VwGH Ra 2020/14/0399

VwGHRa 2020/14/039915.6.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des XY, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2020, W153 2198615‑1/21E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §19 Abs5
VwGG §28 Abs3
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020140399.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 9. November 2015 ‑ nach seiner Einreise als unbegleiteter Minderjähriger ‑ einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Begründend brachte der Revisionswerber vor, er habe Angst vor einem Onkel, der seine Mutter nach dem Tod seines Vaters zwangsweise habe heiraten wollen. Dieser Onkel sei Taliban und wolle den Revisionswerber und seinen Bruder zwangsrekrutieren. Die Mutter und der Bruder seien inzwischen nach Kabul gezogen.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Mai 2018 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Mit Beschluss vom 24. Februar 2021, E 4370/2020‑7, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 Abs. 2 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) keine Gesamtbetrachtung vorgenommen habe. So seien einige (negative) Umstände bei der Abwägung in den Vordergrund gestellt, andere (positive) Aspekte jedoch außer Acht gelassen worden. Eine Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl sei nicht erfolgt, wodurch das BVwG seine Begründungspflicht verletzt habe. Die Begründungspflicht sei auch dadurch verletzt worden, dass die mündliche Verhandlung nicht den Vorgaben zur Wahrung des Kindeswohls entsprochen habe, weil der Revisionswerber durch die Fragestellungen in einen Loyalitätskonflikt gebracht worden sei. Weiters seien der Entscheidung veraltete Länderberichte zugrunde gelegt worden. Schließlich habe das BVwG die mündliche Verhandlung entgegen § 19 Abs. 5 letzter Satz AsylG 2005 ohne den mit der Obsorge betrauten Onkel des minderjährigen Revisionswerbers durchgeführt. Es fehle Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen diese Bestimmung.

9 Soweit sich der Revisionswerber gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung des BVwG wendet, ist festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist. Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2021/14/0079, mwN).

10 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 28.12.2020, Ra 2020/14/0528, mwN). Liegt ‑ wie im gegenständlichen Fall ‑ eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. wiederum VwGH 28.12.2020, Ra 2020/14/0528, mwN).

11 Das BVwG setzte sich im vorliegenden Fall ausführlich mit dem Privat- und Familienleben des Revisionswerbers in Österreich auseinander. Es bezog sämtliche in der Revision genannten Integrationsschritte sowie sein Familienleben in die Interessenabwägung ein, berücksichtigte auch die Minderjährigkeit des Revisionswerbers, die Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren, befasste sich - wenngleich disloziert - mit den Auswirkungen der Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl, und kam in einer Gesamtabwägung zum Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung gegenüber den privaten Interessen des Revisionswerbers überwiege. Die Revision vermag nicht aufzuzeigen, dass das BVwG seine Interessenabwägung in einer unvertretbaren Weise vorgenommen hätte oder die Gewichtung der einbezogenen Umstände den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien widerspräche.

12 Soweit eine Revision Begründungs- und Feststellungsmängel und damit Verfahrensfehler als Zulassungsgründe ins Treffen führt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (VwGH 30.3.2021, Ra 2020/14/0148, mwN).

13 Eine derartige Relevanzdarstellung ist der Zulässigkeitsbegründung im Zusammenhang mit der vermissten Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl nicht zu entnehmen. Mit dem allgemeinen gehaltenen Vorbringen, das BVwG wäre, wenn es Feststellungen zum Kindeswohl getroffen hätte, zu dem Schluss gekommen, dass die privaten Interessen des Revisionswerbers überwögen, wird nicht dargetan, welche Feststellungen ‑ allenfalls nach welchen weiteren Erhebungen ‑ hätten getroffen werden können. Auch mit dem Vorbringen, bei Wahrung des Kindeswohls während der Befragung wären einige für den Revisionswerber „schlechte Feststellungen“ nicht getroffen worden, wird die Relevanz der damit vorgeworfenen Verfahrensfehler nicht dargetan.

14 Auch soweit die Revision die Heranziehung angeblich veralteter Länderberichte beanstandet und damit ebenso einen Verfahrensmangel geltend macht, gelingt es ihr (erneut) nicht, die Relevanz des Verfahrensfehlers darzulegen, zumal die von ihr angeführten vermissten Feststellungen sich auf die Situation von Rückkehrern ohne ein soziales Netzwerk und deren Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage beziehen. Das BVwG stellte hingegen fest, dass der Revisionswerber zu seiner Familie in Kabul zurückkehren könne, wogegen sich die Revision nicht wendet.

15 Mit dem Vorbringen, der Onkel (und gesetzliche Vertreter) des Revisionswerbers sei bei der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG – und damit insbesondere bei der Vernehmung des minderjährigen Revisionswerbers ‑ nicht anwesend gewesen, macht die Revision schließlich einen Verstoß gegen § 19 Abs. 5 letzter Satz AsylG 2005 und damit wiederum einen Verfahrensmangel geltend. Auch diesbezüglich kann eine Aufhebung des Erkenntnisses nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG jedoch nur erfolgen, wenn das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschrift zu einem anderen Erkenntnis hätte kommen können, sodass die Relevanz des Verfahrensmangels in der Zulässigkeitsbegründung dazulegen ist (vgl. VwGH 21.12.2006, 2005/20/0267, Pkt. 4 der Entscheidungsgründe mit Ausführungen zur dort angenommenen Relevanz eines Verstoßes gegen § 27 Abs. 3 dritter Satz Asylgesetz 1997 in der bis 30. April 2004 geltenden Fassung).

16 Die Revision bringt dazu vor, bei Anwesenheit des Onkels in der Verhandlung hätte man diesen ‑ anstelle des Revisionswerbers ‑ zur finanziellen und fürsorglichen Abhängigkeit des Revisionswerbers und dessen Meinung hinsichtlich der Straftaten des Onkels befragen können. Der Onkel sei wohl der Hauptgrund gewesen, weshalb das BVwG dem Revisionswerber kein Aufenthaltsrecht aus berücksichtigungswürdigen Gründen gewährt habe. Damit übersieht die Revision aber offenbar, dass der Onkel des Revisionswerbers sehr wohl zur mündlichen Verhandlung geladen und dort als Zeuge vernommen wurde, auch wenn er ‑ soweit dies der Niederschrift entnommen werden kann ‑ während der Vernehmung des Revisionswerbers nicht im Verhandlungssaal anwesend gewesen sein dürfte. Schon deshalb ist auf Basis dieses Vorbringens - abgesehen von fehlenden Angaben dazu, was der Onkel (zusätzlich) ausgesagt hätte und zu welchen (abweichenden) Feststellungen dies geführt hätte - eine Auswirkung des Verfahrensmangels auf das Verfahrensergebnis nicht erkennbar.

17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 15. Juni 2021

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