-HDP-Posts in sozialen Medien (z. B. das Posten von Bildern des inhaftierten HDP-Vorsitzenden Demirtaş); der Besitz und die Verteilung von HDP-Pamphleten; der Besitz bestimmter Arten von Literatur (z. B. Bücher über "Konföderalismus", d. h., das Streben nach Selbstverwaltung und Autonomie für die Kurden). Zum Vorgehen seitens der türkischen Behörden gehören auch nächtliche, mit unter gewaltsame Razzien am Wohnort (NL-MFA 2.3.2022, S. 47).

Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, ein Bankkonto, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren bzw. keinen bekommen, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 2.3.2022, S. 49). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S. 20).

Behördliches Vorgehen insbesondere gegen HDP-Parlamentarier

Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Mitglieder der Oppositionsparteien im Parlament, insbesondere der HDP, wegen angeblicher terroristischer Straftaten vor, was den politischen Pluralismus untergräbt. Das parlamentarische Immunitätssystem bietet laut Europäischer Kommission keinen angemessenen Rechtsschutz, der es den oppositionellen Parlamentariern ermöglicht, ihre Position im Rahmen der Meinungsfreiheit zu äußern. Der Antrag des Justizministeriums auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 20 oppositionellen Abgeordneten aus sechs verschiedenen Parteien ist anhängig (Stand Oktober 2022). Ein HDP-Politiker erhielt im Juli 2021 seinen Status als Abgeordneter zurück, nachdem das Verfassungsgericht entschieden hatte, dass seine Rechte verletzt worden waren. Die Immunität eines anderen HDP-Parlamentariers wurde jedoch im März 2022 vom Parlament aufgehoben. Vier weiteren Oppositionsabgeordneten wurde die parlamentarische Immunität entzogen und sie wurden während der laufenden Legislaturperiode wegen Terrorismusvorwürfen inhaftiert (EC 12.10.2022, S. 13).

Seit der Verfassungsänderung vom 20.5.2016, welche die vollständige Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten ermöglichte, wurden mehr als 600 Anklagen gegen Parlamentarier der HDP erhoben. Anklagen erfolgen wegen terrorismusbezogener Taten, Verleumdung des Präsidenten, der Regierung oder des Staates. Seit 2018 wurden mehr als 30 Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu Freiheitsstrafen verurteilt. Elf aktuelle und ehemalige HDP-Parlamentarier befanden sich - Stand Mitte Oktober 2022 - im Gefängnis, darunter die ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (IPU 15.10.2022, S. 37). Die Anzahl der inhaftierten hat sich durch die Entlassung von zwei ehemaligen HDP-Abgeordneten verringert. - Mitte Oktober 2022 wurd Gülser Yıldırım entlassen. Sie war am 4.11.2016 verhaftet und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Gemäß Gesetz (Nr. 7242) hätte sie nach Zwei-Drittel der Strafverbüßung entlassen werden sollen, doch wurde sie erst vier Monaten später enthaftet (TM 18.10.2022; vgl. Bianet 18.10.2022). Anfang April 2023 wurde der ehemalige HDP-Abgeordnete İdris Baluken nach fast sieben Jahren Haft wegen Terrorismus-Unterstützung freigelassen. Baluken war am 4.11.2016 festgenommen und inhaftiert worden (Duvar 5.4.2023; vgl. NTV 5.4.2023). Andererseits verurteilte das Gericht in Diyarbakır im Oktober 2022 die ehemalige Parlamentarierin, Leyla Güven, die bereits 2018 festgenommen und 2020 nach Entzug ihrer parlamentarischen Immunität verurteilt wurde, zu elf Jahren und sieben Monaten Gefängnis wegen terroristischer Propaganda für die PKK in einem halben Dutzend Reden, die sie als Abgeordnete der HDP zwischen 2015 und 2019 gehalten hatte. In Summe büßt die 58-Jährige eine 22-jährige Gefängnisstrafe wegen zweier getrennter Delikte ab (Ahval 17.10.2022).

HDP-Parlamentarier sind auch von physischen Übergriffen durch die Polizei nicht ausgenommen. Am 9.10.2022 demonstrierten die HDP und einige Verbände in verschiedenen Provinzen gegen die Isolation des inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan. Die Demonstranten sahen sich mit harter Polizeigewalt konfrontiert, wobei es zu mehreren Festnahmen kam und dem Abgeordneten Habip Eksik hierbei ein Bein gebrochen wurde. Die Polizei verteidigend gab das Büro des Gouverneurs von Hakkari später eine Erklärung ab, wonach Eksik sich auf den Boden geworfen habe, um den Eindruck zu erwecken, dass die Polizei übermäßige Gewalt angewendet hätte (Duvar 10.10.2022; vgl. Ahval 10.10.2022).

Ein Prozessbeobachter der Interparlamentarischen Union (IPU) kam bereits 2018 zu dem Schluss, dass die Aussichten auf faire Gerichtsverfahren für die HDP-Abgeordneten Yüksekdağ und Demirtaş gering seien und dass der politische Charakter beider Verfahren offensichtlich sei. Eine ebenfalls 2018 von der IPU durchgeführte Überprüfung von zwölf Gerichtsurteilen gegen HDP-Mitglieder kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen, unter anderem, dass die Justiz in der Türkei - von den erstinstanzlichen Gerichten bis hin zum Verfassungsgericht - die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das Grundsatzurteil des türkischen Verfassungsgerichts in Bezug auf die Meinungsfreiheit bei der Bewertung, ob eine Äußerung eine Aufstachelung zur Gewalt oder eine der anderen Straftaten darstellt, derer die Parlamentsabgeordneten angeklagt waren, völlig außer Acht gelassen hätte (IPU 15.10.2022, S. 38).

Behördliches Vorgehen gegen gewählte HDP-Mandatare auf lokaler Ebene

Die Regierung suspendierte demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen. Diese wurden durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP). Die Regierung hat 81 % der HDP-Bürgermeister, die bei den Lokalwahlen 2019 gewählt wurden, suspendiert und seit 2016 88 % der gewählten HDP-Amtsinhaber entfernt (USDOS 20.3.2023, S. 73). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben (EC 12.10.2022, S. 14; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 21). - Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 12.10.2022, S. 14). - Von 48 suspendierten Bürgermeistern wurden 39 arretiert (USDOS 20.3.2023, S. 21).

Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 28.7.2022, S. 7f.). Diesbezüglich wurden keine Maßnahmen ergriffen, trotz der Kritik der Venedig-Kommission des Europarates vom Juni 2020 an der Entscheidung Kandidaten der HDP, die bei den Kommunalwahlen im März 2019 in sechs Gemeinden die meisten Stimmen erhalten hatten, das Bürgermeisteramt zu verweigern und stattdessen die zweitplatzierten AKP-Kandidaten damit zu betrauen (EC 12.10.2022, S. 12). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019). Sechs HDP-Bürgermeister durften demnach ihr Amt nach den Wahlen 2019 nicht antreten (USDOS 20.3.2023, S. 21).

Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in Mardin, Van, Diyarbakır und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020). Fälle polizeilicher Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern und Funktionären der HDP kommen weiterhin vor. So griff die Polizei in die von der HDP und dem Demokratischen Volkskongress (HDK) organisierte Presseerklärung am 18.4.2022 im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu zum bevorstehenden 1. Mai ein und nahm 26 Personen, darunter die Ko-Vorsitzende der HDP und die Ko-Sprecher des HDK, unter Anwendung körperlicher Gewalt fest (Die festgenommenen Personen wurden noch am selben Tag wieder freigelassen). Zudem wandte die Polizei körperliche Gewalt gegenüber Journalisten an, um diese zu vertreiben (TİHV 19.4.2022).

In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Am 26.1.2023 fand vor dem Schweren Strafgericht Nr. 2 in Hakkâri die letzte Verhandlung im Fall von Cihan Karaman, dem HDP-Bürgermeister von Hakkâri, der durch einen Treuhänder ersetzt wurde, statt. Das Gericht verurteilte Cihan Karaman wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu einer Haftstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten (TİHV 26.1.2023; vgl. Sabah 26.1.2023).

Der Kobanê-Massenprozess

Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobanê einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobanê zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten von 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022). Am 12.4.2022 ordneten die Behörden die Verhaftung von weiteren 91 Personen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten an, darunter auch Mitglieder der HDP. Sie wurden beschuldigt an der finanziellen Organisierung der Vorfälle beteiligt gewesen zu sein und den Familien von toten oder verletzten PKK-Mitgliedern finanzielle Unterstützung zukommen gelassen zu haben (BI 12.4.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 22).

Aktuelle Beispiele für Verhaftungen und Verurteilungen von HDP-Funktionären und einfachen HDP-Mitgliedern

Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022). Am 19.5.2022 wurden 13 Personen, darunter HDP-Führungskräfte und Mitglieder der HDP-Jugendorganisation, bei Hausdurchsuchungen in Diyarbakır festgenommen. Zehn von ihnen wurden per Gerichtsentscheid inhaftiert, die restlichen bedingt freigelassen (TİHV 23.5.2022). Anfang Juni erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 42 Personen im Umfeld der HDP, darunter befanden sich u.a. die HDP-Provinzchefs von Istanbul, Bingöl und Edirne (Duvar 3.6.2022). Mitte desselben Monats wurden im Zuge einer Polizeirazzia zehn Mitglieder der HDP in Istanbul festgenommen (Ahval 16.6.2022). In der zweiten Dezember-Hälfte 2022 führte die Polizei eine Razzia in der Zentrale der DBP [der auf lokaler Ebene agierenden Schwesterpartei der HDP] in Ankara, in deren Informationsbüro in Diyarbakır und in ihren Büros in Ağrı, Antep, Batman, Mardin, Urfa, Şırnak und Van durch (TİHV 23.12.2022; vgl. HDP 28.12.2022). Bei den Razzien wurden laut Angaben der HDP Parteibücher und zahlreiche andere Dokumente beschlagnahmt. Nach den Razzien wurden 15 Parteimitglieder und Führungskräfte, darunter der Ko-Vorsitzende der DBP, Keskin Bayındır, festgenommen. Nach viertägiger Haft wurden der Ko-Vorsitzende Bayindir und der Ko-Vorsitzende des DBP-Büros in Diyarbakir, Hayrettin Altun, ins Gefängnis gebracht (HDP 28.12.2022; vgl. TİHV 23.12.2022).

Aktuelle Beispiele für Entscheidungen des Europäische Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Nach 2021 forderte auch das Europäische Parlament (EP) im Juni 2022 neuerlich auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23, EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).

Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S. 14f.).

Am 22.3.2022 wies das Verfassungsgericht den Antrag der HDP-Abgeordneten Semra Güzel ab, die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität wegen Terrorvorwürfen rückgängig zu machen. Güzel wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen angeklagt, nachdem Fotos in den Medien erschienen waren, auf denen sie mit einem PKK-Mitglied mutmaßlich in einem Lager der Gruppe posierte (BAMF 28.3.2022, S. 9; vgl. Ahval 24.3.2022). Anfang September 2022 wurde Güzel laut Innenminister Soylu mit einem gefälschten Pass auf dem Weg nach Griechenland gemeinsam mit einem Schlepper verhaftet (Duvar 2.9.2022). Anfang Oktober 2022 forderte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre Haft für Güzel (HDN 1.10.2022). Der 75-jährige, ehemalige Abgeordnete der HDP, Halil Aksoy, wurde in einem Fall, in dem er vor 13 Jahren freigesprochen worden war, am 26.4.2022 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Entgegen dem damaligen Freispruch verurteilte dasselbe 11. Hohe Strafgericht Gericht in Istanbul Aksoy wegen Propaganda für eine terroristische Organisation. Das Gericht lehnte auch einen Aufschub seiner Strafe ab (Mezopotamya 27.4.2022). Entlassen hingegen wurde nach fünf Jahren Anfang Jänner 2022 der ehemalige HDP-Abgeordnete Abdullah Zeydan, nachdem das Oberste Berufungsgericht die Haftstrafe von acht Jahren und 45 Tagen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda aufgehoben hatte (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. Ahval 6.1.2022).

Der EGMR entschied am 8.11.2022, dass die Türkei die Rechte von 13 ehemaligen Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie 2016, bzw. in einem Fall 2017, wegen Verbindungen zur verbotenen PKK in Untersuchungshaft genommen wurden, um den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Der EGMR entschied, dass die Untersuchungshaft der Antragsteller willkürlich und mit dem innerstaatlichen Recht unvereinbar sei, da die Betroffenen Anspruch auf parlamentarische Immunität hätten. Das Straßburger Gericht entschied auch, dass es keine Beweise gab, die den Verdacht begründeten, dass sie eine Straftat begangen hatten, die ihre Inhaftierung rechtfertigte. Der EGMR ordnete die Freilassung jener zwei noch in Haft Verbliebenen, nämlich von İdris Baluken und Figen Yüksekdağ, der ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, an (SCF 9.11.2022; vgl. Bianet 8.11.2022, ECHR 8.11.2022).

Verbotsverfahren gegen die HDP

Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex-officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S. 3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u. a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Kandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).

In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).

Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift namentlich aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Wie bereits im Juli 2021 (EP 8.7.2021, Pt. 2) verurteilte das Europäische Parlament "aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politischen Tätigkeit nachzugehen" (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23).

Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S. 4). Am 5.1.2023 sperrte das türkische Verfassungsgericht die Bankkonten der (HDP) zunächst vorübergehend für 30 Tage (DW 6.1.2023), um am 9.3.2023 die Blockade der Konten wieder aufzuheben (Tagesspiegel 9.3.2023). Der Vorsitzende der ultranationalistische MHP, Devlet Bahçeli, Partner der regierenden AKP, bezeichnete daraufhin das Verfassungsgericht als "Hinterhof der separatistischen Terrororganisation", welcher "nicht das Gericht der türkischen Nation" sei (Duvar 11.3.2023). Laut staatlichem Fernsehen TRT sollte die HDP 27 Millionen Euro an staatlicher Parteienförderung für den Wahlkampf bekommen (DTJ 6.1.2023).

Das Verfassungsgericht verkündete Ende Jänner, dass es den Antrag der HDP auf Verschiebung des Verbotsverfahrens gegen die Partei abgelehnt habe und dass das Verfahren wie geplant fortgesetzt werde (HDN 26.1.2023). In einer für den 11.4.2023 anberaumten Anhörung machte die HDP von ihrem Recht auf eine Stellungnahme vor dem Verfassungsgericht keinen Gebrauch, da sie den Fall als politisch motiviert bezeichnete. Es gibt keine Frist für eine Entscheidung des Gerichts (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 4/FN 4).

Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure gegen die HDP und ihre Vertreter

In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni 2021 ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende Mithat Sancar sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotowcocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Am 27.3.2022 gab es einen bewaffneten Angriff auf das Büro der HDP im Bezirk Erdemli in Mersin von einer oder mehreren unbekannten Personen, der Sachschaden im Büro verursachte (TİHV 28.3.2022). Am 17.4.2022 wurde von Unbekannten ein Anschlag auf das HDP-Büro im Bezirk Çukurova in Adana verübt, bei dem Sachschaden entstand (TİHV 18.4.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).

Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023

Angesichts der Folgen des Erdbebens im Februar 2023 wurden von der Opposition entsandte Busse mit Hilfslieferungen gestoppt und erst in die Städte gelassen, nachdem sie mit Plakaten der staatlichen Präfekturen überklebt (FAZ 14.2.2023) oder deren LKWs mit Bannern der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD versehen worden waren (DW 17.2.2023). Die Opposition wurde diffamiert und an der Arbeit gehindert. So wurde etwa die Krisenzentrale der HDP im Epizentrum unter Zwangsverwaltung gestellt (DW 17.2.2023). Der zuständige Bezirksgouverneur von Pazarcık, Mustafa Hamit Kıyıcı, beschlagnahmte zusammen mit der Gendarmerie das HDP-Verteilungszentrum für Hilfsgüter mit dem Argument, wonach die staatliche Autorität gelten müsse (Duvar 16.2.2023), und die Verteilung durch die staatliche AFAD zu erfolgen habe (TM 16.2.2023). Laut der Ko-Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan, wurde Volontären überdies mit der Verhaftung gedroht (Duvar 16.2.2023).

Haftbedingungen

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2022, S. 11). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, S. 18; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in Ankara Sincan (Strafvollzugsanstalt für Frauen), Amasya, Aksaray, Kayseri, Malatya, Mersin Tarsus (geschlossene Strafvollzugsanstalt für Frauen) und Van (Hochsicherheitsgefängnis). Die Strafvollzugsanstalten in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa sind wiederum chronisch überbelegt (ÖB 30.11.2022, S. 11).

Die Gefängnisse erfüllten im Allgemeinen die Standards für die baulichen Bedingungen, d. h. Infrastruktur und Grundausstattung, aber erhebliche Probleme mit der Überbelegung führten in vielen Gefängnissen zu Bedingungen, die nach Ansicht des Europäisches Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, kurz: Anti-Folter-Komitee (Committee for the Prevention of Torture - CPT) des Europarats als unmenschlich und erniedrigend angesehen werden können (USDOS 20.3.2023, S. 9). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem CPT des Europarats besucht (ÖB 30.11.2022, S. 11), allerdings wurde der CTP-Bericht von 2021 nicht veröffentlicht (USDOS 20.3.2023). Im September 2022, beispielsweise, zeigten sich Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem Besuch besorgt über die Lebensbedingungen in Hafteinrichtungen, einschließlich der Überbelegung, sowie über die Situation von Migranten in Abschiebezentren (OHCHR 21.9.2022).

Die Regierung gestattet es unabhängigen NGOs nicht, Gefängnisse zu inspizieren (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. OMCT 2022). NGOs wie die World Organisation Against Torture (OMCT) orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (HREI bzw. TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Mängel bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt (EC 6.10.2020, S. 32). Im Allgemeinen sieht diese davon ab, die Gefängnisse zu besuchen, in denen die meisten Folter- und Misshandlungsvorwürfe erhoben werden (EC 12.10.2022, S. 32).

In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S. 38). Zum 5.5.2023 gab es insgesamt 400 Strafvollzugsanstalten, darunter 279 geschlossene und 90 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und acht offene Frauenvollzugsanstalten, und neun geschlossene Jugendvollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 291.592 Plätze (ABC-TGM 5.5.2023). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium im Dezember 2022 336.315, davon waren 12,3 % Untersuchungshäftlinge (ICPR 12.2022). In der Gesamtzahl der Gefängnisinsassen für März 2022 sind die 426.647 Bewährungshäftlinge nicht enthalten. Das bedeutet, dass insgesamt 741.149 Menschen in Haft oder auf Bewährung waren (OMCT 2022). Die türkische Regierung hat 8,7 Mrd. Lira für den Bau von 36 neuen Gefängnissen in den nächsten vier Jahren bereitgestellt (SCF 15.3.2022). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13 % der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S. 31f). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S. 4f; S. 32 Tab.). Mit Dezember 2022 wurden 396 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 97; Deutschland: 67] (ICPR 12.2022). Die Belegung war (Februar 2022) mit 108,3 % ebenfalls überproportional. Innert zehn Jahren nahm die Zahl der Häftlinge in der Türkei um 89 % zu (UNILCRIM/CoE 6.4.2022).

Das Europäische Parlament zeigte sich im Juni 2022 "zutiefst besorgt über die Lage in den überfüllten Gefängnissen der Türkei, wodurch sich die ernste Bedrohung, die die COVID-19-Pandemie für das Leben der Gefangenen darstellt, weiter verschärft". Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, S. 19f., Pt. 32; vgl. EC 12.10.2022, S. 34, DFAT 10.9.2020). Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen aus verschiedenen Gründen, wie z.B. wegen Verweigerung der Leibesvisitation, ärztlicher Untersuchung in Handschellen, erzwungener Anwesenheit bei ständigen Appellen oder die Titulierung von Personen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert wurden, als "Terroristen" und das Verprügeln aus diesem Grund haben der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" İHD zufolge ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht (İHD 6.11.2022, S. 14). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt (DIS 31.3.2021, S. 1; İHD 6.11.2022, S. 14). NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S. 1). Die Hungerstreiks in einigen Gefängnissen wurden fortgesetzt, um ein Ende der Verletzungen der Rechte der Häftlinge zu erwirken (EC 12.10.2022, S. 34; vgl. İHD 6.11.2022, S. 15).

Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung sowie über den Umstand beschwert, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S. 1). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S. 32). Eines der prominentesten Beispiele ist der ehemalige Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker - HDP, der seit 2016 im Gefängnis von Edirne in der Westtürkei sitzt, dass sich über 1.700 von seiner Heimatstadt Diyarbakır befindet. Seine Frau Başak Demirtaş muss jede Woche 3.500 Kilometer für einen einstündigen Besuch zurücklegen (3Sat 6.5.2023; vgl. DTJ 4.12.2020).

Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 20.3.2023, S. 9; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S. 29). Außerdem weisen zwei Quellen des niederländischen Außenministeriums darauf hin, dass einige Ärzte sich weigerten, tatsächliche oder angebliche Gülenisten und PKK-Mitglieder zu behandeln, aus Angst, mit der PKK oder der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden (NL-MFA 2.3.2022, S. 30; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 10). Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 20.3.2023, S. 10).

Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Gefängnis-Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 20.3.2023, S. 23). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S. 19), zuletzt z. B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).

Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, S. 17).

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, S. 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).

Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD 6.2022, S. 10, 13).

Kurdische Häftlinge

Mit Beginn des Ausnahmezustands (2016) wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S. 16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S. 30, 68; vgl. İHD 6.2022, S. 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S. 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S. 30; 68; vgl. İHD 23.10.2020, S. 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S. 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).

Hochsicherheitsgefängnisse

In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S. 11-13).

Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S. 4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S. 70). Viele HDP-Mitglieder oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36).

Isolationshaft

Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S. 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD 6.2022, S. 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S. 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S. 25) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihren Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S. 48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Die Covid-19-Pandemie verschärfte die Situation in den Gefängnissen, da die Überbelegung es schwierig machte, die Infektionen unter den auf engem Raum lebenden Gefangenen zu kontrollieren. Nach Angaben der türkischen Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten meldeten 55 von 372 Gefängnissen COVID-19-Fälle (OMCT 2022).

Im Jahr 2021 starben mindestens 175 Gefangene an den Folgen von COVID-19. Aus den eingelangten Ansuchen schloss die Menschenrechtsvereinigung İHD, dass die Haftbedingungen für die Pandemie nicht geeignet waren und keine hygienischen und gesunden Bedingungen für die Gefangenen geschaffen wurden. Darüber hinaus führten die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zu einer Entrechtung der Inhaftierten. Regelmäßige Untersuchungen und Behandlungen kranker Gefangener, einschließlich solcher in kritischem Zustand, wurden unterbrochen. Gefangene, die in regelmäßigen Abständen einen Arzt aufsuchen oder regelmäßig Medikamente einnehmen mussten, standen vor ernsthaften Problemen (İHD 6.2022, S. 27).

Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, S. 32; vgl. DFAT 10.9.2020).

Todesstrafe

Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 12).

Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (Reuters 25.6.2022).

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.3.2023, S. 85).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.3.2023, S. 85f.).

Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 12.10.2022, S. 43). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Von Hassreden und Übergriffen sind insbesondere auch Aleviten und Nicht-Muslime betroffen (FH 10.3.2023, D2). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Im Jahr 2020 waren insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner militärischen Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vgl. USCIRF 12.2021, S. 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87).

Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft (EC 12.10.2022, S. 45). Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf (EC 19.10.2021, S. 41). An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch und Tscherkessisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Zazaki, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch. Allerdings wirkt die limitierte Aufnahme oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 12.10.2022, S. 45).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022; S. 28).

Kurden

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2022, S. 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).

Dennoch wird der Krieg der Regierung gegen die PKK zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen (FH 10.3.2023, F4).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 20.3.2023, S. 29, 85). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 12.10.2022, S. 5).

Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S. 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S. 17, Pt. 44).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85) und die meisten blieben es auch (EC 12.10.2022, S. 18, 45). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 12.10.2022, S. 18; vgl. CCRT 8.4.2021)

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 12.10.2022, S. 18). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, S. 11; vgl. VOA 11.6.2022; ÖB 30.11.2022, S. 22f.). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, S. 10).

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21).

Übergriffe

Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (NL-MFA 2.3.2022, S. 43). Im Juli 2021 veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021). Auch im Jahr 2022 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden ÖB 30.11.2022, S. 27).

Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September 2021 wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar 2022 brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022). Im September 2022 wurde eine kurdische Familie, die im Dorf Arpadere in der westlichen Provinz Aydın ein Haus kaufen wollte, bei einem, von manchen Quellen als rassistisch eingestuften, Angriff der Dorfbewohner schwer misshandelt. Die Polizei reagierte nicht auf den Frauen-Notruf KADES, der von einem weiblichen Familienmitglied aktiviert wurde (Duvar 13.9.2022; vgl. Bianet 13.9.2022).

Verwendung der kurdischen Sprache

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2022, S. 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die bisherigen Bemühungen gewählter Gemeindevertretungen, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, blieben allerdings erfolglos. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, kurdische Medien und zahlreiche Kunsträume bleiben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016, was zu einer weiteren Einschränkung der kulturellen Rechte beitragt (EC 12.10.2022; S. 43). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2022, S. 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2022, S. 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2022, S. 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. - Der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 28). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022). Und im Jänner 2023 teilte der Parlamentsabgeordnete der HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, mit, dass zwei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Hevra festgenommen wurden, weil sie auf Kurdisch auf einem vom HDP-Jugendrat organisierten Konzert in Darıca nahe Istanbul gesungen haben (Duvar 23.1.2023).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). 2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2022, S. 28). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S. 27).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Bewegungsfreiheit

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB 30.11.2022, S. 10; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2022, S. 6; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 57).

Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S. 27f). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (NL-MFA 2.3.2022, S. 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (MedyaNews 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022).

Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2022, S. 10). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S. 27f).

Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023, S. 57f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).

Das Verfassungsgericht entschied Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, S. 23, 26).

Grundversorgung / Wirtschaft

Das starke Wirtschaftswachstum des Vorjahres mit 11,4 % hat sich 2022 halbiert. Die Wachstumsaussichten für 2023 haben sich auch infolge der Erdbebenkatastrophe eingetrübt, aktuell (Stand April 2023) wird mit einem Wachstum von 2,8 % des BIP gerechnet (WKO 4.2023, S. 4). Denn in wichtigen Absatzmärkten der türkischen Exporteure wie der Europäischen Union und den USA wird 2023 ein Konjunkturabschwung erwartet. Die reale Kaufkraft ist gesunken. Die positiven Effekte auf den Konsum durch die deutliche Senkung des Leitzinses seit September 2021 von 19 auf 9 % werden durch die horrende Inflation gedämpft. Die Konsumentenpreise legten im Oktober 2022 um durchschnittlich 86 % zu. Die meisten Unternehmen reagieren mit Gehaltserhöhungen, die die Einbußen aber nur abfedern. Neben der Inflation führt der stark schwankende Wechselkurs der türkischen Lira (TL) zu hoher Unsicherheit. Die Bevölkerung flüchtet in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien. Die Verschuldung der Bevölkerung ist bereits hoch. Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 30.11.2022). Während die offizielle Inflationsrate Ende 2022 bei rund 85 % lag, bezifferte das unabhängige Wirtschaftsinstitut "Ena Grup" die Teuerung bei knapp über 170 % (FR 23.12.2022). Besonders waren Lebensmittel von der Preissteigerung betroffen (Duvar 23.10.2022; vgl. AM 3.11.2022). Umfragen zeigten, dass die Türken die Inflation weit höher einschätzten, als die offiziellen Daten wiedergeben (Duvar 23.10.2022). Die Talfahrt der türkischen Lira setzte sich auch 2022 fort. Erhielt man im März 2021 für einen Euro noch 8,8 Lira, so stand der Wechselkurs im März 2023 bei 21,16 Lira für 1 Euro (WKO 4.2023, S. 4).

Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 30.11.2022), obschon sie 2022 leicht zurückging war. Im November 2022 verzeichnete das Statistikamt 10,2 % statt 12 % (2021) Arbeitslose und 17,8 % Jugendarbeitslosigkeit (2021: 21,4 %). Die Erwerbstätigenquote lag bei 54,1 % (WKO 4.2023, S. 5). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ging für 2023 in ihrer Berechnung von einer Arbeitslosenrate bei den über 15-Jährigen von 9,9 % aus, wobei sie bei Frauen mit 12,5 % etwas, und besonders in der Altersgruppe der 15 bis 24-Jährigen mit 18,8 % deutlich höher ausfiel (ILO 2023). Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Die Armutsgrenze in der Türkei ist im Jänner 2023 auf 28.875 Lira [Anm.: 1 Euro war Ende April 2023 fast 21,5 Lira wert.] ge​ stiegen, mehr als das Dreifache des Mindestlohns (8.506 Lira), wie Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) zeigen. - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag im Jänner 2023 bei 8.864 Lira. Damit lag der Mindestlohn bereits im Jänner 2023 unter der Hungerschwelle für eine vierköpfige Familie (Duvar 30.1.2023).

Präsident Erdoğan hat den Mindestlohn ab dem 1.1.2023 auf 8.500 Türkische Lira netto von zuvor 5.500 TL angehoben. Allerdings kritisierten sowohl die Gewerkschaften als auch die Opposition die Anhebung als zu gering, auch weil 60 % aller Arbeitenden nur den Mindestlohn verdienen (FR 23.12.2022). Mit der Steigerung um rund 55 % ist die Mindestlohnerhöhung weit unter der offiziell verkündeten Inflationsrate von rund 84 %. Private Unternehmen sind allerdings nicht verpflichtet, eine Lohnerhöhung von 55 % durchzuführen, solange die Löhne nicht unter dem Mindestlohn liegen. Laut inoffiziellen Quellen beträgt die tatsächliche Inflation sogar über 170 %. Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern durchschnittlich 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).

Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).

Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der damals 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB 30.11.2022, S. 41). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB 30.11.2022, S. 41).

Sozialbeihilfen / -versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von 24 Monaten über monatlich 150 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 1.416 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 315 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 1.124 TL und 1.687 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 3.340 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2022 monatlich Anspruch auf 875 TL (Auszahlung alle zwei Monate) aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 18.975 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2022, S. 42).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).

Arbeitslosenunterstützung

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR 2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 41).

Nach Erhöhung des Mindestlohns im Juli 2022 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 2.568 TL (rund € 141), der Maximalbetrag 5.123 TL (rund € 283) (ÖB 30.11.2022, S. 41). - Auf das Arbeitslosengeld werden keine Steuern oder Abzüge erhoben, mit Ausnahme der Stempelsteuer (İŞKUR 2022). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 41f., İŞKUR 2022).

Pension

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

 Staatsbürger über 18 Jahre

 Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)

 Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

 Anmelden bei der Sozialversicherung SGK.

 Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden.

 Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr.

Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 8.2022).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).

Kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 hat Präsident Erdoğan das Mindestalter für die Pension aufgehoben und damit mehr als zwei Millionen Bürgern die Möglichkeit gegeben, sofort in den Ruhestand zu treten. Bislang galt in der Türkei ein Mindestalter von 60 Jahren für Männer und 58 für Frauen (ZO 29.12.2022). Ab Mitte Jänner 2023 zählt nur noch die gearbeitete Zeit: 7.200 Tage berechtigen dann zum Pensionseintritt. Allerdings arbeiten viele Pensionisten trotzdem weiter, da die Pension nicht zum Leben reicht. Über zwei Mio. Türken würden in den Genuss der neuen Regelung kommen (ARD 2.1.2023).

Nachdem bereits Anfang Jänner eine 30-prozentige Erhöhung der Gehälter und Pensionen der Staatsdiener sowie eine Erhöhung der Mindestpension von 3.500 auf 5.500 Lira (ca. 293 Euro) für die erste Hälfte des Jahres 2023 angekündigt wurde (DS 4.1.2023; vgl. HDN 4.1.2023), bewilligte Präsident Erdoğan kurz vor den Wahlen eine weitere Gehaltserhöhung von 45 % für 700.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Der Mindestlohn im öffentlichen Dienst steigt damit auf 15.000 Lira (knapp 700 Euro). Die Pensionen für Veteranen und Angehörige von Terroropfern sollen zudem um 10 % Prozent erhöht werden (FAZ 9.5.2023; vgl. DS 9.5.2023). Zudem kündigte Erdoğan eine Erhöhung der eigentlichen Beamtengehälter, die sich automatisch auf deren Pensionen auswirken, auf mindestens 22.000 Lira an (PRT 11.5.2023).

Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S. 56f).

Medizinische Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc.. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2022, S. 42f.).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Mit Stand März 2021 waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2022, S. 43). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Ízmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022a). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während die Prognose für 2022 bei 2.500 lag. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinisches Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022a).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie Notfallbehandlungen kostenlos. Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab - ab 150,12 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 8.2022). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S. 15).

Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden (IOM 8.2022).

Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).

Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2022, S. 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.3.2023). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.3.2023). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.3.2023).

Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt (AA 24.3.2023).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2022, S. 10).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2022, S. 40). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB 30.11.2022, S. 40). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB 30.11.2022, S. 45). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S. 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

 Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

 Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

 TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2022, S. 41).

2.2. Das BVwG stützt sich im Hinblick auf diese Feststellungen auf folgende Erwägungen:

2.2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und der vorliegenden Gerichtsakte des Bundesverwaltungsgerichts.

2.2.2. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in die Verfahrensakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, der bekämpften Bescheide, der Beschwerdeschriftsätze sowie der am 30.08.2023 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

 

Das erkennende Gericht hat durch die vorliegenden Verwaltungsakte Beweis erhoben und eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt.

 

Aufgrund der vorliegenden Verwaltungsakte, des Ergebnisses des ergänzenden Ermittlungsverfahrens sowie der Beschwerdeverhandlung ist das erkennende Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

 

2.2.3. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer ergeben sich aus der Erstbefragung, den Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen sowie der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG im Einklang mit dem Akteninhalt.

 

Wie das Bundesverwaltungsgericht noch näher ausführen wird, sind der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin jeweils als Person unglaubwürdig. In umfassender Würdigung waren dennoch einzelne Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin den Feststellungen zugrunde zu legen.

 

Was die Feststellungen zur Identität (Name und Geburtsdatum) und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer betrifft, so wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts nicht verkannt, dass die Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Dokumente, die ihre Identität zweifelsfrei belegen hätten können und mit ihren Identitätsangaben übereinstimmen würden, im Original vorlegten. Aufgrund ihrer glaubhaften Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht in Zusammenschau mit einem türkischen Auszug aus dem Geburtseintrag in Kopie, einem türkischen Auszug aus dem Heiratseintrag in Kopie und einem türkisches Familienregister in Kopie (AS 73 – 87 im Akt 2254319) sowie den vom Bundesverwaltungsgericht als für unbedenklich befundenen türkischen behördlichen Unterlagen zu den wider den BF1 geführten Strafverfahren in Kopie (AS 89 - 95 im Akt 2254319 [Übersetzung: AS 97 - 107 im Akt 2254319]), stehen die Identität und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer indes hinreichend fest, zumal diese Dokumente im Hinblick auf die äußere Form tatsächlich auch ein ähnliches, mit den Wahrnehmungen des Bundesverwaltungsgerichts über die äußere Form und den inhaltlichen Aufbau derartiger türkischer Behördendokumente übereinstimmendes Erscheinungsbild aufweisen. Bereits die belangte Behörde kam im Übrigen zu dem Ergebnis, dass die Identität und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer feststehen (AS 118 im Akt 2254319, AS 62 im Akt 2254318, AS 34 im Akt 2254265).

 

Weitere Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer, ihrer Herkunft, ihren Lebensverhältnissen und ihren Familienangehörigen in ihrem Herkunftsstaat und in Österreich bzw. Europa waren auf Grundlage von - bisweilen lediglich in groben Zügen - stringenten und insoweit glaubhaften Angaben im Verwaltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, teils in Zusammenschau mit Bescheinigungsmitteln sowie vom Bundesverwaltungsgericht beigeschafften Unterlagen (z. B. Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Betreuungsinformationssystem und aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister) zu treffen. Auf einzelne Aspekte geht das Bundesverwaltungsgericht noch näher ein:

Dass die Beschwerdeführer der kurdischen Volksgruppe und der islamischen Religionsgemeinschaft angehören, haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nachvollziehbar angegeben und erscheint dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft. Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Türkisch und Kurdisch beherrschen, sagten sie ebenfalls glaubhaft aus. Die altersadäquaten Sprachkenntnisse des BF3 in Türkisch und Kurdisch ergeben sich wiederum aus dem Umstand, dass sich der Drittbeschwerdeführer bis vor Kurzem überwiegend in der Obhut seiner Eltern befand, die lediglich diese beiden Sprachen beherrschen.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer und der Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich aus den Angaben des BF1 und der BF2 vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht (AS 66 im Akt 2254319; AS 44 im Akt 2254318; VH-Schrift, S 4, 23). Ansonsten wurden auch keine aktuellen ärztlichen bzw. medizinischen Befunde in Vorlage gebracht, welche eine Erkrankung belegen oder eine Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen.

Insoweit ist von keiner - schon gar keiner schwerwiegenden - Erkrankung der Beschwerdeführer auszugehen. Derzeit benötigen die Beschwerdeführer keine medizinischen Behandlungen und nehmen keine Medikamente ein und bezeichnen sich als gesund. Dass die Beschwerdeführer Gründe haben könnten, insofern wahrheitswidrige Aussagen zu tätigen, ist nicht ersichtlich.

Im Falle einer Erkrankung oder sonstigen wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustands nach der mündlichen Verhandlung wäre davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer ein entsprechendes Vorbringen im Rahmen eines weiteren Schriftsatzes erstattet hätten. Wäre es daher zu wesentlichen Sachverhaltsänderungen gekommen, hätten die Beschwerdeführer diese dem Bundesverwaltungsgericht in Erfüllung ihrer Pflicht bzw. Obliegenheit zur Mitwirkung im Verfahren mitgeteilt.

 

Die Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin beruhen auf deren Ausführungen im gegenständlichen Verfahren im Hinblick auf die mehrjährige Schulausbildung der beiden erwachsenen Beschwerdeführer sowie die Berufserfahrung des BF1 im Bereich des (Shisha) Tabakverkaufs. Ferner brachten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin - wie zuvor erörtert - keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, welche die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen würden bzw. bestätigte die BF2 selbst durch ihre Bereitschaft in Österreich einer Arbeit nachgehen zu wollen, arbeitsfähig zu sein (VH-Schrift, S 27). In Anbetracht der Schulausbildung des BF1 und der BF2 und der Berufserfahrung des BF1 sowie der Sprachkenntnisse in Türkisch und Kurdisch geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es den erwachsenen Beschwerdeführern möglich und zumutbar ist, durch Aufnahme einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Selbsterhaltung zu erwirtschaften.

Zum Umstand, wonach die Beschwerdeführer 2020 erstmals die Türkei in Richtung Ukraine verließen, sie dort einige Wochen aufhältig waren und im Anschluss in die Türkei zurückkehrten, da ihnen an der ukrainisch/polnischen Grenze die Weiterreise in die Europäische Union verwehrt wurde, haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bereits eindeutige Angaben getätigt, die dementsprechend den Feststellungen zugrunde gelegt werden konnten. Das konkrete Ausreisedatum kann allerdings nicht eruiert werden, zumal die erwachsenen Beschwerdeführer in der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 (OZ 3 im Akt 2254319) ausführten, nach der angeblichen Hausdurchsuchung im Mai 2020 in die Ukraine ausgereist zu sein und dort etwa 13 Tage in Kiew und drei Tage an der polnisch/ukrainischen Grenze in Gewahrsam verbracht zu haben, wobei der Rückflug um den 20.12.2020, jedenfalls vor Ende 2020, erfolgt sei. In der mündlichen Verhandlung führte der BF1 hingegen aus, im Juli 2019 geheiratet zu haben und im Oktober oder November 2019 in die Ukraine gereist zu sein. Auf Vorhalt, wonach sich dies zeitlich nicht in Einklang bringen lasse, zumal er auch behauptete, nach der Eheschließung (am XXXX 2019) sechs Monate in Haft gewesen zu sein, erwiderte der BF1 lediglich, durcheinander zu sein bzw. an einem Schlafdefizit zu leiden (VH-Schrift, S 19). Im Ergebnis kann das Bundesverwaltungsgericht, mag auch zumindest von einer erstmaligen Ausreise nach der Geburt des BF3 im Jahr 2020 auszugehen sein, das konkrete Ausreisedatum hinsichtlich der Reise in die Ukraine nicht zweifelsfrei feststellen und stellt dies ein erstes Indiz für deren mangelnde persönliche Glaubwürdigkeit dar.

Zur abermaligen Ausreise der Beschwerdeführer aus der Türkei im April 2021 und dem etwa zweiwöchigen Aufenthalt in Serbien sowie der Einreise in das Bundesgebiet Mitte April 2021 haben die Beschwerdeführer des Weiteren im Verfahren im Wesentlichen gleichbleibende Angaben gemacht, die dementsprechend den Feststellungen zugrunde gelegt werden konnten. Es ist auch naheliegend, dass die Beschwerdeführer, kurz bevor sie den Antrag auf internationalen Schutz stellten, in das Bundesgebiet eingereist sind. Die Feststellungen zur jeweiligen unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet ergeben sich aus dem diesbezüglich unbestrittenen Akteninhalt sowie aus der Tatsache, dass die Beschwerdeführer in Umgehung der die Einreise regelnden Vorschriften ohne die erforderlichen Dokumente in Österreich einreisten. Wann die Beschwerdeführer jeweils den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, ist in unbedenklichen Urkunden/Unterlagen dokumentiert und wurde nicht in Zweifel gezogen.

Das Bundesverwaltungsgericht erlaubt sich an dieser Stelle anzumerken, dass es ein weiteres Indiz für die persönliche Unglaubwürdigkeit des Erstbeschwerdeführers darstellt, dass dieser offensichtlich nicht bereit ist, widerspruchsfreie und plausible Angaben zu den Ausreisemodalitäten bei seiner Reise nach Österreich im April 2021 zu treffen. Insofern kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob die Ausreise aus der Türkei legal erfolgt ist. Im Zuge der Erstbefragung führten der BF1 und die BF2 nämlich noch aus, dass sie die Türkei illegal ohne Reisedokument verlassen hätten (AS 19 im Akt 2254319; AS 11 im Akt 2254318). In der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 war dann von mithilfe des Vaters des BF1 über einen Schlepper organisierten gefälschten Reisepässen die Rede (OZ 3 im Akt 2254319), wobei der BF1 in der mündlichen Verhandlung wiederum erklärte, dass sie - unter dem Vorwand, dort Urlaub zu machen - legal nach Serbien geflogen seien und die Reisepässe in Serbien aus Angst, in Ungarn aufgegriffen zu werden, weggeworfen hätten. Auf Nachfrage, ob er mit seinem echten Reisedokument ausgereist sei, erwiderte der BF1 dann zunächst, dass sein Vater die Beamten „geschmiert“ habe und die Schlepper für sie Reisepässe ausstellen hätten lassen, nur um auf weitere Nachfrage, ob er einen gefälschten Reisepass gehabt habe oder dies sein echter Reisepass gewesen sei, einzugestehen, dass die Reisedokumente nicht gefälscht gewesen seien. Demnach habe sein Vater die Beamten „geschmiert“, damit er einen Reisepass bekomme, wobei der BF1 sein Vorbringen dann nochmals modifizierte und schilderte, dass die Schlepper den Reisepass für ihn besorgt hätten. Damit würde er meinen, dass die Beamten, die den Reisepass für ihn ausgestellt hätten, die Schlepper seien. Abschließend bejahte der BF1 dann die Frage, ob er legal vom Flughafen Istanbul ausgereist sei (VH-Schrift, S 16 f). Im Ergebnis kann das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach der Rechtskonformität der Ausreise der Beschwerdeführer aus der Türkei aufgrund dieser unterschiedlichen Angaben daher nicht zweifelsfrei feststellen und stellt dies ein weiteres Indiz für die persönliche Unglaubwürdigkeit des BF1 dar.

Die Angaben zum aufenthaltsrechtlichen Status der Beschwerdeführer ergeben sich aus den Verwaltungs- und Gerichtsakten.

Dass die Beschwerdeführer in Österreich keine Verwandten haben, ergibt sich aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (VH-Schrift, S 20, 26).

Den Feststellungen zum Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich liegen ebenfalls die Aussagen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zugrunde. Das Bundesverwaltungsgericht stellt insgesamt nicht in Abrede, dass die Beschwerdeführer einige private Kontakte unterhalten. Im Hinblick auf die festgestellten und im (gerichtlichen) Verfahren genannten Freizeitaktivitäten (z. B. VH-Schrift, S 20 f, 26) kann jedoch keinesfalls ein Abhängigkeitsverhältnis und auch keine über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindung festgestellt werden.

Die Beschwerdeführer legten weder Unterstützungserklärungen ihrer Freunde und Bekannten noch eine aktuelle Einstellungszusage oder einen (bedingten) Dienstvertrag vor, weshalb die dementsprechenden Feststellungen getroffen wurden.

Von den mangelnden Deutschkenntnissen des BF1 und der BF2 konnte sich das Bundesverwaltungsgericht zuletzt in der Verhandlung am 30.08.2023 selbst ein Bild machen (VH-Schrift, S 21, 27). Dass der Drittbeschwerdeführer über keine altersadäquaten Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, ergibt sich aus dem Umstand, dass der BF3 aufgrund seines Alters von dreieinhalb Jahren überwiegend mit seinen Eltern in Kontakt steht, wobei diese Personen die deutsche Sprache überhaupt nicht beherrschen, weshalb es auch nicht möglich ist, dass sie ihm die Sprache vermitteln.

Der seit ca. zweieinhalb Monaten durch den BF3 erfolgende Kindergartenbesuch ist unstrittig (VH-Schrift, S 27). Ausgehend vom Besuch der Bildungseinrichtung kann darauf geschlossen werden, dass der minderjährige Beschwerdeführer seither die deutsche Sprache in einem altersadäquaten Ausmaß erlernt und einen altersentsprechenden Umgang mit Freunden pflegt.

Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin keine Bildungsangebote in Anspruch genommen, keine Aus-, Fort- oder Weiterbildungen besucht haben, nicht ehrenamtlich/ gemeinnützig tätig, nicht erwerbstätig, nicht in Vereinen oder Organisationen aktiv und auch nicht Mitglied von Vereinen oder Organisationen in Österreich sind, ist im Lichte der Aussagen der erwachsenen Beschwerdeführer sowie der Bescheinigungsmittel (bisweilen im Umkehrschluss) nicht zweifelhaft.

 

Die Feststellungen betreffend die von den Beschwerdeführern in Anspruch genommenen Leistungen der Grundversorgung ergeben sich aus den Aussagen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesverwaltungsgericht (VH-Schrift, S 20, 26). in Zusammenschau mit dem amtswegig angefertigten Auszügen aus dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich). Dass der Drittbeschwerdeführer in Österreich strafgerichtlich unbescholten ist, ergibt sich bereits daraus, dass dieser erst ca. dreieinhalb Jahre alt und damit im Sinne des österreichischen Strafrechts unmündig ist (§ 1 Z 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 JGG).

Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre kamen im Verfahren nicht hervor. Die BF2 wurde zwar im Bundesgebiet Opfer von Gewalt durch den BF1 und erwirkte der minderjährige BF3 in diesem Zusammenhang eine einstweilige Verfügung wider den BF1 (AS 57 im Akt 2254319). In der Folge hat sich das Ehepaar - der BF1 und die BF2 - jedoch ausgesöhnt (VH-Schrift, S 26), es erfolgte insoweit keine strafgerichtliche Verurteilung des BF1 und es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen mehr erstattet, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

Wenn der Erstbeschwerdeführer im Übrigen in der Beschwerde ausführt, dass in der Türkei eine wirtschaftliche Absicherung nicht gegeben wäre und auch seine Familie ihn dahingehend nicht unterstützen könnte und wollte (AS 183 im Akt 2254319), so erscheint dies lediglich vorgeschoben, um allenfalls eine günstigere Position bezüglich der Gewährung subsidiären Schutzes zu erlangen. Dies vermag nicht zu überzeugen und erschüttert die persönliche Glaubwürdigkeit des BF1 zusätzlich, zumal dem entgegenzuhalten ist, dass sich aus den Angaben des BF1 ergibt, dass der Erstbeschwerdeführer mit seinen Eltern und Geschwistern in Kontakt steht und es diesen gut bzw. normal geht (VH-Schrift, S 5). In jedem Fall hat das Bundesverwaltungsgericht keine Zweifel, dass es zwischen dem BF1 und seinen Verwandten zu keinem gravierenden Zerwürfnis gekommen ist. Ebenso lässt sich aus den Schilderungen des BF1 kein nachvollziehbarer Grund ableiten, weshalb ihn seine Familie nicht unterstützen könnte und wollte. In dieses Bild, wonach der BF1 versucht, seine Situation möglichst ungünstig darzustellen, passt es des Weiteren auch, dass der BF1 in der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 behauptete, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der BF1 bei einer Rückkehr erneut in das Tabakgeschäft einsteigen könne, da er sein Geschäft zur Finanzierung der Flucht verkauft habe (OZ 3 im Akt 2254319). Dieser Argumentation ist nunmehr zu entgegnen, dass der BF1 sein Geschäft nicht an einen Fremden, sondern an seinen Bruder verkauft hat (AS 70 im Akt 2254319) und seine gesamte Familie ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von (Shisha) Tabak bestreitet (AS 68 im Akt 2254319), weshalb sich für das Bundesverwaltungsgericht nicht erschließt, dass dem BF1 ein Wiedereinstieg in das Tabakgeschäft verunmöglicht sein sollte. Es zeigt sich auch in diesem Punkt, dass der BF1 versucht, seine Situation im Fall der Rückkehr übersteigert negativ darzustellen bzw. nicht der Realität entsprechend darzustellen, was wiederum seine persönliche Glaubwürdigkeit erschüttert.

 

2.2.4. Die Feststellungen zum Vorbringen der Beschwerdeführer bzw. deren Fluchtgründen und zu ihrer Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat beruhen auf den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in der Erstbefragung und in den Einvernahmen vor dem BFA, den Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG sowie den getroffenen Länderfeststellungen.

 

Die Feststellung zum Nichtvorliegen einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Gefährdung der Beschwerdeführer ergibt sich einerseits aus dem seitens des BFA sowie des Bundesverwaltungsgerichts als unglaubwürdig bzw. nicht asylrelevant erachteten Vorbringen der Beschwerdeführer sowie andererseits aus den detaillierten, umfangreichen und aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in der Türkei und den Ergebnissen des ergänzenden Ermittlungsverfahrens.

 

Hinweise auf asylrelevante die Person der Beschwerdeführer betreffende Bedrohungssituationen konnten diese nicht glaubhaft machen.

 

2.2.4.1. Das erkennende Gericht hat anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten - z. B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z. B. VwGH 25.01.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z. B. VwGH 22.02.2001, 2000/20/0461) - zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.

 

Auch wurde vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es der Verwaltungsbehörde [nunmehr dem erkennenden Gericht] nicht verwehrt ist, auch die Plausibilität eines Vorbringens als ein Kriterium der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ihr zustehenden freien Beweiswürdigung anzuwenden (VwGH v. 29.6.2000, 2000/01/0093).

 

Weiters ist eine abweisende Entscheidung im Verfahren nach § 7 AsylG [numehr: § 3 AsylG] bereits dann möglich, wenn es als wahrscheinlich angesehen wird, dass eine Verfolgungsgefahr nicht vorliegt, das heißt, mehr Gründe für als gegen die Annahme sprechen (vgl. zum Bericht der Glaubhaftmachung: Ackermann, Hausmann, Handbuch des Asylrechts [1991] 137 f; s.a. VwGH 11.11.1987, 87/01/0191; Rohrböck AsylG 1997, Rz 314, 524).

 

Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylweber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der aufgrund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.

 

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden im Rahmen ihres Asylverfahrens darauf hingewiesen, dass ihre Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung im Asylverfahren darstellen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden zudem aufgefordert, durch wahre und vollständige Angaben an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken und wurden darauf aufmerksam gemacht, dass unwahre Angaben nachteilige Folgen haben.

 

Befragt zu ihren Fluchtgründen schilderten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Zuge der Erstbefragung, vor dem BFA und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht eine Bedrohungssituation, die als nicht glaubhaft bzw. als nicht asylrelevant erachtet wird; dies aus folgenden Gründen:

 

2.2.4.1.1. Eingangs ist festzuhalten, dass sich die Feststellungen, wonach der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung angehör(t)en, aus den Ausführungen der beiden Beschwerdeführer vor der belangten Behörde (teilweise im Umkehrschluss) ergeben (AS 69 im Akt 2254319). Die Feststellungen betreffend das Interesse der erwachsenen Beschwerdeführer für die kurdischen Belange basieren ebenfalls auf den diesbezüglichen glaubhaften Angaben in den Einvernahmen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Der Erstbeschwerdeführer legte auch mehrfach nachvollziehbar dar, die Halkların Demokratik Partisi bei Versammlungen und Aufmärschen sowie durch Übernahme von nicht näher präzisierten Hilfstätigkeiten unterstützt zu haben (AS 159 im Akt 2254319; OZ 3 im Akt 2254319), was in Anbetracht der Volksgruppenzugehörigkeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin auch plausibel erscheint. Ferner zeugen die Ausführungen des Erstbeschwerdeführers von einem vorhandenen Interesse an der türkischen Innenpolitik und ist deshalb auch wahrscheinlich, dass sich der Erstbeschwerdeführer für diese Partei als einfacher Unterstützer engagierte. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist es daher durchaus nachvollziehbar, dass es sich beim Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin - ebenso wie bei einem Großteil der Familien des BF1 und der BF2 - um Sympathisanten der HDP handelt, zumal kein Grund ersichtlich ist, weshalb diese Angaben hinsichtlich einer bloßen Sympathie für diese Partei nicht stimmen sollten. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sie daher ohne Weiteres den Feststellungen zugrunde legen, zumal hinsichtlich einer Mitgliedschaft bei der Halkların Demokratik Partisi auch festzuhalten ist, dass der BF1 und die BF2 nie eine Mitgliedschaftsbestätigung in Vorlage brachten. Mag die BF2 in der mündlichen Verhandlung auch einmal zu Protokoll gegeben haben, dass ihr Mann ein Mitglied der HDP gewesen sei (VH-Schrift, S 24), was jedoch als Versehen bzw. als Ungenauigkeit in der Formulierung zu qualifizieren ist, waren in Ermanglung weiterer Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft bei der der Halkların Demokratik Partisi keine dahingehenden positiven Feststellungen zu treffen.

Der BF1 und die BF2 hielten sich zur Zeit des versuchten Militärputsches in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 zwar in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch kann den Aussagen der erwachsenen Beschwerdeführer aber in keiner Weise entnommen werden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehören auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachten sie weder vor der belangten Behörde, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung, geschweige denn eine Mitgliedschaft ebendort, zum Ausdruck.

2.2.4.1.2. Ein maßgebliches aktuelles exilpolitisches Engagement im Bundesgebiet kann dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers nicht glaubhaft entnommen werden, zumal der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung klar zum Ausdruck brachte, dass er in Österreich nicht exilpolitisch tätig sei (VH-Schrift, S 7). Er führte auch keine Mitgliedschaft in einem kurdischen Verein ins Treffen. Der Erstbeschwerdeführer postete einzig in der Vergangenheit in den sozialen Medien Aufnahmen von Konzerten im Zuge von Newroz-Feierlichkeiten, an denen er mit seinem Kind teilnahm (VH-Schrift, S 7 f), was auch seine Bestätigung in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19. Mai 2023 findet (OZ 9 im Akt 2254319). Insoweit lässt sich den Angaben des Erstbeschwerdeführers auch nicht entnehmen, dass er etwa in einem Verein eine Funktion mit maßgeblichem Einfluss oder sonst eine Aufgabe innehätte, die ihm ein herausragendes politisches Profil verleihen würde. Hinsichtlich des bloßen Aufsuchens eines Konzerts eines kurdischen Vereins ist auch anzumerken, dass sich aus den herangezogenen Länderberichten und aktuellen Medienberichten keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte ableiten lassen, nach welchen gegenwärtig jede Person kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, die ein Konzert eines kurdischen Vereins besucht, einer maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen würde. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an dem vom Erstbeschwerdeführer aufgesuchten Konzert haben sollten, kamen im Verfahren nicht hervor. Unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Feststellungen (vgl. vor allem den Punkt "Behandlung nach Rückkehr") zeigt sich zudem, dass schon aus Kapazitätsgründen und solchen der dafür notwendigen organisatorischen Erfordernisse eine weitreichende nachrichtendienstliche Erfassung der zahllosen Mitglieder exilkurdischer Vereine und deren einzelner Aktivitäten etwa bei Großveranstaltungen weder realistisch noch zielführend wäre. Plausibel ist in dieser Hinsicht vielmehr, dass jene Personen unter besonderer Beobachtung stehen, die sich als maßgeblich für die Entwicklung und Umsetzung der politischen Strategien im Hintergrund erweisen und als Meinungsbildner und Redner im Vordergrund oppositioneller Vereinigungen auftreten, zumal alleine diesen auch ein möglicher indirekter Einfluss auf die politische Landschaft innerhalb der Türkei und damit ein mögliches Gefahrenpotential aus Sicht der türkischen Behörden zuzuschreiben wäre. Gerade dies ist aber den Erstbeschwerdeführer betreffend wie oben dargestellt nicht erkennbar. In diesem Zusammenhang war wohl in Betracht zu ziehen, dass die der exilkurdischen Szene in Österreich zuzuzählenden Vereine zwar in gewissem Umfang, neben ihren sonstigen sozialen und kulturellen Anliegen im Aufnahmeland, auch die politischen Anliegen der kurdischen Volksgruppe in ihren Herkunftsgebieten an die Öffentlichkeit tragen, dies aber offenkundig nicht in einer Form tun, die als Aufforderung zu gewaltsamen oppositionellen oder gar terroristischen Aktivitäten zu verstehen wäre, was im Übrigen längerfristig auch ein Einschreiten der Vereinsbehörde wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz oder gar der Strafverfolgungsbehörden etwa wegen des Vorwurfs der "Kriminellen Vereinigung" im Sinne des österreichischen Strafgesetzbuchs nach sich ziehen müsste. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich solche Vereine in einem gewissen Graubereich bewegen, sofern sie bei öffentlichen Kundgebungen in verschiedener Weise für die politischen Rechte der kurdischen Volksgruppe auch in der Türkei eintreten und Fahnen und Abbildungen mit Bezug zur kurdischen Sache oder der Leitfigur des kurdischen Widerstands, Abdullah Öcalan, mitführen/zeigen. Als maßgeblich erachtet das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich aber, inwieweit bestimmte Aktivitäten Betroffener überhaupt potentiell geeignet sind in den Augen der Behörden des Herkunftsstaates ein Bedrohungsbild zu erfüllen, das es zu bekämpfen gilt (vgl. in diesem Sinne auch die Leitsätze der Judikatur des VwGH zu diesem Thema). Würde man demgegenüber etwa jedwede Beteiligung von niedrigem Profil an öffentlichen Veranstaltungen exilkurdischer Vereinigungen unmittelbar mit einer daraus resultierenden besonderen Aufmerksamkeit der türkischen Behörden sowie einer weiter daraus folgenden Ermittlungstätigkeit mit dem Ziel der Individualisierung des Beitrags einzelner Teilnehmer bis hin zur daraus resultierenden Verfolgung im Anschluss an eine Rückkehr in den Herkunftsstaat verknüpfen, so würde eine solche Absicht der betreffenden Behörden nicht nur die Ressourcen eines Nachrichtendienstes im Ausland gänzlich überstrapazieren, sondern auch die Sinnhaftigkeit eines solchen Bestrebens mit Blick auf das geringe Bedrohungspotential exilpolitischer Betätigung niedrigen Profils in Frage stellen. Legt man diese grundsätzlichen Erwägungen zur gegenständlichen Thematik auf das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers um, so lässt sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts aus diesem Vorbringen in Verbindung mit den länderkundlichen Feststellungen weder schlüssig ableiten, dass er persönlich mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Blickfeld des türkischen Nachrichtendiensts geraten ist, noch dass sein Tun weiteren individualisierten Ermittlungen unterworfen und deren Ergebnisse gesammelt und an die türkischen Behörden zum Zweck der Verfolgung für den Fall der Rückkehr übermittelt wurden.

2.2.4.1.3. Dass die Schwägerin des Erstbeschwerdeführers bzw. eine Schwester der Zweitbeschwerdeführerin - eine Kämpferin der Volksverteidigungskräfte (bewaffneter Arm der PKK) - im Zuge von Kampfhandlungen mit den türkischen Sicherheitskräften im Juli 2018 ihr Leben verlor, fußt - unter Berücksichtigung der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19. Mai 2023 (OZ 9 im Akt 2254319) - auf den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (AS 47 f im Akt 2254318; VH-Schrift, S 7, 25) und wurde nicht in Zweifel gezogen, zumal die erwachsenen Beschwerdeführer Bescheinigungsmittel in Vorlage bringen konnten, womit der gewaltsame Todesfall in der Türkei nachvollziehbar dokumentiert wird (AS 51 im Akt 2254318). Allerdings bleibt bezüglich dieses Ereignisses festzuhalten, dass im Lichte der Aussagen der Beschwerdeführer und der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19. Mai 2023 jedenfalls die genauen Umstände des Todes nicht feststellbar waren, was die persönliche Glaubwürdigkeit des BF1 und der BF2 weiter erschüttert. So führte die BF2 im Zuge der Einvernahme vor dem BFA aus, dass ihre Schwester von Soldaten in Kovanli in der Provinz Mardin erschossen worden sei (AS 47 f im Akt 2254318). Laut Sterbeurkunde war die Schwester der BF2 am 06.07.2018 verstorben (AS 51 im Akt 2254318). In der jeweiligen Beschwerde führten die erwachsenen Beschwerdeführer hingegen an, dass die Schwester der BF2 von der türkischen Polizei getötet worden sei (AS 159 im Akt 2254319; AS 99 im Akt 2254318). Indes behaupteten der BF1 und die BF2 in der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 (OZ 3 im Akt 2254319), dass der Vater und der Onkel der BF2 - aufgrund des Verdachts PKK-Mitglieder zu sein - misshandelt worden seien, woraufhin die Schwester der BF2 HDP-Mitglied geworden und von Gendarmen erschossen worden sei. Demnach habe die Schwester Schafe gehütet und sei in traditionellem Gewand gekleidet gewesen. Die Schwester sei den Gendarmen offenbar bekannt gewesen, da sie einer HDP-freundlich gesinnten Familie entstamme und sei ohne Grund erschossen worden. Der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19. Mai 2023 kann schließlich entnommen werden, dass sich die Schwester der BF2 am 05.07.2018 in der Provinz Mardin im Zuge eines Kampfes wider türkische Soldaten mit einer Handgranate selbst in die Luft gesprengt habe, da ihr bei dem Gefecht die Munition ausgegangen sei (OZ 9 im Akt 2254319).

Im Ergebnis beschränkt sich das Bundesverwaltungsgericht auf den Verweis, dass dieser eine Schwester der Zweitbeschwerdeführerin betreffende tödliche Vorfall nicht zu einem unmittelbaren Bedrohungsszenario für die Zweitbeschwerdeführerin oder ihren Ehegatten - den Erstbeschwerdeführer - geführt oder diese massiv beeinträchtigt hätte. Dass dieses Ereignis gegenwärtig oder für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat nachteilige Folgen für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben könnte, ist ebenso wenig ersichtlich. Nicht völlig unbeachtet bleiben darf in diesem Zusammenhang auch, dass die übrigen Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin - Eltern und mehrere Geschwister - und somit gleichfalls Verwandte dieser Person ebenfalls weiterhin in der Türkei leben können.

2.2.4.1.4. Des Weiteren ist festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer im Lichte des bisherigen Lebensverlaufs und seines Alters als wehrdienstpflichtig anzusehen ist. Die weitere Feststellung des Inhalts, dass der Erstbeschwerdeführer den Wehrdienst nicht ableisten möchte, folgt aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, denen keine Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens entgegenstehen (VH-Schrift, S 7).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Slg. Nr. 14.089/A; VwGH 21.08.2001, Zl. 98/01/0600; 11.10.2000, Zl. 2000/01/0326). Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrundeliegenden Sachverhalts kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf dem Boden der bestehenden Rechtslage insbesondere in dem Erkenntnis eines verstärkten Senates zur Zl. 93/01/0377 niedergelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in seinem Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, Zl. 95/01/0104). Auch einer Wehrdienstverweigerung kann darüber hinaus dann Asylrelevanz zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen seiner Wehrdienstverweigerung vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt (VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274).

Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen keine Form politischer Verfolgung dar, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (siehe hiezu auch die einschlägige Spruchpraxis deutscher Gerichte, etwa OVG NRW 19.04.2005, 8 A 273/04.A; Sächsisches OVG 07.04.2016, 3 A 557/13.A; VG Aachen 05.03.2018, 6 K 3554/17.A). Im Übrigen ist schon deshalb von keiner Gefahr in Zusammenhang mit einer Wehrdienstverweigerung auszugehen, da der BF1 nicht dargelegt hat, durch Erklärung gegenüber den türkischen Behörden den Wehrdienst verweigert zu haben.

Der Umstand der Wehrpflicht und der Strafbarkeit der Wehrpflichtentziehung in der Türkei allein ist ferner nicht als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des Art. 15 Abs. 2 EMRK anzusehen, weil sich Art. 15 Abs. 2 EMRK nur auf Art. 4 Abs. 1 EMRK, nicht aber auch auf Art. 4 Abs. 2 i. V. m. Abs. 3 Buchst. c) EMRK bezieht. Auch ist nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass ethnische Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Diensts in asylerheblicher Weise benachteiligt würden. Vereinzelte Vorfälle von Suizid und Misshandlungen bei der Ableistung des Wehrdiensts können nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Es handelt sich bei solchen - wiewohl tragischen - Ereignissen in Anbetracht des Nichtvorliegens von Berichten über eine außergewöhnlich hohe Anzahl solcher Vorfälle um Einzelfälle. Den von der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichts herangezogenen Länderinformationen kann nicht entnommen werden, dass kurdischstämmige Rekruten einem erhöhten Suizid- oder Misshandlungsrisiko ausgesetzt sind. Schon gar nicht wird in diesen, von unbeteiligten Institutionen verfassten Einschätzungen die Auffassung vertreten, dass Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Diensts in asylerheblicher Weise etwa durch bevorzugte Zuteilung in Krisenregionen benachteiligt würden.

Bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung der vorliegenden Länderfeststellungen kann nicht erkannt werden, dass dem Erstbeschwerdeführer deshalb bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Zuge der Ableistung seines Militärdiensts drohen würde.

Ein Zwang zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kann ebenfalls nicht erkannt werden, zumal den dem Erstbeschwerdeführer vor der mündlichen Verhandlung übermittelten Berichten keine Hinweise dahingehend entnommen werden konnten, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. In Ansehung des Erstbeschwerdeführers kann das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls kein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhtes Risiko einer Teilnahme an Kampfhandlungen erkennen.

Ferner ist in Anbetracht der getroffenen Feststellungen sowie der vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen evident, dass der Einsatzort der Wehrpflichtigen in der Türkei grundsätzlich im Zufallsverfahren unabhängig von der Volksgruppenzugehörigkeit entschieden wird und es dabei zu keiner individuellen Diskriminierung GFK-relevanter Natur kommt. Insbesondere bestehen keine Anzeichen dafür, dass kurdisch-stämmige Wehrpflichtige systematisch im Südosten der Türkei gegen PKK-Kämpfer oder Zivilpersonen eingesetzt werden und es fehlt in den in das Verfahren eingebrachten länderkundlichen Berichten auch jeder dahingehende Hinweis. Dass ganz grundsätzlich die Möglichkeit besteht, dass der Erstbeschwerdeführer im Südosten der Türkei eingesetzt wird, wird an dieser Stelle nicht in Abrede gestellt, ist jedoch unwahrscheinlich, da der Beschwerdeführer aus der Provinz Mersin stammt, wobei Wehrpflichtige nicht in ihrer unmittelbaren Heimatregion, sondern generell in anderen Landesteilen eingesetzt werden. In Ansehung des Erstbeschwerdeführers kommt demnach vor allem auch ein Einsatz in der Marmararegion, in Zentralanatolien, der Ägäisregion und der Schwarzmeerregion in Betracht. Ferner sind Angehörige mit dem sozio-geographischen Hintergrund des Erstbeschwerdeführers nicht in einem höheren Maße potentiell betroffen, gegen ihren Willen zu einem Einsatz im Feld herangezogen zu werden, als sonstige türkische Staatsangehörige, wobei die Armee jedoch ohnehin bereits vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt hat.

In diesem Zusammenhang ist noch ergänzend festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung auch nicht glaubhaft dargelegt hat, inwieweit er eine Gesinnung vertrete, die ihm eine Ableistung des Wehrdiensts – aus Gewissensgründen – unzumutbar mache. Das Vertreten einer allgemeinen liberalen Gesinnung und der Wunsch, nicht kämpfen zu wollen im Allgemeinen ist zu wenig (vgl. dazu AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss abgelehnt, vgl. VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass jeder Staat ein legitimes Recht hat, eine Streitkraft zu unterhalten, seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst in dieser Streitkraft heranzuziehen und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, angemessen zu bestrafen. Eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung kann regelmäßig nur dann angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdiensts aus Gewissensgründen und die daraus folgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, in seinem Recht aus Art. 9 EMRK verletzt wird (EGMR U 7.7.2011, Bayatyan gegen Armenien, Nr. 23459/03). Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob der Betreffende eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (VGH München 15.02.2016, 11 ZB 16.30012 mwN; 24.08.2017, 11 B 17.30392 mwN). Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten (BVerwG 01.02.1989, 6 C 61/86). Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (VGH Hessen 05.02.2016, 9 B 16/16 mwN).

 

Die Glaubhaftmachung einer solchen Gewissensentscheidung ist dem Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung nicht gelungen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer die Ableistung des Wehrdiensts aus Gewissensgründen verweigerte. Das Vertreten einer allgemeinen liberalen Gesinnung und der Wunsch, nicht kämpfen zu wollen im Allgemeinen ist zu wenig (vgl. dazu AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss abgelehnt, vgl. VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3). Dass ihm ansonsten in Zusammenhang mit der Frage der Ableistung eines Wehrdiensts eine oppositionelle Gesinnung unterstellt worden sei, wurde nicht vorgebracht und es bieten die Feststellungen zur Lage in der Türkei auch keinen Anhaltspunkt für die dahingehende Gefährdung im Rückkehrfall. Vielmehr bestehen seit dem Juni 2019 Erleichterungen für Wehrpflichtige. Die Wehrpflicht wurde auf sechs Monate verkürzt. Davon muss nur eine Grundausbildung von 21 Tagen zwingend absolviert werden. Von der restlichen Zeit ihres Wehrdiensts können sich Wehrpflichtige durch Zahlung eines Geldbetrags freikaufen. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand Jänner 2023 auf Euro 4.876,--. Da es dem Erstbeschwerdeführer auch möglich war, die Kosten für seine Reise und die Reise seiner Ehegattin und seines Sohnes nach Österreich in der Höhe von Euro 17.000,-- aufzubringen (AS 70 im Akt 2254319), kann davon ausgegangen werden, dass ihm die finanziellen Möglichkeiten für einen Freikauf zur Verfügung stehen, wobei in diesem Zusammenhang auch auf eine mögliche finanzielle Unterstützung seitens seine zahlreichen in der Türkei lebenden Familienangehörigen hinzuweisen ist. Dass er in der Grundausbildung von 21 Tagen für Kampfeinsätze herangezogen würde, ist vollkommen abwegig.

 

2.2.4.1.5. Die Feststellungen zur Anhaltung des BF1 von 07.08.2011 bis 09.08.2011 und von 01.01.2013 bis 02.01.2013, zur Untersuchungshaft von 19.03.2012 bis 03.05.2012 und zu den strafgerichtlichen Verfahren wegen der am 07.08.2011, 16.03.2012, 23.08.2012 und 01.01.2013 begangenen Straftaten sowie zur Verbüßung der Haftstrafen ab 15.05.2015 gründen sich – vor dem Hintergrund der zur Türkei herangezogenen Länderinformationen – auf die Ausführungen des Erstbeschwerdeführers im Verfahren (OZ 3 im Akt 2254319; VH-Schrift, S 8 ff) und die vom Erstbeschwerdeführer diesbezüglich vorgelegten Verfahrensunterlagen zu den gegen ihn geführten Strafverfahren in Kopie (AS 89 – 95 im Akt 2254319 [Übersetzung: AS 97 – 107 im Akt 2254319]). Letztere weisen auch ein unbedenkliches und im Hinblick auf die äußere Form ähnliches, mit den Wahrnehmungen des Bundesverwaltungsgerichts über die äußere Form und den inhaltlichen Aufbau türkischer Behördendokumente übereinstimmendes Erscheinungsbild auf. Dass der konkrete Inhalt dieser strafgerichtlichen Entscheidungen nicht festgestellt werden kann, ergibt sich aus der Nichtvorlage der jeweiligen Gerichtsentscheidungen durch den BF1.

Für das Bundesverwaltungsgericht war auf der Grundlage der Ausführungen des Erstbeschwerdeführers und der vorliegenden Beweismittel feststellbar, dass sich der BF1 von 07.08.2011 bis 09.08.2011 aufgrund eines Beschlusses des 1. Jugendgerichts Mersin und von 01.01.2013 bis 02.01.2013 aufgrund eines Beschlusses des 2. Jugendgerichts Mersin in Zusammenhang mit gegen ihn gerichteten Strafverfahren in Gewahrsam sowie von 19.03.2012 bis 03.05.2012 in Untersuchungshaft befand. Ferner war feststellbar, dass der BF1 vom jeweils zuständigen Gericht wegen einer am 07.08.2011 begangenen Straftat nach Artikel 174 Abs. 1 und 2 türkisches Strafgesetzbuch wegen „Besitz oder Austausch von gefährlichen Stoffen ohne Erlaubnis“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, einem Monat und 15 Tagen, wegen einer am 23.08.2012 begangenen Straftat nach Artikel 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Regulierung des Tabak-, Tabakprodukt- und Alkoholmarkts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, wegen einer am 01.01.2013 begangenen Straftat nach Art. 314 Abs. 2 ("Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation") iVm Art. 220 Abs. 6 türkisches StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, wegen einer am 16.03.2012 begangenen Straftat abermals nach Artikel 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Regulierung des Tabak-, Tabakprodukt- und Alkoholmarkts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt und schließlich wegen einer am 01.01.2013 begangenen Straftat nach Artikel 151 Abs. 1 und 2a türkisches Strafgesetzbuch wegen „Qualifizierter Sachbeschädigung“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, einem Monat und 10 Tagen verurteilt worden war, der BF1 diese Freiheitsstrafen ab 15.05.2015 in verschiedenen Gefängnissen verbüßte und im Zuge der Verbüßung seiner Haftstrafen wider ihn eine Disziplinarmaßnahme wegen absichtlicher Brandstiftung verhängt worden war, was letztlich im Ergebnis mit dem Vortrag des Erstbeschwerdeführers vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung grob übereinstimmte. Dass diese Ereignisse gegenwärtig oder für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat nachteilige Folgen für den Erstbeschwerdeführer haben könnten, hat dieser weder glaubhaft vorgebracht noch ist dergleichen sonst ersichtlich. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Angaben nicht stimmen sollten. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sie daher ohne Weiteres den Feststellungen zugrunde legen.

Dass der BF1 am 16.06.2020 bedingt aus der Haft entlassen worden war, ist urkundlich durch die türkische Zeitdauerbescheinigung für Strafgefangene hinreichend nachgewiesen (AS 103 im Akt 2254319). Insofern der BF1 auch von einer früheren Entlassung, etwa Mitte April 2020, spricht (OZ 3 im Akt 2254319), so vermag diesen Ausführungen aufgrund des vorgelegten Dokuments nicht gefolgt werden, zumal sich bei genauerer Betrachtung der zeitlichen Angaben des BF1 zeigt, dass sich diese mehrfach als eher unpräzise bzw. widersprüchlich erweisen.

2.2.4.1.6. Was die Behauptung des BF1 betrifft, wonach das Verfahren wider ihn wegen (einer) am 15.03.2012 begangenen Straftat(en), nämlich Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubter Besitz von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, nach einem Unzuständigkeitsurteil vom 13.06.2014 und einer Entscheidung der 5. Strafkammer des Obersten Gerichts Anfang 2015 nunmehr wieder beim 3. Schwurgericht Mersin fortgesetzt/wiedereröffnet wird (AS 95 [Übersetzung: AS 99] und OZ 3, S 8 im Akt 2254319) und/oder ein Haftbefehl wider ihn vorliegt (VH-Schrift, S 5), so können diese Ereignisse infolge der in diesem Zusammenhang vom BF1 getroffenen divergierenden Schilderungen nicht festgestellt werden. Beispielsweise schilderte der BF1 zu Beginn der mündlichen Verhandlung zunächst, dass wider ihn ein Haftbefehl vorliege. Nach einer Erklärung des rechtsfreundlichen Vertreters, wonach es sich um ein terminologisches Verständigungsproblem handle und der BF1 mit Haftbefehl meine, dass er gesucht werde, führte der BF1 in der Folge dann dennoch abermals aus, dass es inzwischen einen Haftbefehl gebe, welchen er nicht erhalten könne, was aber auf der türkischen Website e-Devlet kapısı einsehbar sei. Dies wisse er, weil seine Geschwister in der Türkei einsteigen und dort die ganzen Akten über ihn und seine Geschwister einsehen könnten (VH-Schrift, S 5). Auf Befragung durch die rechtsfreundliche Vertretung erklärte der BF1 gegen Ende der mündlichen Verhandlung dann indes wiederum in Widerspruch zu den vorangehenden Ausführungen in diesem Zusammenhang, dass seine Geschwister - nach drei- bis viermaligen Aufsuchen der Polizei - von den Beamten vom Haftbefehl wider seine Person erfahren hätten. Auf der türkischen Website e-Devlet kapısı könne man sehen, ob es tatsächlich einen Haftbefehl wider ihn gebe (VH-Schrift, S 22). Durch die rechtsfreundliche Vertretung befragt, ob seine Geschwister nicht für ihn nachsehen können, erwiderte der BF1, dass er seine Mutter für diese Erledigung sogar berechtigt hätte, diese aber keine Genehmigung erhalten habe, weil er gesucht werden würde. Schließlich bestätigte der BF1, dass er dies persönlich machen müsste und es nicht übertragen könne, was nun ein weiteres Indiz für die fehlende persönliche Glaubwürdigkeit bzw. die mangelnde Glaubhaftigkeit dieser Ausführungen darstellt, zumal in Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen (vgl. die hg. Entscheidung vom 07.12.2022, L524 2214626-1) davon ausgegangen werden muss, dass es dem BF1 sehr wohl möglich wäre, einen Zugang für die türkische Website e-Devlet kapısı zu erhalten. Beispielsweise wäre es dem BF1 im Fall des Verlusts des Passworts (vgl. VH-Schrift, S 5) leicht möglich gewesen, nach Registrierung und Verifizierung seiner Mobiltelefonnummer ein neues Passwort zu erstellen. Zudem wäre dem BF1 – entgegen seiner Behauptung – die Möglichkeit offen gestanden, über einen Bevollmächtigten ein e-Devlet-Passwort zu erhalten (vgl. auch die im Gerichtsakt einliegende Note samt Übersetzung zur Website e-Devlet kapısı). Insofern war – abgesehen vom Umstand, wonach der Erstbeschwerdeführer daher jedenfalls diese Möglichkeit zur Bescheinigung seines Ausreisevorbringens durch Zugriff auf diese Dienstleistungsplattform und das Starten einer Abfrage nicht in Anspruch nehmen wollte - aufgrund der vorangehend dargestellten widersprüchlichen Ausführungen nicht feststellbar, dass ein Haftbefehl wider den BF1 vorliegt. Zur Frage der Fortsetzung/ Wiedereröffnung eines Verfahrens wider den BF1 beim 3. Schwurgericht Mersin wegen (einer) am 15.03.2012 begangenen Straftat(en), nämlich Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubter Besitz von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, nach einem Unzuständigkeitsurteil vom 13.06.2014 und einer Entscheidung der 5. Strafkammer des Obersten Gerichts Anfang 2015 wird aufgrund der vorgelegten Verfahrensunterlagen in Kopie (AS 95 im Akt 2254319 [Übersetzung: AS 99 im Akt 2254319]) nicht in Abrede gestellt, dass der BF1 wegen dieser Straftaten angeklagt wurde, wobei das Verfahren jedoch mit einer Unzuständigkeitsentscheidung endete, welche in der Folge seitens der 5. Strafkammer des Obersten Gerichts Anfang 2015 behoben wurde, die die Angelegenheit an das 3. Schwurgericht Mersin zurückverwies, was im Ergebnis mit dem Vortrag des Erstbeschwerdeführers vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung grob übereinstimmte. Was das anschließende Vorgehen des 3. Schwurgerichts Mersin in diesem Verfahren bzw. den aktuellen Verfahrensstand, etwa noch anhängiges Verfahren, Einstellung, Freispruch oder Verurteilung, betrifft, können hingegen aufgrund der divergierenden Ausführungen des BF1 zu dieser Frage keine näheren Feststellungen getroffen werden, zumal der BF1 diesbezüglich auch keine Bescheinigungsmittel in Vorlage brachte. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang etwa, dass der BF1 in der mündlichen Verhandlung zunächst behauptete, dass er bei Bestätigung des Urteils durch das Kassationsgericht wieder in Haft genommen werden würde. Auf Nachfrage erklärte der BF1 dann - auch im Widerspruch zu den vorgelegten Unterlagen - explizit, dass das Kassationsgericht das Urteil bereits bestätigt habe, weshalb er jetzt wegen eines anderen Strafdelikts gesucht werden würde. Ebenfalls im Widerspruch zu den vorgelegten Unterlagen behauptete der BF1 hierbei im Übrigen, dass es sich um eine Straftat aus dem Jahr 2011 handle. Darüber hinaus legte der BF1 bezüglich dieses Strafverfahrens dar, dass er nach seiner Entlassung im Jahr 2020 vom Gericht geladen worden sei, was er auch vorgelegt hätte. Aus diesem Schreiben sei auch hervorgegangen, dass seine Angelegenheit noch beim Kassationsgericht anhängig sei. Auf Vorhalt, wonach er kein entsprechendes Schreiben vorgelegt habe, modifizierte der BF1 unter Vorlage der bereits in der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 angeführten Kassationsentscheidung seine Angaben dahingehend, dass er damit sagen habe wollen, dass der Akt weitergeführt worden sei. Insofern dem BF1 schließlich von Seiten der erkennenden Richterin entgegnet wurde, dass die Entscheidung aus dem Jahr 2015 stamme und er 2019 entlassen worden sei, was nicht zusammenpasse, so zog sich der BF1 abermals ausweichend darauf zurück, dass er die Umstände nur auf der türkischen Website e-Devlet kapısı finden könnte (VH-Schrift, S 14), weshalb sich das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich wiederum erlaubt, auf die vorangehenden Ausführungen zum Zugang zu dieser Website zu verweisen. Selbst die rechtsfreundliche Vertretung der Beschwerdeführer gestand im Zuge der mündlichen Verhandlung ein, dass aus den im Verfahren vorgelegten Bestätigungen nicht ersichtlich sei, dass jenes Verfahren, welches wegen einer Gerichtsunzuständigkeit aufgehoben worden sei, bis zur Ausreise in die Ukraine (Ende 2020) wieder fortgesetzt worden wäre (VH-Schrift, S 18). Insoweit war der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung weder willig noch fähig, nähere Auskünfte zu diesem Verfahren zu geben, wobei er diese vagen und einander widersprechenden Auskünfte auch noch ständig abänderte. Es fällt im gegebenen Zusammenhang jedenfalls auf, dass der Erstbeschwerdeführer ebenso wenig im Stande war zu diesem behaupteten Strafverfahren weitere Schriftstücke (insbesondere Urteile) vorzulegen, sondern ausschließlich dazu in der Lage war, Urkunden bezüglich der im Jahr 2015 erfolgten Kassation vorzulegen.

Aus den vom Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung getätigten Angaben zu seiner rechtsfreundlichen Vertretung in der Türkei (VH-Schrift, S 11, 21 f) in Zusammenschau mit den vorgelegten und übersetzten Verfahrensunterlagen zu den gegen ihn geführten Strafverfahren in Kopie geht eindeutig hervor, dass der Erstbeschwerdeführer in mehreren Strafverfahren rechtsanwaltlich vertreten war. Die vorgelegten und übersetzten Verfahrensunterlagen zu den gegen ihn geführten Strafverfahren in Kopie geben schließlich auch Auskunft darüber, dass dem Erstbeschwerdeführer Gelegenheit zur Verteidigung und zur Stellung von Beweisanträgen eingeräumt wurde.

In Anbetracht des aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlichen Verfahrensgangs gelangt das Bundesverwaltungsgericht außerdem zur Auffassung, dass die wider den Erstbeschwerdeführer bislang durchgeführten Strafverfahren unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt wurden. Der Erstbeschwerdeführer war bzw. ist durch Rechtsanwälte vertreten, hatte Gelegenheit zur Verteidigung und zur Stellung von Beweisanträgen und ist in den Strafverfahren zu den wider ihn erhobenen Vorwürfen in der jeweiligen Hauptverhandlung in türkischer Sprache gehört worden. Gegenteiliges wurde nicht behauptet. Dass es sich um Schauprozesse gehandelt hätte oder anderweitig grundlegende Verfahrensgarantien des Erstbeschwerdeführers missachtet worden wären, kann in Anbetracht der vom Erstbeschwerdeführer vorgelegten Unterlagen ausgeschlossen werden.

 

Selbst wenn man das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers bezüglich eines anhängigen Verfahrens wider ihn wegen (einer) am 15.03.2012 begangenen Straftat(en) der rechtlichen Beurteilung zugrunde legt, gelangt man - wie unten näher ausgeführt werden wird - im Übrigen zu keinem anderen Ergebnis.

 

Die Fortsetzung bzw. Beendigung eines allenfalls noch anhängigen Verfahrens scheiterte an der ausreisebedingten Abwesenheit des Erstbeschwerdeführers.

 

In Anbetracht der Ergebnisse des Beweisverfahrens bestehen ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Behörden die Auslieferung des Erstbeschwerdeführers in die Türkei betreiben, obwohl ihnen den Angaben des Erstbeschwerdeführers zufolge zumindest bekannt ist, dass sich der Erstbeschwerdeführer in Europa befindet.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können – von den subjektiven Befürchtungen des Erstbeschwerdeführers abgesehen – auch keine greifbaren Hinweise erkannt werden, dass der Erstbeschwerdeführer in seinem Verfahren jedenfalls zur Gänze schuldig gesprochen und zu einer langjährigen und in Isolationshaft zu verbüßenden verurteilt würde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine verlässliche Prognose über den Ausgang des Strafverfahrens vielmehr kaum möglich. Das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch aufgrund der Entlassung des Erstbeschwerdeführers aus der Haft und der unterbliebenen Fällung eines Abwesenheitsurteils davon aus, dass dem Erstbeschwerdeführer nicht mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung wegen der wider ihn erhobenen Anschuldigungen droht (zur Bedeutung des Kriteriums der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit VwGH 13.09.2016, Ra 2016/01/0054 mwN). Vielmehr sind die Entlassung des Erstbeschwerdeführers, die unterbliebene Fällung eines Abwesenheitsurteils und die nicht feststellbare Erlassung eines internationalen Haftbefehls bzw. das unterbliebene Auslieferungsansuchen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts klare Indizien dafür, dass kein dringender Tatverdacht mehr gesehen wird. In Anbetracht der dargelegten Anklage(n) wäre es gänzlich unplausibel, dringend der Begehung terroristischer Handlungen verdächtige Personen freizulassen. Vielmehr wäre damit zu rechnen, dass eine rasche Verfahrensführung erfolgt, um die Schuld der Angeklagten rasch zu klären und eine Enthaftung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Jedenfalls sprechen die erörterten Umstände, insbesondere die Enthaftung des Erstbeschwerdeführers und der schleppende Verfahrensverlauf, gegen den im Verfahren implizit vorgetragenen Standpunkt des Erstbeschwerdeführers, er solle nunmehr aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und/oder politischen Gesinnung im Wege von einer auf konstruierten Tatvorwürfen beruhenden gerichtlichen Verurteilung bestraft werden. Wäre der Erstbeschwerdeführer tatsächlich einer solchen, von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung ausgesetzt gewesen, wäre aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ein entschlosseneres Vorgehen zu erwarten. Das im gegenständlichen Asylverfahren gewonnene Bild ist demgegenüber vielmehr jenes, schwacher strafrechtlicher Vorwürfe, die anschließend in langwierige Strafverfahren in einem von Überlastung und Verfahrensverschleppung gekennzeichneten Justizsystem führten.

Zu den Ausführungen des Erstbeschwerdeführers im gegenständlichen Verfahren, wonach die erhobenen Vorwürfe unbegründet seien und er unschuldig sei, ist - ungeachtet der Tatsache, dass es Aufgabe der türkischen Justiz ist, über die Schuld des Erstbeschwerdeführers zu befinden - darauf hinzuweisen, dass der Erstbeschwerdeführer jedenfalls bereits im Rahmen des im Jahr 2012 eröffneten Strafverfahrens vor dem türkischen Gericht Gelegenheit hatte bzw. gehabt hätte zu den erhobenen Vorwürfen selbst Stellung zu beziehen und sich anwaltlich vertreten hat lassen können. Insofern der Erstbeschwerdeführer (Beweis-)Anträge formulierte und diesen allenfalls nicht stattgegeben worden sein sollte, wäre dies in einem Rechtsmittelverfahren als Verfahrensmangel geltend zu machen und stellt per se keine asylrelevante Verfolgungshandlung dar. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, gegen einen allenfalls ergehenden Schuldspruch (erneut) ein Rechtsmittel einzulegen und dermaßen eine Überprüfung des Strafverfahrens im türkischen Instanzenzug herbeizuführen. Die vorgelegten Urkunden lassen keinen Schluss auf Auffälligkeiten in der Verfahrensführung zu.

Auch ergibt sich aus den verwendeten länderkundlichen Informationen betreffend das Justizsystem in der Türkei, dass es zwar seit den Vorfällen rund um den versuchten Militärputsch im Juli 2016 und nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 zu Verschlechterungen der Unabhängigkeit der Justiz sowie zu Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten kam. Darüber hinaus werden seither vermehrt kurdische Oppositionspolitiker, kritische Journalisten und (vermeintliche) Anhänger des Predigers Fethullah Gülen aufgrund oftmals vage gehaltener Vorwürfe strafrechtlich verfolgt. Demgegenüber gehört der Erstbeschwerdeführer keiner der genannten Risikogruppen an, sein im Jahr 2012 eröffnetes gerichtliches Verfahren wurde in zeitlicher Hinsicht zudem weit vor den erörterten Ereignissen durchgeführt und es liegt der Anklage deshalb auch keine Verbindung zur Gülen-Bewegung oder am versuchten Militärputsch beteiligten Sicherheitskräften zugrunde.

Schließlich spricht auch das Verhalten des Erstbeschwerdeführers gegen eine politisch oder anderweitig unsachlich motivierte Verfahrensführung, zumal der Erstbeschwerdeführer den Herkunftsstaat nicht sogleich nach der Freilassung aus der Haft im Juni 2020 verließ, sondern – abgesehen von der zwischenzeitlichen Ausreise in die Ukraine samt freiwilliger Rückkehr - erst ca. ein dreiviertel Jahr nach der Enthaftung endgültig ausreiste. Die Umstände sprechen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts eher dafür, dass die Ausreise wohlvorbereitet erfolgte und ihr nicht die durch die Haft bzw. die zu diesem Zeitpunkt aufgrund des schleppenden Fortschritts im Strafverfahren noch gar nicht absehbare Urteilsfällung aktuelle und greifbare Furcht vor einer asylrelevanten Verfolgung zugrunde liegt, sondern andere Motive, die im gegenständlichen Asylverfahren im Dunkeln blieben (vgl. diesbezüglich auch die nachfolgenden Ausführungen).

Im Übrigen ist es nicht Gegenstand des Asylverfahrens, den weiteren Ausgang des allenfalls wider den Erstbeschwerdeführer anhängigen Strafverfahrens zu prognostizieren. Eine solche Prognose würde sich gerade im gegenständlichen Stadium des Strafverfahrens noch vor der Erlassung eines (erneuten) erstinstanzlichen Urteils als im Ergebnis nicht möglich erweisen, zumal dem Bundesverwaltungsgericht die gesamten Strafakten überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Wie bereits erörtert ist zweifelhaft, ob es überhaupt zu einem Schuldspruch kommt. Selbst wenn ein gänzlicher oder teilweiser Schuldspruch ergehen sollte, steht dem Erstbeschwerdeführer abermals die Erhebung von Rechtsmitteln bis hin zur Anrufung des Kassationsgerichtshofes in Ankara offen. Den Ausgang eines solchen Rechtsmittelverfahrens zu prognostizieren, ohne zumindest das Urteil und die dagegen vorgetragenen Argumente zu kennen, ist nicht möglich. Dem Bundesverwaltungsgericht erschließt sich im gegebenen Zusammenhang auch nicht, weshalb der Erstbeschwerdeführer in Anbetracht der Möglichkeit zur Erhebung von Rechtsmitteln nicht zumindest das erstinstanzliche Urteil abwartete, zumal die Strafe ja bis zur Rechtskraft des Strafurteils nicht vollzogen wird (vgl. dazu etwa den dem Urteil des EGMR vom 09.06.2009 in der Beschwerdesache Opuz gegen Türkei, Nr. 33401/02, zugrundeliegenden Sachverhalt).

Vielmehr ist – ausgehend vom festgestellten Sachverhalt, nämlich dem allfälligen Vorliegen eines in erster Instanz unerledigt anhängigen Strafverfahrens – zu klären, ob dieser Sachverhalt zur Gewährung von internationalem Schutz zu führen hat. Insoweit wird nochmals auf die untenstehende rechtliche Beurteilung verwiesen. Auf das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht, dass er die ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen habe, ist daher nicht weiter einzugehen.

Der Erstbeschwerdeführer erstattet auch – wie nachfolgend auszuführen sein wird – kein glaubhaftes Vorbringen betreffend eine unmenschliche Behandlung während seiner Anhaltung in Haft. Die Feststellungen zu den Haftbedingungen bieten ebenso wenig Hinweise darauf, im Fall einer Anhaltung in Strafhaft die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder gar von Folter besorgen zu müssen. Dass es in der Vergangenheit Fälle von Folter in türkischen Haftanstalten bzw. zweifelhafte Todesfälle gab, begründen ohne anderweitige greifbare Anhaltspunkte im Hinblick auf die Person des Erstbeschwerdeführers noch nicht die reale Gefahr, ein solches Schicksal teilen zu müssen. Insoweit wird auch diesbezüglich auf die untenstehende rechtliche Beurteilung verwiesen. Dazu tritt – wie bereits erwähnt –, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal absehbar ist, ob der Erstbeschwerdeführer jemals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden würde, aufgrund welchen Delikts eine Verurteilung erfolgen sollte und in welchem Gefängnistyp eine allenfalls verhängte Strafe verbüßt würde. Die Befürchtungen des Erstbeschwerdeführers basieren weitgehend auf Spekulation und sind nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen.

Darüber hinaus ist im Beschwerdeverfahren unstrittig, dass sich der Erstbeschwerdeführer seit Mitte Juni 2020 bis zur endgültigen Ausreise im April 2021 auf freiem Fuß befand. In Anbetracht der Ergebnisse des Beweisverfahrens bestehen ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Behörden den Erstbeschwerdeführer mit einem Ausreiseverbot belegten.

2.2.4.1.7. Was nun die sonstigen Behauptungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin betrifft, wonach der BF1 während seiner Inhaftierungen ständig Folter und Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei, es nach der zuletzt erfolgten Enthaftung bei ihm eine Hausdurchsuchung gegeben habe, der BF1 im Anschluss kurzfristig für einen Tag für einen Rekrutierungsversuch (Tätigkeit als Spitzel) festgenommen worden sei, die Familien der beiden erwachsenen Beschwerdeführer ständig bedroht und nach der Enthaftung des BF1 auch die BF2 ständig von der Polizei belästigt und unter Druck gesetzt worden sei(en), so verdient der Umstand besondere Beachtung, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin - nach eingehender Belehrung über die Mitwirkungspflicht (AS 66 im Akt 2254319; AS 44 im Akt 2254318) - im Rahmen der ausführlichen Befragung und trotz mehrfacher Gelegenheit in der Einvernahme vor dem BFA die in der Beschwerdeergänzung geschilderte Hausdurchsuchung und Mitnahme des BF1 durch eine polizeiliche Sondereinsatztruppe in Zivil mit keinem Wort erwähnten. Auffallend erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin diesen Vorfall auch im Zuge der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zunächst im Rahmen der freien Schilderung des Fluchtgrundes und der ausreisekausalen Ereignisse nicht ansprachen (VH-Schrift, S 8 ff, 24 f).

Insoweit stellt dies bereits ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass das geschilderte Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ein gedankliches Konstrukt, welches um teilweise wahre Begebenheiten, wie etwa die vom BF1 verbüßten Freiheitsstrafen aufgrund mehrerer strafgerichtlicher Verurteilungen, aufgebaut wurde, darstellt, das sie nicht stringent wiederzugeben imstande waren. Auf Vorhalt dieser Widersprüche in der mündlichen Verhandlung suchte der Erstbeschwerdeführer insofern nach Ausflüchten, als er behauptete, er sei infolge der psychischen Belastung durch die Festnahmen und Folterungen vergesslich geworden (VH-Schrift, S 15). Dass der Erstbeschwerdeführer, wie er in der mündlichen Verhandlung behauptete, Gedächtnis- bzw. Erinnerungsprobleme im Hinblick auf etwaige ausreisekausale Ereignisse hätte, oder deshalb gegenwärtig nicht in der Lage (gewesen) wäre, gleichlautende und detaillierte Angaben zu Ereignissen aus der jüngeren Vergangenheit zu machen, trifft jedoch keineswegs zu. Der Erstbeschwerdeführer war bei den behördlichen und gerichtlichen Befragungen/Einvernahmen einvernahmefähig und es ist bei ihm keine Erkrankung oder Beeinträchtigung seiner Gesundheit fassbar, welche ihn außer Lage setzen würde, gleichlautende und detaillierte Angaben zu Ereignissen aus der jüngeren Vergangenheit zu machen. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer in der behördlichen Einvernahme – nach Belehrung u. a. über Mitwirkungs- und Wahrheitspflicht – die Frage, ob er sich psychisch und physisch in der Lage fühle, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, bejahte. Auf die ihm in diesem Zusammenhang gestellten Fragen, wie es ihm gehe, ob er in ärztlicher Behandlung sei oder Medikamente nehme, gab er zusammengefasst an, gesund zu sein (AS 66 im Akt 2254319). Bemerkenswert ist auch, dass der Erstbeschwerdeführer in der behördlichen Einvernahme zwar die Verbüßung von Haftstrafen und hierbei erlittene - als nicht glaubhaft qualifizierte - Folterungen/Misshandlungen im Rahmen seiner Schilderung der Fluchtgründe zur Sprache brachte, jedoch dabei mit keinem Wort erwähnte, infolge dieser Ereignisse Probleme, etwa mit dem Gedächtnis, zu haben. Zu Beginn der Verhandlung am 30.08.2023 gefragt „Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit der bP abgeklärt, sodass ihr diese geläufig sind]): Sind sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?“, sagte der Erstbeschwerdeführer „Mir geht es gut, ich habe keine gesundheitlichen Probleme.“ (VH-Schrift, S 4). Im Übrigen ist festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer trotz mehrfacher Belehrungen über die Mitwirkungspflicht (z. B. AS 66 im Akt 2254319; ; vgl. insbesondere auch das explizite Ersuchen in der ca. drei Wochen vor der Verhandlung zugestellten Ladung, bis spätestens eine Woche vor der mündlichen Verhandlung eine umfassende Stellungnahme zu seinem Privat- und Familienleben abzugeben und diese mit geeigneten Beweismitteln zu untermauern, sowie sämtliche Unterlagen hinsichtlich seiner Integration in Vorlage zu bringen, OZ 13) aktuelle ärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Beeinträchtigung seiner Gesundheit aufzeigen und/oder Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen, nicht in Vorlage gebracht hat. Der Erstbeschwerdeführer hat nicht einmal behauptet, derzeit oder in den unmittelbaren Jahren vor seiner Ausreise aus der Türkei in Behandlung oder Therapie zu stehen bzw. gestanden zu sein, Medikamente zu nehmen oder dergleichen zu bedürfen. Der Erstbeschwerdeführer brachte seine angeblichen Gedächtnis-/Erinnerungsprobleme vor dem Bundesverwaltungsgericht erst dann vor, als er mit einem Vorhalt bezüglich seiner Widersprüche konfrontiert war (VH-Schrift, S 15). Die behaupteten Gedächtnisschwierigkeiten erweisen sich damit eindeutig als Schutzbehauptungen bzw. Ausflüchte, mit denen der Erstbeschwerdeführer versucht, eine Erklärung für Widersprüche oder fehlende Details in der Darstellung der angeblich ausreisekausalen Geschehnisse zu erbringen und seine Glaubwürdigkeit zu stärken. Ferner begründet die Tatsache, dass der Erstbeschwerdeführer mit den behaupteten Gedächtnisschwierigkeiten ein unzutreffendes Vorbringen erstattet hat, Zweifel an seiner persönlichen Glaubwürdigkeit. Widersprüche oder fehlende Details in der Darstellung der angeblich ausreisekausalen Geschehnisse lassen sich also nicht mit Gedächtnisschwierigkeiten oder anderen gesundheitlichen Problemen (plausibel) begründen, sondern indizieren, dass die vom Erstbeschwerdeführer behaupteten Ereignisse nicht tatsächlich passiert sind. In Bezug auf die angeblich ausreisekausalen Geschehnisse hatte sich der Erstbeschwerdeführer zur Beantwortung der entsprechenden Fragen nicht an tatsächlich Erlebtes zu erinnern, sondern er musste sich eine konstruierte und einstudierte Fluchtgeschichte ins Gedächtnis rufen, was ihm offenbar nur schlecht gelang. In dieses Bild passt es auch, dass sich der BF1 in der mündlichen Verhandlung, ergänzend befragt weshalb er diesen Vorfall beim BFA unerwähnt ließ, nicht auf seine angebliche Vergesslichkeit bezog, sondern abweichend erklärte, Angst gehabt und nicht gewusst zu haben, dass er hier alles erzählen dürfe (VH-Schrift, S 16). Dieser weitere Erklärungsversuch des BF1 ist ebenso wenig plausibel, denn der BF1 gibt gleichzeitig vor, dass er gerade mit dem Ziel und zu dem Zweck nach Mitteleuropa gekommen ist, um hier Asyl zu beantragen. Daraus ist zu schließen, dass es sich bereits nach seiner anfänglichen Vorstellung auch bei Österreich um einen Staat handelt, der zur Schutzgewährung bereit und dazu auch in der Lage ist und in dem für ihn gerade keine Bedrohung besteht. Es konnte also auch nach der subjektiven Vorstellung des BF1 keinen nachvollziehbaren Grund dafür geben, gerade bei der Asylantragstellung am Zufluchtsort aus Angst etwas zu verschweigen oder sogar falsche Angaben zu treffen, zumal dem Erstbeschwerdeführer bereits in der Erstbefragung das Merkblatt bezüglich der Pflichten und Rechte von Asylwerbern in einer ihm verständlichen Sprache ausgehändigt wurde (AS 15 im Akt 2254319). Ihm musste also die Mitwirkungspflicht im Asylverfahren und die Folgen einer allfälligen Verletzung dieser Pflicht bewusst sein, was ihn jedoch nicht zu weitergehenden Angaben veranlasste.

Die Nichterwähnung dieses Vorfalls vor dem BFA bzw. späte Schilderung in der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 ist ein untrügliches Indiz dafür, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entsprechen kann. Von einem Asylwerber, der tatsächlich internationalen Schutzes bedarf, ist nämlich anzunehmen, dass er sich beispielsweise auch noch nach Jahren oder Jahrzehnten an einen ausreisekausalen Vorfall durch seine Widersacher erinnern kann und im Rahmen der Möglichkeiten, vor dem BFA oder in der mündlichen Verhandlung sein Vorbringen ausführlich zu schildern, auch von sich aus zur Sprache bringt. Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin die zuvor erwähnten Ereignisse weder vor dem BFA noch in der mündlichen Verhandlung erwähnten, bestätigt, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht durchgängig tatsächlichen Erlebnisse und Geschehnisse zu Protokoll gaben, sondern ein teilweise erfundenes Vorbringen erstatteten.

Was das vorangehend näher dargestellte ausreisekausale Vorbringen im gegenständlichen Verfahren betrifft, so ist darüber hinaus anzumerken, dass sich die Schilderungen des Erstbeschwerdeführers vor der belangten Behörde, in der Beschwerde(ergänzung) und in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht auch in den folgenden Punkten als nicht stringent gestalteten.

So war für das Bundesverwaltungsgericht zu berücksichtigen, dass der Erstbeschwerdeführer im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde, in der Beschwerde(ergänzung) und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung widersprüchliche Aussagen zu jener Straftat machte, die zur Beschädigung eines Fahrzeugs führte. So legte der Erstbeschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde ursprünglich dar, dass er alkoholisiert mit einem Fahrzeug irgendwo angefahren sei, woraufhin die Polizei gekommen sei. Die Reifen des Fahrzeugs seien kaputt gewesen und habe sie die Polizei verfolgt. Aufgrund der kaputten Reifen hätten sie anhalten und aussteigen müssen. Daraufhin sei das Fahrzeug explodiert und die Polizei habe gesagt, sie hätten das Fahrzeug gesprengt. Nachgefragt, weshalb das Fahrzeug explodiert sei, erwiderte der BF1, dass sie gegen einen großen Stein geprallt seien. Anstatt anzuhalten, seien sie aber weitergefahren. Das Fahrzeug habe zu rauchen begonnen. Er würde vermuten, dass es dann deshalb explodiert sei. Er habe sich auch selbst zur Polizei begeben und hätte den Hergang geschildert (AS 71 im Akt 2254319). Im Zuge der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 (OZ 3, S 16 im Akt 2254319) führten der Erstbeschwerdeführer (und die Zweitbeschwerdeführerin) dann wiederum aus, dass der BF1 – ohne im Besitz eines Führerscheins zu sein – ein Fahrzeug gelenkt und gegen den Gehsteig gefahren habe, wodurch der Reifen aufgeschlitzt worden sei. Die Polizei habe dies beobachtet und sei er in der Folge aus Angst davongefahren. In der Folge habe sich der kaputte Reifen erhitzt, sodass Rauch aufgestiegen sei. Der BF1 und ein Freund hätten daraufhin das Fahrzeug stehen gelassen und die Feuerwehr alarmiert. Demgegenüber schilderte der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung schließlich, dass sie alkoholisiert gewesen und mit einem anderen PKW kollidiert seien. Sie seien dann am Straßengehsteig hineingefahren und hätten einen Reifenplatzer gehabt. Die Polizei habe sie stoppen wollen, woraufhin sie davongefahren seien. Da der Reifen kaputt gewesen sei, habe er zu brennen begonnen. Sie hätten das Fahrzeug in einer Gasse stehen gelassen und seien weggelaufen. Der ganze PKW sei abgebrannt (VH-Schrift, S 16). Insoweit zeigt sich, dass der BF1 sein Vorbingen in Bezug auf den Unfallhergang und den anschließenden Ereignissen in mehreren Punkten immer wieder mäandrierend abänderte. In dieses Bild passt es im Übrigen auch, dass der BF1 versucht, die gegenüber seiner Ehegattin im Bundesgebiet verübte Gewalttat nicht der Realität entsprechend darzustellen bzw. zu beschönigen. Aus dem Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion Steiermark vom 22.12.2021 lässt sich entnehmen, dass der BF1 seine Ehegattin – die BF2 – seit April 2021 wiederholt, in Form von Schlägen und Tritten, körperlich misshandelt habe, wobei ein Schlag auf das linke Auge der BF2 am 26.11.2021 einen Bluterguss zur Folge gehabt habe, was auch durch ein Lichtbild ausreichend bescheinigt ist (AS 57 ff im Akt 2254319). Im Zuge der Beschwerdeergänzung wird diese Gewalttat indes bagatellisiert und ist lediglich von einer Ohrfeige des BF1 wider die BF2 die Rede (OZ 3, S 19 im Akt 2254319).

Über diese Erwägungen hinaus war für das Bundesverwaltungsgericht zudem zu berücksichtigen, dass das Vorbringen, etwa bezüglich ständiger Folter während der Inhaftierungen und massiver Misshandlungen, auch deshalb nicht glaubhaft ist, weil es dem Erstbeschwerdeführer nicht möglich war, diese Übergriffe überzeugend darzulegen. Es ist hierbei festzuhalten, dass sich der Erstbeschwerdeführer vor der belangten Behörde und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in einen gravierenden Widerspruch bezüglich der angeblichen Folter wider ihn verstrickte. Ursprünglich legte der Erstbeschwerdeführer in der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt dar, dass er im Gefängnis gefoltert worden sei. Er sei demnach sogar in seiner Zelle angezündet worden, wozu es auch Unterlagen gebe (AS 68 Im Akt 2254319). Vor dem Bundesverwaltungsgericht variierte der Erstbeschwerdeführer seine Aussagen jedoch dahingehend, dass er schilderte, dass sie dem Anstaltsleiter die schlechten Haftbedingungen mitteilen hätten wollen. Ein Mitinsasse habe ein Feuerzeug besessen und mit diesem habe der andere Häftling die Zelle angezündet. Auf Nachfrage erklärte der BF1, dass er dies nicht richtig finden würde. Es stünde aber auch im vorgelegten „Urteil“, dass dies vom Kollegen gemacht worden sei (VH-Schrift, S 12). Tatsächlich kann der vorgelegten Anklageschrift (AS 107 im Akt 2254319) jedoch entnommen werden, dass der BF1 im Gefängnis vorsätzlich Feuer gelegt hat und deshalb eine Disziplinarstrafe erhielt, was der BF1 in der mündlichen Verhandlung auf entsprechenden Vorhalt auch nicht mehr in Abrede stellte, sondern einzig festhielt: „Ja, das war dieser Vorfall.“ (VH-Schrift, S 12). Generell sind die Angaben des Erstbeschwerdeführers zu den angeblichen Folterungen und Misshandlungen nicht stringent und schlüssig. In der Einvernahme vor dem BFA und in der Stellungnahme vom 24.08.2023 verwies der BF1 immer wieder auch auf in Zeiten der Inhaftierung angeblich regelmäßig erfolgte Misshandlungen bzw. Folterungen und deren erhebliche Schwere (AS 68 und OZ 15, S 8 im Akt 2254319). In der mündlichen Verhandlung relativierte der BF1 dann seine Angaben erheblich und sagte aus, dass er nicht lügen wolle. Demnach habe es keine grobe Gewalt gegeben. Hauptsächlich sei es psychische Gewalt gewesen (VH-Schrift, S 13).

Darüber hinaus sind auch die Angaben des Erstbeschwerdeführers zu den Ereignissen nach seiner letzten Enthaftung in der Beschwerdeergänzung und in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich. In der Beschwerdeergänzung legte der Erstbeschwerdeführer dar, dass am 20.05.2020 eine polizeiliche Sondereinsatztruppe um ca. 3 Uhr morgens die Wohnung des BF1 gestürmt habe. Der BF1 sei zu Boden geschmissen und seine Hände mit Handschellen hinter dem Rücken fixiert worden. Er sei dann in ein Polizeigebäude zur Vernehmung gebracht worden. Nach einer zum Schein abgegebenen Erklärung, zukünftig als Informant tätig zu sein, habe man ihn am 21.05.2020 freigelassen (OZ 3, S 6 im Akt 2254319). Ausgehend von diesen Schilderungen des Erstbeschwerdeführers verwundert es, dass der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung schilderte, dass er nach seiner letzten Enthaftung zur Polizeistation geladen worden sei. Dort sei ihm mitgeteilt worden, dass er an einem bestimmten Tag zum Gericht zu einer Verhandlung zu gehen habe. Vor Gericht hätte er dann erklärt, dass er seine Strafen abgesessen habe und sei er bei dieser Verhandlung nicht festgenommen worden. Schließlich sei die Verhandlung vertagt worden. Explizit befragt, ob es einen ausreiskausalen Vorfall gegeben habe, erwiderte der BF1 einzig „Wegen meines Aktes flüchtete ich hierher.“ (VH-Schrift, S 14 f). Die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts schließt daraus, dass der Erstbeschwerdeführer die geschilderten Geschehnisse nicht tatsächlich erlebt, sondern eine konstruierte, das heißt, nicht den Tatsachen entsprechende, und einstudierte Fluchtgeschichte wiedergegeben hat, und das bisweilen nicht stringent und gleichbleibend. Andernfalls wäre er in der Lage gewesen, zumindest einfache Fragen, die im Zusammenhang mit seinem eigenen Vorbringen stehen, schlüssig und widerspruchsfrei zu beantworten.

Des Weiteren ist nicht völlig außer Acht zu lassen, dass der Erstbeschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde und in mündlichen Beschwerdeverhandlung unterschiedliche Ausführungen zur Frage tätigte, ob es seinen Familienangehörigen möglich sei, von den türkischen Behörden Verfahrensunterlagen zu erhalten. Ursprünglich legte der Erstbeschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde nämlich dar, seine Mutter habe die von ihm vorgelegten Gerichtsunterlagen allesamt vom Gericht geholt und ihm online gesandt (AS 67 im Akt 2254319). In der Folge führte er hingegen bezüglich des Haftbefehls in der mündlichen Verhandlung aus, dass sie keine Unterlagen vom Staat erhalten würden, da sie politisch verfolgt werden würden (VH-Schrift, S 5). Der Erstbeschwerdeführer war insoweit in diesem Punkt ebenso wenig in der Lage gleichbleibende Angaben zu tätigen und erschüttert dies seine persönliche Glaubwürdigkeit zusätzlich.

Hinzu tritt ferner, dass sich auch das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin für die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausreisevorbringen mehrfach als widersprüchlich darstellt. So war es im Lichte der Angaben der Beschwerdeführer im Zuge der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 (OZ 3 im Akt 2254319) bezüglich der Razzia nach der zuletzt erfolgten Enthaftung des BF1 evident, dass der BF3 hierbei auch anwesend gewesen sei. Dieser sei durch den Schock geweckt worden und habe geweint (OZ 3, S 6 im Akt 2254319). Die Zweitbeschwerdeführerin brachte hingegen in der mündlichen Verhandlung im Zuge einer beinahe suggestiven Befragung durch die rechtsfreundliche Vertretung zweifelsfrei zum Ausdruck, dass ihr Sohn - der BF3 - zum Zeitpunkt dieses Vorfalls, bei dem ihr Ehegatte gefesselt und mitgenommen worden sei, noch nicht auf der Welt gewesen sei (VH-Schrift, S 28). Dass die Ehegattin des Erstbeschwerdeführers schildert, dass ihr Sohn damals noch nicht geboren gewesen sei, belastet ihr Vorbringen daher mit erheblichen weiteren Zweifeln. Darüber hinaus behauptete die Zweitbeschwerdeführerin im Zuge der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 (OZ 3 im Akt 2254319), dass sie während des Gefängnisaufenthalts des BF1 ab Mai 2020 bis Oktober 2020 regelmäßig von der Polizei belästigt worden sei. Einen derartigen Gefängnisaufenthalt legte die BF2 hingegen weder im Zuge der Einvernahme vor dem BFA noch in der mündlichen Verhandlung dar. Tatsächlich hielt die BF2 am Ende der mündlichen Verhandlung auf Befragung durch die rechtsfreundliche Vertretung fest, dass ihr Ehegatte - der BF1 - das letzte Mal im April enthaftet worden sei (VH-Schrift, S 28). Eine plausible Erklärung für diese Aussagen konnte die BF2 auch in der mündlichen Verhandlung nicht erbringen.

Ebenso wenig erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht, weshalb der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Verfahren ihr Vorbringen zu den polizeilichen Nachforschungen derart unterschiedlich gestalteten, wenn sich dieser Sachverhalt tatsächlich so ereignet hätte. Demnach führte die Zweitbeschwerdeführerin in der Einvernahme vor dem BFA noch aus, dass die Polizei jeden Tag zu ihrer Schwiegerfamilie komme und nach ihrem Ehegatten frage (AS 46 im Akt 2254318). In der mündlichen Verhandlung gab der Erstbeschwerdeführer diesbezüglich jedoch an, dass es seinen Eltern und Geschwistern gut gehe. Manchmal würden die Polizisten wegen ihm zu ihnen gehen und nach ihm fragen (VH-Schrift, S 5). Die Ausführungen der Beschwerdeführer variieren somit in diesem Punkt nicht nur leicht, sondern es traten gravierende Divergenzen zu Tage.

Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, dass im Zuge der mündlichen Verhandlung ein sich steigerndes Vorbringen in zentralen Punkten auftrat. So behauptete der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt der erkennenden Richterin bezüglich des angeblich ausreisekausalen Vorfalls nach seiner letzten Enthaftung erstmals, dass es nicht eine, sondern vier oder fünf Razzien gegeben habe (VH-Schrift, S 15). Ferner erklärte er in der mündlichen Verhandlung erstmals auf Befragung durch die rechtsfreundliche Vertretung, dass nicht nur einmal, sondern einige Male von den türkischen Sicherheitskräften versucht worden sei, ihn als Informant zu gewinnen (VH-Schrift, S 22). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Steigerung des Vorbringens in Kernpunkten der vorgebrachten Asylgründe ein weiteres Indiz für seine Unglaubwürdigkeit bzw. die teilweise Unglaubhaftigkeit der geltend gemachten Ausreisegründe, hatte doch der Erstbeschwerdeführer bereits in seiner Einvernahme vor dem BFA und/oder der Beschwerde die umfassende Möglichkeit, sämtliche Ausreisegründe vorzubringen. Bei diesen erstmals in der mündlichen Verhandlung geschilderten Angaben handelt es sich um eine klare Steigerung des Vorbringens des Erstbeschwerdeführers, vermutlich zu dem Zweck, um seinem Antrag auf internationalen Schutz – nach Kenntnisnahme der Beweiswürdigung des BFA – mehr Substanz zu verleihen.

Das Bundesverwaltungsgericht verweist darüber hinaus auf den Umstand, dass es nicht nachvollziehbar ist, weshalb dem Erstbeschwerdeführer zwar angeblich im Zuge der Anhaltung nach der Hausdurchsuchung bzw. auch davor und danach seitens der Polizei nach seiner letzten Enthaftung damit gedroht worden sein soll, dem Gericht mitzuteilen, dass er seine Auflagen nicht einhalten würde, wenn er für sie nicht als Informant zur Verfügung stünde, diese Drohungen aber nie in die Tat umgesetzt wurden. Die türkischen Sicherheitskräfte mussten nach diesen Drohungen damit rechnen, dass sich der Erstbeschwerdeführer weiteren Übergriffen und einem allfälligen Verfahren entziehen würde. Weshalb diese Drohungen nicht umgesetzt wurden, ist auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht plausibel. Es ist lebensfremd, wenn die laut den Schilderungen des Erstbeschwerdeführers professionell und skrupellos agierenden Polizeikräfte eine Person des Terrorismus verdächtigt, sie als Informanten gewinnen will und ihr mit negativen Konsequenzen bei Gericht droht, sie dann aber dennoch wieder in die Freiheit entlässt und sie ihr Leben unbehelligt leben lässt (VH-Schrift, S 18 f) – umso mehr als der Vorwurf terroristischer Handlungen in der Türkei den Feststellungen zufolge rasch zu gravierender strafrechtlicher Verfolgung führt.

Zudem spricht auch das Verhalten des Erstbeschwerdeführers nach seiner letztmaligen Freilassung im Juni 2020 entschieden gegen dessen Vorbringen. Anstatt sich seinen Gegnern durch Flucht ins Ausland zu entziehen, will der Beschwerdeführer anschließend noch – abgesehen von seinem zwischenzeitlichen Aufenthalt in der Ukraine und seiner freiwilligen Rückkehr Ende 2020 - bis zu seiner Ausreise im Frühling 2021 für etwa ein dreiviertel Jahr in der Provinz Mersin verblieben und dort einer Erwerbsarbeit nachgegangen sein (VH-Schrift, S 19). Dies, obwohl er damit rechnen musste, dort von seinen staatlichen Verfolgern aufgesucht zu werden, zumal im Falle des Aufenthalts zu Hause und/oder bei Verwandten natürlich mit einer Nachschau gerechnet werden muss. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts muss davon ausgegangen werden, dass der Erstbeschwerdeführer im Fall der tatsächlichen Konfrontation mit einer ernsthaften, gegen sein Leben gerichteten Bedrohung die Türkei umgehend verlassen hätte, um sich der Gefahr zu entziehen. Es kann angenommen werden, dass bei tatsächlichem Bestehen asylrelevanter Verfolgungshandlungen oder bei Vorliegen begründeter Angst vor Verfolgung ein derart langer Weiterverbleib in der Türkei nicht der Fall gewesen wäre.

Ebenso ist hervorzuheben, dass es ebenso gegen eine behauptete Verfolgung spricht, dass dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin ohne Schwierigkeiten die legale Ausreise auf dem Luftweg mit einem Flugzeug nach Serbien mit einem Reisepass und jedenfalls zuvor in die Ukraine mit einem Personalausweis gelang (VH-Schrift, S 17 f). Wäre die seitens des Erstbeschwerdeführers in den Raum gestellte Bedrohung und/oder Verfolgung durch die türkischen Sicherheitskräfte bzw. den türkischen Staat indes tatsächlich gegeben, hätte der Erstbeschwerdeführer damit rechnen müssen, dass er etwa auf eine Fahndungsliste gesetzt und bei der Ausreisekontrolle angehalten wird, zumal ihm sein Verteidiger bereits vor der Ausreise in die Ukraine zur Flucht geraten haben soll, da er mit einer Strafe zu rechnen hätte (VH-Schrift, S 15). Die Verwendung eines eigenen Reisepasses/ Personalausweises bei der Ausreise deutet darauf hin, dass die Beschwerdeführer keine Bedenken hatten, sich der Personenkontrolle an einem Flughafen in der Türkei zu unterziehen beziehungsweise ergeben sich daraus keine Hinweise, dass der Erstbeschwerdeführer und seine Ehegattin Verfolgungshandlungen in ihrem Heimatland selbst befürchteten oder zu befürchten hatten. Es widerstreitet den sonstigen Schilderungen, dass die Flucht des Erstbeschwerdeführers in einem derart von mangelnder Vorsicht gekennzeichneten Kontext erfolgt sein sollte, zumal sich der Erstbeschwerdeführer und seine Ehegattin zum Zeitpunkt der jeweiligen Ausreise keineswegs völlig sicher sein konnten, dass ihre Absichten nicht bereits bekannt geworden sind.

Der Erstbeschwerdeführer legte bei seiner Erstbefragung im Hinblick auf die Modalitäten der Ausreise im Übrigen dar, dass er den Entschluss zur Ausreise am 06.04.2021 und damit unmittelbar in Zusammenhang mit der im Anschluss erfolgten Ausreise gefasst hätte (AS 19 im Akt 2254319). Dass der Erstbeschwerdeführer den Ausreiseentschluss unmittelbar vor der Ausreise fasste, ist jedoch mit dem von ihm offenbar bereits zuvor getroffenen Ausreisevorbereitungen, wie etwa der Übergabe bzw. dem Verkauf seines Unternehmens an einen Bruder (AS 70 im Akt 2254319; VH-Schrift, S 19), zeitlich nicht in Einklang zu bringen. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen rundet dieser Umstand das beim Studium der Einvernahmen gewonnene Bild von der mangelnden Glaubwürdigkeit des Erstbeschwerdeführers bezüglich dieses Ausreisevorbringens nunmehr ab.

Nicht unberücksichtigt bleiben darf auch, dass die Familien des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin – Elternpaare und mehrere Geschwister, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehören und Sympathisanten der Halkların Demokratik Partisi sind (AS 69 und OZ 3 im Akt 2254319) – immer noch in der Türkei, konkret in der Provinz Mersin, leben. Insbesondere waren der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in diesem Zusammenhang auch nicht in der Lage, eine plausible Erklärung dafür zu erbringen, weshalb ausgerechnet sie, nicht aber etwa die anderen Familienangehörigen die Türkei verließen. Weshalb Personen, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehören und Sympathisanten der Halkların Demokratik Partisi sind, unbehelligt in der Provinz Mersin leben können sollen, die Beschwerdeführer hingegen nicht, ist nicht nachvollziehbar. Es ist damit auch nicht nachvollziehbar, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verfolgt werden sollen, obwohl ihre kurdischen Familienangehörigen ebenso die Halkların Demokratik Partisi unterstützen (und in einer persönlichen Beziehung zur getöteten Schwester der BF2 standen), die deswegen aber keine Verfolgung zu befürchten hätten (vgl. VH-Schrift, S 5).

Im Kontext des Vorbringens des Erstbeschwerdeführers überrascht ferner, dass nicht seine Auslieferung in die Türkei von den türkischen Justizbehörden betrieben wird, zumal die Familie des Erstbeschwerdeführers den türkischen Sicherheitsbehörden zumindest mitgeteilt haben will, dass er sich in Europa aufhalte (VH-Schrift, S 22). Ausgehend davon wäre es einerseits für die türkischen Justizbehörden sicherlich möglich, den Aufenthaltsort des Erstbeschwerdeführers zu bestimmen und dessen Auslieferung zu betreiben. Andererseits erstaunt es sehr, dass sich der Erstbeschwerdeführer zwar auf eine drohende strafrechtliche Verfolgung als Asylgrund bezieht, andererseits jedoch seinen Aufenthaltsort durch seine Familie gegenüber dem türkischen Staat doch in einem gewissen Ausmaß preisgibt. Mit der im Verfahren behaupteten Furcht vor Verfolgung lässt sich ein solches, nicht von Vorsicht gekennzeichnetes Verhalten aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kaum in Einklang bringen.

Dass der Erstbeschwerdeführer im Übrigen das Bedrohungspotential selbst nicht sehr hoch eingeschätzt hat, zumal er die Türkei letztlich erst auf Anraten seiner dortigen rechtsfreundlichen Vertretung verlassen hat (VH-Schrift, S 9, 15), rundet das Bild, wonach es sich bei den Schilderungen des Erstbeschwerdeführers um keine realen Ereignisse handelt, ab.

Gegen die vorgebrachte Furcht vor Verfolgung spricht nicht zuletzt ganz entschieden die freiwillige Rückkehr aus der Ukraine in die Türkei etwa Ende 2020. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführer im Fall des tatsächlichen Bestehens einer individuellen Gefährdung, etwa in Form einer drohenden Inhaftnahme aufgrund eines Haftbefehls gegen seine Person, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit noch vor Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in der Ukraine freiwillig in seinen Herkunftsstaat zurückgekehrt wäre. Eine plausible Erklärung hierfür konnte der BF1 auch in der mündlichen Verhandlung nicht erbringen, sondern schilderte er in diesem Zusammenhang lediglich, dass er einmal in die Ukraine geflüchtet, dort an der ukrainisch-polnischen Grenze festgehalten und anschließend in die Türkei zurückgeschickt worden sei (VH-Schrift, S 9), was im Übrigen mit den Ausführungen der Beschwerdeführer in der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 im Widerspruch steht, wonach der BF1 und die BF2 nach einer dreitägigen Anhaltung an der ukrainisch-polnischen Grenze - nach Zusicherung der ukrainischen Behörden, den türkischen Behörden nichts von dem Fluchtversuch nach Westeuropa mitzuteilen - letztlich freiwillig in die Türkei zurückreisten (OZ 3, S 7 im Akt 2254319). Abgesehen von dem vorangehend dargelegten Widerspruch ist dem jedenfalls zu entgegnen, dass diese Ausführungen nicht zu begründen vermögen, weshalb der BF1 noch vor seiner Rückkehr davon ausgegangen sein will, dass ihm bei einer Rückkehr keine Gefahr drohen würde. Des Weiteren erlaubt sich die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichts darauf hinzuweisen, dass sich die Schilderungen der Beschwerdeführer, wonach es ihnen möglich gewesen sei, mit den ukrainischen Behörden Verhandlungen zu führen, um diesen das Versprechen abzuringen, eine Mitteilung ihres Fluchtversuchs an die türkischen Behörden zu unterlassen, als kaum nachvollziehbar erweisen. Es erscheint wenig lebensnah, dass Behörden eines Staates eine derartige Vorgehensweise an den Tag legen und sich mit Fremden auf eine Art Verhandlung einlassen würden, um diese zu einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat zu bewegen.

Es mag schließlich Bedenken geben, sollte die Behörde oder das Bundesverwaltungsgericht die Unglaubhaftigkeit eines (Flucht-)Vorbringens unreflektiert und ausschließlich damit begründen, dass ein Asylwerber nicht im – sozusagen – erstbesten sicheren Staat, den er nach dem Verlassen seines Herkunftsstaats betreten hat, einen Asylantrag gestellt hat. Auf eine derartige Argumentation zieht sich das Bundesverwaltungsgericht gegenständlich jedoch nicht zurück und werden dessen Feststellungen auch keineswegs ausschließlich darauf gestützt, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in keinem der von ihnen durchreisten Staaten einen Asylantrag gestellt haben, weshalb das Bundesverwaltungsgericht ergänzend – unter Bedachtnahme auf die Angaben der erwachsenen Beschwerdeführer – darauf hinweist, dass diese nicht nachvollziehbar darlegen konnten, weshalb sie im Frühling 2021 nicht in einem der durchreisten Staaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben (AS 71 im Akt 2254319; AS 49 im Akt 2254318). Dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in Serbien als erstem europäischen Staat, mag ihr Zielland auch Holland gewesen sein (AS 19, 21, 70 f im Akt 2254319; AS 11, 13, 48 im Akt 2254318), von einer Asylantragstellung hätten abhalten lassen, wäre im Falle einer tatsächlichen Verfolgung(sgefahr) im Herkunftsstaat nicht naheliegend, weshalb auch dieses Verhalten der Beschwerdeführer nicht dafür spricht, dass sie ihren Herkunftsstaat im Frühling 2021 wegen einer tatsächlichen Gefahr verlassen haben. Im Falle einer tatsächlichen Verfolgung oder Gefährdung im Herkunftsstaat wären der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wohl kaum ca. zwei Wochen (AS 21 im Akt 2254319; AS 13 im Akt 2254318) – allenfalls ohne Berechtigung zum Aufenthalt und folglich mit dem Risiko einer (zwangsweisen) Außerlandesbringung – in diesem Staat verblieben, ohne dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Die genannten Umstände sprechen insgesamt nicht dafür, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat tatsächlich Verfolgung(sgefahr) ausgesetzt waren.

2.2.4.1.8. Nicht in Abrede gestellt wird, dass seitens der türkischen Behörden hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers gelegentlich, etwa eine Nachfrage bei dessen Eltern erfolgte. Das Bundesverwaltungsgericht geht bereits aufgrund der mehrjährigen Abwesenheit des Erstbeschwerdeführers davon aus, dass die im Verfahren geschilderte Nachfrage bei seinen Eltern durchaus möglich zu sein scheint. Dass diese Nachfrage nach seiner Person für den Erstbeschwerdeführer zu einem unmittelbaren Bedrohungsszenario geführt oder diesen massiv beeinträchtigt hätte, lässt sich aus dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers jedoch nicht ableiten. Diese offenbar ohne Gewalt ablaufende Nachfrage hat auch die Eltern bzw. die Familie des BF1 in ihrem täglichen Leben nicht beeinträchtigt und schilderte er auch keine weiteren diesbezüglichen Probleme. Dass diese Ereignisse gegenwärtig oder für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat nachteilige Folgen für den Erstbeschwerdeführer haben könnten, hat dieser weder vorgebracht noch ist dergleichen sonst ersichtlich, zumal offensichtlich erscheint, dass der Erstbeschwerdeführer diesen Vorfällen kein besonderes Gewicht beimisst („Wegen mir gehen manchmal Polizisten zu ihnen und fragen nach mir.“, VH-Schrift, S 5). Es verwundert vor allem auch, dass die Familie des Erstbeschwerdeführers die türkischen Behörden über dessen Aufenthalt in Europa informiert haben soll (VH-Schrift, S 22). Eine Vorgehensweise, welche bei einer tatsächlichen Bedrohung und/oder Verfolgung durch den türkischen Staat kaum vorstellbar ist.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verblieben jedenfalls bis zu seinem 25. Geburtstag und ihrem 19. Geburtstag in der Türkei, wobei sie ihre Ausreise im Wesentlichen auf eine nicht glaubhafte Bedrohung und/oder Verfolgung durch den türkischen Staat wegen des politischen Engagements des BF1 für die HDP zurückführten. Dass ihnen zuvor aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit ein weiterer Verbleib im Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei, wurde von ihnen nicht vorgebracht. Tatsächlich verneinte der BF1 vor dem BFA explizit die Frage, ob er wegen seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit persönlich jemals ernste Probleme gehabt habe (AS 67 im Akt 2254319). Die zum Teil prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird weder von der belangten Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht in Abrede gestellt, im gegenständlichen Fall ist jedoch weder eine derart exponierte Stellung ihrer jeweiligen Person in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass sie aktuell von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wären. Es ist zwar davon auszugehen, dass die beiden erwachsenen Beschwerdeführer auch die grundlegenden politischen Forderungen der PKK (Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen) inhaltlich teilen, in ihrem Vorbringen finden sich jedoch keine Hinweise, dass sie die terroristischen Aktivitäten der PKK nicht ablehnen würden und engagierten sie sich auch nicht aktiv bei der PKK.

2.2.4.1.9. Vor dem Hintergrund, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin erklärten, dass aufgrund von in den Niederlanden lebenden Verwandten dies ihr Zielland gewesen sei (AS 19, 21, 70 f im Akt 2254319; AS 11, 13, 48 im Akt 2254318) und insbesondere eine Einreise oder ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für die Beschwerdeführer für Österreich nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war, erhärtet sich die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin die Türkei rein aus wirtschaftlichen oder privaten Interessen verlassen haben und der jeweils gestellte Antrag auf internationalen Schutz lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte. In dieses Bild passend führte der BF1 im Zuge der mündlichen Verhandlung auch aus, dass er nach Europa geflüchtet sei, da er mit seiner Familie ein schönes Leben führen habe wollen (VH-Schrift, S 15). Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz unter Umgehung der strengeren Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes eingebracht wurden.

 

Basierend auf sämtlichen aufgezeigten Ungereimtheiten, Unplausibilitäten und Widersprüchlichkeiten, welche der BF1 und die BF2 nicht substantiiert entkräften konnten, gelangt das BVwG daher zu der Annahme, dass es dem BF1 und der BF2 zusammengefasst nicht gelungen ist, eine Verfolgungsgefahr in der Türkei glaubhaft zu machen.

 

2.2.4.1.10. Gegenüber der belangten Behörde erklärte die BF2 auf die Frage „Hat Ihr Sohn XXXX eigene Fluchtgründe?“ wörtlich „Nein, er hat keine eigenen Gründe.“ (AS 48 im Akt 2254318). Der BF1 verneinte diese Frage vor dem BFA ebenfalls mit der Begründung, wonach dieser erst eineinhalb Jahre alt sei (AS 69 im Akt 2254319). Ähnlich führte die BF2 in der mündlichen Verhandlung auf die Frage der erkennenden Richterin „Sie sind als Mutter auch gesetzliche Vertreterin Ihres Sohnes. Hat dieser eigene Fluchtgründe?“ aus „Nein. Wenn mein Sohn volljährig wird, wird es ihm genauso gehen, wie meinem Mann.“ (VH-Schrift, S 25) Insoweit hat der BF3 keine eigenen Fluchtgründe. Dass die BF2 oder der BF1 einen Grund haben könnten, insofern wahrheitswidrige Angaben zu machen, ist nicht ersichtlich. Es ist daher, auch unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen unzweifelhaft und unstrittig, dass auch der Drittbeschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat keiner aktuellen unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war bzw. bei einer Rückkehr ausgesetzt sein würde.

2.2.4.2. Weder in der Beschwerdeschrift noch in der mündlichen Verhandlung wurde der festgestellten persönlichen Unglaubwürdigkeit und der Unglaubhaftigkeit bzw. fehlenden Asylrelevanz bezüglich des - ausreisekausalen - Vorbringens substantiiert entgegengetreten:

 

2.2.4.2.1. Die in der jeweiligen Beschwerdeschrift und der Beschwerdeergänzung vom 19.05.2022 geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens sowie die dahingehende Kritik, dass sich das Bundesamt nicht ausreichend mit dem Vorbringen der Beschwerdeführer, insbesondere mit den vorgelegten türkischen Unterlagen, und den herkunftsstaatsspezifischen Informationen auseinandergesetzt habe, geht schon deshalb ins Leere, da nunmehr seitens des BVwG eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde und dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung Gelegenheit geboten wurde, sämtliche Fluchtgründe abermals umfassend darzulegen und auch zu den getroffenen Länderfeststellungen umfassend Stellung zu nehmen.

 

Im Übrigen ist festzuhalten, dass die Protokolle der Einvernahmen vom 14.09.2021 bezüglich des BF1 und der BF2 den Eindruck vermitteln, dass der zuständige Organwalter den BF1 und die BF2 ausführlich und objektiv zu ihrem behaupteten Herkunftsstaat und ihrem Vorbringen befragt und sie mit entscheidungswesentlichen Fragen konfrontiert hat. Bei Betrachtung der gegenständlichen Niederschriften kann dieser Vorwurf bezüglich eines mangelhaft durchgeführten Ermittlungsverfahrens daher ohnehin nicht nachvollzogen werden. Die Asylbehörde hat die materielle Wahrheit von Amts wegen zu erforschen. Hierbei kann oftmals nur auf eine genaue Befragung des Asylwerbers zurückgegriffen werden. Hinsichtlich der Fragestellung lassen sich aber keine Besonderheiten feststellen und bei genauer Betrachtung hinterlassen die Niederschriften den Eindruck, dass sie den konkreten Verlauf wiedergeben. Den Niederschriften ist weiters nicht zu entnehmen, dass der BF1 und die BF2 während der Einvernahmen ihre nunmehrige Beanstandung kundtaten, was aber ihrer Mitwirkungsverpflichtung entsprochen hätte. Zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass weder der BF1 noch die BF2 nach erfolgter Rückübersetzung am Ende der Einvernahmen vor dem BFA Korrekturen an der jeweiligen Niederschrift vornehmen ließen. Des Weiteren bestätigten der BF1 und die BF2, dass sie die Dolmetscherin gut verstanden hätten.

 

Die Beschwerdeführer wurden im Rahmen des Asylverfahrens umfassend niederschriftlich vom BFA einvernommen, wobei sie in diesen Einvernahmen die Gelegenheit hatten, sich zu ihren Verfolgungsgründen und Rückkehrbefürchtungen zu äußern. Das BFA beließ es dabei nicht bei offenen Fragen, sondern versuchte auch durch konkrete Fragestellung den Grund ihrer Furcht und zu erwartende Rückkehrprobleme zu erhellen, was nach Ansicht der erkennenden Richterin auch hinreichend geschehen ist. Die Verpflichtung der Behörde zur amtswegigen Ermittlungspflicht geht nicht so weit, dass sie in jeder denkbaren Richtung Ermittlungen durchzuführen hätte, sondern sie besteht nur insoweit, als konkrete Anhaltspunkte aus den Akten (etwa das Vorbringen der Partei (VwSlg 13.227 A/1990) dazu Veranlassung geben (VwGH 4.4.2002, 2002/08/0221).

 

Die Behörde ist auch im Rahmen der Refoulementprüfung nur in dem Umfang zu amtswegigen Ermittlungen verhalten, in dem ein ausreichend konkretes, eine maßgebliche Bedrohung aufzeigendes Vorbringen erstattet wird, nicht aber zur Prüfung, ob die Partei denkbarerweise irgendwelchen Gefährdungen ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 19.11.2002, 2002/21/0185, 3.9.1997, 96/01/0474, 30.9.1997, 96/01/0205).

 

2.2.4.3. In einer Gesamtschau war dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund sämtlicher zuvor getroffener Ausführungen sowie auch des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung die persönliche Glaubwürdigkeit abzusprechen.

Infolgedessen und aufgrund der vorstehenden Beweiswürdigung kann das Bundesverwaltungsgericht auch keine zur Gewährung von internationalem Schutz führende Rückkehrgefährdung erkennen und ergibt sich eine solche auch nicht aus der allgemeinen Lage in der Türkei zum Entscheidungszeitpunkt. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/ oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

 

Abschließend erlaubt sich die erkennende Richterin diesbezüglich auf die nachfolgenden Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung zu verweisen.

 

2.2.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:

2.2.5.1. Die getroffenen Feststellungen zur Situation in der Türkei gründen sich nunmehr auf die den erwachsenen Beschwerdeführern mit Note vom 11.08.2023 und im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 30.08.2023 nachweislich zur Kenntnis gebrachten aktuellen Länderfeststellungen zur allgemeinen Situation in der Türkei (LIB der Staatendokumentation Version 7, Datum der Veröffentlichung: 29.06.2023), denen weder die Beschwerdeführer noch deren rechtsfreundliche Vertretung in einer schriftlichen Stellungnahme oder in der mündlichen Verhandlung - wie nachfolgend dargelegt - substantiiert entgegentreten sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Es ist allgemein zu den Feststellungen auszuführen, dass es sich bei den herangezogenen Quellen zum Teil um staatliche bzw. staatsnahe Institutionen handelt, die zur Objektivität und Unparteilichkeit verpflichtet sind.

 

Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates über den berichtet wird zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteiennahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann.

 

Bei Berücksichtigung der soeben angeführten Überlegungen hinsichtlich des Inhalts der Quellen unter Berücksichtigung der Natur der Quelle und der Intention derer Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin um ausreichend ausgewogenes Material.

 

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

 

2.2.5.2. Das Bundesverwaltungsgericht brachte den erwachsenen Beschwerdeführern mit Note vom 11.08.2023 und im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 30.08.2023 die länderkundlichen Informationen zur Lage in der Türkei zur Kenntnis und räumte ihnen die Möglichkeit der Stellungnahme ein. Weder die Beschwerdeführer noch deren rechtsfreundliche Vertretung traten den von der erkennenden Richterin des Bundesverwaltungsgerichts in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen substantiiert entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte seine Feststellungen daher auf Grundlage der von ihm als Beweismittel herangezogenen Länderinformationen treffen.

Was die in der Stellungnahme vom 24.08.2023 (OZ 15 im Akt 2254319) zitierten Länder- und Medienberichte betrifft, so ist darauf zu verweisen, dass zur Beurteilung der aktuellen Lageentwicklung in der Türkei hinsichtlich der Situation politischer Parteien bzw. der Opposition, der Repressalien gegen leitende Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker der HDP, der Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam und in Haftanstalten, der Haftbedingungen, der Sicherheitssituation in mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten und der Menschenrechtslage den Beschwerdeführern bzw. deren rechtsfreundlicher Vertretung aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur Stellungnahme übermittelt wurden. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts geben indes die getroffenen Feststellungen einen hinreichenden Überblick über die Lage im Herkunftsstaat im Allgemeinen und die spezifische Situation von Kurden und Sympathisanten der HDP – insbesondere in der Provinz Mersin – im Besonderen.

Die seitens der Beschwerdeführer zitierten Länder- und Medienberichte widmen sich im Wesentlichen der Situation politischer Parteien bzw. der Opposition, den Repressalien gegen leitende Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker der HDP, der Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam und in Haftanstalten, den Haftbedingungen, der Sicherheitssituation in mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten und der Menschenrechtslage. Sämtliche dieser Themenkomplexe sind hinreichend dokumentiert. Angesichts der sich rasch ändernden Umstände in der Türkei kann ferner nicht jedes Ereignis gesondert festgestellt werden und ist ausreichend, wenn den Feststellungen ein repräsentatives Lagebild entnommen werden kann. Freilich ist es nicht möglich, im Rahmen der zu treffenden Feststellungen jeglichen Bericht zur Lage in der Türkei wörtlich zu zitieren bzw. zu erwähnen. Wesentlich ist es, ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zu zeichnen, was aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts gegeben ist und weshalb diesbezüglich auf die – unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen – getroffenen Ausführungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung verwiesen werden kann.

Insoweit in der jeweiligen Beschwerde der Beschwerdeführer und der Beschwerdeergänzung im Übrigen ergänzend zu den von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationen auszugsweise ein Bericht des UK Home Office vom Oktober 2019 „Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK“ (AS 161, 169 ff im Akt 2254319), ein Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission vom 29.05.2019 (AS 175 im Akt 2254319), Berichte von Human Rights Watch aus dem Oktober 2016 (AS 177 ff im Akt 2254319; AS 99 - 103 im Akt 2254318), Berichte von Amnesty International aus dem Oktober 2016 und dem Februar 2019 (AS 171 im Akt 2254319; AS 103 ff, 105 im Akt 2254318), ein Bericht des Refugee Documentation Centre (Ireland) aus dem März 2017 (OZ 3, S 21 im Akt 2254319), ein Bericht der Human Rights Association aus dem Mai 2020 (OZ 3, S 23 im Akt 2254319), Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom August 2016, Mai 2017 und Juli 2017 (AS 165, 165 ff, 167 und OZ 3, S 13 f, 20 f im Akt 2254319), ein Artikel „Alltag in Angst“ von Le Monde Diplomatique aus dem April 2018 (AS 161 ff im Akt 2254319), ein Bericht von Physicians for Human Rights aus dem August 2016 (AS 165 im Akt 2254319), ein Zeitungsartikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 26.01.2017 (AS 171 im Akt 2254319), ein Zeitungsartikel des Kurier vom 22.12.2016 (OZ 3, S 20 im Akt 2254319), ein Bericht von Freedom House „Freedom in the World 2019 – Turkey“ vom 04.02.2019 (AS 171 im Akt 2254319), ein Bericht der Tagesschau aus dem Juni 2018 (AS 173 im Akt 2254319), ein Bericht der Bild aus dem Juni 2018 (AS 173 im Akt 2254319), ein Bericht von Asylum Research Consultancy aus dem November 2017, ein Bericht des US Department of State aus dem März 2017 (OZ 3, S 18 im Akt 2254319) und Anfragebeantwortungen des Immigration and Refugee Board of Canada aus dem Juni 2015 und Jänner 2017 (OZ 3 im Akt 2254319; AS 105 ff im Akt 2254318) sowie ein Zeitungsartikel des Standards vom 25.10.2016 (AS 175 ff im Akt 2254319) zur Situation von Personen kurdischer Ethnie und mit oppositionspolitischem Engagement und zur allgemeinen Menschenrechtslage zitiert werden, welche die belangte Behörde ihrer Ermittlungspflicht entsprechend in das Verfahren einbringen hätte müssen, merkt die erkennende Richterin zur Vollständigkeit an, dass diese Berichte aus dem Zeitraum Juni 2015 bis Mai 2020 stammen und somit als veraltet anzusehen sind. Selbiges gilt für die in der jeweiligen Beschwerde der Beschwerdeführer zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts aus den Jahren 2016 und 2018 (AS 185 ff im Akt 2254319; AS 115 im Akt 2254318).

 

Wenn in der Beschwerde des BF1 zudem auszugsweise Passagen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 06.12.2021, die dem Erstbeschwerdeführer im Verfahren vor der belangten Behörde zur Kenntnis gebracht und anschließend vom BFA herangezogen wurden, zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunkts bezüglich der Themen „Justizwesen“ und „Untersuchungshaft“ zitiert werden (AS 163, 173 im Akt 2254319), zeigt die Beschwerde somit diesbezüglich weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der dem Erstbeschwerdeführer vorgehaltenen Quellen zur Lage in der Türkei auf und kann im Hinblick auf die thematisierten Bereiche jedenfalls auf die vorangehenden und nachstehenden Ausführungen verwiesen werden, zumal es eine Frage der Beweiswürdigung und insbesondere der rechtlichen Beurteilung ist, inwieweit dem Erstbeschwerdeführer unter Berücksichtigung nunmehr aktueller Länderinformationen eine Rückkehr möglich und zumutbar ist. Dieser Bericht ist mangels Aktualität für die Lageeinschätzung jedenfalls nicht (mehr) maßgeblich.

 

Die Beschwerdeführer verweisen schließlich in der Beschwerde des Erstbeschwerdeführers und in der Beschwerdeergänzung unter Zitierung eines Berichts von Amnesty International aus dem Oktober 2020 (AS 167 ff im Akt 2254319) und eines Berichts der Bundeszentrale für politische Bildung (OZ 3, S 18 im Akt 2254319) darauf, dass sich die Lage für (politisch aktive) Kurden in der Türkei insbesondere nach dem Putschversuch vom Juli 2016 noch einmal verschlechtert habe. Freiheitseinschränkungen und Repressionen würden mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen, gerechtfertigt werden. Nach wie vor würden viele kurdisch-freundliche HDP-Politiker oder auch nur bekannte HDP-Mitglieder und/oder Unterstützer in der Heimat der Beschwerdeführer festgenommen werden; dies mit dem Vorwurf, den Terrorismus zu unterstützen. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass es infolge des versuchten Militärputsches im Jahr 2016 tatsächlich zur Festnahme und Inhaftierung von Mitgliedern der HDP kam und dabei in nicht wenigen Fällen angebliche Verbindungen zur PKK als Grund der Festnahme vorgeschoben worden sind. Ausweislich der im Verfahren herangezogenen und der von den Beschwerdeführern zitierten Berichte, betrafen solche Festnahmen jedoch vorrangig Parlamentsabgeordnete, Lokalpolitiker und Personen, die in der HDP in leitender Stellung tätig waren. Darüber hinaus kam es zu einer Behinderung der politischen Arbeit der HDP, etwa in dem Parteilokale angegriffen oder Aktivisten für „Sicherheitsüberprüfungen“ festgenommen wurden. Demgegenüber kann diesen Quellen jedoch nicht entnommen werden, dass bereits die bloße Mitgliedschaft bei der HDP – umso weniger die bloße Sympathie für diese Partei – mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder gar zur Festnahme mit einer anschließenden Anklage wegen angeblich begangener terroristischer Straftaten führt. Die jeweiligen zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern.

 

2.2.5.3. Eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen ist nur dann erforderlich, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH vom 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da die Beschwerdeführer jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen haben, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit im Herkunftsstaat nicht geboten. Selbiges gilt im Übrigen für die Frage bezüglich des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer.

 

2.2.5.4. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Behörde beziehungsweise das Verwaltungsgericht verpflichtet ist, sich aufgrund aktuellen Berichtsmaterials ein Bild über die Lage in den Herkunftsstaaten der Asylwerber zu verschaffen (vgl. VwGH 30.10.2020, Ra 2020/19/0298). In Ländern mit besonders hoher Berichtsdichte, wozu die Türkei zweifelsfrei zu zählen ist, liegt es in der Natur der Sache, dass die Behörde nicht sämtliches existierendes Quellenmaterial verwenden kann, da dies ins Uferlose ausarten würde und den Fortgang der Verfahren zum Erliegen bringen würde. Vielmehr wird den oa. Anforderungen schon dann entsprochen, wenn es einen repräsentativen Querschnitt des vorhandenen Quellenmaterials zur Entscheidungsfindung heranzieht (vgl. VwGH 11.11.2008, 2007/19/0279). Die der Entscheidung zu Grunde gelegten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer können somit zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, jedoch nunmehr als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation der Beschwerdeführer in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation der Beschwerdeführer unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann. Die vom Bundesverwaltungsgericht getroffene Auswahl des Quellenmaterials ist aus diesem Grunde daher ebenso wenig zu beanstanden.

 

Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht. Vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist. Die Verfolgung kann gemäß § 3 Abs. 2 AsylG auch auf so genannten objektiven oder subjektiven Nachfluchtgründen beruhen.

 

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN, VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

 

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine Verfolgung, die bereits stattgefunden hat („Vorverfolgung“), für sich genommen nicht hinreichend (vgl. VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212).

 

3.1.2. Im gegenständlichen Fall sind nach Ansicht der erkennenden Richterin die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund nicht gegeben. Die Beschwerdeführer vermochten nämlich keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen (vgl. Punkt 2 ff des gegenständlichen Erkenntnisses).

3.1.3. Was die strafgerichtlichen Verurteilungen wegen einer am 07.08.2011 begangenen Straftat nach Artikel 174 Abs. 1 und 2 türkisches Strafgesetzbuch wegen „Besitz oder Austausch von gefährlichen Stoffen ohne Erlaubnis“, wegen einer am 23.08.2012 begangenen Straftat nach Artikel 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Regulierung des Tabak-, Tabakprodukt- und Alkoholmarkts, wegen einer am 01.01.2013 begangenen Straftat nach Art. 314 Abs. 2 ("Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation") iVm Art. 220 Abs. 6 türkisches StGB, wegen einer am 16.03.2012 begangenen Straftat abermals nach Artikel 8 Abs. 4 des Gesetzes über die Regulierung des Tabak-, Tabakprodukt- und Alkoholmarkts und wegen einer am 01.01.2013 begangenen Straftat nach Artikel 151 Abs. 1 und 2a türkisches Strafgesetzbuch wegen „Qualifizierter Sachbeschädigung“ sowie die damit in diesem Zusammenhang erfolgten Inhaftierungen bzw. verbüßten Haftstrafen samt einer wegen absichtlicher Brandstiftung verhängten Disziplinarmaßnahme betrifft, so mangelt es diesem Vorbringen am erforderlichen zeitlichen Zusammenhang mit der späteren Ausreise nach Europa im Frühling 2021, weswegen diesen Ereignissen allein schon aus diesem Grund keine Asylrelevanz zukommen kann. Die Voraussetzung der wohlbegründeten Furcht wird in der Regel nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. zur notwendigen Berücksichtigung der Umstände im Einzelfall siehe etwa das Erkenntnis des VwGH vom 07.11.1995, 94/20/0793; ferner VwGH 19.10.2000, 98/20/0430, siehe auch VwGH 30.08.2007, 2006/19/0400.) Die rein subjektive Befürchtung des Erstbeschwerdeführers, ihm könne womöglich im Fall einer Rückkehr etwas zustoßen, vermag eine asylrelevante Gefährdung nicht aufzuzeigen. Es ergibt sich somit aus diesem Grund in Zusammenschau mit den getroffenen Feststellungen zum Herkunftsstaat keine glaubhaft aktuelle und konkrete Gefährdung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, zumal der Erstbeschwerdeführer in der Folgezeit – abgesehen von einem kurzzeitigen Aufenthalt in der Ukraine samt anschließender freiwilliger Rückkehr- mit seiner Familie in der Türkei verblieb und dort einer Erwerbstätigkeit nachging.

3.1.4. Die vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin vorgebrachten weiteren Schilderungen, wonach der BF1 während seiner Inhaftierungen ständig Folter und Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei, es nach der zuletzt erfolgten Enthaftung beim BF1 eine Hausdurchsuchung gegeben habe, der BF1 im Anschluss kurzfristig für einen Tag für einen Rekrutierungsversuch (Tätigkeit als Spitzel) festgenommen worden sei, die Familien der beiden erwachsenen Beschwerdeführer ständig bedroht und nach der Enthaftung des BF1 auch die BF2 ständig von der Polizei belästigt und unter Druck gesetzt worden sei(en), waren nicht glaubhaft, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, diesbezüglich nicht vorliegt.

 

3.1.5. Was das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers bezüglich eines Verfahrens wider ihn wegen (einer) am 15.03.2012 begangenen Straftat(en) betrifft, so führt dies - selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung - aus nachstehenden Erwägungen nicht zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten:

Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie zufolge kann unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die staatliche Strafverfolgung in der Regel keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn dar. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (VwGH 20.12.2016, Ra 2016/01/0126; 27.05.2015, Ra 2014/18/0133).

Im Gegenstand wurden wider den Erstbeschwerdeführer zwar ein Strafverfahren eröffnet, er wurde jedoch nicht (und schon gar nicht rechtskräftig) zu einer bestimmten Strafe verurteilt. Schon deshalb kann zum Entscheidungszeitpunkt keine Rede davon sein, dass der Erstbeschwerdeführer einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung ausgesetzt ist. Erwiesen ist die Führung eines Strafverfahrens ab dem Jahr 2012 wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubten Besitzes von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffneter Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, sowie der Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer zuletzt - trotz dieses Verfahrens - im Juni 2020 freigelassen wurde und dieses Strafverfahrens noch unerledigt (in erster Instanz) anhängig sind. Wie in der Beweiswürdigung erläutert, wurden in den bisherigen Strafverfahren - soweit ersichtlich - bislang die Grundsätze der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit gewahrt. Den früheren Strafverfahren liegen - soweit ersichtlich - Anklagen der zuständigen türkischen staatsanwaltschaftlichen Behörden zugrunde, sodass auch der Grundsatz des Anklageprozesses gewahrt ist. Verstöße gegen die Geschäftsverteilung wurden im Verfahren nicht behauptet. Die Unabhängigkeit der türkischen Gerichte wird zwar in Berichten kritisiert, allerdings betreffen diese Berichte im Wesentlichen die Vorfälle nach dem versuchten Militärputsch im Jahr 2016 und den daran anschließenden Entlassungen tatsächlicher oder vermeintlicher Anhänger des Fethullah Gülen aus dem Beamtenapparat. Da der Erstbeschwerdeführer im Hinblick auf den versuchten Militärputsch im Jahr 2016 und die Gülen-Bewegung nicht verdächtig erscheint, sind keine dahingehenden Nachteile zu befürchten. Dazu tritt, dass das zentrale Verfahren bereits im Jahren 2012 eingeleitet wurde, als von einer Verfolgung von Gülen-Anhängern ebenso wenig die Rede war.

Es wurde darüber hinaus in der Türkei aufgrund der wider den Erstbeschwerdeführer erhobenen Anklagen - soweit ersichtlich bzw. das Verfahren überhaupt bereits ein entsprechendes Stadium erreicht hat - ein Beweisverfahren eingeleitet und dem Erstbeschwerdeführer Gehör gewährt. Er war in mehreren Strafverfahren rechtsanwaltlich vertreten und es kommt ihm unstrittig das Recht zu, gegen eine allfällige für ihn nachteilige Entscheidung Rechtsmittel bis hin zum letztinstanzlich zuständigen türkischen Kassationsgerichtshof zu erheben. Eine Verletzung des Erstbeschwerdeführers in seinem Recht auf Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung ist ebenso nicht erkennbar. Der Erstbeschwerdeführer war nach seiner Enthaftung in der Lage, neuerlich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und verbrachte zuletzt - abgesehen von einem kurzzeitigen Aufenthalt in der Ukraine samt anschließender freiwilliger Rückkehr - noch ca. ein dreiviertel Jahr nach der Entlassung aus der Haft im Herkunftsstaat. Eine mit unverhältnismäßigen Mittel geführte oder diskriminierende Strafverfolgung kann das Bundesverwaltungsgericht vor diesem Hintergrund nicht erkennen.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann zusammenfassend schon in Anbetracht des Umstandes, dass das wider den Erstbeschwerdeführer geführte Strafverfahren zum Entscheidungszeitpunkt zu keiner gerichtlichen Bestrafung geführt hat, nicht von einem ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Erstbeschwerdeführers gesprochen werden. Die Erhebung einer Anklage und die Notwendigkeit, am Strafverfahren mitzuwirken, ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, der eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen darstellt.

Die Führung des Strafverfahrens bildet per se keine Grundlage für freiheitsentziehende Maßnahmen und es bestehen keine Hinweise für eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung. In Anbetracht des aus den vorgelegten Unterlagen jeweils ersichtlichen Verfahrensgangs ist davon auszugehen, dass die wider den Erstbeschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt wurden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können - von den subjektiven Befürchtungen des Erstbeschwerdeführers abgesehen - auch keine greifbaren Hinweise erkannt werden, dass der Erstbeschwerdeführer in seinem Verfahren jedenfalls zur Gänze schuldig gesprochen und zu einer langjährigen und in Isolationshaft zu verbüßenden Strafe verurteilt würde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine verlässliche Prognose über den Ausgang des Strafverfahrens vielmehr kaum möglich. Das Bundesverwaltungsgericht geht indes - wie bereits erörtert - aufgrund der Entlassung des Erstbeschwerdeführers aus der Haft und der unterbliebenen Fällung eines Abwesenheitsurteils davon aus, dass dem Erstbeschwerdeführer nicht mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, unerlaubten Besitzes von gefährlichen Stoffen, Sachbeschädigung am öffentlichen Eigentum, Widerstand gegen die Staatsgewalt und unbewaffneter Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser, droht (zur Bedeutung des Kriteriums der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit VwGH 13.09.2016, Ra 2016/01/0054 mwN). In jedem Fall kann von einem Schauprozess, der nur einer willkürlichen Bestrafung des Erstbeschwerdeführers für politische Aktivitäten dienen sollte, aufgrund der vorgenannten Umstände keine Rede sein. Die Möglichkeit der Erhebung eines Rechtsmittels wurde dem Erstbeschwerdeführer darüber hinaus bereits einmal eingeräumt, was für ein funktionierendes Justizsystem spricht.

Abseits dessen erachtet das Bundesverwaltungsgericht das Strafverfahren des Erstbeschwerdeführers per se nicht als staatliche Verfolgung in asylrelevanter Form ("persecution"), sondern als strafrechtlich legitimiertes Vorgehen ("prosecution").

Zwar ist der Erstbeschwerdeführer grundsätzlich als Sympathisant der HDP bzw. deren Vorgängerorganisation(en) Anhänger einer oppositionellen politischen Gesinnung gegenüber der türkischen Regierung, jedoch ergibt sich aus dem von ihm in Vorlage gebrachten Gerichtsakten der türkischen Justizorgane, dass die Strafverfahren in zumindest nachvollziehbarer Weise unter Zugrundelegung zahlreicher Beweismittel und Offenlegung der maßgebenden strafrechtlichen erfolgte. Die bislang erfolgten Verfahrensschritte stellen sich nicht als willkürliche Handlungen dar, sondern als solche, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dienen sollten. Ohne eine Beurteilung der Schuld des Erstbeschwerdeführers vorzunehmen - eine solche Beurteilung obliegt der türkischen Strafjustiz und ist ohne vollständige Kenntnis der Akten und der vollständigen Ergebnisse der noch durchzuführenden gerichtlichen Verfahrensschritte nicht möglich - lässt sich aus den den vorliegenden Unterlagen entnehmbaren strafrechtlichen Bestimmungen jedenfalls nicht ableiten, dass es den verhängten Sanktionen an jeglicher Verhältnismäßigkeit fehlt.

Es sind im gegenständlichen Verfahren wie vorstehend im Rahmen der Beweiswürdigung erörtert keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass das Vorgehen der türkischen Strafjustiz aus dem - unsachlichen - Motiv heraus erfolgt, den Erstbeschwerdeführer für politische Aktivitäten (oder aus anderen unsachlichen Motiven heraus) bestrafen zu wollen. Die von ihm selbst vorgelegten Urkunden der Strafverfahren lassen keine Unregelmäßigkeiten in der Verfahrensführung erkennen. Da das gegenständliche Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, ist außerdem möglich, dass der Erstbeschwerdeführer freigesprochen wird und im Ergebnis überhaupt kein Ansatzpunkt für eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung verbleibt. Dass der Erstbeschwerdeführer im Jahr 2020 aus einer längeren Haft entlassen wurde, spricht tendenziell eher dafür, dass kein dringender Tatverdacht mehr erkannt wird. An dieser Stelle ist nochmals hervorzuheben, dass der Erstbeschwerdeführer ausweislich der vorlegten Urkunden jeweils auch bereits in der Vergangenheit Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren einschließlich rechtsfreundlicher Unterstützung und - soweit bereits schlagend - auch Zugang zum jeweiligen Rechtsmittel genoss. Die Umstände der Strafverfahren lassen demnach keinen Schluss auf eine auf unlauteren Motiven beruhende oder diskriminierende Strafverfolgung zu. Da der Erstbeschwerdeführer vor seiner Inhaftierung keine erwähnenswerten oppositionspolitischen Aktivitäten entfaltete und insbesondere nicht in hervorgehobener Position in Erscheinung trat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Erstbeschwerdeführers erfolgte.

Auch würde eine Verurteilung des Erstbeschwerdeführers nach Art. 314 Abs. 2 und 3 ("Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation") iVm Art. 220 Abs. 6 türkisches StGB in Anbetracht der Strafdrohung von fünf bis zehn Jahren Haft keine unverhältnismäßige Bestrafung darstellen, sodass auch eine allfällige Bestrafung - die freilich gegenwärtig nicht als absehbar und auch nicht als mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretend gesehen werden kann - als solche Asylrelevanz entfalten oder eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde.

An vergleichbaren Delikten sieht das österreichische Strafgesetzbuch in der geltenden Fassung BGBl. I Nr. 70/2018 zunächst in § 278b Abs. 2 die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vor, wobei eine strenge Sanktion in Form einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren normiert ist. § 278c Abs. 1 und 2 StGB sieht ferner eine Erhöhung des Höchstmaßes diverser Strafrahmen um die Hälfte vor, wenn die jeweilige Tat als terroristische Straftat begangen wird. Eine terroristische Straftat liegt gemäß § 278c Abs. 1 letzter Satz StGB vor, wenn die Tat geeignet ist, eine schwere oder längere Zeit anhaltende Störung des öffentlichen Lebens oder eine schwere Schädigung des Wirtschaftslebens herbeizuführen, und mit dem Vorsatz begangen wird, die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern, öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu erschüttern oder zu zerstören.

Ausgehend davon kann es das Bundesverwaltungsgericht nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung ansehen, wenn in der Türkei die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation bzw. die Begehung von Straftaten mit dem Ziel der Förderung und Unterstützung dieser oder in ihrem Namen grundsätzlich unter Strafe gestellt ist und derartige Aktivitäten als terroristische Straftaten geahndet werden.

Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafdrohung wird im Rahmen des hier anzustellenden Vergleichs mit der im Bundesgebiet geltenden Rechtslage (§ 278a StGB "Kriminelle Vereinigung": Freiheitsstrafe von 6 Monaten - 5 Jahren; § 278b StGB "Terroristische Vereinigung": Freiheitsstrafe von 1 - 10 Jahren; 278c StGB "Terroristische Straftat": Überschreitung der Strafdrohung der Höchststrafe für das Grunddelikt um die Hälfte, max. zeitlich begrenzte Haftstrafe 20 Jahre) in einer Zusammenschau mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des türkischen Staates, sowie eines besonderen generalpräventiven Bedürfnisses im Hinblick auf das Bestreben, Straftaten mit terroristischen Hintergrund zu verhindern, davon ausgegangen, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen nicht unverhältnismäßig sind.

Das türkische Strafgesetzbuch sieht ferner für „Sachbeschädigung“ (Art. 151 türkisches StGB) eine Strafdrohung mit Freiheitsstrafe von vier Monaten bis zu drei Jahren vor, wobei sich bei Erfüllung gewisser Qualifikationen einerseits die Strafdrohung nach Art. 152 Abs. 1 türkisches StGB auf ein Jahr bis zu vier Jahre erhöht und anderseits die Strafe nach Art. 152 Abs. 2 türkisches StGB um das Einfache erhöht (vgl. die Übersetzung https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-REF(2016)011-e , zur Verfügung gestellt vom Europarat). § 125 StGB sieht demgegenüber bei Sachbeschädigung eine Strafdrohung mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen, im Fall einer schweren Sachbeschädigung nach § 126 Abs. 1 StGB eine Strafdrohung mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren und nach § 126 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor, sodass die entsprechende Strafdrohung in der Türkei ebenfalls nicht unverhältnismäßig erscheint.

Art. 265 des türkischen Strafgesetzbuchs sieht des Weiteren in den Fällen von Widerstand gegen die Staatsgewalt in seinem Abs. 1 eine Strafdrohung von sechs Monaten bis zu drei Jahren Freiheitsentzug vor, allenfalls kommt eine um ein Drittel erhöhte Strafe nach Abs. 3 oder um die Hälfte erhöhte Strafe nach Abs. 4 in Betracht (vgl. die Übersetzung https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-REF(2016)011-e , zur Verfügung gestellt vom Europarat). Dem Erstbeschwerdeführer droht daher auch diesbezüglich keine unverhältnismäßige Bestrafung, sieht doch § 269 des österreichischen Strafgesetzbuchs für ein vergleichbares Delikt ebenfalls eine Strafdrohung von bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bzw. in einem qualifizierten Fall von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug vor.

Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der weiteren Strafdrohungen (Artikel 174 türkisches Strafgesetzbuch „Besitz oder Austausch von gefährlichen Stoffen ohne Erlaubnis“: Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu acht Jahren und gerichtliche Geldstrafe von bis zu fünftausend Tagen sowie bei Erfüllung gewisser Qualifikationen Erhöhung der Strafe um die Hälfte, (vgl. die Übersetzung https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-REF(2016)011-e , zur Verfügung gestellt vom Europarat) und Artikel 32 des türkischen Gesetzes Nr. 2911 über Versammlungen und Demonstrationen „Unbewaffnete Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Demonstrationen sowie trotz Warnungen, keine freiwillige Auflösung dieser“: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre und eine Geldstrafe bis zu türkische Lira 30.000,00 (vgl. https://stockholmcf.org/12-people-face-up-to-3-years-in-prison-over-bogazici-protests/ ) geht das Bundesverwaltungsgericht schließlich im Rahmen eines Vergleichs mit der österreichischen Rechtslage (exemplarisch: § 175 StGB „Vorbereitung eines Verbrechens durch Kernenergie, ionisierende Strahlen oder Sprengmittel": Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, §§ 19f Versammlungsgesetz: bei Verstößen gegen das Versammlungsgesetz Verwaltungsstrafen bis zu sechs Wochen Arrest oder bis zu 720 Euro Geldstrafe und bei Teilnahme an einer Versammlung unter Verstoß gegen das Vermummungsverbot und das Bewaffnungsverbot Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen, im Wiederholungsfall Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen), ebenfalls davon aus, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen nicht unverhältnismäßig sind. Diese angeführten Strafbestimmungen in Österreich sind zwar nicht deckungsgleich, weshalb hier anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen wäre, ob eine unverhältnismäßige Bestrafung vorliegen könnte. Die Umstände des Einzelfalles können aber hier nicht festgestellt werden, zumal weder absehbar ist, ob ein (gänzlicher oder teilweiser) Schuldspruch erfolgt, ob ein Verhalten kriminalisiert wird, das auch im Bundesgebiet strafrechtlich geahndet würde, noch welche Strafe dafür allenfalls verhängt werden würde. In Ermangelung dahingehender Anhaltspunkte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass diese türkischen Strafbestimmungen bzw. der Strafrahmen des türkischen Strafgesetzes unverhältnismäßig wären und begründen diese Bestimmungen für sich ebenso wenig eine asylrelevante Verfolgung.

Dass das türkische Strafgesetzbuch allgemein anstelle des in Österreich verwirklichten Absorptionsprinzips das Kumulationsprinzip in Verbindung mit Höchststrafen (zB Art. 61 Abs. 7 tStGB und insbesondere Art. 68 Abs. 1 tStGB, der höchstzulässige Gesamtstrafen ausgehend von den Strafdrohungen der einzelnen Delikte normiert) vorsieht, ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts schließlich ebenfalls nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung anzusehen, zumal das Kumulationsprinzip etwa im Verwaltungsstrafrecht auch im Bundesgebiet verwirklicht ist. Die Strafzumessung trifft ferner sämtliche türkischen Staatsbürger unterschiedslos und ist damit keine diskriminierende Maßnahme und sieht schließlich - wie bereits erwähnt - Art. 68 Abs. 1 tStGB höchstzulässige Gesamtstrafen ausgehend von den Strafdrohungen der einzelnen Delikte, vor, sodass insgesamt von einem im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum gelegenen System gesprochen werden kann. Freiheitsstrafen können im Übrigen nur nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dann in ein Spannungsverhältnis zu Art. 3 EMRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl. statt aller EGMR U 4.9.2014, Trabelsi gegen Belgien, Nr. 140/10). Der OGH hat diesbezüglich in seiner Entscheidung vom 09.09.2003, 14 Os 30/03, selbst eine Gesamthaftstrafe von 845 Jahren, die aufgrund des Kumulationsprinzips zustande kam und weit über der Obergrenze des im ausliefernden Staat vorgesehenen Strafrahmens liegt, aufgrund der Umstände der Tatbegehung nicht als unmenschlich oder erniedrigend im Sinn des Art 3 MRK angesehen.

Fragen des geeigneten Strafmaßes liegen der Rechtsprechung zufolge (EGMR U 17. 1. 2012, Vinter gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 66.069/09; U 17. 1. 2012, Harkins und Edwards gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9146/07, 32650/07; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 20 Rz 30 f und 42 ff; Meyer-Ladewig, EMRK3 Art 3 Rz 57 und 62) auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention und es wird nach der Rechtsprechung des EGMR insoweit ein großer Beurteilungsspielraum der unterschiedlichen Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage akzeptiert, soweit nicht die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung drohen (siehe dazu im Detail OGH 16.05.2012, 14 Os 41/12d). Davon kann im gegenständlichen Fall keine Rede sein.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass schon in Anbetracht des Umstandes, dass wider den Erstbeschwerdeführer allenfalls erst eine Anklage vorliegt und das Strafverfahren (in erster Instanz) anhängig ist nicht von einem ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Erstbeschwerdeführers gesprochen werden kann. Zum Entscheidungszeitpunkt liegt kein (und schon gar kein rechtskräftiges) Strafurteil wider den Erstbeschwerdeführer dar, das Grundlage für eine freiheitsentziehende Maßnahme oder eine andere Form der Bestrafung ist. Schon deshalb kann begrifflich keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Erstbeschwerdeführers erkannt werden.

Abseits dessen erachtet das Bundesverwaltungsgericht das anhängigen Strafverfahren aus den erörterten Gründen nicht als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung und damit nicht als zur Gewährung des Status des Asylberechtigten führende Verfolgung, sondern als strafrechtlich legitimiertes Vorgehen, eine von der zuständigen staatsanwaltschaftlichen Behörde allenfalls erhobene Anklage vom Gericht klären zu lassen und insbesondere die Frage der Schuld des Angeklagten in einem solchen strafgerichtlichen Verfahren zu prüfen. Die wesentlichen Verfahrensgrundsätze wurden dabei - wie bereits mehrfach erwähnt - eingehalten und es stünde für den gegenwärtig nicht absehbaren Fall einer erstinstanzlichen Verurteilung darüber hinaus die Möglichkeit einer (erneuten) Überprüfung des Urteils in einer übergeordneten Instanz im Wege von Rechtsmitteln zur Verfügung. Auch deshalb liegt keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung in Ansehung des Erstbeschwerdeführers vor. Schließlich stellen sich die in Rede stehenden Rechtsvorschriften bei einer abstrakten Betrachtung - soweit hier möglich - auch nicht als unverhältnismäßig dar.

Abschließend ist auch auf nachfolgend angeführte Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs, in welchen auch wider den jeweiligen Beschwerdeführer anhängige/geführte Strafverfahren in der Türkei thematisiert werden, zu verweisen. In diesen Entscheidungen wurden in ähnlich gelagerten Fällen gegen Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts eingebrachte Revisionen zurückgewiesen: Vgl. etwa VwGH Ra 2020/14/0531 vom 14.08.2023, Ra 2022/14/0326 vom 22.12.2022, Ra 2021/01/0366 vom 30.06.2022, Ra 2021/19/0048 vom 08.03.2022 und Ra 2018/19/0487 vom 25.09.2019.

3.1.6. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin konnten ihren vorgebrachten Fluchtgrund, dass sie wegen des politischen/kämpferischen Engagements der Schwester der Zweitbeschwerdeführerin - als Teil der Volksverteidigungskräfte (bewaffneter Arm der PKK) - für die kurdischen Belange bedroht und/oder verfolgt worden seien, ebenso wenig glaubhaft machen, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, auch insoweit nicht vorliegt.

3.1.7. Die Furcht vor der Ableistung des Militärdiensts stellt grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar, ebenso wenig wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdiensts oder wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht weder fest, wann und an welchem Ort der BF1 eingezogen würde.

Zur Vollständigkeit erlaubt sich die erkennende Richterin dennoch festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen ist, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Zl. 93/01/0377; VwGH 21.08.2001, Zl. 98/01/0600; 11.10.2000, Zl. 2000/01/0326).

Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrundeliegenden Sachverhalts kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf Grundlage der bestehenden Rechtslage, insbesondere in dem Erkenntnis eines verstärkten Senats zur Zl. 93/01/0377 niedergelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, Zl. 95/01/0104). Nach der zitieren Entscheidung lässt etwa der Umstand, dass der Asylwerber einberufen werden soll, keine Rückschlüsse darauf zu, dass er auf diese Weise eine individuell gegen ihn gerichtete, staatlichen Behörden seines Heimatlandes zuzurechnende Verfolgung aus Konventionsgründen zu erwarten hat.

Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine Form politischer Verfolgung dar, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente noch nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt und wurde vom Erstbeschwerdeführer eine derartige Befürchtung auch nicht dargetan.

Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (siehe hiezu auch die einschlägige Spruchpraxis deutscher Gerichte, etwa OVG NRW 19.04.2005, 8 A 273/04.A; Sächsisches OVG 07.04.2016, 3 A 557/13.A; VG Aachen 05.03.2018, 6 K 3554/17.A). Im Übrigen ist schon deshalb von keiner Gefahr in Zusammenhang mit einer Wehrdienstverweigerung auszugehen, da der Erstbeschwerdeführer nicht dargelegt hat, durch Erklärung gegenüber den türkischen Behörden den Wehrdienst verweigert zu haben.

Der Umstand der Wehrpflicht und der Strafbarkeit der Wehrpflichtentziehung in der Türkei allein ist ferner nicht als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des Art. 15 Abs. 2 EMRK anzusehen, weil sich Art. 15 Abs. 2 EMRK nur auf Art. 4 Abs. 1 EMRK, nicht aber auch auf Art. 4 Abs. 2 iVm Abs. 3 lit. c EMRK bezieht. Auch ist nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Dienstes in asylerheblicher Weise benachteiligt würden. Bei einer Querschnittsbetrachtung der Quellen ist festzuhalten, dass Hinweise auf eine systematische Diskriminierung kurdischer Rekruten oder gar auf systematische Übergriffe bis hin zum Mord gegen kurdische Rekruten aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit vollkommen fehlen. Bei einer Gesamtwürdigung der Quellen ist sohin der Schluss geboten, dass eine dem türkischen Staat zurechenbare asylerhebliche Verfolgung kurdisch-stämmiger Rekruten nicht stattfindet, wiewohl Einzelfälle von Übergriffen oder Suiziden dokumentiert sind und demnach auch vereinzelt derartiges stattfindet. Derartige vereinzelte Vorfälle bei der Ableistung des Wehrdiensts können jedoch nicht ausgeschlossen werden. Dennoch handelt es sich bei solchen tragischen Ereignissen um Einzelfälle, bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung der vorliegenden Länderfeststellungen kann jedoch – wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung erörtert - nicht erkannt werden, dass dem Erstbeschwerdeführer deshalb bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Zuge der Ableistung seines Militärdiensts in Form von Übergriffen oder Misshandlungen drohen würde.

In seinem Urteil vom 26.02.2015 in der Rechtssache C-472/13 erkannte der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit der Strafverfolgung und Bestrafung, die einem Asylwerber in seinem Herkunftsland aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes drohen würden, eine Prüfung voraussetzt, ob ein solches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann (Rz 50).

Zu den Gründen, die es rechtfertigen, den Wehrdienst zu verweigern, wird unter anderem gezählt, dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der Statusrichtlinie fallen, also etwa Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen werden. Eine Strafverfolgung oder Bestrafung kann in diesem Fall nach Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie als Verfolgung gelten. Der EuGH hat in dem zuvor bereits zitierten Urteil Shepherd klargestellt, dass sich auf den Flüchtlingsschutz nicht nur derjenige berufen kann, der den Wehrdienst verweigert, weil er persönlich solche Verbrechen begehen müsste.

Es reicht vielmehr aus, dass der Betroffene an solchen Verbrechen nur indirekt beteiligt wäre, etwa weil er nicht zu den Kampftruppen gehört, sondern z.B. einer logistischen oder unterstützenden Einheit zugeteilt ist. Allerdings ist nach den Darlegungen des EuGH erforderlich, dass es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass der Betroffene sich bei der Ausübung seiner Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müsste (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0330).

Ein Zwang zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kann ebenfalls nicht erkannt werden, zumal den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Berichten keine Hinweise dahingehend entnommen werden konnten, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. Es ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts auch nicht damit zu rechnen, dass unerfahrene Wehrpflichtige zu Kampfeinsätzen herangezogen werden. In Ansehung des Erstbeschwerdeführers kann das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls kein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhtes Risiko einer Teilnahme an Kampfhandlungen erkennen. Dass die türkischen Streitkräfte zum Entscheidungszeitpunkt bei Kampfhandlungen massive Verluste und getötete Wehrpflichtige erleiden würden ist in Anbetracht der Berichtslage jedenfalls auszuschließen.

In diesem Zusammenhang ist noch ergänzend festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung auch nicht aus den in der Beweiswürdigung erörterten Gründen glaubhaft dargelegt hat, inwieweit er eine Gesinnung vertrete, die ihm eine Ableistung des Wehrdiensts – aus Gewissensgründen – unzumutbar mache. Das Vertreten einer allgemeinen liberalen Gesinnung und der Wunsch, nicht kämpfen zu wollen im Allgemeinen ist zu wenig (vgl. dazu AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss abgelehnt, vgl. VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3).

3.1.8. Die Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen der HDP und die Übernahme von nicht näher präzisierten Hilfstätigkeiten durch den BF1 vermögen – ebenso wie die Sympathie der BF2 und der anderen Familienangehörigen der Beschwerdeführer für diese Partei - auf Basis der im Verfahren herangezogenen Erkenntnisquellen zur Lage in der Türkei keine maßgeblich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr darzutun. Die HDP ist ungeachtet der Repressalien gegen ihre leitenden Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker aktuell eine in der Türkei erlaubte politische Partei, die im türkischen Parlament und auch auf kommunaler Ebene vertreten ist. Die bloße Sympathie der erwachsenen Beschwerdeführer und deren Familien für und die Ausübung einfacher Hilfstätigkeiten bei der HDP durch den BF1 stellt demgemäß keine Straftat dar und ergibt sich aus den herangezogenen Quellen auch keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuelle Gefährdung oder drohende strafrechtliche Verfolgung alleine aufgrund des Besuchs von Veranstaltungen und Aufmärschen der HDP und der Übernahme von den zuvor genannten Hilfstätigkeiten. Die zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern und sind damit nicht geeignet, eine gegenwärtige individuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgung einfacher Sympathisanten/Unterstützer der HDP in der Türkei darzutun. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren weder in leitender Stellung bei dieser Partei tätig, noch deren Abgeordnete, Bürgermeister oder anderweitige Funktionsträger. Vielmehr kann nicht erkannt werden, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin politisch besonders exponierten. Dass andere Personen als leitende Funktionäre, Abgeordnete, Kommunalpolitiker der HDP oder Funktionsträger von Strafverfolgung betroffen wären, lässt sich aus den vorliegenden Berichten nicht ableiten. Die behauptete Verfolgung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin alleine aufgrund ihrer Unterstützung der HDP ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar.

3.1.9. Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche aktuelle Anhängerschaft hinsichtlich des BF1 und der BF2 nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Darüber hinaus leben Familienangehörige der Beschwerdeführer mit ebenfalls kurdischer Abstammung nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in der Provinz Mersin, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb den Beschwerdeführern aufgrund ihrer kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen beispielsweise die Eltern und Geschwister des BF1 und der BF2 nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Begegnung in der Türkei, sind der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin darüber hinaus nicht betroffen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).

Was ihre Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft eben nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Allgemeine Schwierigkeiten (wie Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa während der Schulzeit, beim Verwenden der kurdischen Sprache oder bei Straßenkontrollen) erfüllen dieses Kriterium nicht.

Im gegebenen Kontext ist außerdem maßgeblich, dass beispielsweise eine bloße Nachfrage durch Organe eines öffentlichen Sicherheitsdiensts nach dem Aufenthaltsort einer Person oder die Aufforderung, bei einer bestimmten Dienststelle oder einer anderen Behörde vorzusprechen oder polizeiliche Kontrollen, aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts per se keine Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist als Verfolgung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Dass der Erstbeschwerdeführer und/oder die Zweitbeschwerdeführerin Opfer derart gravierender Diskriminierungen aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit wurden, haben sie nicht glaubhaft vorgebracht. Befragungen im Zuge polizeilicher Ermittlungen stellten nach der Rechtsprechung – selbst wenn sich die betroffene Person durch diese Ermittlungen schikaniert gefühlt haben mag – in ihrer Gesamtheit keine asylrelevanten Verfolgungshandlungen dar (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

3.1.10. Aus den Feststellungen in Zusammenschau mit der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts folgt des Weiteren, dass sich der Erstbeschwerdeführer durch seine in der Vergangenheit unmaßgebliche Beteiligung an den Vereinsaktivitäten - er postete einzig in der Vergangenheit in den sozialen Medien Aufnahmen von Konzerten im Zuge von Newroz-Feierlichkeiten, an denen er mit seinem Kind teilnahm - mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine Position brachte, in der er für türkische Behörden als auffällig regimekritisch oder gar im Sinne der innerstaatlichen Gesetzgebung als des Separatismus oder Terrorismus Verdächtiger anzusehen wäre und daher mit entsprechender Verfolgung zu rechnen hätte. Dem Erstbeschwerdeführer droht daher auch wegen seines Aufsuchens von Konzerten eines kurdischen Kulturvereins in Österreich in seinem Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Verfolgung iSd § 3 Abs. 1 AsylG.

3.1.11. Nach den Länderfeststellungen sind Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland nicht bekannt. Allein der Umstand, dass eine Person (im Ausland) einen Asylantrag gestellt hat, löst bei der Rückkehr in die Türkei keine staatlichen Repressionen aus. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Eine Person wird in Polizeigewahrsam genommen und verhört, wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist. Wenn auf Grund eines Eintrags festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise hingegen festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Nachteilige Folgen für den Fall einer Rückkehr nach einer erfolglosen Asylantragstellung sind den herangezogenen umfassenden Länderfeststellungen hingegen nicht zu entnehmen. Insoweit erübrigt es sich auch weitergehende Ermittlungen diesbezüglich anzustellen.

 

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, war in der Folge davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung im gegebenen Fall nicht existent ist.

 

In einer Gesamtschau sämtlicher Umstände und mangels Vorliegens einer aktuellen Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund war die jeweilige Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des BFA abzuweisen. Dies auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Beschwerdeführer auch aus dem Verfahren ihrer jeweiligen Familienangehörigen keinen derartigen Status ableiten können, da deren Beschwerden mit Erkenntnis des heutigen Tages im Ergebnis ebenfalls gleichlautend entschieden wurden.

 

3.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hat die Behörde einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z1), wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine "reale Gefahr" einer Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben), Art 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 (Abschaffung der Todesstrafe) zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung nach § 7 zu verbinden (Abs 2 leg cit). Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht (Abs 3 leg cit).

 

Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).

Unter "realer Gefahr" ist in diesem Zusammenhang eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH 99/20/0573 v. 19.2.2004 mwN auf die Judikatur des EGMR. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller "Beweise" zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).

3.2.2. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Beweisverfahrens kann nicht angenommen werden, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland einer existentiellen Gefährdung noch einer sonstigen Bedrohung ausgesetzt sein könnten, sodass die Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten würde. Eine Gefährdung durch staatliche Behörden bloß aufgrund des Faktums der Rückkehr ist nicht ersichtlich, auch keine sonstige allgemeine Gefährdungslage durch Dritte.

Die Beschwerdeführer haben weder eine lebensbedrohende Erkrankung noch einen sonstigen auf ihre jeweilige Person bezogenen "außergewöhnlichen Umstand" behauptet oder bescheinigt, der ein Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG darstellen könnte. Die Beschwerdeführer sind gesund bzw. nicht behandlungsbedürftig. Folglich legten sie auch in der mündlichen Verhandlung am 30.08.2023 im Hinblick auf ihren gesundheitlichen Zustand einzig dar, dass die BF2 im ersten Trimester schwanger sei. Gesundheitliche Probleme erwähnten sie ansonsten nicht.

In der Türkei erfolgen weder grobe, massenhafte Menschenrechtsverletzungen unsanktioniert, noch ist nach den seitens des Bundesverwaltungsgerichts getroffenen Feststellungen von einer völligen behördlichen Willkür auszugehen ist, weshalb auch kein "real Risk" (VwGH vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582; VwGH 09.04.2008, 2006/19/0354) einer unmenschlichen Behandlung festzustellen ist.

In Bezug auf die Verpflichtung der Ableistung des Militärdiensts ergibt sich aus den getroffenen Länderfeststellungen, dass für Personen welche den Wehrdienst unentschuldigt nicht abgeleistet haben, die Möglichkeit besteht, dass diese im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit einem Verfahren nach Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuchs zu rechnen haben und ihnen in diesem Verfahren eine dort genannte Gefängnisstrafe drohen könnte. Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuchs ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Es ist daher möglich, dass der BF1 im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit einem Verfahren vor einem türkischen Militärgericht nach Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuchs zu rechnen hat, und ihm in diesem Verfahren subsidiär eine Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten drohen könnte. Nachdem der Erstbeschwerdeführer eine allfällige Haftstrafe abgebüßt hat, wird er seinen Wehrdienst ableisten müssen, ein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt es nicht. Dies alles ergibt sich aus den getroffenen Länderfeststellungen sowie dem Amtswissen. Dass die Haftstrafe in Vollstreckung einer (auch real drohenden) Haft zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führt, ist nicht zu erkennen, da sich dies aus den Länderberichten nicht hinreichend ergibt. Der Erstbeschwerdeführer brachte zwar in der mündlichen Verhandlung – unter Verweis auf den Tod seiner Schwägerin - lapidar vor, dass „sie“ gegen den Krieg seien, wobei der Militärdienst in der der Türkei nicht wie in Europa sei, zumal dort Krieg geführt werde (VH-Schrift, S 7), er hat dies jedoch in keiner Art und Weise nach außen getragen. Insoweit ist davon auszugehen, dass kein reales Risiko einer relevanten Menschenrechtsverletzung im Zusammenhang mit der Ableistung des Wehrdiensts gegeben ist. Es wird nicht verkannt, dass Personen, welchen aus Sicht des Militärs eine oppositionelle Gesinnung vorzuwerfen ist - etwa weil sie bei oppositionellen Gruppen tätig waren oder nicht hinreichend Türkisch sprechen -, durchaus in Gefahr schweben können, unmenschlich und erniedrigend behandelt zu werden; eine allgemeine Gefahr - als ein auch den Erstbeschwerdeführer treffendes reales Risiko einer relevanten Verletzung der Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK unterworfen zu werden - ist aber im gegebenen Fall nicht zu sehen. Bei Würdigung sämtlicher Umstände ist sohin ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten Rechte während einer gegebenenfalls drohenden Haft wegen der Wehrdienstverweigerung oder während des Wehrdiensts im vorliegenden Fall nicht zu erkennen, das ergibt sich sowohl aus dem Amtswissen als auch aus den Länderdokumenten, denen der Erstbeschwerdeführer nicht hinreichend entgegengetreten ist.

 

Letztlich ist festzustellen, dass weder aufgrund der Verpflichtung zur Ableistung des Militärdiensts noch aus der den BF1 zu erwartenden Bestrafung wegen der bisherigen Weigerung der Ableistung des Militärdiensts ein im Lichte des § 8 AsylG bzw. § 50 FPG beachtlicher Sachverhalt mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann.

 

Da sich der Herkunftsstaat der Beschwerdeführer nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts befindet, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konflikts besteht.

 

Die Sicherheitslage in der Türkei ist zwar als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Die Beschwerdeführer haben diesbezüglich indes nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wären. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.

 

Die Beschwerdeführer stammen aus der Provinz Mersin an der Mittelmeerküste der Türkei. Betreffend die Sicherheitslage in der Provinz Mersin ist mit Blick auf die individuelle Situation der Beschwerdeführer zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstands zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, der TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), des sog. Islamischen Staates und im geringen Ausmaß der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi). Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.

Die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak können den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den angrenzenden türkischen Gebieten haben, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert. Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April die sog. Operation „Claw Lock“). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten. Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten. Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2021 346 Personen, innerhalb und außerhalb [Anmerkung: Grenzgebiete zu Irak und Syrien] der Türkei bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon mindestens 69 Angehörige der Sicherheitskräfte 275 bewaffnete Militante und acht Zivilisten. Die International CrisisGroup (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 6.561 Tote (4.310 PKK-Kämpfer, 1.414 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [983], aber auch 304 Polizisten und 127 sog. Dorfschützer - 611 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum 20.7.2015 bis 3.3.2023. Betroffen waren insbesondere die Provinzen Şırnak (1.185 Tote), Hakkâri (929 Tote), Diyarbakır (667 Tote), Mardin (444), die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (293) [Anm.: kurdisch-alevitisches Kernland] und Van (248 Tote), wobei 1.479 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2022 wurden 434 Todesopfer (2021: 392, 2020: 396) registriert, was einem Zuwachs von mehr als 10 % im Vergleich zu den beiden Vorjahren ausmacht. Vorab ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Provinz Mersin, in welcher die Beschwerdeführer die letzten Jahre vor der Ausreise lebten, deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen aktuell regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Eine individuelle Betroffenheit der Beschwerdeführer von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach – schon in Anbetracht ihres Aufenthalts in Mersin weit weg von den unsicheren Provinzen in der Osttürkei – aktuell nicht anzunehmen. Ferner brachten die Beschwerdeführer auch ansonsten nicht vor, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren direkt betroffen gewesen zu sein bzw. geht aus der Berichtslage nicht hervor, dass die Provinz Mersin überhaupt von Kampfhandlungen und/oder Ausgangssperren betroffen war. Zahlreiche Familienangehörige, insbesondere die Eltern und zahlreiche Geschwister des BF1 und der BF2, leben wiederum weiterhin problemlos in ihrer Heimatprovinz Mersin, was unter anderem auch belegt, dass die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Spätsommer 2016 doch deutlich nachgelassen hat. Darüber hinaus haben die Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass sie schon aufgrund ihrer bloßen Präsenz in ihrer Heimatprovinz Mersin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wären.

 

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin weder in diesen verwickelt sind, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehören und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt werden.

 

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang abschließend auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137-14 zur Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, in welchem sich der VwGH mit der Frage einer Rückkehrgefährdung iSd Art. 3 EMRK aufgrund der bloßen allgemeinen Lage (hier: Irak), insbesondere wegen wiederkehrenden Anschlägen und zum anderen einer solchen wegen – kumulativ mit der allgemeinen Lage – zu berücksichtigenden individuellen Faktoren, befasst hat und die Revision gegen das Erkenntnis des BVwG als unbegründet abgewiesen wurde.

 

Es ist unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (gesunde, erwachsene und arbeitsfähige Menschen mit sozialem Netz durch ihre Familienangehörigen in der Türkei, mehrjährige Schulbildung und Berufserfahrung des BF1) nicht ersichtlich, warum den Beschwerdeführern eine Existenzsicherung in der Türkei, auch an anderen Orten bzw. in anderen Landesteilen der Türkei, zumindest durch Gelegenheitsarbeiten, nicht möglich und zumutbar sein sollte. Sie verfügen über ein soziales Netz in der Türkei und ging der BF1 dort vor seiner Ausreise einer beruflichen Tätigkeit nach, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Es wurden keine substantiierten Gründe vorgebracht, weshalb dies nach einer Rückkehr in die Türkei - soweit dies die Betreuung des BF3 und des noch ungeborenen Kindes zulässt auch mit Unterstützung der BF2 - nicht möglich sein sollte. Es wäre dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin letztlich auch zumutbar, durch eigene und notfalls wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. Verwandte, sonstige ihnen schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen – erforderlichenfalls unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung - jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können.

 

Es gibt auch keine entsprechenden Hinweise darauf, dass eine existenzielle Bedrohung der Beschwerdeführer im Hinblick auf ihre Versorgung und Sicherheit in der Türkei gegeben ist.

 

Im Fall der Beschwerdeführer kann bei einer Gesamtschau nicht davon ausgegangen werden, dass sie im Fall einer Rückkehr in die Türkei gegenwärtig einer spürbar stärkeren, besonderen Gefährdung ausgesetzt wären. Die Familien der Beschwerdeführer (etwa Eltern und Geschwister der BF2 und Eltern und Geschwister des BF1) leben nach wie vor in der Türkei und ist somit ein soziales Netz gegeben, in welches sie bei ihrer Rückkehr wieder Aufnahme finden werden. Es ist somit nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer in der Türkei völlig allein und ohne jede soziale Unterstützung wären. Es sind zudem keine Gründe ersichtlich, warum der BF1 und die BF2 als Erwachsene nicht selbst in der Türkei einer Erwerbstätigkeit, wie der BF1 schon vor seiner Ausreise, nachgehen können sollten. Sie sind in der Türkei aufgewachsen, haben dort die überwiegende Zeit ihres Lebens verbracht und der BF1 und die BF2 haben dort für mehrere Jahre die Schule besucht, sie wurden dort sozialisiert und es kam nicht hervor, dass sie in der Türkei keine familiären und privaten Anknüpfungspunkte mehr haben. Die Eltern und Geschwister der BF2 und die Eltern und Geschwister des BF1 leben nach wie vor in der Türkei und ist für ihre Versorgung im Falle der Rückkehr in die Türkei gesorgt.

 

Darüber hinaus stehen den Beschwerdeführern die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von 24 Monaten über monatlich 150 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 1.416 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 315 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 1.124 TL und 1.687 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 3.340 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag).

Beim BF3 handelt es sich um ein minderjähriges Kind, bei welchem es sich um eine besonders vulnerable Person handelt (vgl. dazu etwa die Begriffsdefinition in Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU ), sodass sich das Bundesverwaltungsgericht im Besonderen mit der Lage des BF3 im Rückkehrfall auseinanderzusetzen hat (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0089). In diesem Zusammenhang ist daher nochmals explizit darauf hinzuweisen, dass von einer gesicherten Existenzgrundlage der Eltern des BF3 auszugehen ist, die ein hinreichendes Einkommen für die Familie auch unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des BF3 erwarten lässt, zumal die Eltern - wie bereits ausgeführt - über eine mehrjährige Schulausbildung verfügen und der BF1 auch eine mehrjährige Berufserfahrung vorweisen kann, weshalb nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen werden kann, dass diese einen - allenfalls nicht ihrer Qualifikation entsprechenden - Arbeitsplatz erlangen werden, der den gemeinsamen Aufbau einer bescheidenen Existenz ebenso ermöglicht, wie eine hinreichende Absicherung des minderjährigen Beschwerdeführers in seinen Grundbedürfnissen. Zu beachten ist weiters, dass der Drittbeschwerdeführer und seine Eltern über eine Wohnmöglichkeit beispielsweise bei den Verwandten in der Heimatprovinz verfügen.

Schwierigkeiten bei der Betreuung des minderjährigen Beschwerdeführers in der Türkei sind nicht anzunehmen, zumal von einer Rückkehr des minderjährigen Beschwerdeführers gemeinsam mit seinen Eltern auszugehen ist, sodass die Betreuung und Beaufsichtigung des minderjährigen Beschwerdeführers sichergestellt ist. Darüber hinaus ist in der Herkunftsregion ein familiäres Netzwerk vorhanden, welches ergänzend im Fall der Notwendigkeit für die Kinderbetreuung herangezogen werden könnte, um dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit zu ermöglichen. Eine inadäquate Beaufsichtigung ist daher fallbezogen nicht zu befürchten, zumal der dreieinhalbjährige BF3 - Gegenteiliges wird nicht dargelegt - auch im Bundesgebiet problemlos im Kindergarten verbleibt, weshalb davon auszugehen ist, dass es zu keinen Schwierigkeiten führt, wenn der BF3 zumindest zeitweise von Verwandten in der Türkei beaufsichtigt wird. Es wurden im Hinblick auf die Bedürfnisse des BF3 auch keine sonstigen Rückkehrbefürchtungen substantiiert vorgebracht.

Das vor kurzem stattgefundene Erdbeben und die dabei entstandenen Schäden an Wohngebäuden und Infrastruktur stehen einer Rückkehr der Beschwerdeführer in die Türkei ebenso wenig entgegen. Es handelt sich um keinen landesweiten Katastrophenzustand, der im gesamten Staatsgebiet der Türkei zu einer Gefährdungslage im Hinblick auf die Art. 2 und 3 EMRK führen würde, sondern lediglich um ein lokal begrenztes Phänomen, wobei auf die große internationale Solidarität sowie das junge Alter und die Anpassungs- sowie Erwerbsfähigkeit der beiden erwachsenen Beschwerdeführer hingewiesen wird. Es wurde jedenfalls von den Beschwerdeführern im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht nicht konkret vorgebracht, dass es für diese allein aus diesem Grund ausgeschlossen wäre, sich im Herkunftsstaat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. Hingewiesen wird zudem darauf, dass den Beschwerdeführern die Möglichkeit offen stünde, ihren Wohnsitz überhaupt in einen anderen Landesteil der Türkei zu verlegen, zumal eine Unterkunftnahme in einem anderen Landesteil jedenfalls problemlos möglich ist, wenn auch gewisse Startschwierigkeiten (mit welchen sich jedoch jedermann in vergleichbarer Situation konfrontiert sähe) nicht ausgeschlossen werden können.

 

Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen ansonsten nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhalts gem. Art. 2 und/ oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.

 

Eine durch die Lebensumstände im Zielstaat bedingte Verletzung des Art. 3 EMRK setzt in jedem Fall nach der Rechtsprechung eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr voraus. Die bloße Möglichkeit eines dem Art. 3 EMRK widersprechenden Nachteils reicht hingegen nicht aus, um Abschiebungsschutz zu rechtfertigen (VwGH vom 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174, EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09, zuletzt VwGH 10.03.2021, Ra 2021/19/0060). Nach der derzeitigen Sachlage und der festgestellten Anzahl an Infizierten wäre daher eine mögliche Ansteckung der Beschwerdeführer in der Türkei mit COVID-19 und ein diesbezüglicher außergewöhnlicher Krankheitsverlauf allenfalls spekulativ. Eine reale und nicht auf Spekulationen gegründete Gefahr ist somit nicht zu erkennen. Ergänzend ist festzustellen, dass die Beschwerdeführer sonstige Bedenken bezüglich der Rückkehrsituation im Lichte der COVID-19-Pandemie auch nicht substantiiert dargelegt haben (vgl. dazu VwGH vom 07.09.2020, Ra 2020/20/0314-6 sowie jüngst VwGH vom 22.01.2021, Ra 2020/01/0423).

Auch wenn ausweislich der vorstehenden Erwägungen keine maßgebliche Gefahr einer Verurteilung des Erstbeschwerdeführers zu einer langjährigen Haftstrafe erkannt werden kann, ist der Vollständigkeit halber auf Folgendes hinzuweisen: Im Kontext der Feststellungen zu den Haftbedingungen ist nicht davon auszugehen, dass in der Türkei solch inadäquate Haftbedingungen vorlägen, die die Behandlung eines jeden türkischen Strafgefangenen oder auch jedes wegen Straftaten gegen die verfassungsmäßige Ordnung und ihr Funktionieren (Art. 309 - 315 tStGB) Inhaftierten als Art. 3 EMRK widerstreitend erscheinen ließe. Derartiges wurde im Verfahren auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Der Erstbeschwerdeführer ist daher seiner Obliegenheit, die Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten, Angaben schlüssig darzustellen, nicht nachgekommen. Der Erstbeschwerdeführer ist im Übrigen gesund, sodass keine Notwendigkeit einer medizinischen Versorgung besteht und diesbezügliche Defizite daher nicht von Relevanz sind. Dass er während seiner Anhaltung in Haft ernsthafte Schwierigkeiten gehabt hätte, brachte er nicht glaubhaft vor.

Den Feststellungen zufolge wurde die materielle Ausstattung der Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ besucht. Problematisch ist die Überbelegung, da die Gesamtkapazität von 291.592 Plätzen im Dezember 2022 mit 336.315 Insassen übermäßig ausgeschöpft wurde. In den türkischen Gefängnissen gibt es darüber hinaus Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche sowie Isolationshaft. Foltervorwürfe werden oftmals in Zusammenhang mit der Behandlung von Terrorverdächtigen erhoben. Folter und Misshandlung kommen insofern nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen vor. In Anbetracht der festgestellten Zahl von Insassen kann jedoch letztlich nicht davon ausgegangen werden, dass Folter und Misshandlung in den türkischen Haftanstalten eine dermaßen verbreitete Praxis wäre, dass die reale Gefahr bestünde, als nicht wegen einer Beteiligung am versuchten Militärputsch exponierter Insasse jedenfalls derartigen Praktiken unterzogen zu werden. Es wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass die Beschwerden in ihrer Zahl über bloße Einzelfälle hinausgehen, allerdings wird damit noch keine solche Intensität an Übergriffen aufgezeigt, dass von der realen Gefahr auszugehen wäre, dass der Erstbeschwerdeführer von Folter und Misshandlung persönlich betroffen wäre. Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen die Überbelegung der Gefängnisse eingeleitet (etwa vorzeitige Entlassungen, Ausbau) und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal zweifelsfrei absehbar, in welchem Gefängnistyp er eine verhängte Strafe verbüßen würde. Auch wenn die Haftbedingungen in der Türkei sohin nicht immer als mit europäischen Standards vergleichbar angesehen werden, so war dennoch nicht davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführer im Falle der Rückkehr alleine wegen der Haftbedingungen einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre. Die Befürchtungen des Erstbeschwerdeführers basieren weitgehend auf Spekulation und sind nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen.

Ausgehend davon und in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, dass dem Erstbeschwerdeführer die reale Gefahr einer Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte aufgrund der Haftbedingungen in der Türkei droht.

 

Aufgrund der Ausgestaltung des Strafrechts des Herkunftsstaats der Beschwerdeführer (die Todesstrafe wurde im Jahr 2004 abgeschafft) scheidet das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Art. 2 EMRK, oder des Protokolls Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe aus.

 

Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer in wesentlichen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechts-verletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch, jeder der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthalts aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein. Ebenso betreffen die festgestellten Problemfelder zu einem erheblichen Teil Bereiche, von denen die Beschwerdeführer nicht betroffen sind.

Aus der sonstigen allgemeinen Lage im Herkunftsstaat kann ebenfalls bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Bestehen eines unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalts abgeleitet werden.

 

Weitere, in der Person der Beschwerdeführer begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.

Insoweit war auch Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide jeweils gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe zu bestätigen, dass gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der jeweilige Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen werde, da im gegenständlichen Verfahren hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten der Herkunftsstaat der Beschwerdeführer zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Die belangte Behörde ist hinsichtlich der Frage der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Spruchpunkt II. jeweils eindeutig von der Türkei als Herkunftsstaat ausgegangen (siehe Seite 11, 17 f des bekämpften Bescheides des BF1; siehe Seite 10, 15 ff des bekämpften Bescheides der BF2; siehe Seite 10, 15 f des bekämpften Bescheides des BF3). Insoweit handelte es sich bei der unterbliebenen Bezugnahme auf den Herkunftsstaat der Beschwerdeführer in Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide um ein bloßes Versehen der belangten Behörde, welches nunmehr korrigiert wurde. Dies auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Beschwerdeführer auch aus dem Verfahren ihrer jeweiligen Familienangehörigen keinen derartigen Status ableiten können, da deren Beschwerden mit Erkenntnis des heutigen Tages im Ergebnis gleichlautend entschieden wurden.

 

3.3. Zur Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels und der Erlassung einer Rückkehrentscheidung (§ 57 AsylG und § 52 FPG):

3.3.1. Gemäß § 10. Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.

 

3.3.2. Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

 

3.3.2.1. Die Beschwerdeführer befinden sich seit etwa Mitte April 2021 im Bundesgebiet und ihr Aufenthalt ist nicht geduldet. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre, kamen im Verfahren nicht hervor. Die BF2 wurde zwar im Bundesgebiet Opfer von Gewalt durch den BF1 und erwirkte der minderjährige BF3 in diesem Zusammenhang eine einstweilige Verfügung wider den BF1. Es kam jedoch diesbezüglich zu keinem Strafverfahren, zumal die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung auch erklärte, dass sich der Vorfall während der Covid-19-Pandemie ereignet habe und ihr Ehegatte nunmehr eine Beratung/Therapie wegen seiner Gewalttätigkeit in Anspruch nehme. Die BF2 hat ihrem Ehegatten insofern verziehen und versteht sich das Ehepaar aktuell gut (VH-Schrift, S 26). Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde behauptet wurde.

 

3.3.3. Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

 

3.3.3.1. Die Beschwerdeführer sind als türkische Staatsangehöriger keine begünstigten Drittstaatsangehörigen und es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da mit der erfolgten Abweisung ihres jeweiligen Antrags auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

 

3.3.4. § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

 

3.3.4.1. Insoweit zwei Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin in den Niederlanden leben, ist schon deshalb mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme keine Trennung von einer im Bundesgebiet zurückbleibenden Person verbunden, was eine Berücksichtigung der Beziehungen in der Interessenabwägung freilich nicht obsolet macht (vgl. VwGH 26.03.2015, 2013/22/0284). Zum Verhältnis zu diesen Personen wurden keine näheren Ausführungen getätigt. Die Beschwerdeführer legten nicht einmal dar, dass es mit den in den Niederlanden lebenden Geschwistern der BF2 beispielsweise zu Telefonaten oder gar zu Begegnungen bei Besuchen kommt. Folglich liegt in Ansehung dieser Personen kein schützenswertes Familienleben im Sinn der zitieren Rechtsprechung vor.

 

In Bezug auf die beschwerdeführenden Parteien untereinander ist festzuhalten, dass insoweit von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen ist, diese lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben eingreift; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR im Fall Cruz Varas gegen Schweden). In diesen Fällen ist nach der Judikatur des EGMR der Eingriff in das Privatleben gegebenenfalls separat zu prüfen (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 856 mwN).

 

Da sämtliche Beschwerdeführer gleichermaßen von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, liegt insoweit kein Eingriff in das schützenswerte Familienleben vor (vgl. VwGH 19.12.2012, Zl. 2012/22/0221 mwN).

Die Beschwerdeführer haben darüber hinaus keine Verwandten oder sonstigen nahen Angehörigen in Österreich. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Schutz des Familienlebens.

Sohin blieb zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf ein Privatleben in Österreich darstellt.

3.3.4.2. Im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts wurde in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert.

In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylweber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.

 

Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Beschwerdeführer in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da - abseits familiärer Umstände - eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541).

 

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191; VwGH 25.04.2018, Ra 2018/18/0187; vgl. auch VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN). Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN).

Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 10.04.2019 Ra 2019/18/0049, mwN). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 16.02.2021, Ra 2019/19/0212 sowie VwGH vom 19.03.2021, Ra 2019/19/0123, mwN). Allerdings nimmt das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN; dort auch zur Bedeutung einer Lehre iZm Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK).

 

Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013; vgl zum unsicheren Aufenthaltsstatus auch die Entscheidungen des VwGH vom 27.06.2019, Ra 2019/14/0142, vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0015, vom 06.05.2020, Ra 2020/20/0093 vom 27.02.2020, Ra 2019/01/0471 und zuletzt vgl. VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0428).

 

Für den gegenständlichen Fall ergibt sich Folgendes:

Die erwachsenen Beschwerdeführer reisten illegal nach Österreich ein und stellten hier am 20.04.2021 die gegenständlichen – jeweils unbegründeten – Anträge auf internationalen Schutz. Allein durch die jeweilige Antragstellung konnten die Beschwerdeführer ihren Aufenthalt im Bundesgebiet legalisieren. Hätten sie diesen Antrag nicht gestellt, wären sie seit nunmehr bald zweieinhalb Jahren rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig, sofern der rechtswidrige Aufenthalt nicht (durch entsprechende Maßnahmen) bereits beendet worden wäre. In Anbetracht des Umstandes, dass der jeweilige Antrag auf internationalen Schutz unbegründet war, sie versuchten diesen mit einem nicht glaubhaften bzw. nicht asylrelevanten Sachverhalt zu begründen und die Beschwerdeführer zur Antragstellung illegal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist waren, sind gravierende öffentliche Interessen festzustellen, die für eine aufenthaltsbeendende Rückkehrentscheidung sprechen. Diese Interessen überwiegen in ihrer Gesamtheit das private Interesse der Beschwerdeführer am weiteren Verbleib, selbst wenn sie im Bundesgebiet soziale Kontakte knüpften und sie ihr zukünftiges Leben hier gestalten wollen. Private Interessen von Fremden am Verbleib im Gastland sind jedenfalls weniger stark zu gewichten, wenn diese während eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz begründet werden, da der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt nicht von vornherein von einem positiven Ausgang des Verfahrens ausgehen konnte und sein Status bis zum Abschluss des Verfahrens ungewiss ist. Auch nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bewirkt in Fällen, in denen das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art. 8 EMRK (vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055 mwN). Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin reisten im April 2021 in das Bundesgebiet ein, bereits im März 2022 erging der - jeweils abweisende - Bescheid des BFA. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durften daher gemäß der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach der erstinstanzlichen Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz rund elf Monate nach ihrer Einreise ihren zukünftigen Aufenthalt nicht mehr als gesichert betrachten und nicht mehr darauf vertrauen, in Zukunft in Österreich verbleiben zu können (vgl. VwGH 29.04.2010, 2010/21/0085).

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin halten sich seit April 2021 etwa zwei Jahre und sechs Monate in Österreich auf. Die Beschwerdeführer haben keine Verwandten in Österreich. Sie haben normale soziale Kontakte geknüpft. Von einer gesellschaftlichen Integration im beachtlichen Ausmaß ist jedoch nicht auszugehen, zumal die Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keine Unterstützungserklärungen ihres Bekanntenkreises in Vorlage brachten und auch keine näheren Ausführungen zu ihrem Freundeskreis in der mündlichen Verhandlung trafen. Es bestehen keine über übliche Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse hinausgehende innige Verhältnisse, geschweige denn Abhängigkeitsverhältnisse. Es besteht keine Integration in hiesige Vereine oder Organisationen. Nicht außer Acht gelassen werden darf zudem, dass der BF1 und die BF2 nicht ehrenamtlich oder gemeinnützig tätig waren und sind.

Im Ergebnis führen die Beschwerdeführer in Österreich zwar ein Privatleben iSd Art. 8 EMRK, das, insbesondere da sie keine Verwandten haben, und angesichts der übrigen sozialen Kontakte aber nicht besonders ausgeprägt ist. Das allein indiziert, dass das Privatleben nicht als besonders schutzwürdig anzusehen ist. Gering ist die Schutzwürdigkeit des Privatlebens der Beschwerdeführer aber vor allem auch deshalb, weil sie es – wie vorangehend ausgeführt - zu einem Zeitpunkt begründet haben, zu dem sich die Zulässigkeit des Aufenthalts der Beschwerdeführer allein auf ihren unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stützen konnte. Für ihren bisherigen Aufenthalt in Österreich konnten sie nur durch einen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz eine rechtliche Grundlage schaffen.

Soweit die Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügen ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die Beschwerdeführer hierdurch gezwungen werden, den Kontakt zu jenen Personen, die ihnen in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Es steht ihnen insbesondere frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrecht zu erhalten. Selbiges gilt im Übrigen bezüglich der in den Niederlanden aufhältigen Geschwister der BF2. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es den Beschwerdeführern - zumal über sie (soweit ersichtlich) auch kein Rückkehrverbot verhängt wurde - bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (vgl. ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 861, mwN).

Die Schutzwürdigkeit des Privatlebens der Beschwerdeführer ist schließlich auch deshalb gering, weil sie sich noch nicht einmal drei Jahre in Österreich aufhalten. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs kann erst bei einem (knapp unter) zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich ausgegangen werden (vgl. VwGH 14.04.2016; Ra 2016/21/0029). Abgesehen davon, dass die Beschwerdeführer diese Aufenthaltsdauer in keiner Weise erfüllen, ist zu bedenken, dass sie den bisherigen Aufenthalt, wie die bisherigen und noch folgenden Ausführungen zeigen, kaum genutzt haben, um sich in Österreich zu integrieren. Diese Schlussfolgerung ist insbesondere angesichts der fehlenden Deutschkenntnisse und der Tatsache, dass der BF1 und die BF2 weder einen Deutschkurs besucht, noch eine Deutschprüfung abgelegt haben, der fehlenden Mitgliedschaft in hiesigen Organisationen und Vereinen, fehlenden familiären Beziehungen in Österreich und relativ wenig ausgeprägten privaten Beziehungen zu ziehen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben zudem hierorts keine belegten Anknüpfungspunkte in Form einer legalen Erwerbstätigkeit oder anderweitiger maßgeblicher wirtschaftlicher Interessen. Die Beschwerdeführer bezogen seit der Antragstellung zur Sicherstellung ihres Auskommens laufend Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Wirtschaftlich unabhängig oder selbsterhaltungsfähig waren die Beschwerdeführer nie. Der BF1 und die BF2 haben auch weder eine bestimmte Erwerbstätigkeit in Aussicht noch verfügen sie über eine verbindliche Einstellungszusage. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin während ihres bisherigen Aufenthalts in Österreich keine ernsthafte und dauerhafte Bereitschaft zeigten, sich um legale Arbeit zu bemühen, zumal es ihnen etwa während des Verfahrens auf Erlangung internationalen Schutzes auch bereits möglich gewesen wäre, ein Gewerbe anzumelden und als Selbständige(r) tätig zu werden. Ebenso wäre den Beschwerdeführern die Möglichkeit offen gestanden, haushaltstypische Leistungen in Privathaushalten (z.B. Gartenarbeit, Hilfe beim Weihnachtsputz) zu übernehmen („Dienstleistungsscheck“). Letztlich haben sie während ihres gesamten Aufenthalts auch keine gemeinnützige oder ehrenamtliche Arbeit geleistet.

In diesem Zusammenhang sei zudem auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die – hier bei weitem nicht vorhandenen – Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/18/0720; 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029).

 

Unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens ist grundsätzlich auch ein Interesse eines Fremden zu berücksichtigten, dass in Österreich eine medizinische Behandlung vorgenommen wird. Ein derartiger Umstand kann im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses am Verbleib in Österreich führen (vgl. mwN VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146). In dieser Entscheidung ging der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass eine Risikoschwangerschaft, die eine jederzeitige medizinische Behandlung erforderlich und einen Transport in den Herkunftsstaat für Mutter und Ungeborenes gesundheits- oder lebensgefährdend machen kann, in die Abwägung miteinzubeziehen sei. Dass in einer solchen Konstellation die privaten Interessen eines Fremden das öffentliche Interesse an einer sofortigen Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet überwiege, sprach der Gerichtshof freilich nicht aus. Er betonte vielmehr, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht habe, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Unter Bedachtnahme auf diese Rechtsprechung, die Feststellungen und Erwägungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer und zur medizinischen Versorgungslage im Herkunftsstaat ergibt sich gegenständlich keine (wesentliche) Verstärkung der privaten Interessen am Verbleib im Bundesgebiet, zumal bei der BF2 auch von keiner Risikoschwangerschaft auszugehen ist.

Insgesamt ist keine ins Gewicht fallende Integration der Beschwerdeführer in die österreichische Gesellschaft, insbesondere durch eine (ausreichende) Erwerbstätigkeit beziehungsweise ein reguläres Beschäftigungsverhältnis des BF1 und der BF2, erkennbar.

 

Der Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich bislang nicht rechtskräftig straffällig geworden sind, bewirkt keine Erhöhung des Gewichts der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel und die Begehung von Straftaten eigene Gründe für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellen (VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).

 

Letztlich ist die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthalts den beschwerdeführenden Parteien in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu verneinen, zumal sich die Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren erst seit etwa zwei Jahren und sechs Monaten in Österreich befinden. Zwischen der Antragstellung durch die Beschwerdeführer und der gegenständlichen Entscheidung durch die belangte Behörde liegen rund elf Monate. Von der Vorlage der Beschwerde bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vergingen etwa 18 Monate. In dieser Zeit führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

Insoweit kann nicht erkannt werden, dass die ohnedies relativ kurze Dauer des bisherigen Aufenthalts des BF1 und der BF2 in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist. Was den BF1 und die BF2 betrifft, so basieren deren Angaben in wesentlichen Punkten auf einem tatsachenwidrigen Vorbringen, welches vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund von Opportunitätserwägungen im Hinblick auf den Ausgang oder zumindest auf die Dauer des Verfahrens vorgetragen wurde. Des Weiteren beharrten die Beschwerdeführer auf der Richtigkeit dieses Vorbringens und setzten in diesem Zeitraum ebenso wenig Schritte, welche zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen hätten können, etwa indem sie ihr Vorbringen richtigstellten. Hierzu ist auch anzuführen, dass es einem Asylwerber mit dem Wissen, Ausbildungsstand, bisherigen Lebensweg und den Kenntnissen der erwachsenen Beschwerdeführer aus ihrer Laiensphäre erkennbar war oder erkennbar sein musste, dass die Erstattung eines wahrheitswidrigen Vorbringens nicht zur Beschleunigung des Verfahrens, sondern zu dessen Gegenteil beiträgt.

 

Auch der Verfassungsgerichtshof erblickte in einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen kosovarischen (ehemaligen) Asylwerber keine Verletzung von Art. 8 EMRK, wiewohl dieser im Laufe seines rund achtjährigen Aufenthaltes seine Integration u.a. sogar durch gute Kenntnisse der deutschen Sprache, Besuch von Volkshochschulkursen in den Fachbereichen Rechnen, Computer, Deutsch, Englisch, Engagement in einem kirchlichen Verein, erfolgreiche Kursbesuche des Ausbildungszentrums des Wiener Roten Kreuzes und ehrenamtliche Mitarbeit beim Österreichischen Roten Kreuz sowie durch die Vorlage einer bedingten Einstellungszusage eines Bauunternehmers unter Beweis stellen konnte (VfGH 22.09.2011, U 1782/11-3, vgl. ähnlich auch VfGH 26.09.2011, U 1796/11-3).

Das Bundesverwaltungsgericht kann aber auch ansonsten keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr der Beschwerdeführer erkennen. Die Beschwerdeführer haben erhebliche Bindungen zu ihrem Herkunftsstaat: Sie wurden dort sozialisiert. So verbrachten sie dort den Großteil ihres Lebens und besuchten der BF1 und die BF2 dort die Schule. Die Beschwerdeführer haben ihren Herkunftsstaat im Frühling 2021 verlassen, weshalb davon auszugehen ist, dass die Beschwerdeführer aufgrund der vorangehenden Ausführungen mit den in der Türkei bzw. der Herkunftsregion vorherrschenden gesellschaftlichen Werten, Sitten, Normen und sozialen Rollen vertraut und fraglos dazu im Stande sind, sich darauf (wieder) einzustellen und sich entsprechend zu verhalten. Vor seiner Ausreise war der Erstbeschwerdeführer erwerbstätig. Familienangehörige, namentlich die Eltern und mehrere Geschwister der BF2 und die Eltern und mehrere Geschwister des BF1, leben nach wie vor dort und stehen die Beschwerdeführer mit diesen Personen regelmäßig in Kontakt. Die Beschwerdeführer beherrschen - abgesehen von Kurdisch - die Amtssprache ihres Herkunftsstaats, nämlich Türkisch. Insoweit scheitert auch eine Resozialisierung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch die erwachsenen Beschwerdeführer an keiner Sprachbarriere und ist von diesem Gesichtspunkt her möglich. Es deutet nichts darauf hin, dass es den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren. Der Verwaltungsgerichtshof ist der Auffassung, dass bei einem etwa acht Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ein Fremder dadurch nicht gehindert ist, sich wieder eine existenzielle Grundlage im Herkunftsland aufzubauen (vgl. VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162). Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz in der Türkei - letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0076; jüngst VwGH 07.07.2021, Ra 2021/18/0167). Zur Resozialisierung im Heimatland hat der Verwaltungsgerichtshof wie folgt festgestellt: Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in mehreren (mit dem vorliegenden vergleichbaren) Fällen zum Ausdruck gebracht, die von Fremden geltend gemachten Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern seien vielmehr - letztlich auch als Folge des seinerzeitigen, ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes - im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0076).

Würde sich darüber hinaus ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Überdies würde dies dazu führen, dass Fremde, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten oder sogar rechtsmissbräuchlichen Asylantrags erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. dazu auch das Erkenntnis VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass "eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde.").

3.3.4.3. Soweit Kinder von einer Ausweisung betroffen sind, sind nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (EGMR U 18.10.2006, Üner gegen Niederlande, Nr. 46.410/99; GK 6.7.2010, Neulinger und Shuruk gegen Schweiz, Nr. 1615/07). Maßgebliche Bedeutung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter (EGMR U 31.7.2008, Darren Omoregie ua. gegen Norwegen, Nr. 265/07; U 17.2.2009, Onur gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 27.319/07; siehe dazu auch VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072) befinden.

Betreffend die gebotene Berücksichtigung des Kindeswohls im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK, betont der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2020/18/0288, mwN) die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf selbiges bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung. Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen die Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. etwa VwGH 5.5.2021, Ra 2021/18/0050, mwN).

Der Umstand, ob sich Kinder in einem anpassungsfähigen Alter befinden, ist relevant für die Interessenabwägung bzw. das dabei zu berücksichtigende Kindeswohl (vgl. VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205). Dies führt aber nicht dazu, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt und einem Vorliegen maßgeblicher integrationsbegründender Umstände die noch gegebene Anpassungsfähigkeit der Kinder die Aufenthaltsdauer entscheidungserheblich relativieren bzw. das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verstärken würde. Der Umstand der Anpassungsfähigkeit spielt allerdings auch bei der Beurteilung eine Rolle, ob Minderjährige einen Eingriff in ihr Privatleben durch eine gemeinsame Ausreise mit dem Obsorgeberechtigten hinzunehmen haben, weil dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Obsorgeberechtigten eine überragende Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 7.3.2019, Ra 2019/21/0044).

Gemäß § 138 ABGB ist das Wohl des Kindes (Kindeswohl) in allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten, insbesondere der Obsorge und der persönlichen Kontakte, als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten. § 138 ABGB dient auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, als Orientierungsmaßstab (vgl. VwGH vom 24.09.2019, Ra 2019/20/0274).

Insbesondere ist der Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Z 1), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Z 4) sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Z 12) nachzugehen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen ist (Z 5) und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden sind, die Kinder durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Z 6). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Z 9).

Im Rahmen der nach § 9 BFA-VG 2014 vorzunehmenden Interessenabwägung kommt den Kriterien des § 138 ABGB hingegen nach der Rechtsprechung des VwGH (vgl. VwGH 14.12. 2020, Ra 2020/20/0408) lediglich die Funktion eines "Orientierungsmaßstabs" für die Behörde bzw. das VwG zu. Zudem sei nochmals klargestellt, dass die Berücksichtigung des Kindeswohls im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung darstellt; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG 2014 vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, die fallbezogen umfänglich ermittelt, festgestellt und bewertet wurden.

Eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit wird in der Rechtsprechung für Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren angenommen (vgl. 18.10.2017, Ra 2017/19/0422). In seinem Beschluss vom 30.06.2015, Ra 2015/21/0059, sprach der Verwaltungsgerichtshof auch bei einem vierjährigen Kind vom anpassungsfähigen Alter. Jedenfalls ist bei einem Alter unter sieben Jahren davon auszugehen, dass die Sozialisation des Kindes erst begonnen und jedenfalls noch kein derart fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, dass sie nicht auch im Herkunftsstaat fortgesetzt werden könnte. Im Alter von ca. drei bis vier Jahren steht ein Kind - wenn überhaupt - erst ganz am Beginn der Phase der ersten Verselbständigung und der damit verbundenen Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises (Vgl. etwa Gachowetz/Schmidt/Simma/Urban, Asyl- und Fremdenrecht im Rahmen der Zuständigkeit des BFA (2017), 290 und jeweils mwN VwGH 25.02.2010, 2006/18/0363, sowie VwGH 05.04.2002, 2001/18/0176).

Der minderjährige Drittbeschwerdeführer wurde im März 2020 in der Türkei geboren. Er hat seinen Herkunftsstaat im Alter von etwa einem Jahr verlassen, sodass nicht von eigenen Wahrnehmungen der Herkunftsregion auszugehen ist. Er hat demnach keinen persönlichen Bezug zu seiner Herkunftsregion. Der minderjährige Beschwerdeführer ist der türkischen und der kurdischen Sprache mächtig, zumal eine Konversation mit seinen Eltern den Wahrnehmungen des Bundesverwaltungsgerichts zufolge nur in diesen Sprachen möglich ist.

Der minderjährige Beschwerdeführer hält sich seit April 2021 im Bundesgebiet auf, sein Aufenthalt währt demgemäß zwei Jahre und sechs Monate. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer besucht derzeit einen Kindergarten. Der BF3 pflegt insbesondere im Rahmen des Kindergartenbesuchs altersentsprechende Kontakte. Ein im Rahmen dieser Abwägung berücksichtigungswürdiges Naheverhältnis zu Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie (Freunde, Betreuungspersonal) wurde im Verfahren allerdings nicht dargetan. Der minderjährige Beschwerdeführer erwirbt seit ca. zweieinhalb Monaten Kenntnisse der deutschen Sprache während seines Kindergartenbesuchs.

Die Kontakte, die der minderjährige Beschwerdeführer zu Einheimischen, die er auch aus dem Kindergarten kennt, nunmehr unterhält, deuten grundsätzlich auf eine gewisse gesellschaftliche Integration hin.

Ausgeprägt und mit bedeutsamem Erfolg verbunden sind diese Bemühungen freilich nicht. Der minderjährige Beschwerdeführer ist, auch wenn es insoweit sein Alter zu berücksichtigen gilt, nicht Mitglied von Vereinen oder Organisationen in Österreich. Im Übrigen hat der minderjährige Beschwerdeführer den Großteil seines Aufenthalts in der Betreuung seiner Mutter bzw. Eltern verbracht und ist auf die damit verbundene Versorgung angewiesen.

Insgesamt ist (auch) deshalb keine die Interessen am Verbleib im Bundesgebiet entscheidend verstärkende Integration festzustellen, weil der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass selbst die perfekte Beherrschung der deutschen Sprache sowie eine vielfältige soziale Vernetzung und Integration noch keine über das übliche Maß hinausgehende Integrationsmerkmale bedeuten (vgl. VwGH 25.2.2010, 2010/18/0029).

Der minderjährige Drittbeschwerdeführer befindet sich in einem anpassungsfähigen Alter (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0059). Hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers hat die Sozialisation außerhalb des engen Familienkreises ohnehin gerade erst begonnen, sodass kein Wiedereingliederungshindernis vorliegt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162). Das Bundesverwaltungsgericht erachtet eine Wiedereingliederung des minderjährigen Drittbeschwerdeführers als zumutbar, zumal aufgrund der Verfahrensergebnisse davon auszugehen ist, dass seine Bezugspersonen in Form der Eltern der Kernfamilie zugehören und schon im Familienverband in Anbetracht der zahlreichen Familienangehörigen in der Herkunftsregion ein Umgang mit anderen Kindern sichergestellt ist. Dass die Wiedereingliederung des Drittbeschwerdeführers sich als schwierig erweisen könnte, kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen und es wurde dazu auch kein substantiiertes Vorbringen erstattet.

Im Hinblick auf den Kindergartenbesuch des BF3 geht das Bundesverwaltungsgericht in Anbetracht der getroffenen Feststellungen von der Möglichkeit einer Fortsetzung im Herkunftsstaat aus. Zweifellos wird die Herauslösung aus dem Kindergarten im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Zäsur darstellen, das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch davon aus, dass der BF3 hinreichend Halt im Familienverband finden wird, um diese Herausforderung zu bewältigen, wobei der Kindergartenbesuch des Drittbeschwerdeführers ohnehin erst einige Monate währt, was die im Wege des Kindergartenbetriebes erfahrene Verankerung relativiert. Im Herkunftsstaat wird sich sodann im Wege des Besuchs eines dortigen Kindergartens sowie der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen zunächst innerhalb des Familienverbands und dann im Kindergarten die Möglichkeit neuer sozialer Kontakte eröffnen. Dass der BF3 hier im Bundesgebiet eine intensive Nahebeziehung zu seinem Kindergarten, Kindergartenkindern oder Betreuungspersonen pflegen würde, wurde nicht vorgebracht.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts deutet zusammenfassend nichts darauf hin, dass es dem minderjährigen Beschwerdeführer gemeinsam mit und in Begleitung seiner Eltern im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren. Dies ergibt sich insbesondere aufgrund seines Lebensalters, das Anpassungsfähigkeit indiziert und des Fehlens wichtiger Bezugspersonen im Bundesgebiet außerhalb der Kernfamilie. Die engsten Bezugspersonen des minderjährigen Beschwerdeführers - nämlich die Eltern - bleiben erhalten. Dass der Drittbeschwerdeführer nicht weiter den Kindergarten im Bundesgebiet besuchen kann, ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts vertretbar. Dem BF3 ist ein weiterer Kindergartenbesuch in der Herkunftsregion möglich und verfügt er dort nicht nur über eine gesicherte Lebensgrundlage, sondern auch über weitere Anknüpfungspunkte in Gestalt seiner dort lebenden Verwandten.

Die Rückkehr in die Türkei im Familienverband mit den Eltern ist somit auch dem minderjährigen Beschwerdeführer zumutbar. Die gebotene Berücksichtigung des Kindeswohls führt daher nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Rückkehrentscheidung.

Auch kam im Verfahren nicht hervor, dass die kindliche Förderung im Falle der Rückkehr grob beeinträchtigt wäre, oder dass die Eltern nicht in der Lage sein würden, für seine Grundbedürfnisse Sorge zu tragen. Ganz im Gegenteil ist davon auszugehen, dass die Eltern auch in der Türkei für das Wohlergehen des Kindes sorgen können werden.

In Gesamtschau aller Umstände ist daher auch für den minderjährigen Beschwerdeführer zusammen mit seinen Eltern die Rückkehr in die Türkei zumutbar, weshalb auch die gegen diesen erlassene Rückkehrentscheidung in dieser Fallkonstellation keine Verletzung seines Privatlebens iSd. Art. 8 EMRK darstellt.

Im Übrigen ist auf die vorstehenden Ausführungen zu verweisen. Bei der Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden zu einem Zeitpunkt entstand, zu dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass Kindern ihr fremdenrechtliches Fehlverhalten zwar nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Es schlägt aber auf die Kinder durch, wenn die Eltern die während des Aufenthalts erlangten Gesichtspunkte der Integration in einem Zeitraum erworben haben, als sie sich der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst waren, sie also nicht mit einem dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet rechnen durften, was spätestens mit der erstinstanzlichen Abweisung ihrer Asylanträge der Fall ist (vgl. mwN VwGH 20.03.2012, 2010/21/0471).

In seiner Entscheidung vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0065, sprach der Verwaltungsgerichtshof unter Verweis auf VfGH 07.10.2014, U 2459/2012, hingegen aus, dass einem im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern eingereisten Minderjährigen ein fremdenrechtliches Fehlverhalten (Erzwingung eines längerfristigen Aufenthalts durch Stellung unbegründeter Anträge auf internationalen Schutz) nicht in dem Maß angelastet werden kann wie den Eltern. Indem der Verwaltungsgerichtshof entschied, dass minderjährigen Fremden ein fremdenrechtliches Fehlverhalten nicht in dem Maß angelastet werden wie den Eltern, setzte er voraus, dass dem Grunde nach auch minderjährigen Kindern ein fremdenrechtliches Fehlverhalten sehr wohl angelastet, das heißt: vorgeworfen (https://www.duden.de/rechtschreibung/anlasten [15.09.2023], werden kann. Ob diese Rechtsprechung nur für Fälle, in denen mehrere Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, also mindestens auch ein Folgeantrag, gilt, ist nicht ersichtlich. Jedenfalls kommt dem Umstand des Entstehens des schützenswerten Privatlebens während unsicheren Aufenthalts bei Minderjährigen, die ihre Eltern nach Österreich begleitet haben, nicht der gleiche Stellenwert zu wie bei den Eltern (vgl. auch VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251).

Das Bestehen eines Familienlebens des minderjährigen Beschwerdeführers in Österreich hat das Bundesverwaltungsgericht - abgesehen von seinen Eltern, die in gleichem Maße von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffen sind - bereits verneint. Ein Privatleben iSd Art. 8 EMRK hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, konnte es aber nicht für besonders schutzwürdig befinden.

Ausgehend von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag, mit denen es über die Beschwerden der Eltern absprach, musste den Eltern, die zeitgleich mit dem BF3 einreisten und einen Antrag auf internationalen Schutz stellten, von Anfang an bewusst sein, dass sie sich überhaupt nur deshalb im Bundesgebiet aufhalten durften bzw. dürfen, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, und dass ihr Aufenthalt für den Fall der Abweisung dieses Antrags nur von vorübergehender Dauer sein kann. Vgl. auch mwN VwGH 12.09.2012, 2011/23/0201: Demnach muss ein Fremder spätestens nach der erstinstanzlichen Abweisung des Asylantrags im Hinblick auf die negative behördliche Entscheidung des Antrags von einem nicht gesicherten Aufenthalt ausgehen.

Abschließend ist auch auf nachfolgend angeführte Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs, in welchen das Kindeswohl thematisiert wird, zu verweisen. In diesen Entscheidungen wurden in ähnlich gelagerten Fällen gegen Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts eingebrachte Revisionen zurückgewiesen: Vgl. etwa VwGH Ra 2022/14/0044 bis 0047 vom 09.03.2022, VwGH: Ra 2021/14/0370 bis 0372 vom 13.12.2021, Ra 2021/18/0158 bis 0163-10 vom 10.09.2021, Ra 2021/14/0096 bis 0100-10 vom 21.06.2021, Ra 2020/18/0457 bis 0460 vom 16.06.2021, Ra 2020/14/0399 vom 15.06.2021, Ra 2021/18/0176 bis 0180 vom 07.06.2021 und Ra 2021/18/0050 bis 0053 vom 05.05.2021.

3.3.4.4. Angesichts der - somit in ihrem Gewicht erheblich geminderten - Gesamtinteressen der Beschwerdeführer am Verbleib in Österreich überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich neben den gefährdeten Sicherheitsinteressen und des wirtschaftlichen Wohles des Landes insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf (vgl. dazu im Allgemeinen und zur Gewichtung der maßgeblichen Kriterien VfGH 29.09.2007, B 1150/07).

 

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass die Interessen der Beschwerdeführer an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten. Die Verfügung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und erscheint auch nicht unverhältnismäßig.

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt somit, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG wider die Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.

Die belangte Behörde hat in ihrer jeweiligen Entscheidung im Übrigen zutreffend eine Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 unterlassen. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 12.11.2015, Zl. Ra 2015/21/0101, dargelegt hat, bietet das Gesetz keine Grundlage dafür, in Fällen, in denen - wie hier - eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG erlassen wird, darüber hinaus noch von Amts wegen negativ über eine Titelerteilung nach § 55 AsylG 2005 abzusprechen.

 

3.3.5. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaats, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

 

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

 

3.3.5.1. Die Zulässigkeit der Abschiebung der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat ist gegeben, da nach den die Abweisung ihres Antrags auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.

3.3.6. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

3.3.6.1. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.

3.3.6.2. Anzumerken ist ferner, dass die Vollziehung der Außerlandesbringung in die Zuständigkeit des BFA fällt und diesbezüglich die aktuellen Umstände in Bezug auf die Covid-19-Pandemie entsprechend zu berücksichtigen sein werden.

 

Zu B) Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab (vgl. die unter Punkt 2. bis 3. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in den gegenständlichen Beschwerden vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

 

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht der erkennenden Richterin auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

 

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, dem Refoulementschutz bzw. zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben, abgeht.

 

Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. der angefochtenen Bescheide liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.

 

Zur Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist die zur asylrechtlichen Ausweisung ergangene zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs übertragbar. Die fehlenden Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung des Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 ergeben sich aus durch den klaren Wortlaut der Bestimmung eindeutig umschriebene Sachverhaltselemente, deren Vorliegen im Fall der Beschwerdeführer nicht einmal behauptet wurde. Die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat knüpft an die zitierte Rechtsprechung zu den Spruchpunkten I. und II. der angefochtenen Bescheide an.

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