AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z6
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:W247.1242893.3.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.06.2022 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser lautet: „Der Ihnen mit mündlich verkündetem Bescheid vom 30.11.2005, Zl. XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005, idgF., aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wird festgestellt, dass Ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.“
Die Beschwerde gegen Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird gemäß §28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013, idgF., iVm §§ 8 Abs. 1 Z 2, 10 Abs. 1 Z 4, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, idgF., iVm §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 55 Abs. 1 bis 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass dieser lautet: „Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 6 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., wird gegen Sie ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen“.B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer (BF) ist russischer Staatsangehöriger, dem muslimischen Glauben und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig.
I. Verfahrensgang
1. Vorverfahren
1.1. Der BF reiste spätestens am 20.08.2003 als Minderjähriger unrechtmäßig mit seinen Eltern und seiner Schwester in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten seine Eltern für sich und ihre Kinder unter den Namen, XXXX (BF), an ebendiesem Tag Anträge auf internationalen Schutz.
1.2. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamtes vom 08.10.2003, Zl. XXXX , wurde der Asylantrag des BF ohne in die Sache einzutreten gemäß § 4 Abs. 1 AsylG 1997 als unzulässig zurückgewiesen.
Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid des ehemaligen unabhängigen Bundesasylsenats (UBAS) vom 03.05.2004, Zl. XXXX als unzulässig zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde mit der Entscheidung darauf hingewiesen, dass das Verfahren vom Bundesasylamt weiterzuführen sei. Begründend wurde ausgeführt, dass gemäß § 44 Abs. 5 AsylG, idF., BGBl I Nr. 101/2003, das am 01.05.2004 beim aufgrund einer Berufung beim UBAS anhängige Verfahren gemäß § 4 AsylG, idF., BGBl I. Nr. 126/2002, und die der Sache nach damit verbundenen Asylerstreckungsverfahren, nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetztes zu Ende zu führen seien. Die Verfahren seien zugelassen und würden vom Bundesasylamt geführt. Der UBAS habe die Berufung als unzulässig zurückzuweisen.
1.3. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamtes vom 05.08.2004, Zl. XXXX wurde der Asylantrag des BF vom 20.08.2003 gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig erklärt. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG wurde der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.
1.4. Der dagegen erhobenen Berufung wurde nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung vor ehemaligen UBAS mit mündlich verkündetem Bescheid vom 30.11.2005, schriftlich ausgefertigt am 14.03.2006, Zl. XXXX stattgegeben und dem BF gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt, sowie festgestellt, dass diesem gemäß § 12 AsylG kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Während der damals durchgeführten Beschwerdeverhandlung brachte der Vater des BF vor, im Widerstand aktiv gewesen zu sein und Kassetten vervielfältigt, sowie verteilt zu haben. Er habe bei XXXX gearbeitet und sei eines Tages seine Schwester, welche ebenfalls Kassetten verteilt habe, festgenommen worden und verschwunden. Der Vater des BF sei ebenfalls festgenommen und in Haft vergewaltigt worden. Die Mutter des BF sei entfernt mit XXXX verwandt und habe als Köchin für seine Mitarbeiter gearbeitet. Begründet wurde die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten durch den ehemaligen UBAS damit, dass die Eltern des BF glaubhaft dargelegt hätten von russischer, staatlicher Seite aus politischen Gründen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit als Gegner angesehen zu werden bzw., dass ihnen eine solche Gegnerschaft unterstellt würde. Für die Mutter des BF, für den BF, sowie seine Geschwister komme hinzu, dass sie zur sozialen Gruppe der Familie gehören würden und bestünde keine innerstaatliche Fluchtalternative.
2. Gegenständliches Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten
2.1. Mit Aktenvermerk vom 12.02.2018 wurde gegen den BF ein Asylaberkennungsverfahren nach § 7 AsylG 2005 eingeleitet, weil er im Verdacht gestanden habe, ein besonders schweres Verbrechen begangen zu haben. Außerdem komme es im Verfahren seiner Bezugsperson, seiner Mutter, zur Asylaberkennung aufgrund einer erfolgten freiwilligen Unterschutzstellung.
2.2. Mit Urteil des LG XXXX vom 14.02.2018, rechtskräftig am 06.09.2018, wurde der BF wegen §§ 278a, 278b (2), 277 (1), 142 (1) und 15, 142 (1) StGB als junger Erwachsener zu einer Zusatzstrafe nach §§ 31, 40 StGB von 15 Monaten, davon 10 Monate bedingt, verurteilt.
2.3. Mit Aktenvermerk vom 27.03.2018 wurde festgehalten, dass der BF der Ladung für den 27.03.2018 unentschuldigt keine Folge geleistet habe.
2.4. Am 22.05.2018 wurde der BF im Rahmen seines Aberkennungsverfahrens vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der BF zusammenfassend an, dass es ihm gut gehe und wurde diesem vorgehalten, dass er bisher zweimal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt worden sei. Im November 2017 sei neuerlich Anklage gegen den BF erhoben worden und würde er beschuldigt im Sommer 2015 gemeinsam mit einem Mittäter die Durchführung von Terror- und Mordanschlägen im Namen des Islamischen Staates (IS) geplant zu haben, es sei jedoch zu keiner Umsetzung jener Pläne gekommen. Dem BF wurde erklärt, dass Beweise im gegenständlichen behördlichen Ermittlungsverfahren, welche seine Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe bestätigen würden, als Basis eines Aberkennungsverfahrens dienen könnten, ohne direkten Bezug auf eine gerichtliche Verurteilung nehmen zu müssen. Dem BF sei bekannt, dass der IS Kriegsverbrechen oder Völkermord begehe, doch gehöre er nicht dem IS an. Die Polizei habe einen Beweis und seien sie zu fünft gewesen. Sie hätten ein Video gedreht, welches sie an den IS geschickt hätten. Der BF habe Kontakt zu einer Person gehabt, die in Syrien aufhältig gewesen sei. Im Video seien ihre Gesichter verdeckt gewesen und habe die Kontaktperson des BF diesem gesagt, sie müssten ein neues Video drehen, in welchem man ihre Gesichter sehe. Ein solches hätten sie dann allerdings nicht gedreht. Der BF habe keine Verbrechen im Namen des IS verübt und habe sich von diesem losgesagt. Befragt dazu, warum er Terror- und Mordanschläge verüben habe wollen, vermeinte der BF, dass das im Jahr 2014/2015 gewesen sei und er zu Hause Streit mit seiner Mutter gehabt habe. Er sei in der Pubertät gewesen und habe cool sein wollen. Der BF sei zu seinem Vater gezogen, welcher ihn aufgenommen habe. Der BF habe nicht zu seiner Mutter zurückkehren wollen und habe die vierte Klasse absolvieren müssen, wobei er die Schule dann abgebrochen habe. Er habe nicht von XXXX nach XXXX pendeln wollen und sei bei seinem Vater geblieben. Der BF habe auffällige Leute in der Moschee gesehen und habe auch beten gehen wollen. In der Moschee seien Jugendliche zu ihm gekommen und hätten ihn Persönliches gefragt. Sie hätten den BF gefragt, ob er für den IS sei. Er habe nachgefragt, was der IS sei. Nachgefragt, was die beiden bisherigen Verurteilungen beim BF bewirkt hätten, gab dieser an, dass er die ganze Sache nach der ersten Verurteilung nicht ernst genommen habe. Der BF habe gedacht, dass er ohnehin nie ins Gefängnis kommen werde, er sei dann allerdings doch ins Gefängnis gekommen und das habe sein ganzes Bild geändert. Dem BF sei in Österreich kein nicht auf das Asylgesetz gestützte Aufenthaltsrecht erteilt worden. Er sei ledig und habe keine Kinder. Die Eltern und Geschwister des BF würden in Österreich leben. Es gäbe keine Personen in Österreich, zu denen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Die Mutter des BF helfe diesem und habe er hier Freunde, sowie Bekannte kennengelernt. Der BF habe noch seine Großmutter ms. im Herkunftsstaat, wisse aber nicht, wo diese lebe und habe mit ihr nie Kontakt gehabt. Er spreche gut Deutsch und sei als Hilfsarbeiter im Bundesgebiet tätig, wobei er EUR 760,- verdiene. Derzeit lebe der BF allein in einer Wohnung in XXXX . Die Hauptschule habe der BF abgebrochen, weshalb er keinen Abschluss habe. Er wolle den Pflichtschulabschluss nachholen und beginne der Kurs im September am WIFI. Der BF habe vor zwei Wochen der Feuerwehr XXXX beitreten wollen, sie hätten den BF aber nicht aufgenommen, weil er im Gefängnis gewesen sei. Heute habe der BF einen Termin beim Roten Kreuz. Er leide an keinen schweren Erkrankungen und nehme keine Medikamente. Der BF sei im Herkunftsstaat nicht vorbestraft und sei er erst 4 Jahre alt gewesen, als er nach Österreich gekommen sei. Im Falle einer Rückkehr habe er keine Vorstellungen und wisse er nicht, was passieren würde.
Dem BF wurde aufgetragen Beweismittel für seine Integration binnen 2 Wochen vorzulegen.
2.5. Mit Schriftsatz vom 30.05.2018 stellte der vormals rechtsfreundliche Rechtsvertreter des BF einen Antrag auf Fristverlängerung zur Vorlage der Beweismittel.
2.6.1. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.10.2018 wurde der dem Beschwerdeführer „mit Bescheid vom XXXX “ zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.) und wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
2.6.2. In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF, seinen strafgerichtlichen Verurteilungen, seiner Rückkehrsituation, seinem Privat- und Familienleben in Österreich, sowie zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass der BF, aufgrund der Begehung terroristischer Straftaten ein besonders schweres Verbrechen begangen habe, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen gewesen sei. Für den BF bestehe keine Gefährdungs- und Bedrohungslage in der Russischen Föderation und stelle eine Rückkehr seinerseits keine Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention dar. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei trotz familiärer und privater Anknüpfungspunkte des BF im Bundegebiet aufgrund der begangenen Straftaten zumutbar, sowie als gerechtfertigt anzusehen. Die Erlassung eines Einreiseverbotes in der im Spruch angegebenen Dauer sei notwendig, um die vom BF ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.
2.6.3. Beweiswürdigend führte das BFA im angefochtenen Bescheid im Wesentlichen aus, dass der BF dreimal rechtskräftig verurteilt worden sei, zuletzt ua. auch wegen terroristischer Straftaten, wobei als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel, die Tatsache, dass es teilweise beim Versuch geblieben sei und das reumütige Geständnis des BF gewertet worden sei. Als erschwerend sei das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen hinzugetreten. Eine positive Zukunftsprognose könne dem BF - insbesondere unter Berücksichtigung des Urteils des LG XXXX vom 14.02.2018 - nicht gestellt werden. Berücksichtigung habe auch gefunden, dass der BF die ihm zur Last gelegten Taten über ein Jahr hinweg verübt habe und innerhalb offener Probezeit weitere strafbare Handlungen gesetzt habe. Es sei außerdem erkennbar, dass sich die Straftaten des BF in ihrer Schwere gesteigert hätten. Dem Strafurteil vom 14.02.2018 sei zu entnehmen, dass der BF dem Bewährungshelfer glaubwürdig vermittelt habe, an einer Zukunft in Österreich arbeiten und eine Ausbildung machen zu wollen. Derzeit sei der BF allerdings arbeitslos und sei zuletzt 5 Monate lang bis Ende September 2018 als Arbeiter angestellt gewesen. Dem BF sei bei seiner niederschriftlichen Einvernahme aufgetragen worden binnen 2 Wochen Unterlagen zu seiner Integration vorzulegen und habe sein Vertreter um Fristerstreckung gebeten, doch sei der BF offensichtlich nicht bestrebt sich kooperativ gegenüber der Behörde oder seinem gewillkürten Vertreter zu verhalten. Aufgrund des Verhaltens des BF sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass er neuerliche Straftaten begehen werde. Hinzu trete, dass der BF bei seiner niederschriftlichen Einvernahme seinen Bezug zum IS abgestritten habe und hätten ihn die Verurteilungen in der Vergangenheit nicht davon abgehalten neuerlich straffällig zu werden. Aufgrund der Steigerung der Straftaten des BF, habe nicht festgestellt werden können, dass die Verurteilungen zur Einsicht geführt hätten.
2.6.4. Dem BF sei der Status eines Asylberechtigten aufgrund der Schwierigkeiten seines Vaters zuerkannt worden und habe sich die Lage in der Russischen Föderation nunmehr nachhaltig geändert. Eine Verfolgung im Herkunftsstaat sei daher nicht zu erwarten. Der BF habe selbst vorgebracht im Falle der Rückkehr keine Vorstellungen über mögliche Verfolgungen zu haben und nicht zu wissen, was passieren würde. Anzumerken sei, dass eine Verfolgung nach der mittlerweile beträchtlichen Zeitspanne, in welcher sich das Regime in Tschetschenien geändert habe, nicht mehr wahrscheinlich sei.
2.7. Mit Verfahrensanordnung vom 31.10.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
2.8.1. Mit fristgerecht eingebrachtem Schriftsatz vom 15.11.2018, eingelangt am 19.11.2018, wurde für den BF durch seinen damaligen rechtsfreundlichen Vertreter das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid des BFA, zugestellt am 05.11.2018, in vollem Umfang erhoben.
2.8.2. Begründend wurde im Wesentlichen zur Situation des BF festgehalten, dass dieser am XXXX in XXXX in Tschetschenien geboren und dort lediglich bis zu seiner Flucht nach Österreich am 20.08.2003, sohin bis zu einem Alter von etwa 4 ½ Jahren, gelebt habe. Der BF wohne und lebe seither und - nach wie vor - abwechseln bei seiner Mutter und seinem Vater (Anm.: in Österreich). Mit Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation verbinde den BF nichts, zumal er sein gesamtes „wahrnehmbares“ Leben durchgehend und ausschließlich in Österreich verbracht habe. Er habe auch keinerlei Verwandt- und/oder Bekanntschaften außerhalb Österreichs. Der Familie des BF sei in Österreich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden und sei im damaligen Bescheid festgestellt worden, dass sie sich aus „wohlbegründeter Furcht, wegen einer ihnen unterstellten politischen Gesinnung in Verbindung mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit bzw. Zugehörigkeit einer sozialen Gruppe verfolgt zu werden, außerhalb der Russischen Föderation befänden“. An diesen Gründen habe sich bis heute, auch für den BF, nichts geändert. Seit dem Jahr 2003 sei die Mutter des BF, XXXX , geb. am XXXX , ebenso in Österreich aufhältig und wohnhaft, wie die drei jüngeren Schwestern des BF XXXX ( XXXX Jahre), XXXX ( XXXX Jahre) und XXXX ( XXXX Jahre) seit ihrer Geburt. Alle würden derzeit in der XXXX in XXXX wohnen. Der Vater des BF, XXXX , geb. am XXXX , sei derzeit in der XXXX wohnhaft und lebe ebenfalls seit dem Jahr 2003 durchgehend in Österreich. Das „Heimatland“ des BF sei sohin Österreich und gäbe es keinerlei Bekannte oder Verwandte, welche in der Russischen Föderation leben würden, da die Eltern des BF auch keine Geschwister hätten, bzw. sei ein Onkel des BF in Tschetschenien ermordet worden. Seine Großeltern seien, bis auf die Großmutter des BF ms., verstorben. Die Großmutter des BF lebe vermutlich in XXXX , genau sei dies nicht bekannt und könne auch nur vermutet werden, dass diese noch am Leben sei, weil der BF sie nicht kenne. Er habe noch nie Kontakt zu ihr gehabt, weder persönlich, noch telefonisch. Auch die Mutter des BF kenne ihre Mutter kaum und habe erstmals im Alter von 23 Jahren wenig Kontakt mit ihr gehabt. Seit die Mutter des BF in Österreich sei, habe diese keinerlei Kontakt mehr zu ihrer Mutter. Der BF habe seine gesamte Schulzeit in Österreich absolviert, die Volks- und Hauptschule in XXXX , wobei er durchaus gute Ergebnisse vorweisen könne. Er habe auch mit der Führerscheinausbildung bereits begonnen. Trotz Straffälligkeiten komme dem BF eine gute Zukunftsprognose zu, welche sich nicht nur aus dem Bericht der Bewährungshilfe, sondern auch aus den Lebensumständen des BF, welche seit der Urteilsfällung des LG XXXX am 14.02.2018 eingetreten seien, ergeben würden. Auch der Umstand, dass das LG XXXX hinsichtlich des BF ein überaus mildes Urteil (im Verhältnis zu den Mitangeklagten) gefällt habe, zeige, dass der BF einen absolut positiven Eindruck hinterlassen habe bzw. seine gesamten Lebensumstände auch das Gericht davon überzeugt hätten, er habe noch eine Chance verdient. Der BF gehe einer beruflichen Tätigkeit nach und sei eine Bewerbung als Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr nur aufgrund des Vorlebens des BF abgelehnt worden. Er bemühe sich derzeit auch bei anderen Vereinen und Organisationen um eine ehrenamtliche Tätigkeit, um so einen positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Der BF verfüge über keine gültigen Reisedokumente, da die Gültigkeit seines Konventionspasses abgelaufen sei. Am 22.05.2018 sei eine Befragung des BF mittels eines Russisch-Dolmetschers durchgeführt worden. Obwohl in den Auszügen aus dieser Befragung keine ersichtlichen Unrichtigkeiten enthalten seien, werde mitgeteilt, dass der BF damals hochgradig nervös gewesen sei und dieser weit besser Deutsch spreche als Russisch. Unklar bleibe zudem, weshalb der Rechtsvertreter des BF, welcher bei der Befragung am 22.05.2018 bereits bekanntgegeben worden sei, bislang seitens der Behörden nicht von diesem Verfahren verständigt worden sei. Der BF verfüge über keinerlei Vermögen und gäbe es in der Russischen Föderation mangels Förderungen, Unterstützungen oder dgl., aber auch mangels entsprechender Ausbildung des BF keine Möglichkeit, wo er wohnen und leben könnte, wie er zu Nahrung, Kleidung oder anderen lebensnotwendigen Bedarfsmitteln kommen könnte. Zudem sei, entgegen der Ausführungen auf S. 35 des bekämpften Bescheides, nicht ersichtlich oder begründet, weshalb die Gefährdung des BF, welche in der Entscheidung des UBAS vom 14.03.2006 klar festgestellt worden sei, heute nicht mehr vorliegen solle, zumal sich an der Situation und den Fakten seither nichts geändert habe. Sowohl zu seiner Mutter, als auch zu seinem Vater, wie auch seinen drei Schwestern, bestehe ein überaus enges Verhältnis, welches nicht aufrechterhalten werden könne, sofern der BF Österreich tatsächlich verlassen müsste. Der BF lebe seit seiner Geburt durchgehend bei seinen Eltern, abwechseln bei seinem Vater und seiner Mutter und habe er nur für einen kurzen Zeitraum (wenige Wochen/Monate) nach der Verurteilung durch das LG XXXX Anfang 2018 in eine andere Wohnung ziehen müssen.
2.8.3. Der BF fühle, lebe und verhalte sich wie ein Österreicher, dies mit allen positiven und negativen Eigenschaften. Ihm sei durch das LG XXXX vom 14.02.2018 ausdrücklich auch die Weisung der Psychotherapie auferlegt worden, da er solche offensichtlich dringend für seine Gesundheit benötige. Im Falle der Durchsetzung der nunmehr ausgesprochenen Rückkehrentscheidung hätte der BF, mangels finanzieller Mittel bzw. staatlicher Unterstützung in der Russischen Föderation keine Möglichkeit mehr eine solche (notwendige) Therapie zu absolvieren. Dargelegt wurde in der Folge die Rechtslage zu § 56 AsylG, § 9 BFA-VG und Art. 8 EMRK. Unrichtig sei, dass kein gemeinsamer Wohnsitz mit den Familienangehörigen des BF bestehe. Er wohne und lebe abwechselnd bei seinen Eltern und habe nur einen überaus kurzen Zeitraum über eine eigene Wohnung verfügt. Hierbei sei der BF mangels ausreichendem eigenem Einkommen auf seine Eltern angewiesen. Dass die belangte Behörde in keinster Weise auf den Einzelfall des BF eingegangen sei, sondern mit einer vorgefertigten Meinung aus anderen Fällen argumentiere, zeige sich insbesondere aus dem offensichtlich aus einer anderen Entscheidung kopierten letzten Satz des 2. Absatzes auf S. 53 der Entscheidung, wonach der BF etwa 31 Jahre lang im Herkunftsstaat verbracht, dort die Schule besucht und mit den dortigen Gepflogenheiten vertraut sei. Das entspreche nicht dem festgestellten Sachverhalt bzw. auch nicht dem Lebenslauf des BF, welcher XXXX geboren sei und daher beinahe sein gesamtes Leben, welches erst seit etwa 19 Jahren andauere, in Österreich verbracht habe. Weiters werde im angefochtenen Bescheid ausgeführt, dass nicht davon auszugehen sei, dass der BF von seinem Herkunftsstaat und den dort herrschenden Lebensumständen entfremdet wäre, sodass diesem eine Rückkehr unzumutbar bzw. unmöglich wäre. Auch diese Ausführungen würden zweifellos aus einer anderen Entscheidung stammen. Dass es notwendig sei, den BF, welcher im Alter von 4 Jahren nach Österreich gekommen sei, alleine nach Russland zu schicken zeige, dass sich die belangte Behörde überhaupt nicht mit diesem Fall beschäftigt habe. Daher stehe auch fest, dass sämtliche weitere Feststellungen und die mehrfach hervorgehobene „Gesamtabwägung aller Umstände“ der Behörde, welche die negative Prognose in Bezug auf den Beschwerdeführer, dessen besondere Gefährlichkeit und sein „nicht schützenswertes“ Familienleben dokumentieren sollten, auf ungeprüften verba legalia und Textfragmenten aus anderen Entscheidungen gründen würden und die gefällte Entscheidung keinesfalls zu tragen vermögen. Selbst, wenn nun allen dargelegten Umständen nicht gefolgt werden solle, werde noch auf die Rechtslage des § 46a FPG hingewiesen. Die vorliegende Entscheidung greife gravierend in das Privat- und Familienleben des BF ein, wohingegen keine zwingende Notwendigkeit vorliege, diesem den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet der Republik Österreich zu verbieten. Zudem könne eine solche Entscheidung nach Abs. 2 mit Auflagen verbunden werden, wodurch ein gewisser Interessenausgleich geschaffen und die wechselseitige Eingriffsintensität verringert, sowie angepasst werden könne. Die Abschiebung des BF in die Russische Föderation wäre mit erheblichen, jedenfalls lebensbedrohlichen Nachteilen für diesen verbunden, sodass neben dem Wegfall seines bestehenden Privat- und Familienlebens auch sein Recht auf persönliche Freiheit bzw. auf Unversehrtheit seines Körpers bzw. des Lebens gefährdet wäre.
2.8.4. Beantragt wurde das Bundesverwaltungsgericht möge 1.) den angefochtenen Bescheid ersatzlos beheben und aussprechen, dass die dem BF mit Bescheid vom 14.03.2006 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft aufrecht bleibe; 2.) den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt II. beheben und aussprechen, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zukommt; 3.) in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt III. beheben und aussprechen, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 56 AsylG erteilte wird; 4.) in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt III. beheben und aussprechen, dass dem BF eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG, sohin aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilt wird; 5.) in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt III. beheben und aussprechen, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt wird; 6.) in eventu aussprechen, dass der weitere Aufenthalt des BF im Bundesgebiet gemäß § 46a FPG geduldet wird; jedenfalls 7.) den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunk IV. bis VII. zur Gänze ersatzlos beheben.
2.8.5. Weiters wurde beantragt, als dieser Umstand nicht ohnehin - ex lege - eintrete, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Mit der Beschwerde vorgelegt wurden Schulzeugnisse des BF, ein Ausbildungsvertrag, sowie eine Kurskarte, ein Bericht vom 03.09.2018 und SV-Auszüge, sowie Einkommensnachweise.
2.9. Die Beschwerdevorlage vom 20.11.2018 und der Verwaltungsakt langten beim Bundesverwaltungsgericht am 26.11.2018 ein.
2.10. Mit Beschwerdenachreichung vom 11.03.2022 wurde ein Bericht der LPD XXXX vom 10.03.2022 übermittelt.
2.11. Mit Beschluss vom 11.03.2022 des LG XXXX , Zl. XXXX , wurde über den BF die Untersuchungshaft verhängt.
2.12. Mit Beschwerdenachreichung vom 12.04.2022 übermittelte die belangte Behörde den Abschluss-Bericht der LPD XXXX vom 09.04.2022.
2.13. Mit Ladung vom 23.05.2022, übermittelte das BVwG dem Beschwerdeführer eine Auflistung der aktuellen Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation, mit der Information, dass es beabsichtige seiner Entscheidung diese Feststellungen zu Grunde zu legen. Dem Beschwerdeführer wurde Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen 10 Tagen einlangend schriftlich Stellung zu nehmen. Gleichzeitig wurde der BF zur mündlichen Beschwerdeverhandlung am 10.06.2022 geladen.
2.14. Mit Urteil des LG XXXX vom 19.05.2022, XXXX , wurde der BF wegen § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt, wobei ein Teil der Freiheitsstrafe von 16 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.
2.15. Mit Stellungnahme vom 07.06.2022, eingelangt am 08.06.2022 legte die XXXX Vollmacht im gegenständlichen Verfahren und führte im Wesentlichen aus, dass der am XXXX geborene BF Staatsangehöriger der Russischen Föderation sei und im Jahr 2003 gemeinsam mit seiner Kernfamilie nach Österreich eingereist sei. Die Eltern des BF hätten einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt, welchem am 01.04.2005 mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats stattgegeben und der gesamten Kernfamilie, Vater und Mutter, sowie dem BF und seinen Geschwistern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Der Unabhängige Bundesasylsenat habe die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft damit begründet, dass die Kernfamilie des BF aufgrund der seinem Vater drohenden Verfolgung wegen zumindest unterstellter politischer Gesinnung, im Falle einer Rückkehr ebenso Verfolgungshandlungen zu befürchten habe. Der Vater des BF sei Leibwächter des Präsidenten XXXX , der damaligen Regierung, gewesen, weshalb ihm nach wie vor in Tschetschenien Verfolgung durch die gegenwärtigen Regierenden drohe. Dem BF sei gemäß § 7 AsylG durch Erstreckung Asyl gewährt worden.
Der BF sei dreimal strafgerichtlich verurteilt worden und bereue seine Straftaten zutiefst, er sei jeweils geständig gewesen und habe seitdem einen ordentlichen Lebenswandel vollzogen. Der BF könne eine positive Zukunftsprognose vorzeigen, da er sich unter anderem seit Jahren nichts mehr habe zu Schulden kommen lassen, gearbeitet habe und über eine Einstellungszusage nach seiner Haftentlassung verfüge. Überdies führe der BF ein intensives Privat- und Familienleben in Österreich seit dem Kleinkindalter.
Die belangte Behörde habe die Gründe, die im Jahr 2005 zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten des BF und seiner Eltern geführt hätten, nicht hinreichend geprüft und habe insbesondere dessen Eltern zu dem Bestehen der Fluchtgründe nicht einvernommen. Die im Verfahren seiner Eltern vorgebrachten Asylgründe Gründe des Vaters des BF, als auch die seiner Mutter seien - nach wie vor - aufrecht und könne der BF demnach keinesfalls den Schutz seines Heimatlandes in Anspruch nehmen. Der BF habe als Sohn seines Vaters, welcher viele Jahre Leibwächter des Präsidenten XXXX gewesen sei, auch selbst Verfolgungshandlungen aufgrund einer (unterstellten) oppositionellen politischen Gesinnung im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation zu befürchten. Das Verfahren zur Aberkennung auch wegen Wegfalls der Umstände, weise einen gravierenden Mangel auf, als die Behörde keine erkennbaren Feststellungen dahingehend getroffen habe, ob die Eltern des Beschwerdeführers, von welchen der BF abgeleitet Asyl erhalten habe, in der Russischen Föderation unverändert einer asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt seien.
Die belangte Behörde habe es im Hinblick auf die Beurteilung einer asylrelevanten Verfolgung auch zur Gänze unterlassen, hinsichtlich der Gefahr des BF als Europa-Rückkehrer, welcher in Österreich aufgewachsen und ein Verfechter von Demokratie sei, sich dem russischen Regime widersetze und im Falle einer Rückkehr auch widersetzen würde, zu ermitteln. Dem BF würde auch hierdurch eine politisch oppositionelle Gesinnung unterstellt werden und würde ihm asylrelevante Verfolgung, als auch die Verletzung seines Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK, einer Verletzung des Folterverbots, unmenschlicher, erniedrigender Strafe oder Behandlung gemäß Art. 3 EMRK im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation drohen. Der BF lebe seitdem er 4 Jahre alt sei in Österreich, er sei hier aufgewachsen und stark verwurzelt. Er sei mit westlichen Werten aufgewachsen, welche stark in ihm verankert seien und er verurteile er die russische Politik, sowie den Ukraine-Krieg zutiefst. Als Europa Rückkehrer ohne russische Sprachkenntnisse, welcher sich dem russischen Regime widersetze und im Falle einer Rückkehr auch widersetzen würde, drohe dem BF kumulativ asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Abstammung iVm einer unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung, als auch die Verletzung seines Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK und einer Verletzung des Verbots der Folter oder unmenschlicher, erniedrigender Strafe oder Behandlung gemäß Art. 3 EMRK.
Das von der belangten Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren sei grob mangelhaft gewesen, weil diese ihrer Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts nicht nachgekommen sei. Dies, weil sie die Gründe, die im Jahr 2005 zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten geführt hätten, mit keinem Wort geprüft habe. Die Behörde hätte dazu insbesondere den damaligen Asylakt der Eltern des BF ihrer Prüfung zu Grunde legen und die Eltern des BF einvernehmen müssen, zumal der BF den Status des Asylberechtigten abgeleitet von seinem Vater bekommen habe. Außerdem befürchte der BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation, als Mann im wehrpflichtigen Alter auf der Seite der russischen Streitkräfte für den Ukraine-Krieg gegen seinen Willen eingezogen zu werden. Der BF habe Angst, dass er gegen seinen Willen gezwungen werde in der Ukraine als Vertragssoldat zu kämpfen. Laut näher zitierten Medienberichten würden Menschen aus verschiedenen tschetschenischen Regionen gezwungen am Krieg teilzunehmen, was der BF ablehne. Es müssten sohin auch die neuen Asylgründe des BF, seine Befürchtungen im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation als Mann im wehrpflichtigen Alter auf der Seite der russischen Streitkräfte für den Ukraine-Krieg gegen seinen Willen eingezogen zu werden, berücksichtigt werden. Aus diesem Grund müssten daher aktuelle Länderberichte in Bezug auf den Russland-Ukraine Krieg eingeholt werden und hätte die belangte Behörde auf deren Basis bei richtiger Würdigung und rechtlicher Beurteilung dem BF den Schutz des Asylberechtigten nicht von Amts wegen aberkennen dürfen. Zumindest hätte die Rückkehrentscheidung für unzulässig erklärt werden und von Amts wegen aufgrund des schützenwerten Familien- und Privatlebens in Österreich eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt werden müssen. In der Folge wurden mehrfach Medienberichte zitiert und ausgeführt, dass in der Russischen Föderation, vor allem in Tschetschenien wehrpflichtige Männer zwangsweise für den Kampf im Ukraine-Krieg rekrutiert würden und wisse dies der BF auch aus persönlicher Erfahrung. Der Cousin seiner Lebensgefährtin sei in Tschetschenien vom XXXX Clan von zuhause entführt und für den Kampf im Ukraine-Krieg zwangsrekrutiert worden. Dem BF und seiner Lebensgefährtin sei berichtet worden, dass vor allem „die jungen wehrpflichtigen Männer ohne Kriegserfahrung an die vorderste Front geschickt werden um als Kanonen Futter zu dienen“. Der BF lehne es ab sich an Kriegshandlungen und in weiterer Folge an völkerrechtswidrigen Handlungen im Ukraine-Krieg zu beteiligen. Folglich wurden mehrere Ausschnitte aus verschiedenen Berichten im Zusammenhang mit dem Ukraine-Russland Konflikt zitiert. Die Information, dass nur Vertragssoldaten in Auslandseinsätze geschickt würden, welche in früheren Länderinformationen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation enthalten gewesen seien, finde sich im aktuellen LIB vom 21.04.2022 nicht mehr. Ganz im Gegenteil würden sich Berichte häufen, dass auf Soldaten Druck ausgeübt werde, sich „freiwillig“ zu melden. Der BF sei 23 Jahre alt und befinde sich somit im wehrpflichtigen Alter. Es bestehe die reale Gefahr, dass er im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation zum Wehrdienst einberufen und in weiterer Folge unfreiwillig zu Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg gezwungen würde. Näher genannte Berichte würden bestätigen, dass Wehrdienstpflichtige gezwungen würden Verträge zu unterzeichnen, in welchen sie zustimmen im Ukraine Krieg zu kämpfen oder auch ohne Vertragsunterzeichnung in den Ukraine-Krieg geschickt würden. Vor allem Tschetschenen seien unter dem XXXX Regime einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, als Soldaten für die Kampfhandlungen im Ukraine Krieg gegen ihren Willen eingesetzt zu werden. Der BF habe sohin einerseits neue Asylgründe und würden diese auch von den aktuellsten Länderberichten, abseits der Länderinformation der Staatendokumentation, bestätigt und befürchte der BF andererseits auch aufgrund der seinen Eltern drohenden Verfolgung, wegen zumindest unterstellter politischer Gesinnung, im Falle einer Rückkehr, ebenso Verfolgungshandlungen.
Wie in der Beschwerde vom 15.11.2018 dargelegt, habe die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid auch durch eine grob mangelhafte Beweiswürdigung und gravierende Begründungsmängeln mit Rechtswidrigkeit belastet. Bei entsprechender Beweiswürdigung wäre die belangte Behörde daher auch zu einem anderen Verfahrensergebnis gelangt. Der BF beantrage zum Beweis dafür, dass ihm im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nach wie vor asylrelevante Verfolgung drohe, auch die Einvernahme seiner Eltern, XXXX und XXXX , welche derzeit krebskrank sei.
Weiters werde die Einholung eines Gutachtens eines länderkundigen Sachverständigen für Tschetschenien zum Thema Rekrutierungspraktiken in der Russischen Föderation, sowie in Tschetschenien iVm mit dem Russland-Ukraine Krieg zum Beweis dafür, dass junge Rückkehrer aus dem Westen keine Möglichkeit hätten, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eine Beschäftigungsmöglichkeit zu finden, die es ihnen ermögliche, nach Rückkehr eine eigene Existenz auch ohne familiäres Netz sicher aufzubauen. Aufgrund dieser Tatsache würde dem BF bei einer Rückkehr eine aussichtslose, existenzbedrohende Lebenssituation drohen, weshalb ihm keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Der BF habe seit Ausbruch des Russland-Ukraine Krieges sohin auch ein eigenes Fluchtvorbringen. Er sei der Verfolgung ausgesetzt, weil das Risiko bestehe, dass er gegen seinen Willen als Vertragssoldat für den Kampf im Ukraine-Krieg eingezogen werde. Der BF verurteile den Angriff Russlands auf die Ukraine zutiefst und lehne es ab an Kampfhandlungen teilzunehmen. Die belangte Behörde habe sich zuletzt auch mit keinem Wort damit auseinandergesetzt, dass der BF in Österreich mit europäischen Werten aufgewachsen sei, er ein verwestlichter Mann sei und ihm im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation auch aus diesem Grund asylrelevante politische Verfolgung sowie Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der verwestlichten Tschetschenien-Rückkehrer drohe.
Aus dem gesamten Inhalt des Verfahrens sei somit zu schließen, dass dem BF in seinem Herkunftsland aufgrund seiner Abstammung und politischen Einstellung Verfolgung drohe, sowie ein geschütztes Familien- und Privatleben in Österreich führe, weshalb eine Rückkehrentscheidung, seine Abschiebung und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels jedenfalls Art. 3 und Art. 8 EMRK verletzen würde.
2.16. Am 10.06.2022 fand vor dem BVwG unter der Beiziehung einer Dolmetscherin für die tschetschenische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu welcher der Beschwerdeführer ordnungsgemäß geladen wurde und der BF im Rahmen einer Videokonferenz in der JA XXXX auch teilnahm. Die Einvernahme des BF wurde, auf seinen eigenen Wunsch, in deutscher Sprache durchgeführt.
Die Niederschrift lautet auszugsweise:
„[…]
RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort in der Russischen Föderation (RF) an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise zuletzt aufgehalten haben.
BF: XXXX , geb. XXXX in XXXX , ich habe keine Staatsangehörigkeit, meinen letzten Wohnort in der Russische Föderation weiß ich nicht mehr, ich war drei oder vier Jahre alt.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volksgruppe- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Tschetschene, ich bin geboren in Tschetschenien.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an? Und wenn ja, welcher?
BF: Ich gehöre dem Islam an, die Ausrichtung spielt für mich keine Rolle (sunnitisch oder schiitisch).
RI: Sagen Ihnen die Namen XXXX und XXXX etwas?
BF: Nein, überhaupt nicht.
RI: Das sind die Namen unter denen Sie, Ihre Eltern und Ihre Schwester nach Österreich gekommen sind und einen Asylantrag gestellt haben.
BF: Ich habe die Namen nie gehört.
RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?
BF: Ich weiß nicht genau, ob ich das habe, ich habe das nie gesehen.
RI: Besaßen Sie jemals einen russischen Reisepass?
BF: Nein, ich besaß nie einen russ. Pass.
RI: Besitzen Sie derzeit einen gültigen russischen Reisepass?
BF: Nein.
RI: Welche Sprachen sprechen Sie?
BF: Ich spreche Deutsch, Tschetschenisch und Englisch.
RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Wo und wie lange waren Sie in Österreich in der Schule. Welche Schulausbildung haben Sie in Österreich begonnen und welche Schulausbildung haben Sie bisher abgeschlossen?
BF: Ich war in der Vorschule, Volkschule, der Neuen Mittelschule, ich war in der VHS, um meinen Pflichtschulabschluss nachzuholen.
RI: Haben Sie einen gültigen Pflichtschulabschluss? Wenn nein, warum nicht?
BF: Ja.
RI: Wann haben Sie diesen abgelegt?
BFV: Die Mutter hat mir von der VHS die Bestätigung geschickt, dass er einen Pflichtschulabschlusskurs besucht hat. Das ist die Besuchsbestätigung v. 11.2.2019 bis 17.1.2020. Ein Abschlusszeugnis selbst konnte sie nicht schicken, wir werden das aber nachreichen.
Der RI beauftragt die BFV das Pflichtschulabschlusszeugnis binnen 10 Tagen nachzureichen.
RI: Haben Sie eine Berufsausbildung in Österreich begonnen bzw. auch abgeschlossen? Wenn ja, welche und wann haben Sie damit begonnen?
BF: Ich habe eine Lehre begonnen 2020 im Mai, die Mutter konnte nur den Lehrvertrag finden, dieser ist v. 15. Juni 2020 bei der Firma XXXX .
RI: Wann haben Sie diese Lehre angetreten und wann abgebrochen?
BF: Am 15. Juni 2020 habe ich angefangen und nach drei Monaten habe ich die Lehre abgebrochen. Es war eine Elektro- und Gebäudetechnikerlehre. Nach der Haft kann ich die Lehre dort weitermachen, wo ich aufgehört habe. Ich habe damals aufgehört, weil ich zu einer Softwarefirma gehen wollte in XXXX namens XXXX , ich war bei einem Bewerbungsgespräch und wurde nicht genommen. Ich kann aber, wenn ich sie selber finanziere, dort eine Ausbildung beginnen.
RI: Wann sind Sie das erste Mal nach Österreich gereist und seit wann befinden Sie sich durchgehend in Österreich?
BF: Seit meiner Flucht bin ich hier in Österreich.
RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zurzeit in der RF und in welcher Stadt? Bitte zählen Sie diese mit Namen, Geburtsdatum und Wohnort auf?
BF: Ich kenne die Angehörigen nicht, ich habe keine Angehörigen dort.
RI: Sie haben im Rahmen Ihrer Einvernahme vor dem BFA am 22.05.2018 angegeben, dass eine Oma, eine Großmutter ms, noch in der Russische Föderation leben würde, ist das auch heute noch der Fall?
BF: Ich weiß nicht, ob sie lebt, ich habe keinen Kontakt zu ihr. Keiner von meiner Familie hat Kontakt zu ihr.
RI: Warum nicht?
BF: Meine Mutter hat mit ihr gestritten, irgendetwas ist vorgefallen, ich weiß nicht, ich habe mich dafür nicht interessiert.
RI: Verfügt Ihre Familie im Herkunftsstaat über Vermögenswerte im Herkunftsstaat (Auto, Haus, Eigentumswohnung, Grundstück,…)?
BF: Meine Schwester hatte ein Auto, es ist durch einen Unfall kaputt gegangen.
RI wiederholt die Frage.
BF: Nein, haben wir nicht.
RI: Verfügen Sie über Verwandte im Bundesgebiet? Wenn ja, welche? Bitte zählen Sie alle auf.
BF: In Ö habe ich drei Schwestern, meine Mutter und mein Vater, meine Stiefmutter sowie ihre zwei Söhne. Das sind die Kinder meines Vaters, diese sind eineiige Zwillinge und Halbbrüder von mir.
RI: Dh Ihre Eltern sind geschieden und leben in getrennten Haushalten?
BF: Ja, seit ich 11 bin.
RI: Seit wann ist Ihr Vater mit seiner neuen Frau verheiratet?
BF: Ich glaube seit drei Jahren.
RI: Hat Ihre Mutter auch einen neuen Partner?
BF: Nein.
RI: Lebt Ihre Mutter mit Ihren Geschwistern im gemeinsamen Haushalt?
BF: Ja.
RI: Wie ist der Aufenthaltsstatus Ihrer in Österreich lebenden Verwandten? Haben alle den Asylstatus oder hat bereits es rechtskräftige Asylaberkennungen im engeren Familienkreis gegeben?
BF: Meine Familie hat den Asylstatus und sie wollen die StA haben. Alle in meiner Familie in Ö haben den Asylstatus, soweit ich weiß.
RI: Aus den mir vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass Ihrer Mutter der Asylstatus rechtskräftig aberkannt wurde und sie in Ö über einen Daueraufenthalt EU verfügt. Wissen Sie etwas darüber?
BF: Meine Mutter meint, sie hat den Aslystatus noch.
BFV: Ich denke es ist ein Missverständnis, der BF meint, die Mutter habe ihm gesagt, sie sei umgestiegen von Asylstatus auf Daueraufenthalt EU.
RI: Wissen Sie, warum Ihre Mutter umgestiegen ist?
BF: Sie meint, es liegt an meinen Vorstrafen.
RI: Wie oft haben Sie derzeit Kontakt mit Ihren Eltern? Wie oft haben Sie derzeit Kontakt mit Ihren Schwestern?
BF: Jeden Tag mit allen - jetzt telefonisch.
RI: Bekommen Sie von Ihren Verwandten (Eltern, Schwestern) Besuch in der Haftanstalt?
BF: Ja, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen mich nicht so oft besuchen, weil es für sie umständlich ist, sie gehen in die Schule und in die Arbeit. Die Besuchszeit dauert eine halbe Stunde und es lohnt sich nicht. Meine Mutter muss von XXXX nach XXXX . kommen und es zahlt sich nicht aus.
RI: Wie oft hatten Sie Kontakt mit Ihren Eltern und Geschwistern vor Ihrer Inhaftierung?
BF: Ich war ständig in Kontakt mit meinen Schwestern, meiner Mutter und meinem Vater.
RI: Was heißt ständig?
BF: Jeden Tag. Meine Schwestern sind wie Freunde, meine Mutter ist die beste Freundin, wir reden über alles.
RI: Lebten Sie vor Ihrer derzeitigen Inhaftierung mit Ihren Eltern und Geschwistern in einem gemeinsamen Haushalt?
BF: Ja, bei meiner Mutter. Ich habe bis zur Inhaftierung den Haushalt mit meiner Mutter und meinen Schwestern geteilt.
RI: Haben Sie bis einem Zeitpunkt im Haushalt mit Ihrem Vater gelebt?
BF: Ja, habe ich. Es war 2015.
RI: Gab es einen Grund dafür, dass Sie eine zeitlang bei Ihrem Vater und nicht bei Ihrer Mutter lebten?
BF: Ja, es gab Stress, ich bin dann zu meinem Vater nach XXXX geflüchtet, um mich vom Stress zu erholen und er hat mich überreden wollen, dass ich in XXXX bleibe.
RI: Wie lange lebten Sie beim Vater?
BF: Ca. 1 Jahr. Ich bin immer noch in XXXX gemeldet, ich konnte mich nicht in XXXX ummelden, weil ich keinen Lichtbildausweis habe. Ich hatte einen Konventionspass, den habe ich verloren und ich habe einen neuen beantragt, den bekam ich nicht, weil das BFA meinte, dass ich das aufgrund der Beschwerde nicht bekomme. Das ist der Grund, wieso ich noch immer in XXXX gemeldet bin, aber ich wohnte bei meiner Mutter.
RI: Wovon leben Ihre in Österreich aufhältigen Verwandten?
BF: Von Arbeit. Meine Mutter macht verschiedene Arbeiten, sie ist gerade Putzfrau, meine Schwester ist Frisörin, die zweite Schwester ist in der Apotheke, die Dritte geht noch in die Schule, in die Hauptschule.
RI: Wie sind Ihre Familienverhältnisse im Bundesgebiet? Sind Sie verheiratet oder in einer Partnerschaft?
BF: Ich hatte eine Freundin, wegen der Haft habe ich jetzt keinen Kontakt zu ihr. Ich bin derzeit Single. Wir waren ein Monat zusammen. Es ging wegen der Haft auseinander.
RI: Haben Sie Kinder?
BF: Nein, ich habe keine Kinder.
RI: Waren Sie vor Ihrer Inhaftierung jemals erwerbstätig bzw. wovon haben Sie vor Ihrer Inhaftierung gelebt?
BF: Ich war von meiner Mutter abhängig.
RI: Dh, Sie gingen keiner Berufstätigkeit nach?
BF: Ich habe im Sicherheitsdienst gearbeitet und in einer Elektrofirma, ich war in XXXX Lagerarbeiter und hier in XXXX war ich im Coronalabor in XXXX und XXXX als Supervisor.
RI: Haben Sie seit Ihrer erstmaligen Einreise in Österreich im Jahr 2003 auch in einem anderen Land gelebt bzw. in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union?
BF: Ich war seit ich hergekommen nur in Österreich.
RI: Wissen Sie noch, warum Ihre Familie mit Ihnen 2003 aus Tschetschenien geflohen ist?
BF: Ja, sie sind vor der Politik geflohen.
RI: Wissen Sie die genauen Umstände?
BF: In Itschkeria war mein Vater beim Militär und er hat gegen das jetzige Regime gekämpft und als das jetzige Regime sich etabliert hat, sind wir geflohen.
RI: Sind Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich in 2003 wieder einmal in der Russischen Föderation gewesen, sei es auf Besuch oder auf Urlaub?
BF: Nein, ich wollte nie da hingehen und bin es auch nicht.
RI: Sie befinden sich zurzeit in Strafhaft. Wie oft waren Sie bereits insgesamt in Strafhaft in Österreich?
BF: Da ist jetzt meine zweite Verhaftung gewesen.
RI: Wissen Sie noch, welchen Taten diesen straftrechtlichen Verurteilungen jeweils zu Grunde liegen?
BF: Ja, weiß ich.
RI: Haben Sie zwischen den Strafhaften immer alleine gelebt oder in einem gemeinsamen Haushalt mit einer anderen Person?
BF: Ich habe nicht alleine gelebt.
RI: Womit hat Ihre kriminelle Laufbahn begonnen und was war der Grund für die ersten Straftaten? Etwa Langeweile, finanzielle Not, zerrüttete Familienverhältnisse, schlechter Umgang oder anderes? Können Sie mir erklären, wie es bei Ihnen soweit gekommen ist?
BF: Ich war immer zu Hause und meine Mutter bestand darauf, dass ich öfters hinaus gehe, ich ging in den Park und lernte Leute mit schlechtem Umfeld kennen. Es war wegen den schlechten Kontakten, den schlechten Freunden und dem schlechten Umfeld.
RI: Wie stehen Sie heute zu diesen Straftaten im Bundesgebiet?
BF: Ich möchte jedem abraten, auch hier im Gefängnis, eine Straftat zu begehen. Wenn jemand eine Straftat begangen hat, frage ich ihn, warum er das gemacht hat. Ich bin kein Freund von Straftaten, ich bin reifer und erwachsener geworden.
RI: VORHALTUNG: Aus dem Strafregister der Republik Österreich geht hervor, dass bereits 4 strafrechtliche Verurteilung zu Ihrer Person eingetragen sind wegen Delikten, die vorwiegend gegen das Eigentum und gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter gerichtet sind, aber auch das Verbrechen des verbrecherischen Komplotts, der terroristischen Vereinigung, sowie der kriminellen Organisation und Sie haben mehrjährige, wenn auch teilbedingte Freiheitsstrafen ausgefasst, weswegen Sie auch zur Zeit in Strafhaft sind. Wie gedenken Sie ernsthaft diesen Teufelskreis ihres im Bundesgebiet bisher zu Schau getragenen hochkriminellen Verhaltens künftig zu durchbrechen?
BF: Ich habe sehr viel Schaden angerichtet, nicht nur dem Staat, sondern auch mir selber. Meine Familie leidet echt darunter, meine Mutter hat Stress. Ich bereue wirklich, dass ich diese Sachen gemacht habe. Ich habe wirklich nie etwas Falsches machen wollen, damals mit 16 hatte ich diese Gedanken und wollte cool sein, aber ab 18 habe ich nichts gemacht. Ich wurde mit 18 verhaftet wegen den Sachen aus 2015.
RI: Sind Sie mit gerade mal 23 Jahren nicht noch ein wenig jung für eine derart kriminelle Laufbahn in Ö?
BF: Ja. Ich sehe mich jung, aber nicht so jung, dass ich noch Probleme machen werde.
RI: Sie verfügen im Bundesgebiet über familiäre Anknüpfungspunkte in den Personen der Eltern und der Geschwister? Sind sie der einzige in der Familie, der bislang mit dem Gesetz im Bundesgebiet in Konflikt geraten ist oder sind auch andere Mitglieder Ihrer Familie bereits im Bundesgebiet strafrechtlich verurteilt worden?
BF: Nein, ich bin der einzige in meiner Familie.
RI: Was sagen Ihre Eltern und Geschwister zu Ihrem bisherigen Verhalten im Bundesgebiet?
BF: Sie sagen, dass ich dumm bin und ich mich von den damaligen Freunden fern halten soll.
RI: Ihrer 3. Verurteilung in Österreich vor dem Landesgericht XXXX liegt u.a. zu Grunde, dass Sie sich mit anderen Personen im Jahr 2015 verabredet haben in XXXX und XXXX auf Aufforderung und unter Anleitung eines XXXX -Mitgliedes einen Raubüberfall auf einen Waffenhändler in XXXX durchzuführen und mit den erbeuteten Waffen bei einem Anschlag auf eine Polizeistation in XXXX die dort anwesenden Polizisten zu töten. Die Realisierung dieses Planes scheiterte lediglich aufgrund eines anonymen Warnhinweises. Weiter haben Sie sich mit anderen zumindest seit Sommer 2015 bis April 2017 als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung, nämlich der Terrororganisation „ XXXX “ als Mitglied beteiligt, indem Sie sich u.a. zu einer XXXX -Splittergruppe zwecks Errichtung eines Kalifats in Österreich zusammenschlossen und 2015 in einem Video den Treueschwur gegenüber den Anführer des XXXX ablegten und dieses Video einem XXXX -Mitglied übermittelten. Wie stehen Sie heute zu diesen von Ihnen begangenen Taten?
BF: Ich sage mich los von dieser Sache, es ist keineswegs das Richtige und ich kann Ihnen auch erklären warum: Als erster Punkt, sie tun viel Schaden anrichten, als zweiter Punkt, sie begehen Sachen, die nicht einmal ein Mörder begehen würde, sie versuchen, zB Jugendlichen Schuldgefühle zu geben, indem sie sagen, eure Glaubensgeschwister werden gefoltert, sie versuchen somit das Gefühl zu geben, deine Glaubensgeschwister werden geschlagen, gefoltert und die Frauen werden unterdrückt. Sie wollen somit das Gefühl geben, dass du da bist und nichts machst, während die Schwächeren gefoltert und unterdrückt werden. Sie sagen, dass durch das Kalifat diese Sachen verhindert werden. Aber, sie haben selber erlaubt, Frauen zu töten, Kinder zu töten, und genau das zu machen, was sie selber verhindern wollten.
RI: Was wussten Sie über den XXXX und dessen Verbrechen, als Sie in Kontakt mit dessen Mitgliedern gerieten?
BF: Von den Verbrechen wusste ich nichts.
RI: Was meinten Sie, was der XXXX ist?
BF: Sie meinten, wieso sei es falsch für das Kalifat zu kämpfen, weil das Bundesheer für Österreich kämpft oder das Heer für die USA kämpft, sie wollten somit sagen, dass sie auch Bedarf haben für Schutz.
RI: Das haben Sie alles geglaubt?
BF: Ja.
RI: Wie fand die Annäherung an den XXXX statt und wie erfolgte die erste Kontaktaufnahme?
BF: Ich bin in XXXX oder XXXX in eine Moschee gegangen und dort waren viele Leute, die den Islam praktiziert haben. Man hat es ihnen äußerlich angesehen, dass sie den Islam praktizieren. Ich, der keine Ahnung hatte vom Islam, habe mich von ihnen beeinflussen lassen, dahingehend, was der Islam ist. Da waren Typen und einer hat für ein Mädchen gesprochen und meinte, ob ich eine Freundin haben möchte und als ich bejahte, gab er mir ein Instagramprofil und dann habe ich das Mädchen angeschrieben. Dann habe ich mit dem Mädchen so zwei Wochen geschrieben, dann meinte sie, wir müssen die weitere Kontaktaufnahme mit ihrem Bruder klären und ich muss mit ihrem Bruder sprechen. Dann sagte ich, es ist in Ordnung, wenn ich mit ihrem Bruder Kontakt aufnehme. Dann hat sie die Nummer ihm geschickt, er hat mich angeschrieben und sich vorgestellt, ich stellte mich vor, wir hatten Kontakt, der Bruder war Mitglied des XXXX und ich wusste es nicht.
RI: Wie konnte er Sie für den XXXX rekrutieren?
BF: Er hat zuerst nichts davon gesagt, dann hat er versucht, mich mit der Religion zu beeinflussen, dann sagte er mir, was es nach dem Tod gibt, das Paradies, das ewige Leben, er hat erzählt, wie schön es dort ist, dann hat er erzählt, wie schlimm es in der Hölle ist, was dort passieren wird, wer dort alles reinkommt. Dann hat er erzählt vom Krieg, dass die Gläubigen und die Ungläubigen miteinander kämpfen, dass Gott es so will, dass es die Pflicht ist zu kämpfen, wenn man nicht kämpft, wird man irgendwann vor Gottes Gericht stehen. Ich war zu dem Zeitpunkt ein sehr naiver Mensch, er hat angefangen zu erzählen, warum man nach Syrien kommen sollte und dann sagte er mir, schau, deine Brüder und Schwester werden gefangen, gefoltert, deine Schwestern werden vergewaltigt, er hat mir auch Beweise geschickt, wie Leute im Gefängnis behandelt werden. Es waren Youtube-Links. Dann sagte er, nachdem er mir diese Gefühle gegeben hat, dass ich dort mitmache, gefragt, möchtest du nach Syrien kommen. Zu der Zeit hatte ich Kontakt mit XXXX und ich habe ihm erzählt, was XXXX mir erzählt hat. XXXX wollte auch die Nummer von XXXX haben, ich gab ihn die Nummer, weil XXXX damit einverstanden war. Er meinte, wenn wir nach Syrien kommen wollen, sollten wir einen Treueschwur per Video ablegen. Er sagte auch, dass es wichtig ist, einen Treueschwur abzulegen und hat uns richtig bedrängt gehabt, diesen Treueschwur abzulegen. Ich und XXXX wollten den Treueschwur ablegen und wir machten auch ein Video, wo unsere Gesichter nicht zu sehen waren, nur der Körper, er hat verlangt, wir sollen das mit dem Gesicht machen, damit das Gesicht in der Kamera erkennbar ist. Wir haben das dann nicht gemacht und wir wollten das nicht.
RI: Hatten sonst ein Mitglied Ihrer Familie je Kontakt zum XXXX ?
BF: Nein, keiner.
RI: VORHALTUNG: Sie haben vor dem BFA am 22.05.2018 auf Seite 2 des Protokolls, angesprochen auf Ihre XXXX -Vergangenheit, angegeben, Sie hätten sich vom XXXX losgesagt. Wie soll eine derartige Lossagung Ihrerseits erfolgt sein? Wird da etwa auch ein entsprechendes Video an ein XXXX -Mitglied geschickt?
BF: Nein, er hat uns dann noch gesagt, dass wir in XXXX , dort, wo ich wohne, den Kalifat errichten sollen, da wir nicht nach Syrien kommen können. Er sagte, dass wir schauen sollen, wo es ein Waffengeschäft gibt und wir es ausrauben und dann sollten wir mit den Waffen Polizisten töten, ich sagte, warum sollen wir Polizisten töten. Er sagte, weil sie Waffen haben und eure Feinde sind.
RI: Waren Sie grundsätzlich einverstanden mit dem Plan?
BF: Nein, zum Teil, ich war schon einverstanden, die Polizisten zu töten, aber als er mir sagte, dass man auch Frauen und Kinder ab 13 töten kann, war ich nicht mehr einverstanden. Es gäbe eine islamische Textquelle im Koran, die besagt, dass man keine Kinder, keine Frauen, keine Priester, keine alten Menschen töten darf. Er meinte, doch, man darf. Ich und XXXX sagten, was redet er für Unsinn, er widerspricht dieser Textquelle. Wir sagten ihm dann, wir werden das nicht machen und wir wollen damit nichts zu tun haben. Er sagte daraufhin, wenn wir das nicht machen, seine wir Abtrünnige. Wir sagten, wir wollen das nicht machen und wollen damit nichts zu tun haben. Er sagte, wir seien Abtrünnige geworden und seien auf seiner schwarzen Liste.
RI: Wann fand die Lossagung statt?
BF: Nachdem wir das Waffengeschäft gefunden haben, wir gingen daran vorbei, wir haben darüber geredet 10 Minuten. Dann gingen wir weg, haben gegessen, es war Abend, dann waren wir in einem Park, es kam ein betrunkener Mann. XXXX wurde wütend, weil dieser Mann betrunken war, er hat ihn verfolgt. An seinen Augen konnte ich sehen, dass er wütend war. Er ist dem Mann hinterher gelaufen. Ich habe ihm gesagt, er soll das lassen. Ich rannte ihm hinterher und sah, dass er den Mann zu Boden brachte und ihm 5 Euro aus der Tasche genommen hatte. Ich bat dem Mann mir sein Klapphandy zu geben, da ich Angst hatte, dass er die Polizei ruft. Er hat es mir freiwillig gegeben, ich drehte mich mit dem Handy zur Seite und tat so, als ob ich das Handy manipulieren würde, damit man die Polizei nicht mehr anrufen kann. Ich gab ihm dann das Handy zurück und die Situation hat sich dann beruhigt, wir gingen dann weg und der Mann hat dann die Polizei gerufen.
RI: Die Frage war eigentlich eine andere: Wie kamen Sie zur Lossagung?
BF: An dem Tag hatte ich Kontakt mit XXXX und ich und XXXX waren zusammen, ich und XXXX waren nicht einverstanden, als XXXX meinte, man könne auch Frauen und Kinder töten.
RI: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie schon bei diesem Waffengeschäft auf- und ab gingen. Dh., sie haben es schon ausgesucht, für den geplanten Überfall?
BF: Nein, wir standen vor der Glastür und haben geredet, und angeschaut, was es alles gibt und dann gingen wir wieder.
RI: Wäre das das Waffengeschäft gewesen, das Sie hätten überfallen wollen?
BF: Ja.
RI: Dh, Sie waren in Ihren Planungen schon soweit, dass Sie wussten, um welches Waffengeschäft es sich handeln hätte sollen?
BF: Ja, es war soweit, dass wir schon wussten, um welches Waffengeschäft es sich handeln hätte sollen.
RI: Verstehe ich Sie richtig: Hätte Ihr Kontakt der Hr. XXXX , Sie nicht auch aufgefordert, Frauen und Kinder zu töten, dann wären Sie mit Ihrem ursprünglichen Plan, nämlich das Waffengeschäft zu überfallen und die Polizisten zu erschießen, auch zur Tat geschritten?
BF: Das kann ich nicht genau sagen, aber der Gedanke, der war da.
RI: Sie meinten vorhin, dass Sie sich erkennbar für den XXXX vom XXXX losgesagt haben, haben Sie aus dem Akt der Lossagung einen Nachteil erlitten, d.h., wurden Sie bedroht oder körperlich angegangen, was geschah danach?
BF: Er sagte, wir wären auf der schwarzen Liste, wir nahmen es aber nicht ernst. Danach habe ich immer viele Nachrichten und anonyme Anrufe bekommen, es waren so viele, dass ich nicht mehr abheben wollten. Ich habe dann eine Ahnung gehabt, das ist nichts Normales. Ich hatte Angst. Ich habe befürchtet, was es sein könnte, nämlich die Drohung von XXXX . Ich wurde dann per WhatsApp von einem Afghanen und einem Tschetschenen angeschrieben, welche mich aufgefordert haben, sich persönlich zu treffen. Ich kam dieser Forderung nicht nach. Ich habe sie blockiert und bekam dann weitere Anrufe. Dann bekam ich von XXXX einen Anruf, er hat gesagt, es war gerade ein Tschetschene da, er hat eine Waffe auf seinen Kopf gerichtet und gefragt hätte, wo ich sei. XXXX sagte, dass sie mich suchen und mich ohne Gnade töten wollen, sie werden mich schlagen und töten.
RI: Aber XXXX hat sich selber auch losgesagt, ihn haben Sie nicht verfolgt?
BF: Nein, er hat auch Schläge kassiert und die Waffe auf den Kopf bekommen, ich bin dann zu meiner Mutter nach XXXX geflüchtet und habe dann alle, mit denen ich Kontakt hatte, blockiert.
R: Wurde XXXX misshandelt?
BF: Er sagte, er wurde geschlagen von einem Tschetschenen und die Waffe wurde auf seinen Kopf gerichtet.
RI: gingen Sie zur Polizei wegen der Bedrohungen durch den XXXX ?
BF: Nein, ich ging nicht zur Polizei, weil ich Angst hatte, dass ich deswegen selber Probleme bekommen.
RI: Standen zu irgendeinem Zeitpunkt in Lebensgefahr?
BF: Ich bekam viele Anrufe, in Lebensgefahr stand ich nicht, aber die Gefahr war lebensbedrohlich.
RI: Nachdem Sie nach XXXX gingen und alle Kontakte abbrachen, wurden Sie danach noch belästigt von Mitgliedern des XXXX ?
BF: Nein, ich habe alle Kontakte abgebrochen und habe mich verschanzt und bin untergetaucht und habe mich von allen sozialen Netzwerken zurückgezogen.
RI: Wurde XXXX nochmals bedroht?
BF: Ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihm.
RI: Sie haben gegenüber dem XXXX einen sogenannten Treueschwur abgegeben. Sie haben diesen gefilmt und an ein XXXX -Mitglied geschickt. So etwas spricht für eine unmissverständlich radikale und gemeingefährliche Geisteshaltung. Erklären Sie mir, wie Sie sich in den Jahren seither deradikalisiert und von dieser einstigen Geisteshalt entfernt haben wollen?
BF: Nachdem ich untergetaucht bin, habe ich meine Pflichtgebete nicht mehr regelmäßig eingehalten und habe meine alten Hauptschulkameraden getroffen. Wir sind viel miteinander abgehängt und es hat ein neues Leben für mich begonnen. Es gab keinen, der mir vom Islam weiter erzählt hat und mir Vorschriften gemacht hat, was zu tun ist. Mein Wissen über den Islam wurde auch nicht mehr aufgefrischt und ich habe langsam weg den Weg von den Religionen weg gefunden und rauche und trinke Alkohol (Bier) inzwischen.
RI: Haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt professionelle Hilfe in Anspruch genommen um Ihre XXXX -Vergangenheit zu bewältigen?
BFV: Wir haben eine Bestätigung, dass er von 03. Juni 2019 bis 19. August 2021 psychotherapeutische Sitzungen wahrgenommen hat bei der Männerberatung. Hier steht, dass im Verlauf des Therapieprozesses sichtbare Fortschritte in Selbstverantwortung und Unrechtsbewusstsein getätigt wurden
BFV wird die Bestätigungen übermitteln binnen einer Frist von 10 Tagen.
BFV: Ein Schriftstück, dass der BF bei der Männerberatung eine Antiaggressionstherapie beginnen möchte.
BF: Ich hätte einen Termin am 25.5 gehabt, wenn ich entlassen worden wäre auf Bewährung.
RI: Dh., die Antiaggressionstherapie wird dann nach Ihrer Entlassung aus der Strafhaft stattfinden?
BF: Ja.
RI: Seit wann haben Sie keinen Kontakt mehr zum XXXX und dessen Mitglieder?
BF: Mit 17 hatte ich bereits keinen Kontakt mehr mit ihnen.
RI: Was bedeutet der XXXX heute für Sie?
BF: Sie geben ein falsches Bild vom Islam her und dass sie zum verbrecherischen Komplott aufrufen und falsche Informationen von der Religion verbreiten.
RI: Was sagt Ihre Familie zur Ihrer seinerzeitigen XXXX -Affinität?
BF: Sie wussten nichts davon.
RI: Wie nehmen Sie ansonsten am sozialen Leben in Österreich teil (Mitgliedschaften bei Vereinen, Clubs,…)?
BF: Samstags war ich immer in der Disco, in Vereinen bin ich nicht. Ich bin auch heute noch von Leuten eingeschränkt, damit meine ich, dass ich nicht so viel Kontakt habe, ich habe gelernt, Leute zu meiden und dass sie schlechten Einfluss auf mich haben.
RI: Haben Sie österreichische Freunde?
BF: Ich habe 2 österr. Freunde, aber keinen Kontakt mehr zu diesen, einer davon - XXXX – stammt aus einem Dorf in XXXX und musste immer nach XXXX kommen. XXXX wohnt in XXXX , den kenne ich aus der Hauptschule.
RI: Sie haben in den letzten Jahren in Österreich, wenn dann immer nur kurz, d.h. für wenige Tage, oder wenige Wochen oder wenige Monate am Stück gearbeitet und überwiegend vom Arbeitslosengeldbezug gelebt. Sie haben gesagt, dass Sie einen Pflichtschulabschluss haben, jedoch bislang kein Zeugnis vorgelegt haben, Sie haben keine abgeschlossene Berufsausbildung? Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor?
BF: Ich habe jetzt Arbeit bekommen, bei der ich Vollzeit als Monteur angestellt bin und mein Chef ist ein guter Freund des Chefs von XXXX . Er hat gesagt, nach der Haft soll ich bei ihm arbeiten und schauen, ob es mir gefällt, wenn ich es möchte, kann er auch dafür sorgen, dass ich bei XXXX zurückkommen kann, weil er mit dem Chef ganz gut ist.
BFV: Ich kann etwas Schriftliches nachreichen. Die Mutter hat mir die Einstellungszusage übermittelt. Diese besagt, dass er Vollzeit als Monteur mit einem Bruttolohn von Euro 28.450,-p.a. – dies entspricht ca. 14mal Euro 2.000 eingestellt werden kann nach der Entlassung.
BFV wird aufgefordert, auch diese Einstellungszusage binnen einer 10-Tagesfrist zu übermitteln.
RI: Waren Sie in Österreich bislang ehrenamtlich tätig?
BF: Ich wollte bei der Feuerwehr tätig sein, aber aufgrund meiner Vorstrafen konnten sie mich nicht aufnehmen.
RI: Haben Sie in Österreich sonst eine Fort-, Aus- oder Weiterbildung betrieben? Wenn ja, welcher Art?
BF: Ich habe keine Weiterbildung gemacht.
RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?
BF: Ich bin gesund.
RI: Nehmen Sie Medikamente?
BF: Nein.
RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?
BF: Zurzeit nicht.
RI: Sind Sie arbeitsfähig?
BF: Ja.
RI: Welche Sprache sprechen Sie mit Ihren Eltern und Ihren Geschwistern in Österreich?
BF: Mit meinen Schwestern spreche ich nur Deutsch, mit meiner Mutter und meinem Vater gemischt Tschetschenisch/Deutsch. Ich rede mehr Deutsch mit ihnen.
RI an BFV und BehV: Haben Sie Fragen an den BF?
BFV: Sie brachten heute vor, dass man Ihnen in der Moschee ein Mädchen vorstellen wollte. Haben Sie dieses Mädchen jemals gesehen oder getroffen, haben Sie jetzt noch Kontakt?
BF: Ich habe nachher nie Kontakt gehabt und sie nie getroffen.
BFV: Aber Sie wollten Kontakt zu diesem Mädchen, oder?
BF: Ja.
BFV: Eigentlich wollten Sie mit dem Mädchen Kontakt haben und nicht mit der XXXX -Gruppe, dh Sie sind eigentlich nur über das Mädchen hineingeraten?
BF: Ja.
BFV: Wie stellen Sie sich die Zukunft in Ö nach Ihrer Entlassung vor?
BF: Ich habe im Coronalabor gearbeitet, damit ich Geld sammeln konnte, damit ich meine Ausbildung im XXXX finanzieren kann, damit mein Lehrabbruch nicht umsonst war. Ich werde nach meiner Freilassung meine Lehre als Elektro- und Gebäudetechniker weiter fortführen und abschließen, danach werde ich mir mein Zertifikat bei Code Bay holen, dieses brauche ich, um meine Ausbildung als Softwareentwickler machen zu können. Ich bin immer dafür, dass man weitere Ausbildungen macht und ein Freund von mir, der Zahntechniker gelernt hat und jetzt keine Ausbildung findet, den habe ich auch gesagt, dass er weitere Ausbildungen machen soll.
BehV: Warum mussten Sie Ihre Lehre abbrechen, um zu einem Vorstellungsgespräch zu gehen?
BF: Weil das Vorstellungsgespräch nur durch AMS stattfinden konnte.
BehV: Entspricht es Ihrer Geistes- und Wertehaltung, dass Frauen im Familienverband vermittelt werden und männliche Familienmitglieder dazu konsultiert werden müssen.
BF: Nein. Ich möchte, dass meine Schwestern freie Wahl haben, mit wen sie in Beziehung treten und wen sie heiraten wollen, denn sie würden es sowieso machen.
BehV: Vorhalt: Ihrer Mutter wurde ihr Asylstatus aberkannt, dass sie sich wieder unter Schutz ihres Herkunftstaates gestellt hat und einen russ. Reisepass hat ausstellen lassen. Warum hat sie das getan?
BF: Meine Mutter sagte, die Behörde hat gesagt, sie soll die russ. StA machen.
BehV: Diente der russ., Reisepass dazu, damit Ihre Mutter Ihre Eltern und sonstigen Verwandten in der Russische Föderation besuchen konnte?
BF: Nein, sie hat es gemacht, weil die Behörde es ihr gesagt hat, sie ist fast nie in Russland, sie wird woanders Urlaub machen, wahrscheinlich in Kroatien.
BehV: Seitens der bel. Behörde ergehen zur Stellungnahme der XXXX v. 07.06.2022 die Ausführungen, dass es sich beim BF um einen StA der Russische Föderation handelt und seitens der Russische Föderation keine Generalmobilmachung beschlossen wurde. Weiters ergeht der Antrag aufgrund der neuerlichen Verurteilung des BF v. 19.05.2022, das erlassene Einreiseverbotes auf zumindest 10 Jahre zu erhöhen, da der BF mit wiederholten, wesentlichen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt und die öffentlichen Interessen die Privatinteressen des BF überwiegen.
RI: Ich bringe in das Verfahren 3 Anfragenbeantwortungen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation jeweils vom 14.04.2022 ein. Diese Anfragenbeantwortungen nehmen Bezug auf den derzeit laufenden Ukrainekrieg und behandeln die Themen: „Ukraine-Krieg: Situation von Rückkehrern aus dem Ausland“, „Militärische Rekrutierungen für den Ukraine-Krieg“ und „Ukraine-Krieg: Sozialleistungen für Staatsangehörige“. Den Verfahrensparteien werden Ausdrucke dieser Anfragenbeantwortung persönlich übergeben und ihnen wird eine Frist zur allfälligen Stellungnahme von 1 Woche, hg einlangend, gewährt.
BFV bittet um Zusendung dieser Unterlagen.
BFV: Ich hätte noch eine Frage: Was befürchten Sie, wenn Sie nach Russland einreisen würden?
BF: Ich befürchte zu 100%, dass ich gezwungen werde, zum Militär zu gehen. Weil ich ein politischer Flüchtling bin und terroristische Vorstrafen habe, werde ich dem Regime beweisen müssen, dass ich zum Regime stehe und daher werde ich zum Militär gehen müssen.
BFV: Warum glauben Sie, dass man Sie nicht einfach in Ruhe lässt, Sie waren jetzt 20 Jahren nicht in Russland. Woher soll man von Ihrer Verurteilung wissen?
BF: Es gibt nicht mal 3 Mio Tschetschenen auf der ganzen Welt, unsere Kontakte sind sehr eng. In XXXX weiß schon jeder, warum ich eine Vorstrafe habe, alle wissen von mir, dass ich deshalb angeklagt war, die Behörden in Tschetschenien wissen es. Es gibt viele Tschetschenen in XXXX , die Sympathisanten von XXXX sind und die Informationen liefern. Außerdem war ein Vertreter der Behörden der Tschetschen in XXXX und weiß, wie ich aussehen.
RI: Woher wissen Sie das?
BF: In XXXX kennen wir uns alle, weil es eine kleine Stadt ist, die Tschetschenen erzählen alles herum und haben Gerüchte verbreitet. Es gab in den tschetschenischen Nachrichten auch die Nachricht von meiner Verhandlung. Mein Vater ist auch politischer Flüchtling und sie wissen, dass er gegen das Regime gekämpft hat. Es besteht für mich Gefahr, wenn ich nicht für das Regime arbeite.
BFV: Warum möchten Sie jetzt nicht dem Militär beitreten? Sie haben ja in der Vergangenheit Waffen „gut“ gefunden?
BF: Erstens möchte ich leben und nicht sterben, ich möchte keine Waffe in der Hand halten und gegen einen anderen schießen müssen und ich möchte auch keine unschuldigen Menschen verletzen, aber das möchte Russland. Meine Mutter braucht mich hier und ich muss für meine Mutter da sein.
BFV: Warum müssen Sie für Ihre Mutter da sein?
BF: Meine Mutter ist sehr schwach, ich bin ihr größter Stolz und ihr größtes Herz und sie sorg sich einfach, sie braucht mich, weil meine Schwestern werden heiraten und wegziehen. Ich bin der einzige Mann, der ihr Beistand leisten kann.
RI: Wie ist der Gesundheitszustand Ihrer Mutter?
BF: Meine Mutter hatte Gebärmutterkrebs, der inzwischen geheilt ist, er kann aber zurückkommen. Es geht ihr gesundheitlich und psychisch nicht gut, sie versucht auf den Beinen zu bleiben, damit sie meine Schwestern und mich finanziell unterstützen kann.
BFV: Sie brachten vor, auf der schwarzen Liste von XXXX sind, glauben Sie, dass die Gefahr größer ist in Tschetschenien, in Russland, von XXXX verfolgt zu werden?
BF: Die Gefahr von tschetschenischen Behörden verfolgt zu werden, ist viel größer als die Gefahr von XXXX .
BFV: Keine Fragen.
BehV: Im Rahmen der Aberkennung des Asyls Ihrer Mutter wurde Sie gefragt, was Sie befürchte im Falle Ihrer Rückkehr, sie antwortete darauf: „Nichts“. In diesem Zusammenhang sind die nunmehr vorgebrachten Aussagen des BF als Schutzbehauptung zu erachten und ist der BF persönlich unglaubwürdig. Der BF hatte die Intention ein Waffengeschäft auszurauben, um an Waffen zu gelangen und nun gibt er an, niemals eine Waffe anfassen zu wollen. Weiters gab er an, keinen Kontakt zu Angehörigen in Tschetschenien zu haben und wenn es um die Informationsweitergabe geht, sind alle wieder sehr eng miteinander verbunden.
Das Protokoll wird Ihnen rückübersetzt.“
2.17. Mit Schriftsatz vom 13.06.2022 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerdeseite aktuelle Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation (Anfragebeantwortung zu militärischen Rekrutierungen für den Ukraine-Krieg, Anfragebeantwortung zur Situation von Rückkehrern aus dem Ausland, Anfragebeantwortung zu Sozialleistungen für Staatsangehörige) und wurde der Beschwerdeseite die Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen einer Woche, hg einlangend, Stellung zu nehmen.
2.18.1. Mit Schriftsatz vom 17.06.2022 übermittelte die Beschwerdeseite das Pflichtschulabschlusszeugnis des BF, eine Einstellungszusage, eine Bestätigung hinsichtlich Psychotherapie Sitzungen für den Zeitraum 03.07.2019 bis 19.8.2021 und eine Bestätigung über ein Beratungsgespräch bei der Männerberatung. Ausgeführt wurde gemeinsam mit der Urkundenvorlage darüber hinaus, dass der BF in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig vorgebracht habe, sich einerseits von seinen Straftaten distanziert zu haben und andererseits, sich künftig nichts mehr zu Schulden kommen lassen zu wollen. Sein Privat- und Familienleben in Österreich sei unbestritten, bisher sei noch nie berücksichtigt worden, dass der BF ein „Scheidungskind“ sei. Die Scheidung seiner Eltern (welche heute keinen Kontakt zueinander pflegen) habe den BF aus der Bahn geworfen, da er einerseits als ältestes Kind die Scheidung „mehr“ mitbekommen habe und andererseits, weil ihm dadurch auch mehr Verantwortung von seinen Eltern aufgebürdet worden sei, was der BF psychologisch nicht verarbeiten habe können und dadurch im besagten Zeitraum leichter auf die „schiefe Laufbahn“ geraten sei. Diese Entwicklung habe der BF durch psychologische Sitzungen erkannt und wolle er deshalb sein Leben verändern. Aus diesem Grunde strebe er auch unter anderem zwei Ausbildungen an und wolle sich künftig vermehrt um seine Mutter kümmern.
2.18.2. In der Folge wurde zu den übermittelten Anfragebeantwortungen Stellung genommen und festgehalten, dass der am 01.02.1999 geborene BF Staatsangehöriger der Russischen Föderation sei und seit seinem 4. Lebensjahr in Österreich lebe, sohin liege - laut ständiger Rechtsprechung seit dem Kleinkindalter - eine Aufenthaltsverfestigung vor. Der BF sei hier aufgewachsen und stark verwurzelt. Er vertrete Religions,- als auch Meinungsfreiheit und verurteile er die russische Politik, sowie den Ukraine-Krieg zutiefst. Als Europa Rückkehrer ohne russische Sprachkenntnisse, welcher sich dem russischen Einberufungsbefehl widersetzen würde, drohe dem BF asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Abstammung iVm einer unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung.
2.18.3. Zurecht befürchte der BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation, als Mann im wehrpflichtigen Alter auf der Seite der russischen bzw. tschetschenischen Streitkräfte für den Ukraine-Krieg gegen seinen Willen eingezogen zu werden. Das bestätige auch die Anfragebeantwortung hinsichtlich militärischer Rekrutierungen für den Ukraine-Krieg. Bei einer Rückkehr drohe dem BF Zwangsrekrutierung, da es in der Russischen Föderation keinen „Zivildienst“ für Tschetschenen gäbe. Weiters würde der BF bei einer Rückkehr aus Österreich, einer Befragung durch Grenzkontrollorgane unterzogen werden, welcher er sich nicht entziehen könne und würde er Repressionen, sowie Willkür durch die russischen und tschetschenischen Behörden erleiden müssen, wie aus der Anfragebeantwortung zur Situation von Rückkehrern aus dem Ausland hervorgehe. Es müssten sohin die Befürchtungen des BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation, als Mann im wehrpflichtigen Alter auf der Seite der russischen oder tschetschenischen Streitkräfte für den Ukraine-Krieg gegen seinen Willen eingezogen zu werden, berücksichtigt werden. Der BF könne sich dem Wehrdienst nicht entziehen, weil es einerseits in der Praxis keinen Zivildienst gäbe und andererseits, weil er spätestens bei seiner ersten Einreise in die Russische Föderation an der Grenzkontrolle als Wehrdienstleistender registriert würde. Dem BF den Status des Asylberechtigten abzuerkennen würde sein Recht iSd. GFK auf Achtung des Lebens und der Unversehrtheit verletzen. Eine Rückkehrentscheidung aufgrund des schützenswerten Familien- und Privatlebens in Österreich, sowie in Ermangelung familiärer und sozialer Netzwerke in der Russischen Föderation müsse für unzulässig erklärt werden und dem BF zumindest eines Aufenthaltsberechtigung plus erteilt werden.
2.18.4. Überdies sei der BF aufgrund des medial bekannten Prozesses aus dem Jahr 2016 in der tschetschenischen Community bzw. in tschetschenischen sozialen Netzwerken bekannt bzw. lasse sich seine Identität bei den russischen Behörden nicht verheimlichen. Ein Zeitungsbericht über den Prozess wurde beschwerdeseitig vorgelegt. Es bestehe daher die reale Gefahr, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation auch aus individuellen Gründen, nämlich aufgrund seiner Herkunft (Tschetschene, sowie Sohn seines Vaters) und Abstammung aus Österreich zum Wehrdienst einberufen werde, sowie in weiterer Folge unfreiwillig zu Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg gezwungen werde, was der BF jedoch ablehne, weil er gerade aufgrund seiner vergangenen Erfahrungen keine Waffe mehr in die Hand nehmen wolle. Darüber hinaus wurden im Wesentlichen die Beweisanträge der Stellungnahme vom 07.06.2022 neuerlich wiederholt.
2.19.1. Mit ergänzender Stellungnahme vom 20.06.2022 wurde zusammenfassend beschwerdeseitig vorgebracht, dass der Soziale Dienst der JA XXXX mitgeteilt habe, dass der psychologische Dienst der JA derzeit auch aufgrund von Krankheitsausfällen nicht entsprechend besetzt sei, weshalb der BF zu seinem Anliegen bezüglich Antiaggressionstherapie noch nicht aufgesucht und betreut werden habe können. Dass der BF psychologische Therapie in Anspruch genommen habe und weiterhin Antiaggressionstherapie in Anspruch nehmen wolle, zeige seinen positiven Gesinnungswandel. Der erste Schritt aus dem Teufelskreis sei gegenständlich bereits durch Lossagung erreicht worden. Am vierten und letzten Fehlverhalten des BF (Körperverletzungsvorfall am Arbeitsplatz Corona Testzentrum XXXX ) wolle dieser durch die Inanspruchnahme der Antiaggressionstherapie an sich arbeiten, um künftig, nach der Haftentlassung, wohlverhaltend der Gesellschaft gegenüber treten zu können.
2.19.2. In der mündlichen Verhandlung vom 10.6.2022 habe der BF glaubwürdig vorgebracht, dass er sich seit vielen Jahren schon von der „islamistischen Szene“ losgesagt habe und sich künftig nichts mehr zu Schulden kommen lassen wolle, indem er zwei Ausbildungen anstrebe sowie sich vermehrt um seine Mutter sorgen wolle, weil diese auch aufgrund der Folgen ihrer Erkrankungen seine Unterstützung bedürfe. Betreffend seine Mutter legte der BF medizinische Befunde vor. Der BF lebe seit seinem 4. Lebensjahr, sohin seit dem Kleinkindalter mit seiner gesamten Familie in Österreich und hätte er die österreichische Staatsbürgerschaft spätestens bereits im Alter von 14 Jahren, vor seiner ersten Jugendstraftat und Verurteilung im Jahr 2015, erhalten können. Die belangte Behörde habe in ihrer Entscheidung die Aufenthaltsverfestigung iSd §§ 52 Abs. 5, § 45 NAG, idgF., iVm § 9 BFA-VG völlig verkannt und sei anzumerken, dass der BF gemäß dem nationalen Recht und auch gemäß Art. 11 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 RL 2003/109/EG als langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger ein Recht auf soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz habe, weshalb die vorübergehende Inanspruchnahme von AMS Leistungen nicht zu seinem Nachteil ausgelegt werden dürfe. Eine Rückkehrentscheidung dürfe ausschließlich erlassen werden, wenn der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde, was aufgrund der positiven Zukunftsprognose des BF nicht vorliege. Sollte das BVwG dem BF keinen Glauben hinsichtlich seines positiven Gesinnungswandels und seines Bemühens sich künftig nichts mehr zu Schulden kommen zu lassen schenken, so werde darauf verwiesen, dass womöglich durch Verhandlung per Video die persönliche Glaubwürdigkeit des BF nicht ausreichend eingeschätzt werden könne, da eine solche Verhandlung nicht dem Unmittelbarkeitsgrundsatz vollständig entspräche (u.a. auch wegen der Akustik und Raumgegebenheiten in der Justizanstalt, Rechtsvertretung hinter dem Klienten ohne Augenkontakt, keine Möglichkeit der direkten Urkundenvorlage oder der Akteneinsichtnahme, etc.), wenngleich diese in Zeiten der Corona Auswirkungen, sowie die Überführung des Klienten aus der Justizanstalt in ein Gerichtssaal mit Aufwand, Kosten und Umweltbelastung verbunden ist, nachvollziehbar sei.
2.19.3. Gemäß Art. 33 Abs. 1 der GFK dürfe kein vertragsschließender Staat einen Flüchtling in irgendeiner Form in ein Gebiet ausweisen oder zurückweisen, in dem sein Leben oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Nach Art. 33 Z 2 GFK könne sich ein Flüchtling aber nicht auf diese Begünstigung beziehen, wenn er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Aufenthaltslandes anzusehen sei oder eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates darstelle, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt worden sei. Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergebe sich, dass für das Erfüllen dieses Tatbestandes kumulativ vier Voraussetzungen vorliegen müssen: So müsse der Asylberechtigte ein schweres Verbrechen verübt haben, dafür rechtskräftig verurteilt worden, gemeingefährlich sein und müsse das öffentliche Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Hinsichtlich des BF würden 2 Voraussetzungen davon nicht vorliegen. Der BF sei nicht mehr als „gemeingefährlich“ einzustufen, weil er sich seit vielen Jahren nachweislich vom IS losgesagt habe, was sich auch aus den vorgelegten Unterlagen ergäbe und würden die öffentlichen Interessen nicht überwiegen. Der BF sehe Österreich als sein Heimatland an, er habe einen österreichischen Freundeskreis, spreche typischen österreichischen Dialekt, sei seit dem Kleinkindalter in Österreich aufgewachsen und mit entsprechenden Gewohnheiten sowie Traditionen aufgewachsen und sehe der BF auch langfristig sein berufliches Fortkommen in Österreich, weshalb die Aberkennung seines Asylstatus sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot massiv in das Recht auf Privat- und Familienleben des BF als aufenthaltsverfestigter Bürger eingreife.
2.19.4. In der Folge wurde höchstgerichtliche Rechtsprechung zum Vorliegen eines besonders schweren Verbrechens dargelegt. Der BF sei in Anbetracht seiner vier Straftaten stets „gering“ bestraft worden. Sein Gesamtverhalten der letzten Jahre weise keine derartige Gefahr für die Öffentlichkeit auf. Eine Wiederholungsgefahr der bisher unterschiedlichen Arten von Straftaten lasse sich nicht erkennen, zumal der BF stets Reue gezeigt habe. Die Milderungsgründe seien von der belangten Behörde in keiner Weise berücksichtigt worden. Die Mutter und die Schwestern des BF besäßen den Status der Daueraufenthaltsberechtigung EU und beabsichtigen demnächst – nach knapp 20 Jahren Aufenthalt in Österreich - die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die Mutter des BF und der BF haben stets gleichlautend dem BFA mitgeteilt, dass sie keinen Kontakt zu irgendwelchen Verwandten in Russland hätten. In diesem Zusammenhang werde bekanntgeben, dass der XXXX in der Stellungnahme vom 07.06.2022 auf Seite 6 ein Fehler bzw. eine Verwechslung des Klientels unterlaufen sei; der BF habe keine Verwandte und keinerlei Bindungen in der Russischen Föderation. Es handle sich daher bei der Behauptung des BFA der BF habe Verwandte im Herkunftsland um eine reine Spekulation. Selbst bei hypothetischer Annahme der Richtigkeit der Behauptung die Mutter des BF habe sehr wohl Verwandte in Russland würde dies keinerlei Relevanz entfalten, da der BF dennoch ebendort der Wehrpflicht unterliegen und als Tschetschene in den Ukraine Krieg zwangsrekrutiert würde. Überdies werde klargestellt, dass der BF in der mündlichen Verhandlung am 10.6.2022 vorgebracht habe, „der Gedanke“ sei da gewesen, aber seien diese Gedanken nachweislich nie ausgeführt worden, sowie wurde der BF für den Versuch dieser Straftat entsprechend verurteilt bzw. habe er seine Strafe dazu bereits verbüßt. Grundsätzlich seien Gedanken an sich frei. Dies bedeute keinesfalls, dass er diese Gedanken, ein Waffengeschäft auszurauben, noch habe, im Gegenteil, hat der BF habe glaubwürdig vermittelt, gerade aufgrund seiner vergangenen Fehler keine Waffe mehr in die Hand nehmen zu wollen. Seine vierte und letzte Straftat habe auch nichts mit „Waffen“ zu tun.
2.19.5. Der BF habe auch plausibel erklärt, dass die tschetschenische Community in XXXX sowie den sozialen Medien übersichtlich sei und dieser (ungewollt) aufgrund des medialen Aufsehens der Gerichtsverhandlungen auch bei den russischen Behörden bekannt sein dürfte. Eine Rückkehr in die Russische Föderation bedeute daher für den BF gerade keine Rückkehr als „anonymes“ oder unbeschriebenes Blatt. Dem BF drohe Verfolgung, sowie Bedrohung in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner Abstammung als Sohn seines Vaters und als Europa Rückkehrer mit „IS Verurteilung“ und als wehrpflichtiger junger Mann bzw. Tschetschene.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Antrages des BF auf internationalen Schutz durch seinen gesetzlichen Vertreter vom 20.08.2003, des mündlich verkündeten Zuerkennungsbescheides des ehemaligen UBAS vom 30.11.2005 und der schriftlichen Ausfertigung vom 14.03.2006, Zl. XXXX der Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 22.05.2018, der Beschwerde vom 19.11.2018 gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.10.2018, sowie der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, der Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Fremden- und Grundversorgungs-Informationssystem, dem Strafregister der Republik Österreich und dem AJ-Web, sowie den im Akt befindlichen Strafurteilen gegen den BF und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.06.2022, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben.
Der BF ist in XXXX , in Tschetschenien, geboren und lebte bis zu seiner Ausreise mit seiner Kernfamilie in Tschetschenien. Spätestens am 20.08.2003 reiste er als Minderjähriger in Begleitung seiner Eltern und seiner Schwester unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten seine Eltern für sich und ihre Kinder unter den Namen XXXX Anträge auf internationalen Schutz. Der BF ist seit diesem Zeitpunkt in Österreich aufhältig und wurde dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit mündlich verkündetem Bescheid des ehemaligen UBAS vom 30.11.2005, schriftlich ausgefertigt am 14.03.2006, Zl. XXXX , gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und diesem der Status des Asylberechtigten im Familienverfahren zuerkannt. Es wurde gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass die Eltern des BF glaubhaft dargelegt hätten von staatlicher Seite aus politischen Gründen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit als Gegner angesehen zu werden bzw., dass ihnen eine solche Gegnerschaft unterstellt würde. Für die Mutter und den BF, sowie seine Geschwister komme hinzu, dass sie zur sozialen Gruppe der Familie gehören würden und bestünde keine innerstaatliche Fluchtalternative. Dem lag zugrunde, dass der Vater des BF, im Widerstand aktiv gewesen sei und Kassetten vervielfältigt, sowie verteilt habe. Er habe bei XXXX gearbeitet und sei eines Tages seine Schwester, welche ebenfalls Kassetten verteilt habe, festgenommen worden und verschwunden. Der Vater des BF sei ebenfalls festgenommen und in Haft vergewaltigt worden. Die Mutter des BF sei entfernt mit XXXX verwandt und habe als Köchin für dessen Mitarbeiter gearbeitet.
Der Mutter des BF wurde der Asylstatus mittlerweile nach der Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ nach dem NAG erstinstanzlich rechtskräftig aberkannt.
In der Russischen Föderation hat der BF noch keine Schule besucht. Er verfügt in Tschetschenien noch über seine Großmutter ms., mit der jedoch nicht in Kontakt steht. Der BF ist ledig, sowie kinderlos und führt keine partnerschaftliche Beziehung im Bundesgebiet.
Der BF verfügt im Bundesgebiet über seine Eltern und drei Schwestern, sowie zwei Halbbrüder. Die Eltern des BF sind geschieden und ist der Vater des BF neuerlich verheiratet. Die Mutter des BF und seine drei Schwester verfügen jeweils über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. Der Vater des BF ist - nach wie vor - Asylberechtigter im Bundesgebiet. Mit seiner neuen Frau hat der Vater des BF Zwillingssöhne und wohnt er in XXXX . Die Mutter und die drei Schwestern des BF leben in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX wo der BF vor seiner Inhaftierung ebenfalls gemeinsam mit ihnen gewohnt hat. Gemeldet ist der BF jedoch seit 04.10.2018 in XXXX bei seinem Vater. Vor seiner Verhaftung stand der BF in täglichem Kontakt mit seinen Eltern und Geschwistern. Von 20.10.2014 bis 28.06.2016 war der BF bei seinem Vater in XXXX gemeldet und lebte mit diesem im gemeinsamen Haushalt. Die Mutter des BF war an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, ist mittlerweile jedoch krebsfrei.
Der BF hat im Bundesgebiet die Volksschule absolviert, wie auch die Hauptschule besucht, welche er jedoch abgebrochen hat. Am 24.01.2020 hat er seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. Er hat eine Elektro- und Gebäudetechnikerlehre begonnen, diese jedoch lediglich 3 Monate lang von Mitte Juni 2020 bis Mitte September 2020 betrieben und nicht abgeschlossen. Im Jahr 2016 war der BF 1 Monat geringfügig beschäftigt, 2018 war der BF etwa 5 Monate lang als Arbeiter angestellt, im Jahr 2019 hat er etwa 1 ½ Monate geringfügig gearbeitet, im Jahr 2021 war der BF lediglich 2 Tage lang geringfügig beschäftigt und im Jahr 2022 war der BF etwa 2 Monate lang als Arbeiter beschäftigt. Zwischenzeitig hat der BF, insgesamt etwa 26 Monate lang, immer wieder Arbeitslosengeld und Mindestsicherung bezogen. Zuletzt wurde er von seiner Mutter finanziell unterstützt. Darüber hinaus hat der BF keine weitere Berufserfahrung im Bundesgebiet und ist auch keiner sonstigen Berufs-, Aus-, oder Weiterbildung in Österreich, nachgegangen. Derzeit ist er weder Mitglied in einem Verein, noch einer sonstigen Organisation. Der BF hat 2 österreichische Freunde, zu denen er jedoch keinen Kontakt hat. Er verfügt über eine Einstellungszusage.
Der BF spricht sehr gut Deutsch, sowie Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau. Der BF spricht auch etwas Russisch. Der BF spricht mit seinen Eltern Tschetschenisch und Deutsch. Mit seinen Geschwistern spricht der BF Deutsch.
Der BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Er ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF wurde im Bundesgebiet straffällig und seither insgesamt viermal strafgerichtlich verurteilt, wovon es sich bei einer Verurteilung um eine Zusatzstrafe handelt. Im Strafregister der Republik Österreich sind folgende Verurteilungen ersichtlich:
01) LG XXXX vom 22.10.2015 RK 28.10.2015
§ 50 (1) Z 2 WaffG
§ 15 StGB § 269 (1) 3. Fall StGB
Datum der (letzten) Tat 29.08.2014
Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe, Probezeit 2 Jahre
Jugendstraftat
Vollzugsdatum 19.04.2017
02) LG XXXX vom 13.04.2017 RK 19.04.2017
§ 83 (1) StGB
§§ 127, 129 (1) Z 1 1. Fall StGB
Datum der (letzten) Tat 18.09.2016
Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
Unter Einbeziehung des Schuldspruches von LG XXXX RK 28.10.2015
Jugendstraftat
Vollzugsdatum 19.04.2017
zu LG XXXX RK 19.04.2017
(Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig
Vollzugsdatum 19.04.2017
LG XXXX vom 02.12.2021
03) LG XXXX vom 14.02.2018 RK 06.09.2018
§ 15 StGB § 142 (1) StGB
§ 277 (1) StGB
§ 278b (2) StGB
§ 142 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 01.04.2017
Freiheitsstrafe 15 Monate, davon Freiheitsstrafe 10 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX 19.04.2017
Junge(r) Erwachsene(r)
Vollzugsdatum 06.09.2018
04) LG XXXX vom 19.05.2022 RK 19.05.2022
§ 84 (4) StGB
Datum der (letzten) Tat 10.03.2022
Freiheitsstrafe 24 Monate, davon Freiheitsstrafe 16 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
Der letzten Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am 10.03.2022 einem Dritten durch das Versetzen eines Faustschlages in dessen Gesicht eine an sich schwere Körperverletzung herbeigeführt hat, wodurch das Opfer eine Fraktur des Unterkiefers erlitt.
Der BF hat sich somit des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB schuldig gemacht.
Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als erschwerend zwei einschlägige Vorstrafen, als mildernd hingegen das umfassende und reumütige Geständnis und die Teilschadengutmachung.
Der vorletzten Verurteilung lag zugrunde, dass der BF mit 2 weiteren Mittätern im Sommer 2015 über Aufforderung und Anleitung eines tschetschenischen XXXX Mitgliedes namens „ XXXX die gemeinsame Ausführung eines Raubes, sowie die anschließende Ausführung eines Mordes verabredete, indem sie einen Raubüberfall auf einen näher genannten Waffenhändler und im Anschluss daran mit den bei diesem Raubüberfall erbeuteten Waffen einen Anschlag auf eine Polizeiinspektion planten, bei welchem sie die Tötung der dort anwesenden Polizisten beabsichtigten, wobei sie von der Ausführung bloß aufgrund eines medial bekannt gemachten anonymen Warnhinweises abließen.
Darüber hinaus hat sich der BF mit diesen beiden Mittätern seit zumindest Sommer 2015 bis April 2017 als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung und zwar der seit Mitte Oktober 2006 bestehenden und seit Juni 2014 als „ XXXX “ („ XXXX “ bezeichneten Terrororganisation, die als ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen darauf ausgerichtet ist, dass von mehreren Mitgliedern der Vereinigung terroristische Straftaten, und zwar insbesondere Morde, Körperverletzungen und erpresserische Entführungen zum Nachteil von Personen, die nicht dem XXXX angehören, begangen werden, und die das Ziel verfolgt, einen weite Gebiete des Nahen und Mittleren Osten umfassenden radikal-islamischen „Gottesstaat“ auf Grundlage einer strikten Auslegung der Scharia zu errichten, beteiligt, indem sie über Anweisung des XXXX -Mitgliedes „ XXXX “ folgende Handlungen im Wissen dadurch die Vereinigungen und deren Aktivitäten zu fördern, setzten: die zuvor beschriebene Tat, nämlich die Verabredung zur Ausführung eines Raubes, sowie der Begehung einer terroristischen Straftat iSd § 278c Abs. 1 Z 1 StGB durch die Begehung eines Mordes an Polizeibeamten und der regelmäßigen Berichterstattung an „ XXXX “ über den Planungsfortschritt; indem sie sich zu einer „ XXXX -Splittergruppe zwecks Errichtung eines Kalifates“ in Österreich zusammenschlossen und der BF, sowie ein weiterer Mittäter unter dem Titel „kleiner Dschihad“ im Raum XXXX versuchten einen noch unten näher beschriebene Raub zu begehen und einen noch unten näher beschriebenen Raub begingen; indem der BF mit 2 weiteren Mittätern ein Video erstellte, worin er einen Treueschwur gegenüber dem Führer des XXXX , XXXX leistete, wobei das Video anschließend an das XXXX -Mitglied „ XXXX “ übermittelt wurde.
Durch die bisher dargestellten Tathandlungen beteiligte sich der BF als Mitglied an einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Zahl von Personen, und zwar einer nach militärischem Vorbild gegliederten Gruppierung mit mehreren tausend Mitgliedern, die wenn auch nicht ausschließlich, auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, oder schwerwiegender strafbarer Handlungen im Bereich des unerlaubten Verkehrs mit Kampfmitteln ausgerichtet ist; die dadurch eine Bereicherung in großem Umfang durch Erzielung von Einnahmen, sowie durch Ausstattung mit Waffen und Kampfmitteln anstrebt, und die andere, insbesondere politische Verantwortungsträger und sonstige ideologische Gegner, zu korrumpieren oder einzuschüchtern und sich auf besondere Weise gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht.
Weiters hat der BF mit einem weiteren Mittäter im Sommer 2015 einem Opfer EUR 14.000,- an Bargeld, sowie deren PKW wegzunehmen versucht, indem beide mit Sturmhauben bekleidet beim Fahrzeug vor dem vom Opfer betriebenen Lokal warteten, von der Ausführung des Überfalls aber letztlich Abstand nahmen, weil das Opfer letztlich unerwartet das Lokal in Begleitung mehrerer männlicher Personen verließ, weshalb die Tat für den BF und seinen Mittäter nicht mehr gemäß den Vorstellungen ihres Tatplans umsetzbar erschien. Darüber hinaus stießen sie einen nicht mehr ausforschbaren, alkoholisierten Mann zu Boden, nahmen ihm Bargeld von EUR 5,-, sowie ein Mobiltelefon ab, wobei der Raub ohne Anwendung erheblicher Gewalt an einer Sache geringen Wertes begangen wurde und die Tat unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat.
Der BF hat sich sohin des Verbrechens des verbrecherischen Komplottes nach §277 Abs. 1 StGB, des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs. 2 StGB, des Verbrechens der kriminellen Organisation nach § 278a StGB, des Verbrechens des Raubes nach §§ 15, 142 Abs. 1 StGB und des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB schuldig gemacht.
Der 2. strafgerichtlichen Verurteilung lag zugrunde, dass der BF mit einem abgesondert Verfolgten Bargeld im Wert Von EUR 220,- und 6 Eisteeflaschen durch Einbruch in ein Gebäude weggenommen hat, indem er die Eingangstüre mit Hilfe eines Besenstiels aufzwängte, das Geschäftslokal betrat und Genanntes wegnahm.
Darüber hinaus hat der BF einem Dritten einen Faustschlag versetzt, wodurch dieser eine Schwellung des Kiefers erlitt.
Der BF hat sich sohin des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs. 1 Z 1 erster Fall StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB schuldig gemacht.
Gleichzeitig wurde gemäß § 494a Abs. 1 Z 3 StPO ausgesprochen, dass zum Urteil des LG XXXX vom 22.10.2015 eine neuerliche Entscheidung über die nachträgliche Straffestsetzung nicht in Betracht kommt.
Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als erschwerend das Zusammentreffen von 3 Vergehen und die Tatbegehung in offener Probezeit, als mildernd hingegen das Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel und der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist.
Der ersten strafgerichtlichen Verurteilung lag zugrunde, dass der BF eine verbotene Waffe, nämlich einen als Taschenlampe getarnten Elektroschocker unbefugt besessen hat. Darüber hinaus hat er mit einem weiteren Mittäter einen Revierinspektor mit Gewalt an der Sachverhaltsaufklärung zu obgenannter Tathandlung an einer Amtshandlung zu hindern versucht, indem der BF dem Beamten einen Stoß gegen den Oberkörper versetzte und sich aus der Fixierung zu lösen suchte.
Der BF hat sich somit des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG und des Vergehens des Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 dritter Fall StGB schuldig gemacht.
Gemäß § 13 JGG wurde der Ausspruch der Strafe unter Setzung einer Probezeit von 2 Jahren vorbehalten.
Im Zuge der Strafbemessung erkannte das Gericht als erschwerend keinen Umstand und als mildernd das Geständnis, den bisher ordentlichen Lebenswandel und, dass es beim Hauptanklagepunkt beim Versuch geblieben ist.
Der Beschwerdeführer wurde am 10.03.2022 festgenommen und in die JA XXXX eingeliefert. Seit 11.03.2022 befindet sich der BF in Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Das errechnete Strafende ist der 10.11.2022. Eine bedingte Entlassung nach 2/3 der verbüßten Haftstrafe wäre am 20.08.2022 möglich. Bereits davor befand sich der BF von 22.05.2017 bis 14.02.2018 in Haft.
Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet stellt eine schwerwiegende Gefährdung in Hinblick auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, zumal auf Grundlage seines bisher im Bundesgebiet gesetzten Verhaltens die Gefahr einer neuerlichen Straffälligkeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist.
1.2. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Die Lage im Herkunftsstaat des BF hat sich seit Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten maßgeblich und nachhaltig geändert. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr in die Russische Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit noch asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt ist. Der BF war vor der Ausreise aus der Russischen Föderation keiner gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt, bei seiner Ausreise war der BF erst 4 Jahre alt. Der Vater des BF hat für XXXX gearbeitet und wurde aufgrund der Vervielfältigung, sowie Verteilung von Kassetten im zweiten Tschetschenienkrieg festgenommen und vergewaltigt. Die Schwester des Vaters des BF hat sich ebenfalls an Verteilungsaktionen beteiligt und ist verschwunden. Die Mutter des BF ist entfernt mit XXXX verwandt und hat als Köchin für seine Mitarbeiter gearbeitet. Der Mutter des BF wurde der Status der Asylberechtigten mittlerweile rechtskräftig aberkannt. Ihr droht keine asylrelevante Verfolgungsgefahr mehr im Herkunftsstaat. Widerstandskämpfern des ersten Tschetschenienkrieges und zweiten Tschetschenienkrieges droht keine Verfolgung in der Russischen Föderation mehr, auch nicht in der Teilrepublik Tschetschenien, ebensowenig deren Familien.
Der BF konnte nicht glaubwürdig dartun, dass ihm noch im gesamten Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgung der Rasse, Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten, seitens der Behörden oder privater Personen, drohen würde.
Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass der BF bei Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notwendige Lebensgrundlage entzogen wäre.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:
1.3.1. Auszug aus dem Informationsblatt der Staatendokumentation aus dem COI-CMS vom 21.04.2022, Version 7:„COVID-19-Situation
Letzte Änderung: 02.03.2022
Russland ist von COVID-19 landesweit sehr stark betroffen. Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) [https://covid19.who.int/region/euro/country/ru ] (AA 7.1.2022). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 zuständig, beispielsweise in Bezug auf Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CWRR 11.2.2022).
Einen strengen Lockdown gab es landesweit bislang nur im ersten Halbjahr 2020 (ÖB Moskau 6.2021; vgl. RFE/RL 9.2.2022). Von 30.10. bis 7.11.2021 verordnete Präsident Putin einen weiteren Lockdown bzw. eine arbeitsfreie Woche als kurzfristige Maßnahme zur Eindämmung des Coronavirus. In vielen Regionen waren die Einschränkungen teilweise bereits vorher in Kraft getreten (WKO 8.2.2022; vgl. HB 29.10.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 8.2.2022; vgl. AA 7.1.2022). In allen öffentlich zugänglichen Räumen und Verkehrsmitteln ist ein Mund-Nasen-Schutz zu tragen (AA 7.1.2022; vgl. WKO 8.2.2022). Am Arbeitsplatz sind Hygienevorschriften (u.a. Temperaturmessungen, Mundschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten. Sport-, Kultur-, Unterhaltungs-, Werbeveranstaltungen und Messen sind erlaubt, wenn die Teilnehmeranzahl 50% der gesamten Raumkapazität nicht übersteigt (WKO 8.2.2022). Bei Verstößen gegen die Hygienevorschriften können hohe Geldstrafen verhängt werden (AA 7.1.2022). Die medizinische COVID-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CWRR o.D.a).
Zu den Impfstoffen, welche in der Russischen Föderation entwickelt wurden und dort eingesetzt werden, zählen: Gam-COVID-Vac (Sputnik V), EpiVacCorona, Sputnik Light, EpiVacCorona-N, CoviVac, Konvasėl und Ad5-nCoV (CWRR o.D.b). Aufgrund stark steigender COVID-19-Erkrankungen im Sommer und Herbst 2021 haben mehrere Regionen Russlands Unternehmen im Dienstleistungsbereich verpflichtet, Angestellte gegen COVID-19 zu impfen (WKO 8.2.2022). In Russland ist die Impfskepsis sehr hoch (DS 14.12.2021; vgl. LM 14.8.2021). In etwa die Hälfte der Bevölkerung ist geimpft. Impfungen sind ab einem Alter von 12 Jahren möglich (RFE/RL 9.2.2022). COVID-Impfungen sind für russische Staatsbürger kostenlos (ÖB Moskau 6.2021). Der Ministerpräsident Michail Mischustin unterzeichnete am 8.9.2021 ein Dekret, wonach für jede Impfung gegen das Coronavirus an die impfenden Ärzte eine Prämie von mindestens 200 Rubel (ca. 2,50 Euro) ausbezahlt werden soll (Russland-Analysen 20.9.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei den Grenzkontrollen keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, welche nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Russische Staatsbürger, die mit einem in Russland zugelassenen Impfstoff geimpft sind, und genesene russische Staatsbürger dürfen ohne PCR-Test und Quarantäne nach Russland einreisen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden mehrmals wöchentlich von Austrian Airlines, Aeroflot und S7 angeboten. Auch mit anderen Ländern bestehen reguläre Flugverbindungen (WKO 8.2.2022). Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Dauer der Pandemie aufrechterhalten (WKO 8.2.2022; vgl. AA 7.1.2022).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Die meisten Hilfsprogramme sind Ende 2020 ausgelaufen. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Reduktion der Sozialabgaben sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse hinzu (WKO 8.2.2022). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, eröffnete die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, bot günstige Kredite für Gehaltsauszahlungen an, etc. (CWRR o.D.c). Viele der Maßnahmen waren nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und hatten einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 8.2.2022). Unterstützung gab es für „systemrelevante“ Unternehmen, außerdem finanzielle Unterstützung der regionalen Budgets. Laut einem Bericht der Menschenrechts-Ombudsperson haben 4,5 Millionen kleine und mittlere Unternehmen während der Pandemie aufgehört zu existieren. Soziale Unterstützungsleistungen hatten v.a. Familien mit Kindern zum Ziel. Zusätzliche Bonuszahlungen gab es für medizinisches Personal (ÖB Moskau 6.2021).
Die Wirtschaft erholt sich wieder (WIIW o.D.). Von Jänner bis August 2021 stieg die Industrieproduktion um +4,5%, was auf die Rohstoffproduktion (+2,1%) und mehr noch auf die verarbeitende Industrie (+5,3%) zurückzuführen ist (WKO 10.2021). Die Inflation der Konsumentenpreise erreichte im Dezember 2021 einen Wert von 8,4% (WIIW o.D.). Im März 2020 fielen die Ölpreise aufgrund des Ölpreiskampfes zwischen Russland und Saudi-Arabien sowie der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie mit einem starken Nachfragerückgang auf die Weltwirtschaft erneut auf ein historisches Tief und führten zu einer Abwertung des Rubels von 25%. Ein starker Ölpreisanstieg von über 50% sorgte 2021 für eine Stärkung des Rubels (WKO 10.2021).
Moskau:
In Moskau herrscht Maskenpflicht. Im öffentlichen Verkehr gelten Maskenpflicht und Distanzregelungen. Konzert-, Sport-, Unterhaltungsveranstaltungen u.Ä. mit mehr als 500 Personen sind nur mit QR-Codes erlaubt (CWRR 11.2.2022). Mindestens 30% aller Arbeitskräfte sowie ältere Arbeitnehmer und chronisch Kranke haben Fernarbeit zu leisten. Ausgenommen sind vollständig Geimpfte und Genesene (CWRR 11.2.2022; vgl. Mos.ru 11.2.2022). Strafen können auferlegt werden wegen Verletzungen der Maskenpflicht, Nichteinhaltung von Distanzregelungen sowie Quarantäne-Verstößen (Mos.ru o.D.b). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.a). In Moskau gilt eine Impfpflicht für mindestens 80% der Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich sowie der städtischen Beamten (CWRR 11.2.2022; vgl. Mos.ru 11.2.2022). Vollimmunisiert sind aktuell 6.803.415 Personen (CWRR 11.2.2022). Im Moskauer Gebiet herrscht in u.a. folgenden Bereichen eine Impfpflicht: Staatsdienst, öffentliche Dienstleistungen, Bildung, Gesundheitswesen, Tourismus und Gastgewerbe sowie Kultur und Sport (CWRR 11.2.2022). Der Moskauer Bürgermeister beziffert die Ausgaben der Moskauer Behörden zur Bekämpfung des Coronavirus in der Hauptstadt und die Beseitigung der wirtschaftlichen Folgen auf rund 800 Milliarden Rubel (ca. 9,6 Milliarden Euro) (Russland-Analysen 24.1.2022).
St. Petersburg:
In St. Petersburg ist das Tragen von Masken obligatorisch. Im öffentlichen Verkehr gelten Maskenpflicht und Distanzregelungen. Die Durchführung von Massenveranstaltungen ist untersagt (CWRR 11.2.2022; vgl. Gov.spb 14.2.2022). Für Gastronomiebetriebe gelten beschränkte Öffnungszeiten. Theateraufführungen und Konzerte dürfen nur dann stattfinden, wenn maximal 75% der Plätze belegt sind (CWRR 11.2.2022). Es wird empfohlen, möglichst viele Personen in den Fernarbeitsmodus zu versetzen (Gov.spb 14.2.2022). Personen über 60 Jahren sowie chronisch Kranke haben Fernarbeit zu verrichten (CWRR 11.2.2022). In St. Petersburg gilt eine Covid-Impfpflicht für über 60-Jährige. Außerdem müssen sich chronisch Kranke und Mitarbeiter verschiedener Branchen impfen lassen (z.B. Industriesektor, Bauwesen, Verkehr) (Tass.ru 9.11.2021). 2.961.758 Personen sind vollständig geimpft [ca. 55% der Petersburger; Anm. der Staatendokumentation]. 9.699 Betten sind für COVID-Patienten insgesamt verfügbar, wovon 33,04% derzeit unbelegt sind (Gov.spb 16.2.2022).
Tschetschenien:
In Tschetschenien herrscht Maskenpflicht. Im öffentlichen Verkehr sind Masken zu tragen. Personen über 65, Schwangere und Personen mit chronischen Erkrankungen sind in den Fernarbeitsmodus versetzt. Es gilt eine Impfpflicht für Arbeitgeber und Führungskräfte sowie eine Impfpflicht im Dienstleistungssektor (CWRR 11.2.2022). Ungeimpften Personen wird seitens öffentlich Bediensteter mit Entlassung gedroht, mit Verweigerung medizinischer Hilfe etc. (CK 5.7.2021). Für das Erledigen von Einkäufen (z.B. in Apotheken), für den Besuch von Kaffeehäusern usw. ist ein Impfzertifikat erforderlich (CK 5.7.2021; vgl. CWRR 11.2.2022). Tschetschenien hat mit 65,64% eine der höchsten Impfquoten Russlands. 71,3% der über 60-Jährigen sind geimpft (Chechnya.gov 20.9.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). 675.642 Personen sind vollimmunisiert (CWRR 11.2.2022).
Dagestan:
In Dagestan herrscht Maskenpflicht. Veranstaltungssäle dürfen mit maximal 50% der Plätze belegt sein. Es gilt eine Impfpflicht für Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen (CWRR 11.2.2022) sowie für Studierende über 18 Jahren (Ria.ru 19.11.2021). Insgesamt wurden in Dagestan bislang 1.135.137 Personen (38,04% der Gesamtbevölkerung) geimpft (E-dag.ru 17.2.2022).
Politische Lage
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.com 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen Hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 1.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteienstärke gliedert sich nach den Wahlen von September 2021 wie folgt: Einiges Russland (324 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (57 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (21 Sitze), Gerechtes Russland (27 Sitze) und die neu gegründete Partei Neue Leute (13 Sitze). Alle in der Duma vertretenen Parteien gelten als dem Kreml nahestehend (BAMF 27.9.2021). Diese sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik (SWP 11.2018). Während Präsident Putin und die Zentrale Wahlkommission von einer 'freien und fairen' Abstimmung sprachen, bezeichnete die unabhängige Wahlrechtsorganisation Golos die Wahl mit Blick auf Berichte über massive Unregelmäßigkeiten als 'eine der schmutzigsten' in der Geschichte des Landes. Aufgrund der Wahlfälschungsvorwürfe kam es zu Demonstrationen und Festnahmen (BAMF 27.9.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannt annektierten Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ('exekutive Machtvertikale') deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung meist ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürger sollten irgendjemand wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Aufgrund der Eskalation der Ukraine-Krise und der Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine als eigenständige Republiken durch Russland, verhängen die EU und USA scharfe Sanktionen (Tagesspiegel.de 23.2.2022). Auch Kanada, Japan und Australien schließen sich den Sanktionen an (Merkur.de 23.2.2022). Das Sanktionspaket der EU umfasst ein Handelsverbot für russische Staatsanleihen, um eine Refinanzierung des russischen Staates zu erschweren. Zudem sollen mehrere Hundert Personen und Unternehmen auf die EU-Sanktionsliste kommen. Darunter sind jene 350 Abgeordnete des russischen Parlaments, die für die russische Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostukraine gestimmt haben, aber auch Banken, die in der Ostukraine Geschäfte machen. Auch sollen die Freihandelsregelungen der EU mit der Ukraine nicht mehr für die Gebiete in der Ostukraine gelten. Von Personen, Organisationen und Unternehmen, die auf die EU-Sanktionsliste gesetzt werden, werden sämtliche in der EU vorhandenen Vermögenswerte eingefroren. Zudem dürfen gelistete Personen nicht mehr in die EU einreisen, und mit den Betroffenen dürfen auch keine Geschäfte mehr gemacht werden. Auch die Zertifizierung der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 wird bis auf weiteres gestoppt. Die USA verbieten Geschäfte in oder mit den beiden von Russland anerkannten Separatistengebieten in der Ostukraine. Weiters werden Sanktionen gegen zwei russische Banken und gegen drei Unterstützer Putins und deren Angehörige verhängt (Tagesspiegel.de 23.2.2022).
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Tschetschenien
Letzte Änderung: 15.11.2021
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2021).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2021). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 89,2% der Stimmen. Zeitgleich fand in Tschetschenien auch die Wahl des Republikoberhauptes statt. Amtsinhaber Ramsan Kadyrow gewann diese Wahl nach vorläufigem Ergebnis mit 99,7% der abgegebenen Stimmen (CK 20.9.2021). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, welche ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021).
Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als 'Fußsoldat Putins' zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 02.03.2022
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 25.2.2022a; vgl. EDA 25.2.2022). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 25.2.2022a). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 25.2.2022).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
Nachdem Präsident Putin am 21.2.2022 die separatistischen Gebiete Luhansk und Donezk in der Ostukraine als eigenständige Republiken anerkannt hatte (Tagesspiegel 23.2.2022), startete er am 24.2.2022 einen militärischen Großangriff auf die Ukraine (Standard 25.2.2022). Die russischen Streitkräfte griffen das Nachbarland aus mehreren Richtungen an (ORF.at 25.2.2022). Da sich die Kampfhandlungen derzeit auf das Gebiet der Ukraine beschränken, entnehmen Sie detailliertere Informationen bitte dem CMS Ukraine und den dazugehörigen Kurzinformationen der Staatendokumentation. Die Situation wird von der Staatendokumentation einem laufenden Monitoring unterzogen.
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Nordkaukasus
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die volatile Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Trotzdem wird sowohl in Tschetschenien als auch in Dagestan immer wieder von bewaffneten Übergriffen berichtet (ÖB Moskau 6.2021).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2021). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehörten bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehörten bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (CK 2.7.2020a, CK 2.7.2020b, CK 27.10.2020, CK 24.12.2020, CK 20.2.2021). Von Jänner bis inklusive August 2021 sind 26 Personen im Zuge des Konfliktes im Nordkaukasus getötet werden [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] (CK 15.4.2021, CK 21.7.2021, CK 12.8.2021, CK 27.9.2021).
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Rechtsschutz/Justiz
Letzte Änderung: 21.04.2022
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2021). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020).
Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2021). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs- und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto 'Schuldvermutung' im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Anwälte im Menschenrechtsbereich beklagen ungleiche Spielregeln in Gerichtsverfahren und steigenden Druck gegen die Anwälte selbst (ÖB Moskau 6.2021).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2021). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Weiters wurde mit der Verfassungsänderung, die am 4.7.2020 in Kraft trat, das Recht des Föderationsrats, Richter des Verfassungsgerichtshofs auf Vorschlag des Präsidenten zu entlassen, verankert (ÖB Moskau 6.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 waren beim EGMR 13.650 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2020 wurde die Russische Föderation in 173 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2021).
Wegen Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hatte der Europarat Russlands Mitgliedschaft zunächst suspendiert. Russland gab kurz darauf seinen Austritt aus dem Europarat nach 26 Jahren Mitgliedschaft bekannt und kam damit einem Beschluss der übrigen Mitgliedsstaaten zuvor. Nach dem endgültigen Ausschluss Russlands aus dem Europarat hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) alle Verfahren gegen Russland vorerst ausgesetzt. Nach Angaben des Gerichts vom Jänner 2022 wurden 24 % der rund 70.000 beim EGMR anhängigen Verfahren von Russen und Russinnen angestrengt. Russland gehört nun nicht länger zu den Unterzeichnerstaaten der EMRK, und seine Bürger können sich nicht mehr an den EGMR wenden (ORF.at 17.3.2022).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020). Im Juli 2017 trat eine weitere neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der 'Absicht' angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann. Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).
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Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 02.03.2022
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetschenien und Dagestan. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art 'alternative Justiz'. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2021). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Ein neueres Beispiel betrifft die Familie eines ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof in Tschetschenien. Kadyrow hat die Familie zu 'Terroristen' erklärt, da die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal vermutet werden (Snob 10.2.2022).
Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Es gibt ein Gesetz, welches die Verwandten von Terroristen verpflichtet für Schäden zu haften, die bei Angriffen entstanden sind. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2021). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2021) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Dissens und Kritik werden in Tschetschenien weiterhin rücksichtslos unterdrückt (HRW 13.1.2022).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 02.03.2022
Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung (US DOS 11.3.2020).
Das Untersuchungskomitee (SK) ist zuständig für schwere und sehr schwere Straftaten (z.B. Mord, Vergewaltigung, Verbrechen an Minderjährigen, Straftaten im Zusammenhang mit den verfassungsmäßigen Rechten einer Person; Bestechlichkeit und Fehlverhalten von Beamten) (EASO 3.2017).
Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamte, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führt (US DOS 11.3.2020), ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 3.3.2021; vgl. AI 7.4.2021, HRW 13.1.2022).
Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden gegen Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).
Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen 'fremdländischen' Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 2.2.2021).
Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen 'Kadyrowzy'. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Rebellenkämpfern. Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Gründung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Bedienstete. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramsan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch 'ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben' (EASO 3.2017).
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem 'langen Arm' des Regimes von Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 2.2.2021).
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 02.03.2022
Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Art. 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. EASO 3.2017). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugsbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 6.2021; vgl. EASO 3.2017, AA 2.2.2021). Folter ist jedoch noch immer allgegenwärtig, und die Täter bleiben häufig straffrei (AI 7.4.2021; vgl. HRW 13.1.2022, AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020).
Immer wieder gibt es auch Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 2.2.2021). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (US DOS 11.3.2020). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtlichen Tötungen. Ramsan Kadyrow lässt solche Formen von Gewalt anwenden, um die Kontrolle über die Republik Tschetschenien zu behalten. Diese Aktivitäten finden manchmal über die Grenzen Russlands hinaus statt (FH 3.3.2021).
Im August 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta Videos von Wachen, die in Jaroslawl Gefangene organisiert prügelten. Die Behörden verhafteten nach einem öffentlichen Aufschrei mindestens 12 Gefängniswachen, aber die NGO Public Verdict berichtete schon im Dezember 2018 über systematische Misshandlung in einem anderen Gefängnis in der Region. Im Juli 2019 veröffentlichte Public Verdict ein weiteres Video, das anhaltende Misshandlungen in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter und verurteilten sie zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021).
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Korruption
Letzte Änderung: 16.11.2021
Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).
Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 3.3.2021). Obwohl das Gesetz Strafen für Behördenkorruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2020). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2020). Die meisten Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung sind oft nur symbolischer Natur. Korruptionsvorwürfe der politischen Elite gelten als Instrumente in Machtkämpfen (BTI 2020). Zu den Formen von Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördenkorruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).
Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny dokumentiert regelmäßig Korruptionsfälle auf höchster politischer Ebene, ohne dass die staatlichen Strukturen darauf reagieren (BTI 2020). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung. 2020 nimmt Russland im Ranking des Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International den 129. Platz von 179 ein (GIZ 1.2021a).
Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung 'Kommersant' den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 6.2021). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).
Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 2.2.2021). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau ausgeflogen. Alle vier standen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018). Wladimir Wassilews Ernennung [zum Republiksoberhaupt von 2018-2020] bekräftigt die Bedeutung von Dagestan für den russischen Staat und die Tatsache, dass Putin nicht länger bereit ist, die von den Subventionen abgezogenen Mittel zu ignorieren (PONARS Eurasia 11.2018). Der Nachfolger Wassilews ist Sergej Melikow. Dieser war davor Vertreter der Region Stawropol im Föderationsrat (BPB 26.10.2020). […]
Wehrdienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren werden zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten (ÖB Moskau 6.2021). Es gibt in Russland zweimal im Jahr eine Stellung – eine im Frühling, eine im Herbst (Global Security 1.10.2020a). Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB Moskau 6.2021). Im Jahr 2020 wurden russlandweit 263.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Global Security 1.10.2020a).
Neben dem Grundwehrdienst gibt es auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden (ÖB Moskau 6.2021), sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB Moskau 6.2021, vgl. Jamestown 10.4.2018). Mitte April 2019 sagte Präsident Putin, dass die Wehrpflicht in Russland allmählich der Vergangenheit angehören wird. 2019 dienen ca. 370.000 Kontraktniki (Vertragssoldaten) in den russischen Streitkräften, im Vergleich zu ca. 260.000 Wehrpflichtigen (WI 19.4.2019). Der Verteidigungsminister stellte die Aufgabe, die Zahl der Vertragssoldaten bis 2025 auf 475.000 zu erhöhen (RBTH 22.4.2019). Im Oktober 2020 äußerte sich der Generaloberst Jewgeni Burdinski, dass es derzeit wohl nicht notwendig sei, auf eine komplette Vertragsarmee umzusteigen, da dies - auch aufgrund der Corona-Pandemie - wohl zu teuer ist (Global Security 1.10.2020b).
Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als ’untauglich’ von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind verbreitet, aber rückläufig. Diese Versuche konzentrieren sich vor allem auf das Stadium vor der Einberufung, da nur ein Drittel der jungen Männer, die jährlich das wehrfähige Alter erreichen, tatsächlich eingezogen wird. Etwa ein Drittel ist untauglich, ein Drittel erhält keine Aufforderung, bei der Einberufungskommission vorstellig zu werden. Grundsätzlich gibt es aber keine Rekrutierungsprobleme, da genug junge Männer Grundwehrdienst leisten wollen. Neben einer patriotischen Gesinnung ist ein Grund dafür auch die Tatsache, dass die Ableistung des Grundwehrdienstes Voraussetzung für bestimmte (v.a. staatliche) berufliche Laufbahnen ist. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr einige hundert junge Männer, denen der Stellungsbefehl zugestellt wurde, welche die Stellungskommission durchlaufen, die Entscheidung der Stellungskommission zur Einberufung auch nicht beeinspruchen, aber dann dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet haben. In diesen Fällen gibt es jährlich einige hundert strafrechtliche Verfahren bzw. Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung (ÖB Moskau 6.2021). Im Durchschnitt erhalten russische Wehrpflichtige ca. 2.000 Rubel (ca. 22€) pro Monat, während professionelle Vertragssoldaten ca. 25.000–35.000 Rubel (275–385€) erhalten. Letztere können auch noch mit einigen zusätzlichen Zahlungen rechnen (WI 19.4.2019).
Im Jahr 2015 wurde durch Staatspräsident Putin ein Dekret erlassen, das die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweiterte und seitdem ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige (Dedowschtschina) sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte umfasst. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Dedowschtschina kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 2.2.2021). Nach grundlegenden Reformen im russischen Heer in den Jahren 2008–2012, die auch Maßnahmen zur Humanisierung des Wehrdienstes sowie einer Reduzierung des Grundwehrdienstes von zwei auf ein Jahr beinhalteten, hat sich die Zahl der Gewaltverbrechen im Heer deutlich reduziert. Offizielle Statistiken dazu werden nicht publiziert. NGOs gehen dennoch von hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt oder geduldet (ÖB Moskau 6.2021).
Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, die seit 1999 formal in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie Freiheitsstrafen aufgrund anderer Delikte in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch auch zur Verbüßung von Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 2.2.2021).
Bis ins Jahr 2014 wurden etwa aus Tschetschenien überhaupt keine Wehrpflichtigen eingezogen. Aus Tschetschenien werden nunmehr jährlich ein paar hundert Rekruten einberufen. Nachdem junge Männer aus der Region aber teilweise eine Einberufung anstreben, gibt es Fälle, in denen sie dies durch Anmeldung eines Wohnsitzes in einer anderen Region zu erreichen versuchen (ÖB Moskau 6.2021). Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken können durch den Dienst in den Streitkräften der Russischen Föderation eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erlangen. Erstmalig können sich diese Personen dann nach drei Jahren um die Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft bewerben (AA 2.2.2021).
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 02.03.2022
Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)
Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)
Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)
Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)
Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)
Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).
Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2021).
Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikane bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021).
Einerseits wird in Russland soziales Engagement und freiwillige soziale Arbeit (etwa auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie) begrüßt und unterstützt. Sogenannte 'Bürgerkammern' sollen als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat dienen. Andererseits wurde der Freiraum für eine kritische Zivilgesellschaft seit den Protesten 2011/2012 immer weiter eingeschränkt. Im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet. Kritische inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2021) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021, HRW 13.1.2022). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).
Rassismus und Xenophobie richten sich in Russland traditionell vor allem gegen Migranten aus Zentralasien, Personen aus dem Kaukasus und vermehrt auch gegen dunkelhäutige Personen. Weitere Opfer von Hassverbrechen sind ideologische Gegner (Angriffe v.a. der nationalistischen Gruppierung SERB), LGBTIQ-Personen und Obdachlose. Die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren ist gesunken, und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen sind beträchtlich zurückgegangen. Anti-LGBTIQ-Rhetorik ist nunmehr eine der am weitesten verbreiteten Formen von Hassreden. Der Islam wird häufig mit Terrorismus in Verbindung gebracht. Die häufigsten Opfer rassistischer Gewalt sind Zentralasiaten, andere 'nicht-slawisch' aussehende Personen, Roma und dunkelhäutige Personen. Die Zahl der Opfer bei Hassverbrechen ist zwar klar geringer als noch vor 10 Jahren, dennoch aber nicht unbedeutend. Keinen Rückgang gab es bei Angriffen gegen Mitglieder oppositioneller Gruppierungen (ÖB Moskau 6.2021).
Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019).
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Tschetschenien
Letzte Änderung: 02.03.2022
NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, welche das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).
Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. BAMF 11.2019).
2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Sexuelle Minderheiten] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten. Im März 2018 entschied das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, kein Strafverfahren in der Sache zu eröffnen. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht. Im März 2021 publizierte die Nowaja Gazeta die Aussagen eines tschetschenischen Polizisten, welcher Augenzeuge der Festnahmen und außergerichtlichen Tötungen war (ÖB Moskau 6.2021).
Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot, auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Schikanen, Strafverfahren und körperliche Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger werden weiterhin begangen (AI 7.4.2021). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020). [Bezüglich Morde bzw. Vorfälle gegen tschetschenische Kritiker in Europa und Russland siehe Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].
Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).
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Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die tschetschenische Führung unterdrückt weiterhin rücksichtslos jede Form von Dissens (HRW 13.1.2022). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen bzw. mit deren Ideologie zu sympathisieren, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigung, Entführung, Misshandlung und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft) (ÖB Moskau 6.2021). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt (ÖB Moskau 6.2020). Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2021). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).
Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird eine Person allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diese zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora: Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie lebten, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Das tschetschenische Oberhaupt hat auch verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Vereinzelt sind Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte. Auch innerhalb Russlands werden immer wieder Fälle bekannt, in denen tschetschenische Sicherheitsorgane außerhalb der Republik tätig werden (ÖB Moskau 6.2021): Im September 2020 wurde Salman Tepsurkajew, Moderator des Kadyrow-kritischen Telegram-Kanals '1Adat', aus Gelendschik (Region Krasnodar) entführt und nach Tschetschenien gebracht, wo er gefoltert und öffentlich erniedrigt wurde (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Im Februar 2021 wurden zwei Personen von Polizisten aus Nischnij Nowgorod entführt, wohin sie mit Hilfe des LGBT-Netzwerks geflohen waren, und nach Tschetschenien gebracht, wo ihnen 'Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen' vorgeworfen wird. Im Juni 2021 wurde die Tschetschenin Chalimat Taramowa, welche wegen häuslicher Gewalt und Drohungen aus Tschetschenien geflohen war, von Polizisten in einem Krisenzentrum für Frauen in Dagestan festgenommen und zurück nach Tschetschenien gebracht, wo sie den Familienangehörigen, vor welchen sie u.a. wegen ihrer sexuellen Orientierung geflohen war, übergeben wurde. Der Vater ist Berichten zufolge ein hochrangiger tschetschenischer Beamter (ÖB Moskau 6.2021).
Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).
Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. Für die Jahre 2017, 2018, 2019, 2020 und 2021 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018; vgl. US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, HRW 13.1.2022, AI 7.4.2021).
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2021). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).
Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Blogger wegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der in Europa lebende Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille aufgefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020, ÖB Moskau 6.2021). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet (Kurier.at 23.7.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Der Mann, der sich Anzor aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).
Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Offiziellen russischen Vertretern zufolge kehren angesichts einer drohenden gerichtlichen Verfolgung in Russland nur wenige FTFs (foreign terrorist fighters) nach Russland zurück. Frauen und Kinder von FTFs, die keine Verbrechen begangen haben, werden von Russland zurückgeholt (v.a. Kinder), diese werden soweit möglich rehabilitiert und resozialisiert. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen. In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrern gestattet, nach Hause zurückzukehren. In Dagestan wurden Frauen – angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand - als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu 7 – 7,5 Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafen aufgrund von Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind. Vor dem Verbot des sogenannten IS war die Rückkehr nach Russland einfacher (auch für Männer) und die Konsequenzen milder. Grundsätzlich werden betroffene Familienangehörige als Hochrisikogruppe betrachtet und befinden sich unter Aufsicht der Behörden. Formen der Diskriminierung sind etwa Verweigerung eines Kindergarten- oder Schulplatzes oder Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden (ÖB Moskau 6.2021).
Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2021).
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Haftbedingungen
Letzte Änderung: 02.03.2022
Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der ganz überwiegende Anteil der Häftlinge ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 2.2.2021). Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 1990er Jahre langsam, aber kontinuierlich verbessert. Die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil noch nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Im Piloturteil-Verfahren des EGMR zum Fall 'Ananjew und andere gegen Russland' hat das Gericht festgestellt, dass die Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen (russ. SIZO) einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK entsprechen und das Problem systemischer Natur ist. Im März 2017 veröffentlichte die Föderale Strafvollzugsbehörde (FSIN) einen Bericht, laut welchem die Zahl der Selbstmorde und der Erkrankungen mit direkter Todesfolge aufgrund verbesserter Bedingungen im Jahr 2016 um 12% bzw. 13% gesunken ist. Menschenrechtsverteidiger äußerten jedoch Zweifel an diesen Zahlen (ÖB Moskau 6.2021). Gefangene können Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Option aber nicht immer genutzt. Aktivisten berichten, dass nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Konsequenzen einer Beschwerde riskieren. Beschwerden, die bei den Aufsichtskommissionen eingingen, konzentrierten sich häufig auf geringfügige persönliche Anfragen. Die Behörden gestatten Vertretern der öffentlichen Aufsichtskommissionen regelmäßig, Gefängnisse zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Mitglieder der Kommissionen behördennahe Personen sind und Personen, die in der Strafverfolgung arbeiten. Laut Gesetz haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Mitglieder der Kommission können auch Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen durchführen, Sicherheitsbewertungen durchführen und Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen in Gefängnissen erhalten. Es gibt Berichte, dass die Gefängnisbehörden die Mitglieder der Aufsichtskommissionen daran hindern, Beschwerden von Gefangenen entgegenzunehmen (US DOS 11.3.2020).
Die häufigsten Vorwürfe betreffen die schlechten hygienischen Zustände, den Mangel an medizinischer Betreuung, den akuten Platzmangel (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021, US DOS 11.3.2020), Misshandlungen durch Aufsichtspersonen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021, US DOS 11.3.2020), Korruption und fehlende Resozialisierungsmaßnahmen. Kritisiert werden auch die Bedingungen bei der Verbringung von Häftlingen in oft weit entfernte Strafkolonien. 2020 ist eine Gesetzesnovelle in Kraft getreten, gemäß welcher Häftlinge in Russland ihre Haftstrafe in der Nähe ihres Wohnorts oder in der Nähe des Wohnorts ihrer Angehörigen verbüßen sollen (ÖB Moskau 6.2021).
Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Häftlinge stetig gesunken, von über 1 Mio. auf ca. 520.000 im Februar 2020. Dennoch ist Russland mit 360 Häftlingen auf 100.000 Einwohner in Europa immer noch führend. Ca. 18% der Häftlinge befinden sich in Untersuchungshaftanstalten (ÖB Moskau 6.2021). In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl der Häftlinge kontinuierlich um durchschnittlich 32.000 pro Jahr gesunken (WPB 8.3.2019). Die Regierung ist bestrebt, die Anzahl der Gefängnisinsassen weiter zu verringern. So gibt es Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen (wie beispielsweise im Bereich der Drogendelikte einen Gesetzesentwurf zu freiwilliger Entziehungstherapie oder Arbeitseinsätze statt Freiheitsstrafen) zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich; sie reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Hauptprobleme sind Überbelegung (in Moskau, weniger in den Regionen), qualitativ schlechtes Essen und veraltete Anlagen mit den einhergehenden hygienischen Problemen. Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in den russischen Haftanstalten entsprechen nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen. In den Strafkolonien schützt die Unterbringung in Gruppen den einzelnen Häftling am ehesten vor schikanöser Behandlung durch das Gefängnispersonal. Laut Menschenrechtsorganisationen kann jedoch in allen Strafkolonien gegen Häftlinge, denen Verstöße gegen die Anstaltsregeln vorgeworfen werden, sogenannte Strafisolierhaft (Schiso) angeordnet werden. Häftlinge sind in dieser Isolationshaft oft besonders üblen Haftbedingungen und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt (AA 2.2.2021). Vorwürfe in Bezug auf Folter und andere Misshandlungen in den Haftanstalten werden weiterhin gemeldet. Täter werden so gut wie nie zur Verantwortung gezogen. Aus ganz Russland trafen unzählige Foltervorwürfe ein. Im Dezember 2019 erhielt die gemeinnützige Stiftung 'Nuschna Pomosch' (Nötige Hilfe) von der Ermittlungsbehörde Statistiken über Folterungen in Haftanstalten. Demzufolge wurden von 2015 bis 2018 jährlich zwischen 1.590 und 1.881 Beschwerden wegen 'Amtsmissbrauchs' durch Strafvollzugsbeamte verzeichnet. Nur bei 1,7 - 3,2% dieser Beschwerden wurden Ermittlungen durchgeführt (AI 16.4.2020).
Die medizinische Versorgung ist nicht überall befriedigend (AA 2.2.2021; vgl. US DOS 11.3.2020). Ein Großteil der Häftlinge bedarf medizinischer Versorgung. Sowohl von TBC- als auch HIV-Infektionen in bemerkenswertem Umfang wird berichtet. Problematisch ist ebenso die Zahl der drogenabhängigen oder psychisch kranken Inhaftierten. Todesfälle wegen unterlassener medizinischer Hilfeleistung kommen laut NGOs vor. Die COVID-19-Prävention und die medizinische Versorgung Infizierter richten sich nach den Vorgaben des russischen Föderalen Strafvollzugsdienstes und den ihm unmittelbar unterstellten Einrichtungen (ÖB Moskau 6.2021). Die Gesundheitsversorgung und die sanitären Anlagen in den Strafvollzugsanstalten sind nach wie vor mangelhaft, und durch die COVID-19-Pandemie wurde die Situation noch verschlimmert. Die Behörden setzen zwar Kontroll- und zusätzliche Hygienemaßnahmen um, die Belegung der Gefängnisse wurde jedoch nicht verringert (AI 7.4.2021). Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind laut NGOs deutlich besser als in den Strafkolonien (qualitativ besseres Essen, frische Luft, wenig Foltervorwürfe). Hauptproblem ist auch hier die Überbelegung. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 2.2.2021). Der Chef der föderalen Strafvollzugsbehörde (FSIN) gibt an, dass es an Personal fehlt, um Menschen mit Beeinträchtigungen in Haftanstalten zu betreuen (ÖB Moskau 6.2021).
Im Allgemeinen sind die Haftbedingungen in Frauengefängnissen besser als in Männergefängnissen, aber auch diese bleiben unter dem Standard (US DOS 11.3.2020).
Russland erweiterte Anfang 2017 seinen Strafkatalog. Somit können Richter bei einigen Vergehen statt einer Haftstrafe Zwangsarbeit anordnen. Die russische Gefängnisbehörde FSIN eröffnete im Jänner 2017 vier 'Besserungszentren' – in Sibirien, Russlands Fernost, im Kaukasus und im Wolgagebiet – und sieben Aufnahmepunkte für Zwangsarbeiter. Insgesamt bieten sie zunächst 900 Verurteilten Platz. Im Gegensatz zur Haftstrafe sind die Täter 'nicht von der Gesellschaft isoliert'. Sie können Telefon und Internet benutzen, einen Teil des verdienten Geldes behalten, einen Arzt aufsuchen und nach Verbüßung eines Drittels der Strafe auch außerhalb der Zentren mit ihren Familien zusammenleben – vorausgesetzt, sie verstoßen weder gegen ihre Arbeitspflicht noch gegen andere Auflagen. Der Konsum von Alkohol und Drogen zieht die Umwandlung der Zwangsarbeit in Haft nach sich (Handelsblatt 2.1.2017; vgl. Der Standard.at 10.1.2017).
Im Juli 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta ein durchgesickertes Video von Strafvollzugspersonal in Jaroslawl, das einen Gefangenen brutal schlägt. Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 15 Verdächtige. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019; vgl. FH 4.2.2019). Laut Freedom House veröffentlichte die NGO Public Verdict ein Video, das den anhaltenden Missbrauch in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021). Trotz offizieller Zusicherungen nach der Veröffentlichung durchgesickerter, grausamer Videos von Folterungen von Insassen, werden Folterungen und Misshandlungen im russischen Strafvollzug fortgesetzt und bleiben regelmäßig ungestraft. Im Oktober 2021 kündigten die Strafverfolgungsbehörden die Einleitung von Ermittlungen an, nachdem neue Medienberichte über durchgesickerte Videos erschienen waren, die zahlreiche Vergewaltigungen und andere Misshandlungen von männlichen Häftlingen in einem Gefängniskrankenhaus in der Region Saratow dokumentieren. Die Person, der die Videos zugespielt wurden, floh aus dem Land (HRW 13.1.2022).
Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern speist, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut den Moskauer Vertretern des 'Komitees gegen Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine anderen Speisevorschriften, seien sie religiöser oder sonstiger Art, beachtet (AA 2.2.2021).
In denjenigen Fällen, in welchen die Strafverfolgung nicht sachfremd motiviert ist, oder die Sicherheitsbehörden kein besonderes Interesse haben, d.h. im Bereich 'normaler' Kriminalität, kann davon ausgegangen werden, dass Strafverfahren in nordkaukasischen Regionen mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung (Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan) ähnlich wie im Rest der Russischen Föderation verlaufen. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als im Rest Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien in der Regel als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an denen die Sicherheitsbehörden kein besonderes 'sachfremdes' Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie neben den besseren materiellen Bedingungen auch auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 2.2.2021).
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Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 02.03.2022
Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit (AA 2.2.2021). Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei als 'traditionelle Religionen' de facto eine herausgehobene Stellung (AA 2.2.2021), die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) spielt allerdings eine zentrale Rolle (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die ROK arbeitet bei bestimmten Themen eng mit der Regierung zusammen (FH 3.3.2021). Rund 68% identifizieren sich als russisch-orthodoxe Christen, 7% als Muslime, und 25% gehören religiösen Minderheiten an, darunter Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Juden und Baha'i (USCIRF 4.2020). Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben zwischen 14 und 20 Millionen Muslime (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021c).
Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens' sowie die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus' vertreten. Darüber hinaus sind zahlreiche andere Konfessionen, wie der Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen -, das Judentum (ca. 200.000 Gläubige) sowie von den christlichen Kirchen die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche und eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 1.2021c). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen (GIZ 1.2021c; vgl. USCIRF 4.2020). Die russische Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als eine Bedrohung für die soziale und politische Stabilität des Landes und pflegt gleichzeitig bedeutende Beziehungen zu den sogenannten 'traditionellen' Religionen des Landes. Die Regierung aktualisiert regelmäßig Gesetze, welche die Religionsfreiheit einschränken, darunter ein Religionsgesetz von 1996, ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus von 2002 und neuere Gesetze über Gotteslästerung, wie beispielsweise 'Schüren von religiösem Hass' und 'Missionstätigkeit'. Diese vagen Gesetze geben den russischen Behörden weitreichende Befugnisse, religiöse Reden oder Aktivitäten zu definieren und zu verfolgen oder religiöse Literatur zu verbieten, die sie für schädlich halten. Das Religionsgesetz legt strenge Registrierungsanforderungen an religiöse Gruppen fest und ermächtigt Staatsbeamte, die Tätigkeit der Gruppierungen zu behindern (USCIRF 4.2020).
Seit Ende der Achtzigerjahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer 'religiösen Renaissance' bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als nicht gläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein 'kanonisches Territorium' verfügt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der ROK in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat (GIZ 1.2021c).
Seit einer Änderung des Anti-Extremismus-Gesetzes im Jahr 2007 gerieten bestimmte religiöse Gruppen ins Visier der russischen Behörden, vor allem die Zeugen Jehovas und islamische Gruppierungen wie Hizb ut-Tahrir, aber auch Falun Gong, Scientology, und andere. Im Zuge einer Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Jahr 2016 wurden die Auflagen für Missionarstätigkeiten neu geregelt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. USCIRF 4.2020). Das Anti-Extremismus-Gesetz wird auch genutzt, um Muslime - insbesondere Anhänger der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat und Leser des türkischen Theologen Said Nursi - wegen friedlicher religiöser Aktivitäten zu verfolgen (USCIRF 4.2020). Auch andere nicht-traditionelle religiöse Gruppen kamen in letzten Jahren unter Druck, wie beispielsweise Adventisten, Baptisten, die Pfingstbewegung und die Heilsarmee (ÖB Moskau 6.2021).
Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, welche die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Verfolgung der Zeugen Jehovas unter dem Vorwurf des Extremismus nahm in den letzten Jahren zu, was sich an einer steigenden Zahl von Verurteilungen und längeren Haftstrafen zeigt (AI 7.4.2021). Die Polizei führt weiterhin Hausdurchsuchungen durch und eröffnet neue Strafverfahren gegen Zeugen Jehovas. Zu den Verurteilten und Angeklagten gehören auch Personen auf der von Russland besetzten Krim (HRW 13.1.2022).[…]
Tschetschenien
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die tschetschenische Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weitverbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013).
In Tschetschenien setzt Ramsan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch (USCIRF 4.2019; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Dieser soll moderat, aber streng kontrolliert sein. Salafismus und Wahhabismus duldet er nicht (USCIRF 4.2019). Die Autorität der Kadyrow-Regierung beruht auf der Wirkungskraft einer spezifischen islamischen Ideologie, die als Gegenentwurf zu den Lehren des Wahhabismus bzw. Salafismus konzipiert ist und die Gesellschaft gegen den Einfluss erstarkender fundamentalistischer Kräfte stabilisieren soll (Russland Analysen 21.9.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubhaften Aussagen von lokalen NGOs einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werden soll (AA 2.2.2021). Die strafrechtliche Verfolgung dieser Art von Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. USCIRF 4.2020). Auch Verwandte, Freunde und Bekannte können ins Visier der Behörden geraten (ÖB Moskau 6.2021). Belästigungen von Muslimen bei Gottesdiensten kommen vor, ebenso wie Entführungen zur 'Kontrolle der religiösen Überzeugungen'. Dies dient der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).
Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden (USCIRF 4.2019). Polygamie kam schon in der Sowjetunion vor, allerdings nur heimlich. Nun wird sie durch die Scharia legitimiert (Welt.de 14.2.2017). Polygamie ist zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 2.2.2021). Die Religion verdrängt die alten Werte der traditionellen Dorfgemeinde. Der Islam wird dabei in unterschiedlichsten Formen gelebt und dient oft den Männern dazu, ihre Frauen zu unterdrücken (Welt.de 14.2.2017).
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Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 16.11.2021
In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese Rechte jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter des Militär- und Sicherheitsdiensts wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021).
Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestanern etc.], das in der Verfassung verankerte Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes und auf Aufenthalt in der Russischen Föderation zu (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Wer zur Miete wohnt, benötigt eine Bescheinigung seines Vermieters und wird damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 2.2.2021). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vgl. Kapitel Meldewesen] (FH 3.3.2021).
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 2.2.2021; vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).
Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 2.2.2021). Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihren Inlandsreisepass mit sich führen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018; vgl. FH 3.3.2021).
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Meldewesen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanenten und temporären Wohnort registrieren (EASO 8.2018; vgl. AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).
Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung vorgenommen werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tage dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag auf temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).
Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12.2011; vgl. ÖB Moskau 6.2021).
Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung aber auch für Tschetschenen kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korruptem Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018).
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Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropa
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Gemäß Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2021). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vgl. EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).
Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2021). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Rezente Beispiele aus dem Jahr 2020 sind der Mord an Mamikhan Umarov alias Martin Beck (Anzor aus Wien), der Mord an Zelimkhan Khangoshvili in Berlin, der Mord an Imran Aliyev in Lille/Frankreich und der Angriff auf Tumso Abdurakhmanov in Gävle/Schweden (ÖB Moskau 6.2021) [vgl. dazu Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].
Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2021). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission - davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vgl. EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).
Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).
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Grundversorgung
Letzte Änderung: 10.06.2021
2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49% (WKO 4.2021). Die Arbeitslosigkeit befindet sich im Landesdurchschnitt auf einem moderaten Niveau (GIZ 1.2021b) und wird für das Jahr 2021 auf 5,2% prognostiziert (Statista 19.10.2020). Sie kann regional jedoch stark abweichen. Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019). Das BIP lag 2020 bei ca. 1.474 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Rückgang um ca. 3%(WKO 4.2021).
Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der weltweiten Gasreserven (25,2%), circa 6,3% der weltweiten Ölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert für das Wirtschaftswachstum 2021 nur ein Plus von 2,8%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 1.2021b).
Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).
Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).
Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).
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Nordkaukasus
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Bei einer Sitzung zur Entwicklung des Nordkaukasus im Juni 2021 bezeichnete Ministerpräsident Mischustin die Situation als nicht einfach (ÖB Moskau 6.2021). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).
Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im September 2021 bei 24.876 Rubel [ca. 292 Euro], landesweit bei 44.919 Rubel [ca. 526 Euro] (Rosstat o.D.). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Oktober 2021 bei 13.845 Rubel [ca. 162 Euro] (Chechenstat 2022), landesweit bei 15.801 Rubel [ca. 185 Euro] (Rosstat 1.12.2021). Die durchschnittliche Höhe des Existenzminimums für das Jahr 2022 beträgt in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung 13.241 Rubel [ca. 154 Euro], für Pensionisten 10.447 Rubel [ca. 121 Euro] und für Kinder 11.784 Rubel [ca. 137 Euro] (Chechenstat 2022). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2022 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 13.793 Rubel [ca. 161 Euro], für Pensionisten bei 10.882 Rubel [ca. 127 Euro] und für Kinder bei 12.274 Rubel [ca. 143 Euro] (RIA Nowosti 21.11.2021; vgl. Gosudarstvennaja Duma 2022). Der Mindestlohn beträgt im Jahr 2022 13.890 Rubel [ca. 163 Euro] pro Monat (Gosudarstvennaja Duma 2022).
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Sozialbeihilfen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Dieses bietet bedürftigen Personen Hilfe an (IOM 2020). Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).
Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht notwendig. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab (IOM 2020). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie ältere Menschen (IOM 2020). Das von EASO betriebene europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:
Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);
Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);
Familien mit geringem Einkommen;
Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).
Familienbeihilfe
Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2020). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).
Mutterschaft
Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns - bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2020). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).
Mutterschaftskapital
Zu den wichtigen sozialen Unterstützungsleistungen zählt das Mutterschaftskapital (ÖB Moskau 6.2021). Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Es wurde eingeführt, um Eltern finanziell zu unterstützen und dadurch die Geburtenrate in Russland zu erhöhen. Die Einmalzahlung wird Familien (grundsätzlich der Mutter) für jedes (seit 2020 auch das erste) zur Welt gebrachte oder adoptierte Kind gewährt (2021: 483.881,83 Rubel (über 5.000 Euro) für das erste Kind, 639.431,83 Rubel (ca. 7.000 Euro) für das zweite und jedes weitere Kind) (ÖB Moskau 6.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).
Behinderung
Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2020). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021). Die Höhe der monatlichen Invaliditätspension ist abhängig vom Invaliditätsgrad. Es gibt staatliche Einrichtungen für ältere und behinderte Menschen (Erwachsene und Kinder), innerhalb derer sie leben können und kostenlose medizinische Behandlung erhalten. Die staatlichen Sozialzentren und Unterkünfte des Ministeriums für Arbeit und Sozialen Schutz gibt es für Erwachsene und für Kinder (ÖB Moskau 6.2021).
Arbeitslosenunterstützung
Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollte dies nicht möglich sein, wird der Person ein Arbeitlosenstatus zuerkannt. Mit diesem erhält die Person monatlich eine Unterstützung. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert (IOM 2020). Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 11.280 Rubel (ca. 141 €) (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Außerdem darf die Person nicht in eine andere Region ziehen. Sollte die Person Fortbildungen zur Selbstständigkeit besuchen oder eine Rente beziehen, ist die Person von diesen Vorteilen ausgeschlossen. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2020).
Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen
Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Personen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2020).
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Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 16.11.2021
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2021). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).
Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2021). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2020). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt. Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden (ÖB Moskau 6.2021).
Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, Vorsorge, Diagnose undambulante sowie stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vgl. AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2021).
Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken geleistet wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2021).
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2021). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). Auch Leistungen, die vom Staat für eine bestimmte Personengruppe, wie z.B. Personen mit Beeinträchtigungen, bestimmt wurden, sind gedeckt. Eine kostenfreie 24-Stunden-Versorgung steht allen Patienten im OMS-System zu (IOM 2020). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2021). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).
Durch jüngste Reformen und Gesetze erfolgte eine Minderung der Dominanz staatlicher Anbieter sozialer Dienstleistungen. Die Anzahl nicht-staatlicher Träger, wie z.B. NGOs, nimmt tendenziell zu, wobei in den einzelnen Regionen unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. So werden in einigen Regionen Sozialleistungen fast ausschließlich von staatlichen Trägern übernommen, in anderen agieren vermehrt auch nicht-staatliche Einrichtungen in diesem Bereich (ÖB Moskau 6.2021).
Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).
Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung im Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2021).
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Tschetschenien
Letzte Änderung: 10.06.2021
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:
infektiöse und parasitäre Krankheiten
Tumore
endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
Krankheiten des Nervensystems
Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems
Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde
Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes
Krankheiten des Kreislaufsystems
Krankheiten des Atmungssystems
Krankheiten des Verdauungssystems
Krankheiten des Urogenitalsystems
Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett
Krankheiten der Haut und der Unterhaut
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen
Geburtsfehler und Chromosomenfehler
bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben
Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).
Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vgl. GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).
In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).
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Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien
Letzte Änderung: 10.06.2021
Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).
Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).
Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:
'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).
[…]
Rückkehr
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Bei Ankunft in der Russischen Föderation müssen sich alle Rückkehrer am Ort ihres beabsichtigten Wohnsitzes registrieren [vgl. Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen]. Dies gilt generell für alle russischen Staatsangehörigen, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert, und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 6.2021).
Rückkehrende haben wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen [vgl. Kapitel Sozialbeihilfen] (IOM 2020). Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mithilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB Moskau 6.2021).
Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 6.2021).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten noch immer von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 2.2.2021).[…]
Dokumente
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z.B. Staatsangehörigkeitsnachweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt auch Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden (AA 13.2.2019). Auslandsreisepässe sind schwieriger zu bekommen, aber man kann auch diese kaufen. Es handelt sich bei den Dokumenten oft um echte Dokumente mit echten Stempeln und Unterschriften, aber mit falschem Inhalt. Die Art der Dokumente hierbei können z.B. medizinische Protokolle (medical journals), Führerscheine, Geburtsurkunden oder Identitätsdokumente sein. Ebenso ist es möglich, echte Dokumente mit echtem Inhalt zu kaufen, wobei die Transaktion der illegale Teil ist. Für viele Menschen ist es einfacher, schneller und angenehmer, ein Dokument zu kaufen, um einen zeitaufwändigen Kontakt mit der russischen Bürokratie zu vermeiden. Es soll auch gefälschte 'Vorladungen' zur Polizei geben (DIS 1.2015).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
[…]
1.3.2. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Russischen Föderation: Militärische Rekrutierungen für den Ukraine Krieg vom 14.04.2022;
[…]
1. Welche Informationen gibt es bezüglich der Heranziehung zum Wehr-dienst/Wehrpflicht, seit dem Kriegseinsatz gegen die Ukraine?
2. Werden - aufgrund der Verluste der russischen Armee in der Ukraine - Wehrpflichtige zwangsweise im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt bzw. gedrängt, sich freiwillig zu melden?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch, Englisch und Russisch wenige Informationen gefunden. Aufgrund der informationsspezifischen Art der Fragestellungen wurden diese nach zeitlich begrenzter Eigenrecherche an eine externe Stelle zur Recherche übermittelt. Aktuelle Informationen zu den Fragestellungen finden sich auch auf dem Koordinationsboard in der AFB RUSS_SM_MIL_Desertion_2022_03_29_KE. Diese AFB ist der Anfragebeantwortung beigelegt.
Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt „Einzelquellen“ näher beschrieben.
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass Russland im Krieg in der Ukraine Berufssoldaten einsetzt. Russland rekrutiert für den Krieg in der Ukraine außerdem syrische Kämpfer, Tschetschenen und russische Söldner. In etwa 1.000 Söldner der russischen Sicherheitsfirma Wagner-Gruppe befinden sich auf Kampfeinsatz im Osten der Ukraine (in der Region Donbas). Die USA besitzen Hinweise, dass Russland mit der Mobilisierung einiger Reservisten begonnen hat.
Laut den nachfolgenden Quellen ist es vorgekommen, dass auch Grundwehrdiener in die Ukraine zum Kämpfen entsandt waren. Offenbar wurden diese wieder in die Russische Föderation zurückgeführt. Für das Frühjahr 2022 ordnete Putin im Rahmen der jährlichen Stellung die Einberufung von 134.500 Grundwehrdienern an. Gemäß dem Verteidigungsministerium steht diese Einberufung in keinem Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg.
Bislang hat Russland nicht das Kriegsrecht ausgerufen oder eine Generalmobilmachung verkündet, was eine Massenmobilisierung und die Einberufung von Reservisten vereinfachen würde.
Einzelquellen:
Die Österreichische Botschaft berichtet Folgendes:
Medienberichten zufolge kommen im Krieg in der Ukraine auf russischer Seite Berufssoldaten zum Einsatz. Es gab aber Vorfälle, in denen auch Grundwehrdiener zum Kampfeinsatz hinzugezogen wurden […].
ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (7.4.2022): Auskunft der Botschaft, per E-Mail
Die Österreichische Botschaft berichtet Folgendes [Hervorhebungen durch die Staatendokumentation]:
[…] EXKURS „Einsatz von Rekruten in der „Spezialoperation“ des russischen Militärs in der Ukraine: De facto wurden Rekruten, welche zu „Übungen“ einberufen wurden, auch in der russischen „Spezialoperation“ in der Ukraine – entgegen der [...] gesetzlichen Bestimmung - eingesetzt. Die russische Militärstaatsanwaltschaft ermittelt derzeit, weswegen es zu diesem Einsatz von Rekruten in Kampfeshandlungen kommen konnte. Auch in den staatlich kontrollierten Medien finden sich Hinweise zu diesem Kampfeseinsatz von Pflichtwehrdienern.
Die Beiträge haben folgenden Wortlaut:
„Und aus dem, was der offizielle Vertreter des Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow auf dem heutigen Briefing gesagt hat: Leider wurden einige Fakten der Anwesenheit Wehrdienstleistender in den Reihen der russischen Streitkräfte, die an der Spezialoperation auf dem Territorium der Ukraine teilnehmen, entdeckt. Praktisch alle diese Wehrdienstleistenden wurden schon auf das Territorium der RF zurückgeführt. Dennoch wurde auf eine dieser Unterabteilungen, die Aufgaben im Hinterland erfüllten, von einer Diversionsgruppe des Nationalistenbataillons ein Angriff verübt. Eine Reihe von Militärangehörigen, darunter auch Wehrdienstleistende, wurden gefangen genommen. Derzeit werden umfassende Maßnahmen zur Verhinderung der Entsendung Wehrdienstleistender in Gebiete mit Kampfhandlungen und zur Befreiung der gefangenen Militärangehörigen ergriffen.“
Der Pressesprecher des Präsidenten Dmitrii Peskow ergänzte dazu: „Vor Beginn der Spezialoperation wurde auf Befehl des Präsidenten der RF, des Oberkommandierenden Vladimir Putin allen Kommandierenden von Unterabteilungen mitgeteilt: Die Heranziehung von Wehrdienstleistenden für die Erfüllung jeglicher Aufgaben in der Ukraine auszusch[l]ießen. Dem Präsidenten wurde die Erfüllung dieses Befehls gemeldet. Im Zusammenhang mit dem Faktum der Anwesenheit einer Reihe von Wehrdienstleistenden in den Teilen der Streitkräfte, die an der Durchführung der Spezialoperation in der Ukraine teilnehmen, wurde der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft auf Befehl des Präsidenten Material zugesandt, für die Prüfung und rechtliche Bewertung und Bestrafung der Amtsträger, die für die Nichterfüllung dieses Befehls verantwortlich sind.“
Der Tenor lautet also, dass es – entgegen den Befehlen des Präsidenten - zwar Wehrdienstleistende in die Ukraine gab, diese aber bereits wieder in die RF zurückgeführt wurden. Darüber hinaus hätten diese nur Aufgaben im Hinterland und nicht an der Front erfüllt. Die Militärstaatsanwaltschaft ermittle in dieser Sache bereits, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. [...]
ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (17.3.2022): Auskunft der Botschaft, per E-Mail
Die internationale Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass der russische Präsident Putin im März 2022 im Rahmen der jährlichen Frühjahrsstellung die Einberufung von 134.500 Grundwehrdienern anordnete. Die Frühjahrsstellung dauert von 1. April bis 15. Juli und richtet sich an russische Männer im Alter von 18-27 Jahren. Gemäß dem Verteidigungsministerium steht die aktuelle Einberufung in keinem Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg.
President Vladimir Putin on Thursday [March 2022] signed a decree ordering 134,500 new conscripts into the army as part of Russia's annual spring draft, but the defence ministry said the call-up had nothing to do with the war in Ukraine. […] The annual spring military draft, which runs from April 1 to July 15, will affect Russian men between the ages of 18 and 27, Putin's decree said.
[…]
Die österreichische Tageszeitung Der Standard berichtet im März 2022 Folgendes [Hervorhebungen durch die Staatendokumentation]:
Moskau rekrutiert syrische Söldner […] Syrische Milizionäre werden für den Krieg in der Ukraine auf der Seite Russlands rekrutiert[.] […] Laut Quellen in Syrien haben sich schon tausende Freiwillige gemeldet, wobei es sich jedoch mit Sicherheit um bezahlte Söldner handelt. Es soll bereits mehrere Rekrutierungszentren in größeren Städten geben. Auf Facebook wurde ganz konkret um Angehörige der 4. Division geworben – der größten und bestausgerüsteten der syrischen Armee. 3000 US-Dollar wurden abhängig von Qualifikation und Expertise in Aussicht gestellt, allerdings ohne nähere Angaben, für welchen Zeitraum diese Bezahlung gilt. […] Auch von der russischen Sicherheitsfirma Wagner-Gruppe, die fast überall ist, wo sich Russland engagiert, ist immer wieder die Rede, einige Hundert Kämpfer sollen bereits in der Ukraine im Einsatz sein. Die BBC zitiert ein ehemaliges Mitglied der Gruppe, das berichtet, dass sie via Telegram angeworben werden. Um Rebranding bemüht, sollen sie sich jetzt "Die Falken" nennen und unter der Leitung von Offizieren des russischen Militärgeheimdienstes stehen.
[…]
Die US-Tageszeitung Washington Post berichtet im April 2022, dass sich in etwa 1.000 Söldner der Wagner-Gruppe im Osten der Ukraine (in der Region Donbas) befinden. Die genaue Anzahl der Wagner-Söldner in der Ukraine ist unbekannt.
In Russia’s ongoing invasion of Ukraine, about 1,000 Wagner mercenaries are concentrated in the country’s east, where Pentagon officials say Russia has refocused its war effort after failing to capture the capital, Kyiv. […] Pentagon press secretary John Kirby told reporters in March that the firm has about 1,000 fighters in the Donbas region of eastern Ukraine. […] Exactly how many Wagner mercenaries are in Ukraine and where they are coming from remain unknown.
[…]
Die US-Tageszeitung New York Times berichtet im April 2022, dass Russland Probleme hat, zusätzliche Truppen zu rekrutieren. Auch deshalb hat Russland syrische Kämpfer, Tschetschenen und russische Söldner ermuntert, die russischen Truppen zu verstärken.
Russia’s problems finding additional troops are in large measure why it has invited Syrian fighters, Chechens and Russian mercenaries to serve as reinforcements. […] Russian mercenaries with combat experience in Syria and Libya are gearing up to assume an increasingly active role in a phase of the war that Moscow now says is its top priority: fighting in the country’s east.
[…]
Der internationale Nachrichtenkanal Euronews berichtet im April, dass die USA Hinweise besitzen, dass Russland mit der Mobilisierung einiger Reservisten begonnen hat.
The United States has indications that Russia has started mobilizing some reservists and could be looking to recruit more than 60,000 personnel, a senior U.S. defense official said on Friday.
[…]
Gemäß der Asylagentur der Europäischen Union hat Russland bislang nicht das Kriegsrecht ausgerufen oder eine Generalmobilmachung verkündet. Dadurch würde für Russland die Einberufung von Reservisten vereinfacht, und Russland könnte Männer mittels Massenmobilisierung zur Kampfteilnahme zwingen.
[…] Russia has so far not declared martial law or made a call for general mobilisation of forces, as reporting available for this query up to 3 April 2022. Such a declaration would enable Russia to call upon reserve forces more easily and force Russian men to fight through mass mobilisation and conscription, which has reportedly sparked fears among Russians fearing conscription due to mobilisation. [...]
[…]
1.3.3. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Russischen Föderation: Situation von Rückkehrern aus dem Ausland vom 14.04.2022;
1. Gibt es Repressalien für Rückkehrer aus dem Ausland, welche schon lange im Ausland lebten, z.B. als Folge der europäischen (wirtschaftlichen) Sanktionen gegen die Russische Föderation?
[…]
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle ist zu entnehmen, dass nationale Gesetze keine Einschränkungen für Rückkehrer mit russischer Staatsbürgerschaft vorsehen. In der Praxis finden – rechtlich nicht gedeckte – Befragungen ein- und ausreisender Russen sowie Vertreter „unfreundlicher“ Staaten durch Grenzkontrollorgane statt. Es ist unklar, wie die dadurch gewonnenen Informationen von russischen Behörden weiter verwertet werden.
Einzelquelle:
Die Österreichische Botschaft berichtet Folgendes:
Es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen in der Russischen Föderation, welche Einschränkungen für Rückkehrerinnen/Rückkehrer mit russischer Staatsangehörigkeit aus dem Ausland vorsehen. De facto kommt es beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen aber zu Befragungen Ein- und Ausreisender (Russinnen/Russen, aber auch Vertreter/innen sog. „unfreundlicher Staaten“ – darunter auch: Republik Österreich) durch Grenzkontrollorgane. Da i.d.R. diesen Befragungen kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren zugrunde liegt, erfolgen diese ohne entsprechende Rechtsgrundlage. Über die Verwendung der im Zuge der Befragung gewonnener Daten durch die russischen Behörden kann nur gemutmaßt werden, dass derartige Informationen zu repressiven Handlungen gegen russische Bürgerinnen/Bürger verwendet werden.
[…]
1.3.4. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Russischen Föderation: Sozialleistungen für Staatsangehörige vom 14.04.2022;
1. Haben sich seit dem Kriegseinsatz der Russischen Föderation in der Ukraine die Sozialleistungen für Staatsangehörige der Russischen Föderation geändert? Wenn ja, wie?
[…]
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle ist zu entnehmen, dass für das Budget 2022 eine Verminderung der Ausgaben in den Bereichen Sozialleistungen und Gesundheitswesen vorgesehen ist. Dies bedeutet gegenüber 2021 ein Minus von RUB 117 Mrd. [ca. EUR 1,3 Mrd.] bzw. RUB 371 Mrd. [ca. EUR 4,1 Mrd.]. Ab 1.5.2022 sind neue monatliche Unterstützungszahlungen für 8-17-jährige Kinder bedürftiger Familien geplant.
Die nachfolgende Quelle berichtet außerdem, dass Veteranen von Kampfhandlungen, Veteranen des Militärdienstes sowie Veteranen der Arbeit Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen haben. Hierzu zählen auch Veteranen, die seit 24.2.2022 in der Ukraine kämpfen. Veteranen haben Anspruch auf u.a. Pensionsleistungen; monatliche Geldleistungen; kostenfreien Wohnraum und kommunale Dienstleistungen; medizinische und prothetisch-orthopädische Hilfe.
Einzelquelle:
Die Österreichische Botschaft berichtet Folgendes [Hervorhebungen durch die Staatendokumentation]:
Das im Dezember 2021 von Präsident Putin unterschriebene Gesetz über das föderale Budget für die Jahre 2022 bis 2024 (Путин утвердил бюджет с сокращением расходов на здравоохранение и социальную поддержку | Капитал страны (kapital-rus.ru) sieht zwar für 2022 eine Reduktion der veranschlagten Ausgaben für das Gesundheitswesen um 117 Mrd. RUB und für Sozialleistungen um 371 Mrd. RUB gegenüber 2021 vor, Hinweise auf eine weitere allgemeine Einschränkung von Sozialleistungen für russische Staatsangehörige seit Beginn des Ukraine-Kriegs konnten nicht gefunden werden.
Mit dem Erlass N 175 des Präsidenten der Russischen Föderation vom 01.04.2022 (Указ Президента РФ от 31.03.2022 N 175 "О ежемесячной денежной выплате семьям, имеющим детей" / КонсультантПлюс (consultant.ru) wurden hingegen ab 01.05.2022 neue monatliche Unterstützungszahlungen für Kinder bedürftiger Familien im Alter von 8 bis 17 Jahren eingeführt.
ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (7.4.2022): Auskunft der Botschaft, per E-Mail
Die Österreichische Botschaft berichtet, dass Veteranen von Kampfhandlungen, Veteranen des Mlitärdienstes sowie Veteranen der Arbeit Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen haben. Hierzu zählen auch Veteranen, die seit 24.2.2022 in der Ukraine kämpfen. Veteranen haben Anspruch auf u.a. Pensionsleistungen; monatliche Geldleistungen; kostenfreien Wohnraum und kommunale Dienstleistungen; medizinische und prothetisch-orthopädische Hilfe. [Hervorhebungen durch die Staatendokumentation].
In der Russischen Föderation gibt es das föderale Gesetz N 5-FZ "Über die Veteranen" vom 12.01.1995 idFv 26.03.2022 (sh. http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_5490/da29ae43e329f024a568d1e2ffb47123921c858d/ ). Art. 1 dieses Gesetzes legt fest, welche Kategorien von Veteranen es in der Russischen Föderation gibt, nämlich Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, Veteranen von Kampfhandlungen auf dem Territorium der UdSSR, auf dem Territorium der Russischen Föderation und auf den Territorien anderer Staaten (im Folgenden: Veteranen von Kampfhandlungen), Veteranen des Militärdienstes und Veteranen der Arbeit.
Gem. Art. 3 Abs 1 leg cit zählen zu den Veteranen von Kampfhandlungen:
1.) Angehörige der Streitkräfte, darunter Angehörige der Reserve, Wehrpflichtige, die zu Manövern einberufen wurden, Personen der Mannschafts- und Kommandeursdienstgrade der Organe des Innenministeriums, der Truppen der Nationalgarde, der Organe des Staatsschutzes, Angestellte der genannten Organe, Angestellte des Verteidigungsministeriums der UdSSR und der Russischen Föderation, Mitarbeiter von Einrichtungen und Organen des Strafvollzugssystems, von Organen der Zwangsvollstreckung der Russischen Föderation, die von Organen der Staatsgewalt der UdSSR oder der Russischen Föderation in andere Staaten entsandt wurden und bei der Erfüllung von Dienstpflichten in diesen Staaten an Kampfhandlungen teilgenommen haben, ebenso welche gemäß den Entscheidungen der Organe der Staatsgewalt der Russischen Föderation an Kampfhandlungen auf dem Territorium der Russischen Föderation teilgenommen haben.
Gem. Art. 3 Abs 3 leg cit wird die Liste von Staaten, Städten, Territorien und Zeiträumen der Führung von Kampfhandlungen mit der Teilnahme von Staatsangehörigen der Russischen Föderation als Anlage zu diesem föderalen Gesetz geführt. Änderungen in dieser genannten Liste erfolgen durch föderales Gesetz.
Mit dem föderalen Gesetz N 69-FZ vom 26.03.2022 wurde der Abschnitt III der Anlage (Kampfhandlungen russischer Staatsangehöriger im Ausland) um den Punkt "Erfüllung von Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation auf den Territorien der Ukraine, der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk: seit dem 24. Februar 2022" ergänzt. Somit gelten Personen gem. Art. 3 Abs. 1 Z 1 des föderalen Gesetzes über Veteranen, die seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine oder den Volksrepubliken Donezk oder Lugansk kämpfen, als Veteranen mit Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen.
Gem. Art. 13 Abs 1 leg cit umfasst die soziale Unterstützung von Veteranen eine Reihe von Maßnahmen, einschließlich:
1) der Pensionsleistungen, der Auszahlung von Zuwendungen in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Russischen Föderation;
2) des Erhalts monatlicher Geldleistungen;
3) der Gewährung von Wohnraum;
4) des Ersatzes von Aufwendungen zur Zahlung von Wohnraum und kommunalen Dienstleistungen;
5) der Gewährung medizinischer Hilfe und prothetisch-orthopädischer Hilfe.
Die konkrete Ausgestaltung dieser Hilfe für Veteranen von Kampfhandlungen ist im Art. 16 leg cit geregelt.
[…]
1.3.5. Coronavirus disease (COVID-19) weekly epidemiological update - WHO (World Health Organization) vom 03.08.2022, verweisend auf https://covid19.who.int/table und https://covid19.who.int/
Nach aktuellem Stand zum Entscheidungszeitpunkt gibt es im ganzen Land (RF) 18.636.741 bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus und 382.560 Todesfälle.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Der oben ausgeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichts.
2.2. Der oben festgestellte Sachverhalt beruht auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht aufgrund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens.
2.3. Die Feststellungen zur Einreise des BF, seinem Asylzuerkennungsverfahren und dem diesem zugrundeliegenden Vorbringen der Eltern des BF, fußen auf dem Verwaltungsakt des Zuerkennungsverfahrens des BF, sowie insbesondere den darin enthaltenen Einvernahmen der Eltern des BF vor dem ehemaligen unabhängigen Bundesasylsenat bei der seinerzeitigen mündlichen Beschwerdeverhandlung.
2.4. Die Feststellungen zu Identität, Nationalität, Volksgruppe, Herkunft sozialen, familiären bzw. privaten Verhältnissen des Beschwerdeführers gründen auf dessen insofern unbedenklichen Angaben vor dem BFA, sowie auf dem Vorbringen im Beschwerdeschriftsatz und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG. Der Beschwerdeführer hat im Verfahren keine unbedenklichen Dokumente zu seiner Identität vorgelegt, weshalb die Feststellungen ausschließlich für die Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren gelten.
2.5. Die Feststellungen zum Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich ergeben sich aus seinen Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, den in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht gemachten Angaben in Zusammenschau mit einem aktuell eingeholten ZMR-Auszug und aktuell eingeholten Auszügen aus dem Fremdenregister. Die Feststellungen zu seiner beruflichen Tätigkeit, seinen Schulbesuchen in Österreich, der Absolvierung seines Pflichtschulabschlusses, seiner abgebrochenen Lehre im Bundesgebiet, seiner darüber hinaus mangelnden Fort-, Aus- oder Weiterbildung im Bundesgebiet und der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in Österreich, ergeben sich aus seinen eigenen Angaben vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht, Auszügen aus dem AJ-Web und dem GVS, sowie dem vorgelegten Pflichtschulabschlusszeugnis. Dass die Mutter des BF diesen zuletzt finanziell unterstützt hat, beruht auf seiner Aussage in der mündlichen Verhandlung (S. 9, S. 21 des VH-Prot.). Die Feststellung, wonach der BF weder Mitglied in einem Verein, noch einer sonstigen Organisation ist und über lediglich 2 österreichische Freunde verfüge, zu denen er keinen Kontakt habe, fußt auf seinen Angaben in der Beschwerdeverhandlung (S. 17 des VH-Prot.). Die Feststellung, wonach der BF über eine Einstellungszusage verfügt, beruht auf der vorgelegten Bestätigung vom 08.06.2022.
Die sehr guten Deutschkenntnisse des BF ergeben sich zum einen aus dem Umstand, dass er ab seinem 4. Lebensjahr in Österreich aufgewachsen ist und die Schule besucht hat, sowie der Tatsache, dass seine Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.06.2022 ohne Probleme in Deutsch geführt werden konnte, andererseits aus dem persönlichen Eindruck des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung bei denen der BF – auch ohne Zuhilfenahme der im Verhandlungssaal anwesenden Dolmetscherin – mit dem erkennenden Richter im Rahmen einer Videokonferenzschaltung problemlos auf Deutsch zu kommunizieren vermochte. Die Feststellung, wonach der BF auch Russisch spricht, ergibt sich aus der Tatsache, dass seine Einvernahme vor dem BFA am 22.05.2018 im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache stattfand und in der Beschwerdeschrift auch explizit darauf hingewiesen wurde, dass der seinerzeitigen Einvernahme keine offensichtlichen Unrichtigkeiten zu entnehmen seien, der BF aber weit besser Deutsch als Russisch sprechen würde (S. 4, Beschwerdeschrift). Erst in später eingebrachten Schriftsätzen wurde beschwerdeseitig behauptet, dass der BF gar kein Russisch spreche, weshalb diese Behauptung vom erkennenden Gericht für nicht glaubhaft befunden und den Feststellungen nicht zugrunde gelegt wurde.
2.6. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF beruhen auf seinen Angaben vor dem BFA (S. 3 des BFA-Prot.) und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung (S. 18 des VH-Prot.), wonach er gesund sei. Daraus ergibt sich weder eine schwere, noch lebensbedrohliche Erkrankung oder gar eine allgemeine Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers und ist in Zusammenschau mit seinem Alter von einer grundsätzlichen Arbeitsfähigkeit des BF auszugehen.
2.7. Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF ergeben sich aus einer vom Bundesverwaltungsgericht aktuell eingeholten Strafregisterauskunft und den im Akt einliegenden Strafurteilen. Dass sich der Beschwerdeführer derzeit in Strafhaft befindet, ergibt sich – wie das errechnete Strafende – aus einer aktuell eingeholten Haftauskunft der Justizanstalt. Seine verbüßten Haftstrafen ergeben sich aus einem aktuellen Auszug aus dem ZMR in Zusammenschau mit dem Strafurteil vom 14.02.2018 zu XXXX , sowie den Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung.
2.8. Zum Vorliegen einer aktuellen Gefährdungssituation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
2.8.1. Die Feststellungen zur Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ergeben sich aus der Einsichtnahme in den Inhalt des Verwaltungsaktes über sein im Jahr 2003 initiiertes Asylverfahren, den im gegenständlichen Verfahren herangezogenen Länderberichten zur aktuellen Sicherheits- und Menschrechtslage in der Russischen Föderation, sowie den Angaben des Beschwerdeführers anlässlich seiner Einvernahme am 22.05.2018 vor dem BFA und seiner Einvernahme am 10.06.2022 bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Zuge derer er zu seinen aktuellen Rückkehrbefürchtungen befragt wurde.
2.8.2. Im gegenständlichen Verfahren kann kein Hinweis auf eine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erkannt werden. Es sind keine Anhaltspunkte für eine dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr aktuell drohende staatliche Verfolgung oder sonst maßgebliche individuelle oder generelle Gefährdung ersichtlich, wie in der Folge dargelegt wird:
2.8.3. Soweit der Vater des BF im Verfahren über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die konkrete Verfolgungssituation darauf stützte, dass er im zweiten Tschetschenienkrieg aktiv gewesen und Kassetten vervielfältigt, sowie verteilt habe und seine Schwester, welche ebenfalls Kassetten vervielfältigt, sowie verteilt habe, festgenommen und verschwunden sei, woraufhin auch der Vater des BF im Jahr 2004 von den Russen festgenommen und vergewaltigt worden sei, ist festzuhalten, dass Selbiges sich im Zeitraum des - zwischenzeitig beendeten - zweiten Tschetschenienkrieges ereignet haben soll und mittlerweile seit der Ausreise des BF und seiner Kernfamilie ganze 19 Jahre vergangen sind. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage hat sich seit der Asylgewährung nachhaltig verbessert und ist dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu entnehmen, dass von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen ist. Der tschetschenische Machtapparat konzentriert sich inzwischen vielmehr auf öffentliche Kritiker von XXXX und islamistische Kämpfer und deren Angehörigen. Der Vater des BF selbst war im Übrigen kein Untergrundkämpfer, weshalb von einer asylrelevanten Verfolgung des BF im Herkunftsstaat aufgrund der Angehörigeneigenschaft zu seinem Vater, mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit nicht mehr auszugehen ist, zumal der BF bei seiner Ausreise selbst erst 4 Jahre alt gewesen ist. Sofern im Zuerkennungsverfahren festgestellt wurde, dass die Mutter des BF entfernt mit XXXX verwandt sei und als Köchin für dessen Mitarbeiter gearbeitet habe, ist dem entgegenzusetzen, dass dieser bereits im Jahr 2019 der Status einer Asylberechtigten in erster Instanz rechtskräftig aberkannt wurde, weshalb eine noch bestehende asylrelevante Gefährdung im Herkunftsstaat im Hinblick auf die Mutter des BF bereits verneint wurde. Aus diesem Grund ist der Beweisantrag, die Mutter des BF einzuvernehmen abzuweisen, weil daraus keine entscheidungswesentlichen Tatsachen mehr zu erwarten sind. Nachdem dem LIB zu entnehmen ist, dass auch aktive Widerstandskämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges im Herkunftsstaat des BF nicht mehr verfolgt werden, ist das für dessen Vater noch weniger anzunehmen, weshalb der Beweisantrag - den Vater des BF einzuvernehmen - auch abzuweisen ist, weil daraus ebenfalls keine entscheidungswesentlichen Tatsachen mehr zu erwarten sind.
2.8.4. Zwar ergibt sich aus den Länderberichten - nach wie vor -, dass das Republikoberhaupt XXXX in Tschetschenien ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert hat und Vertreter russischer und internationaler NGOs von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, sowie einem Klima der Angst und Einschüchterung berichten, doch hat sich die Sicherheitslage, sowohl in Tschetschenien als auch in Zentralrussland massiv verbessert (wenn der Nordkaukasus auch noch von dauerhafter Stabilität weit entfernt ist). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben. Seit gut zehn Jahren liegt das Epizentrum von Gewalt nicht mehr in Tschetschenien. Dort konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. Stand Russland 2011 noch an neunter Stelle im Global Terrorism Index hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land, rangierte es im Jahr 2016 dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Zudem hat sich die Lage von Tschetschenen in Zentralrussland gebessert, sodass auch nicht von einer generellen ethnischen Verfolgung von Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe auszugehen ist (dazu noch unten). Die russischen/tschetschenischen Behörden würden ihren Fokus - laut vorliegendem Berichtsmaterial - nunmehr auf Anhänger des XXXX , sowie Personen, welche aktuell gegen die dortigen Sicherheitskräfte kämpfen, legen.
Sofern der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorbringt, bei einer Rückkehr wegen seiner Verurteilungen, vor allem wegen terroristischer Straftaten, zu befürchten von tschetschenischen Behörden verfolgt zu werden, ist dem entgegenzusetzen, dass es zwar, wie bereits ausgeführt, richtig ist, dass russische Behörden nunmehr hauptsächlich Unterstützer und Familienmitglieder gegenwärtig aktiver Widerstandskämpfer und Terrorverdächtiger im Visier haben. Wenn berichtet wird, dass eine Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak ein Sicherheitsrisiko für Russland darstellt und gegen XXXX -Kämpfer, die aus Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, gerichtlich vorgegangen wird, ist hierzu zu bemerken, dass der BF weder in jene Gebiete gereist ist, noch an Kriegshandlungen teilgenommen hat, sondern wegen der Planung eines Raubüberfalles auf einen österreichischen Waffenhändler und der anschließenden Ermordung von heimischen Polizisten unter Anleitung, sowie Anweisung eines XXXX -Mitgliedes, wegen Zusammenschlusses zu einer „ XXXX -Splittergruppe“ zwecks Errichtung eines Kalifates in Österreich, einem damit verbundenen Raubüberfall, einem damit verbundenen weiteren versuchten Raubüberfall, sowie der Leistung des Treueschwurs gegenüber dem Führer des XXXX und der Aufnahme dessen auf Video, welches an ein XXXX -Mitglied gesendet wurde, in Österreich rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt wurde und die aus diesem Grund erhaltene Haftstrafe bereits verbüßt hat. Sofern beschwerdeseitig vorgebracht wurde, dass den russischen Behörden die Verurteilung des BF aufgrund der medialen Zeitungsberichte bekannt sei, so ist dem entgegenzuhalten, dass der vorgelegte Zeitungsbericht aus dem Jahr 2016 stammt, wohingegen der BF erst im Jahr 2018 wegen seiner Straftaten mit XXXX -Konnex verurteilt wurde, weshalb es sich beim vorgelegten Zeitungsbericht nicht um eine mediale Berichterstattung zur konkreten Gerichtsverhandlung den BF handeln kann. Der vorgelegte Zeitungsbericht war in weiterer Folge daher nicht mehr zu berücksichtigen. Darüber hinaus werden in Österreich erfolgte strafgerichtliche Verurteilungen nicht an den Herkunftsstaat des BF übermittelt.
Anzumerken ist außerdem, dass dem BF in der Russischen Föderation keine menschenrechtswidrige Verfolgung wegen seiner strafgerichtlichen Verurteilungen hier in Österreich droht. Die Russische Föderation ist Mitglied des Europarates und trat für diese das 7. Zusatzprotokoll zur EMRK am 01.08.1998 in Kraft. Damit hat sich die Russische Föderation im Rahmen der EMRK zur Einhaltung des Prinzips „ne bis in idem“ und damit zum Doppelbestrafungsverbot verpflichtet. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der BF aufgrund seiner Verurteilung in Österreich wegen Terrorismus neuerlich in der Russischen Föderation der Strafverfolgung unterliegen sollte. Demensprechend besteht für den BF auch keine Bedrohung aufgrund der von ihm begangenen Straftaten, wofür er in Österreich bestraft wurde und derzeit eine Haftstrafe bereits verbüßt, erneut bestraft zu werden.
2.8.5. Beispielsweise zeigt die Hauptstadt Grosny wenige Anzeichen des jahrelangen Krieges miterlebt zu haben. Großflächige Kampfhandlungen sind lange vorbei, das Militär ist weniger präsent und die Stadt wurde wiederaufgebaut. Gleichwohl bleiben Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Armut der Bevölkerung das größte soziale Problem.
2.8.6. Vor dem BFA am 22.05.2018 gab der BF noch an, keine Vorstellungen bei einer Rückkehr zu haben. In der Beschwerdeverhandlung brachte der BF dann vor, zu befürchten im Falle einer Rückkehr gezwungen zu werden, zum Militär eingezogen zu werden und weil er politischer Flüchtling sei und terroristische Vorstrafen habe. Der BF wolle nicht sterben, er wolle keine Waffe in der Hand halten und auf niemand anderen schießen müssen. Der BF wolle keine unschuldigen Menschen verletzen. Der BF ist mit seinen 23 Jahren im wehrdienstpflichtigen Alter und hat aufgrund seines bisherigen Lebens in Österreich seinen Wehrdienst in der Russischen Föderation noch nicht abgeleistet. Den Befürchtungen des BF ist ganz grundsätzlich entgegenzuhalten, dass der Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation vom 14.04.2022 hinsichtlich militärischer Rekrutierungen für den Ukraine-Krieg zu entnehmen ist, dass Russland im Krieg mit der Ukraine Berufssoldaten und keine Grundwehrdiener einsetzt. Zwar sei es vorgekommen, dass Grundwehrdiener in die Ukraine zum Kämpfen entsendet worden seien, doch seien diese wieder in die Russische Föderation zurückgeführt worden. Die Russische Föderation hat keine Generalmobilmachung ausgerufen, weshalb nicht davon auszugehen ist, dass der BF, selbst bei Ableistung seines Wehrdienstes, auch vor dem Hintergrund der Anfragebeantwortung, in der Ukraine im Einsatz wäre.
Der von der Beschwerdeseite mit Stellungnahme vom 07.06.2022 vorgelegten Zeitungsbericht und die Anfragebeantwortung von ACCORD zur Russischen Föderation vom 16.05.2022 erscheint dem Gericht wenig aussagekräftig, zumal die in der von ACCORD herausgegebenen Anfragebeantwortung enthaltenen Zeitungsberichte überwiegend weniger aktuell erscheinen, als jene in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation enthaltenen Quellen sind und andererseits besteht die ACCORD Anfragebeantwortung v.a. zum Thema „Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine“ überwiegend aus diversen Aussagen von Zivilpersonen, wobei eine fundierte Überprüfung des Wahrheitsgehaltes dieser Aussagen anhand von Meldungen offizieller Stellen zumindest nicht offenkundig erkennbar scheint.
Darüber hinaus ist es aufgrund des bisherigen strafgerichtlich relevanten Verhaltens des BF, vor allem seiner im Bundesgebiet in der Vergangenheit zu Tage getretenen XXXX -Affinität und seiner offensichtlichen früheren Bereitschaft – im Namen des XXXX - im Bundesgebiet Gewalt- und Gräueltaten zu verüben, entgegen seinen Behauptungen, schlicht nicht glaubhaft, dass der BF nunmehr bei Rückkehr in den Herkunftsstaat ein tatsächliches Problem damit hätte eine Waffe in die Hand zu nehmen und diese im Rahmen seines Wehrdienstes auch zu gebrauchen. Anzumerken ist zudem, dass der BF im Rahmen seiner ersten strafgerichtlichen Verurteilung einen als Taschenlampe getarnten Elektroschocker unbefugt besessen hat und deswegen bereits gegen das Waffengesetz verstoßen hat. Darüber hinaus wurde der BF wegen mehrfacher Delikte gegen die körperliche Integrität strafgerichtlich verurteilt und plante er unter Anleitung eines XXXX -Kontaktmannes einen Raubüberfall auf ein Waffengeschäft, sowie die anschließende Ermordung mehrerer Polizisten mit den erbeuteten Waffen. Nachgefragt in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auf Seite 13 des VH-Prot., ob er grundsätzlich mit dem Plan einverstanden gewesen sei, brachte der BF u.a. vor: „…, ich war schon einverstanden, die Polizisten zu töten, aber als er mir sagte, dass man auch Frauen und Kinder ab 13 töten kann, war ich nicht mehr einverstanden…“. Nochmals nachgefragt auf Seite 14 des VH-Prot., ob er mit seinem ursprünglichen Plan, nämlich das Waffengeschäft zu überfallen und die Polizisten zu erschießen, auch zu Tat geschritten wäre, wenn ihn der Kontaktmann nicht auch aufgefordert hätte, Frauen und Kinder zu töten, vermeinte der BF: „Das kann ich nicht genau sagen, aber der Gedanke, der war da.“ Wenn die Beschwerdeseite im Rahmen ihrer Stellungnahme vom 20.06.2022 auf Seite 5f diese Aussage des BF u.a. mit lapidaren Bemerkung zu entkräften sucht, dass „grundsätzlich Gedanken an sich auch frei“ seien und der BF diese Gedanken nachweislich nie ausgeführt habe, bzw. der BF für den Versuch entsprechend verurteilt worden sei bzw. er seine Strafe dazu verbüßt habe, so verkennt die Beschwerdeseite zum einen, dass die Ausführung des seinerzeitigen Tatplanes – wie im Urteil des LG XXXX vom 14.02.2018 festgehalten – nur deswegen nicht erfolgte, da am 13.07.2016 ein anonymes Mail mit einem Warnhinweis an das Bundesministerium für Inneres versendet worden ist, welches die geplante Tat detailliert schilderte, und der BF mit seinen Komplizen aufgrund der medialen Berichterstattung und der damit einhergehenden verstärkten Polizeiüberwachung und Polizeipräsenz die Umsetzung ihres Tatplanes nicht mehr für möglich hielten und daher von ihren Tatplan abließen. Zum anderen lässt die Tragweite dieser Pläne, eine massiv gegen die in Österreich herrschende Rechts- und Werteordnung gerichtete Grundhaltung des BF erkennen, welche nicht mit dem schlichten, beschwerdeseitigen Hinweis auf „Gedankenfreiheit“ auch nur ansatzweise zu rechtfertigen ist. Auch wenn die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Sitzungen im Zeitraum 03.07.2019 bis 19.08.2021, sowie der Wunsch nach einem Antiaggressionstraining grundsätzlich dem BF zu Gute zu halten sind, spricht die neuerliche Straffälligkeit des BF im Bundesgebiet im März 2022, bei welcher er einem Arbeitskollegen mit der Faust ins Gesicht schlug, sodass dieser eine Fraktur des Unterkiefers erlitt, für eine noch immer präsente erhebliche Gewaltbereitschaft des BF im Bundesgebiet. Vor dem Hintergrund seines im Bundesgebiet zur Schau getragenen hochkriminelle Verhaltens und seiner jüngsten Strafrückfälligkeit vermag die Beschwerdeseite eine innere Umkehr des BF hin zu einer pazifistischen Geisteshaltung nicht hinreichend zu substantiieren oder glaubhaft zu machen. Somit vermag der BF auch nicht zu überzeugen, wenn er im Falle der Rückkehr in die Russischen Föderation einen Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen für sich auszuschließen behauptet. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der BF bei Rückkehr den Dienst an der Waffe verweigern sollte, steht es dem BF – wie jedem männlichen Bürger der Russischen Föderation - frei im Herkunftsstaat einen Wehrersatzdienst zu leisten. Wie aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zweifelsfrei hervorgeht, ist das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissens- oder religiösen Gründen durch Art. 59 Abs. 3 der Verfassung garantiert. Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht. Dass dem BF bei Rückkehr in den Herkunftsstaat somit ein Wehrersatzdienst nicht möglich sein sollte, wie es beschwerdeseitig im Rahmen der Stellungnahme vom 17.06.2022 und verweisend auf die Stellungnahme vom 07.06.2022 behauptet worden ist, lässt sich vor dem Hintergrund des aktuellen Länderinformationsblattes jedenfalls nicht hinreichend substantiiert begründen.
2.8.7. Dass der Beschwerdeführer, welcher selbst nie an Kampfhandlungen teilgenommen hat, alleine aufgrund der Tätigkeiten seines Vaters im zweiten Tschetschenienkrieg und der dadurch bedingten Verhaftung und Vergewaltigung seines Vaters, im Falle einer Rückkehr noch immer einer gezielten Verfolgung durch die Behörden seines Heimatlandes unterliegen würde, kann demnach nicht angenommen werden.
2.8.8. Aufgrund der dargelegten Umstände, welche bereits im angefochtenen Bescheid festgestellt wurden, ergibt sich, dass eine aktuelle Gefahr einer Verfolgung aus asylrelevanten Motiven nicht gegeben ist und auch darüber hinaus keine Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr zu prognostizieren ist. Ebenso wenig ist die Gefahr eines Kriegseinsatzes des BF in der Ukraine wahrscheinlich, wie oben ausführlich dargelegt.
2.8.9. Der BF hat zutreffenderweise im Herkunftsstaat noch keine Schule besucht, oder dort eine Ausbildung absolviert, doch verbrachte der BF die ersten 4 ½ Jahre seines Lebens in der Russischen Föderation in der Teilrepublik Tschetschenien und hat somit zumindest eine anfängliche Sozialisierung im Herkunftsstaat erfahren. Er ist in Österreich darüber hinaus in einem tschetschenisch geprägten Familienverband aufgewachsen, weshalb er mit den kulturellen, sprachlichen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten in seinem Herkunftsstaat hinreichend vertraut ist. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Tschetschenisch und spricht er nach eigenen Angaben mit seiner Familie in tschetschenischer und deutscher Sprache, wobei er mit ihnen mehr Deutsch spreche (S. 18 des VH-Prot.). Sofern im Rahmen der Stellungnahme vom 07.06.2022 vorgebracht wird, der BF könne Russisch weder in Wort, noch in Schrift, darf dem BF entgegengehalten werden, dass die Einvernahme des BF am 22.05.2018 vor dem BFA in russischer Sprache im Beisein eines Dolmetschers stattgefunden hat und die Beschwerdeseite in ihrem Beschwerdeschriftsatz ausführt, „wenngleich keine ersichtlichen Unrichtigkeiten in der Einvernahme vorhanden seien, werde dennoch informativ mitgeteilt, dass der BF hochgradig nervös gewesen sei und er weit besser die deutsche Sprache spreche, als Russisch“. Festzuhalten bleibt, dass der BF daher zumindest über grundlegende Russischkenntnisse verfügt und wird es ihm als jungen, erst 23-jährigen Mann sicherlich möglich sein, allenfalls mit Unterstützung, seine Russischkenntnisse nach und nach in Wort und Schrift zu verbessern, was ebenso für die Tschetschenischkenntnisse des BF gilt. Ebenso verfügt der BF im Herkunftsstaat über familiäre Anknüpfungspunkte in der Person seiner Großmutter, zu welcher zwar kein Kontakt besteht, doch steht es dem BF frei, diesen Kontakt mit Hilfe seiner in Österreich ansässigen Verwandtschaft wieder zu reaktivieren. Sofern nunmehr dargetan wurde, dass nicht sicher sei, ob die Großmutter des BF überhaupt noch lebe und nicht bekannt sei, wo sie lebe, weil kein Kontakt mit ihr bestehe, ist dem entgegenzuhalten, dass der BF bei seiner Einvernahme vor dem BFA sehr wohl angegeben hat, seine Großmutter lebe im Herkunftsstaat und, dass die Familie des BF sicherlich eine Todesnachricht erhalten hätte, wäre seine Großmutter tatsächlich bereits verstorben. Selbst ohne Unterstützung seiner Großmutter, wäre es dem BF als erwachsenen, 23-jährigen, gesunden und arbeitsfähigen Mann möglich, sich nach kurzer Zeit selbst eine Lebensgrundlage im Herkunftsstaat durch eigene Erwerbstätigkeit, wenn auch durch Gelegenheitsjobs, zu schaffen. Dazu könnte er sich auch die anfängliche Arbeitserfahrung, welche er im Bundesgebiet gesammelt hat, sowie seine sehr guten Deutschkenntnisse am tschetschenischen bzw. russischen Arbeitsmarkt zu Nutze machen. In einer Anfangsphase könnte der BF auch finanziell von Österreich aus von seiner Familie unterstützt werden, zumal der BF bereits zuvor von seiner Mutter finanziell unterstützt worden ist.
2.8.10. Aufgrund der dargelegten Überlegungen, wird es dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit möglich sein mit Unterstützung seiner Familie – vor allem in der Anfangsphase – im Herkunftsstaat wieder Fuß zu fassen, sich bald ein ausreichendes Einkommen zu sichern und in keine aussichtslose Lage geraten. Aufgrund des Alters und der vorliegenden Arbeitsfähigkeit des BF kann nicht erkannt werden und wurde beschwerdeseitig auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht, warum ihm das nicht möglich sein sollte.
2.8.11. Zudem hat der BF die Möglichkeit, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Rückkehrende haben außerdem nach dem LIB, wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Der Anfragebeantwortung vom 14.04.2022 zur Russischen Föderation hinsichtlich Sozialleistungen für russische Staatsangehörige, ist zwar zu entnehmen, dass für das Budget 2022 eine Verminderung der Ausgaben in den Bereichen Sozialleistungen und Gesundheitswesen vorgesehen ist, sonst hat sich seit dem Kriegseinsatz der Russischen Föderation in der Ukraine, mit Ausnahme von speziellen Sozialleistungen für Veteranen, an den Sozialleistungen für Staatsangehörige der Russischen Föderation nichts geändert.
2.8.12. Insgesamt konnte der BF eine aktuelle Gefährdungssituation für seine Person im Herkunftsstaat nicht hinreichend substantiieren, welcher er im Falle der Rückkehr in exponierter Weise ausgesetzt wäre. Unter Beachtung der zur Verfügung stehenden Berichtslage, sowie der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (wie z.B. familiäre Anknüpfungspunkte, selbständige berufliche Tätigkeit, usw.) ergibt sich, dass eine Rückkehr des BF in die Russische Föderation möglich und zumutbar ist.
2.9. Zu den Länderfeststellungen:
2.9.1. Die zur Lage in der Russischen Föderation getroffenen Feststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts des bereits Ausgeführten im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der Beschwerdeführer dar. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen, sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Vor dem Hintergrund dieses Wissens, war der Beweisantrag - ein länderkundliches Gutachten einzuholen, zum Beweis dafür, dass junge Rückkehrer aus dem Westen keine Möglichkeit hätten, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eine Beschäftigungsmöglichkeit zu finden, die es ihnen ermögliche, nach Rückkehr eine eigene Existenz auch ohne familiäres Netz sicher aufzubauen - abzuweisen, weil die dem gegenständlichen Verfahren zugrundeliegende Berichtslage einerseits ausreichend ist, um in casu hinsichtlich der Länderfeststellungen ein breites Gesamtbild darzulegen und war nicht zu erwarten, dass sich aus dem beantragten Gutachten weitere Erkenntnisse zur Klärung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts ergeben würden und kann andererseits einem Beweisantrag zum Zweck einer existenzbedrohenden Notlage insofern nicht stattgegeben werden, als es sich hierbei um eine rechtliche Beurteilung durch das erkennende Gericht handelt.
2.9.2. Aus den getroffenen Länderfeststellungen lässt sich keine derartige Situation im Herkunftsland ableiten, wonach der BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage - ohne Hinzutreten individueller Faktoren - in der Russischen Föderation aktuell und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder dass ihm im Falle einer Rückkehr ins Herkunftsland die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
2.9.3. Somit bleibt weiterhin festzuhalten, dass es sich bei der Russischen Föderation um einen Staat handelt, der zwar im Hinblick auf menschenrechtliche Standards Defizite aufweist, darüber hinaus aber nicht – etwa im Vergleich zu Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien u.v.a. - als Staat mit sich rasch ändernder Sicherheitslage auffällig wurde, sondern sich im Wesentlichen über die letzten Dekaden als relativ stabil erwiesen hat (vgl. dazu etwa VfGH vom 21.09.2017, Zl. E 1323/2017-24, VwGH vom 13.12.2016, Zl. 2016/20/0098).
2.9.4. Letztlich ist noch anzumerken, dass unter Zugrundelegung der getroffenen Feststellungen zur Grundversorgung in der Russischen Föderation auch kein Grund erkannt werden kann, wonach der junge und arbeitsfähige BF, der über eine fundierte Schulausbildung und zumindest anfängliche Arbeitserfahrung in Österreich verfügt, bei einer Rückkehr in die Russische Föderation in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Situation geraten würde. Außerdem verfügt der Beschwerdeführer über eine Großmutter in der Russischen Föderation und könnte von seiner Kernfamilie aus Österreich finanziell unterstützt werden, wie er auch bisher von seiner Mutter finanziell unterstützt worden ist.
2.9.5. Was die Ausbreitung des Corona Virus in der Russischen Föderation betrifft, ist festzuhalten, dass der BF an keinen schwerwiegenden Krankheiten leidet, sondern gesund ist. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass der BF persönlich bei einer Rückkehr eine Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf erleiden würden, weil er nicht zur Risikogruppe zählt. Die absoluten Zahlen in der Russischen Föderation erweisen sich mit 18.636.741 Erkrankten als so hoch, wie in kaum einem anderen Land. Dennoch erweisen sich die Todesfälle, mit insgesamt 382.560 Toten als, verglichen mit anderen Ländern, verhältnismäßig gering. Sieht man die absolute Zahl der Erkrankten jedoch im Verhältnis zur Einwohnerzahl, zeigt sich die Zahl der Erkrankungen pro 100.000 Einwohner noch davon entfernt, ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, in der Russischen Föderation an einer Lungenkrankheit Covid-19 (mit schweren Verlauf) zu erkranken. Die Russische Föderation hat als eines der ersten Länder mit landesweiten Impfungen ihrer Bevölkerung begonnen und sind mittlerweile mehrere heimische Impfstoffe zugelassen, die für die Bevölkerung kostenlos zur Verfügung stehen. Darüber hinaus stehen diverse Medikamente zur Behandlung von Covid-19 zur Verfügung und erfolgt eine medizinische Covid-Versorgung für die Bevölkerung kostenlos. Zuletzt war in der Russischen Föderation nach einem Anstieg an Infektionen mit dem Corona Virus, welcher auf die „Omikron-Variante“ zurückzuführen war, ein deutlicher Rückgang mit Infektionen zu beobachten, wobei die Infektionszahlen nunmehr seit einigen Wochen aufgrund der Verbreitung einer neuen „Omikron-Variante“ wieder steigen. Diese Entwicklung war und ist derzeit weltweit, auch in Österreich, zu beobachten. Insgesamt ist, vor dem Hintergrund der umfangreich gegebenen medizinischen Covid-Versorgung in der Russischen Föderation, dieser Umstand nicht dazu geeignet ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, um jene geforderte Schwelle der Exzeptionalität der Umstände zu erreichen.
2.9.6. Es liegen auch keine Hinweise dafür vor, dass Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe allein wegen eines langjährigen Aufenthaltes in Europa in der Russischen Föderation einer Verfolgung oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wären. Wie aus den Länderfeststellungen hervorgeht (s. Länderfeststellungen Rückkehr), sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr in die Russischen Föderation allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden. Selbiges ergibt sich aus der Anfragebeantwortung zur Situation von Rückkehrern vom 14.04.2022.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I 122/2013, geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
3.2. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Materiengesetzen (BFA-VG, AsylG 2005, FPG) nicht getroffen und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
3.3. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
3.4. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.Zu Spruchteil A)
3.5. Zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl)
3.5.1. §§ 6, 7 und 11 AsylG lauten auszugsweise:
Ausschluss von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten
§ 6. (1) Ein Fremder ist von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen, wenn
1. und so lange er Schutz gemäß Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt;
2. einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Ausschlussgründe vorliegt;
3. aus stichhaltigen Gründen angenommen werden kann, dass der Fremde eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, oder
4. er von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.
(2) Wenn ein Ausschlussgrund nach Abs. 1 vorliegt, kann der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden. § 8 gilt.
Aberkennung des Status des Asylberechtigten
§ 7 (1) Der Status des Asylberechtigten ist einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
1. ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt;
2. einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder
3. der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.
(2) Ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ist jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3) und das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 wahrscheinlich ist.
(3) Das Bundesamt kann einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt - wenn auch nicht rechtskräftig - nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.
(4) Die Aberkennung nach Abs. 1 Z 1 und 2 ist mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.
Innerstaatliche Fluchtalternative
§ 11.(1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen."
3.5.2. Die belangte Behörde stützte die Asylaberkennung zutreffend auf § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005, weil der BF von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet:
In seiner Entscheidung vom 23.09.2009, 2006/01/0626, sprach der Verwaltungsgerichtshof aus, dass kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Flüchtling trotz drohender Verfolgung in den Herkunftsstaat verbracht werden darf: Er muss erstens ein besonders schweres Verbrechen verübt haben, dafür zweitens rechtskräftig verurteilt worden und drittens gemeingefährlich sein, und schließlich müssen die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seine Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen (vgl. VwGH vom 03.12.2002, 99/01/0449, mit Verweis auf VwGH vom 06.10.1999, 99/01/0288, auf welches auch die Erläuterungen zu § 6 AsylG 2005 verwiesen; vgl. auch VwGH vom 05.12.2017, Ra 2016/01/0166, mwN).
§ 17 StGB bestimmt, dass Verbrechen vorsätzliche Handlungen sind, die mit lebenslanger oder zumindest mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. Mit der Einteilung in Verbrechen und Vergehen trifft § 17 Strafgesetzbuch eine grundsätzliche Unterscheidung der Straftaten, durch die das besondere Gewicht der als Verbrechen geltenden Straftaten ihrer Art nach betont werden soll. Über die Bezeichnung dieser Straftaten hinaus - mit "Verbrechen" wird schon rein sprachlich ein höherer Unwert konnotiert - bringt die Anknüpfung an ein Mindestmaß der Strafdrohung von mehr als dreijähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe sowie die Einschränkung auf Vorsatztaten zum Ausdruck, dass es sich um solche handelt, denen ein besonders hoher Unrechtsgehalt innewohnt (vgl. VwGH vom 05.04.2018, Ra 2017/19/0531, mwN).
Im Fall des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 ist allerdings zudem gefordert, dass ein "besonders schweres" Verbrechen vorliegt.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fallen unter den Begriff des "besonders schweren Verbrechens" nur Straftaten, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen. Typischerweise schwere Verbrechen sind etwa Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub und dergleichen (vgl. VwGH vom 25.10.2018, Ra 2018/20/0360, sowie nochmals VwGH vom Ra 2017/19/0531, mwN).
Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch bereits festgehalten, dass es sich dabei um eine demonstrative und daher keineswegs abschließende Aufzählung von Delikten in Zusammenhang mit Art. 33 Abs. 2 GFK handelt (vgl. erneut VwGH vom 18.10.2018, Ra 2017/19/0109, mwN).
Ebenso hat der Verwaltungsgerichtshof schon zum Ausdruck gebracht, dass auch im Fall einer Vielzahl einschlägiger rechtskräftiger Verurteilungen und insofern verhängter, beträchtlicher und überwiegend unbedingter Freiheitsstrafen, verwirklichte Delikte in einer Gesamtbetrachtung als "besonders schweres Verbrechen" qualifiziert werden können (vgl. VwGH vom 23.09.2009, 2006/01/0626; VwGH vom 18.10.2018, Ra 2017/19/0109). In der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird allerdings auch betont, dass es auf die Strafdrohung allein bei der Beurteilung, ob ein "besonderes schweres Verbrechen" vorliegt, nicht ankommt (vgl. VwGH vom 25.10.2018, Ra 2018/20/0360).
So genügt es demnach nicht, wenn ein abstrakt als "schwer" einzustufendes Delikt verübt worden ist. Die Tat muss sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen, wobei unter anderem auf Milderungsgründe Bedacht zu nehmen ist (vgl. VwGH vom 29.08.2019, Ra 2018/19/0522). Bei der Beurteilung, ob ein "besonders schweres Verbrechen" vorliegt, ist daher eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen (VwGH vom 23.09.2009, 2006/01/0626; VwGH vom 29.08.2019, Ra 2018/19/0522). Lediglich in gravierenden Fällen schwerer Verbrechen erweist sich bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose als zulässig (vgl. etwa in Zusammenhang mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren wegen des Verbrechens des versuchten Mordes: vgl. VwGH vom 14.02.2018, Ra 2017/18/0419, mwN).
3.5.3. Für den gegenständlichen Fall bedeutet das Folgendes:
3.5.3.1. Der Beschwerdeführer wurde im Bundesgebiet insgesamt viermal rechtskräftig verurteilt. Bereits im Jahr 2014, im Alter von nur 15 Jahren, wurde der Beschwerdeführer erstmals straffällig und am 22.10.2015 wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG und (versuchtem) Widerstand gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 3. Fall StGB schuldig gesprochen, jedoch unter Vorbehalt der Strafe und unter Setzung einer Probezeit von 2 Jahren, verurteilt. Es folgte eine weitere Verurteilung am 13.04.2017, im Zuge derer der BF wegen Körperverletzung und wegen Diebstahls durch Einbruch unter Einbeziehung des Schuldspruches seiner ersten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bedingt verurteilt wurde.
Seit 22.05.2017 bis zu seiner Verurteilung am 14.02.2018 befand sich der BF in Haft. Mit Urteil vom 14.02.2018 wurde der BF wegen des verbrecherischen Komplottes, terroristischer Vereinigung, krimineller Organisation und zweifachen Raubes zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt, wovon ein Teil der Freiheitsstrafe im Ausmaß von 10 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden, weshalb der BF zum ersten Mal das Haftübel verspürte.
Bei dem Delikt des § 278b StGB handelt es sich um ein selbstständig vertyptes "Vorbereitungsdelikt", wobei die Handlungsformen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung die Bereitstellung von Informationen oder Vermögenswerten oder eine Beteiligung "auf andere Weise" in dem Wissen, dass dadurch die Vereinigung oder deren strafbare Handlung gefördert werden, umfasst. Eine "Beteiligung auf andere Weise" umfasst generalklauselsartig alle sonstigen Beteiligungshandlungen an den Aktivitäten der Vereinigung, wozu unter anderem auch die psychische Unterstützung etwa im Sinne einer Stärkung der "Gruppenmoral" oder einzelne Mitglieder in ihrer Bereitschaft zur Ausführung von Vereinigungstaten fällt. Ob die geplante terroristische Straftat tatsächlich ausgeführt oder versucht wird, ist für die Deliktsvollendung ohne Bedeutung. Die Mitwirkung an der Planung und Vorbereitung einer terroristischen Straftat im Wissen um die organisations- oder deliktbezogene Förderung begründet "Beteiligung auf sonstige Weise".
Der BF wurde im genannten Urteil vom 14.02.2018 für schuldig befunden im Sommer 2015 über Aufforderung und Anleitung eines tschetschenischen XXXX Mitgliedes namens „ XXXX “ die gemeinsame Ausführung eines Raubes, sowie die anschließende gemeinsame Ausführung eines Mordes verabredet zu haben, indem der BF mit zwei weiteren Mittätern einen Raubüberfall auf einen Waffenhändler und im Anschluss daran mit den beim Überfall erbeuteten Waffen einen Anschlag auf eine Polizeiinspektion plante, bei welchem die Tötung der anwesenden Polizisten beabsichtigt war, wobei von der Ausführung lediglich aufgrund eines medial bekannt gemachten anonymen Warnhinweises abgesehen wurde. Der BF hat sich überdies zumindest seit Sommer 2015 bis April 2017 als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung, der seit Juni 2014 als XXXX bezeichneten Terrororganisation beteiligt, indem er die Verabredung zur Ausführung eines Raubes, sowie einer terroristischen Straftat iSd § 278c Abs. 1 Z 1 StGB durch die Begehung eines Mordes an Polizeibeamten beging und „ XXXX “ über den Planungsfortschritt regelmäßig Bericht erstattete, indem sich der BF mit den beiden weiteren Mittätern zu einer „ XXXX -Splittergruppe zwecks Errichtung eines Kalifates in Österreich“ zusammenschloss und der BF mit einem Mittäter unter dem Titel „kleiner Dschihad“ einen versuchten Raub und einen Raub zum Nachteil eines Unbekannten beging (s. noch unten), sowie indem der BF mit den beiden weiteren Mittätern im Sommer 2015 ein Video drehte, in welchem er einen Treueschwur gegenüber dem Führer des XXXX leistete und dies an „ XXXX “ weiterleiteten. Mit den bisher dargestellten Tathandlungen beteiligte sich der BF mit seinen beiden Mittätern als Mitglied einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Zahl von Personen, und zwar einer nach militärischem Vorbild gegliederten Gruppierung mit mehreren tausend Mitgliedern, die, wenn auch nicht ausschließlich auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, oder schwerwiegender strafbarer Handlungen im Bereich des unerlaubten Verkehrs mit Kampfmitteln ausgerichtet ist, die dadurch eine Bereicherung in großen Umfang durch Erzielung von Einnahmen, sowie durch die Ausstattung mit Waffen und Kampfmitteln anstrebt und die andere, insbesondere politische Verantwortungsträger und sonstige ideologische Gegner zu korrumpieren oder einzuschüchtern und sich auf besondere Weise gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht. Der BF hat mit einem weiteren Mittäter im Sommer 2015 fremde bewegliche Sachen mit Gewalt weggenommen bzw. wegzunehmen versucht und zwar einem Opfer EUR 14.000,-, indem er bereits mit einer Sturmhaube bekleidet beim Fahrzeug des Opfers vor dem von diesem betriebenen Lokal wartete, von der Ausführung des Überfalls aber Abstand nahm, weil das Opfer das Lokal, unerwartet, in Begleitung mehrerer männlicher Personen verließ und die Tat für den BF und seinen Mittäter nicht mehr gemäß den Vorstellung des Tatplans umsetzbar erschien. Außerdem stießen die beiden einen Unbekannten nieder, nahmen ihm Bargeld idHv EUR 5,-, sowie sein Mobiltelefon ab, wobei der Raub ohne Anwendung erheblicher Gewalt an einer Sache geringen Wertes begangen wurde und die Tat nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat.
Der XXXX wird ua. in der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen XXXX vom 17.12.2015 (Threats to international peace and security caused by terrorist acts), XXXX vom 20.11.2015 (Threats to international peace and security cause by terrorist acts), XXXX vom 12.02.2015 (Threats to international peace and security cause by terrorist acts) und XXXX vom 24.09.2014 (Addressing the growing issue of foreign terrorist fighters) ausdrücklich als terroristische Verbindung genannt. Es ist als notorisch anzusehen, dass der XXXX laufend schwerwiegende Straftaten in Syrien, in Irak, aber auch in Europa begeht. So hat der XXXX durch ua. im Internet verbreitete Botschaften wiederholt zu Terrorangriffen aufgerufen hat und sich zu Terroranschlägen mit teilweise zahlreichen Toten und Verletzten Zivilpersonen in Europa bekannt, was auch dem Urteil des LG XXXX vom 14.02.2018, XXXX zu entnehmen ist.
In der vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Auslegung von § 13 Abs. 2 zweiter Fall AsylG 1997 zitierten Literaturstellen wurde das Delikt einer terroristischen Vereinigung nicht ausdrücklich genannt. Es ist aber bereits im Hinblick auf den Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe und der besonderen Gefährlichkeit der von terroristischen Vereinigungen drohenden Straftaten davon auszugehen, dass das Verbrechen der terroristischen Vereinigung nach übereinstimmender Bewertung innerhalb der Staatengemeinschaft den Straftaten mit sehr schwerwiegendem Unrechtscharakter zuzuordnen ist.
Angesichts des Ausmaßes und der Verwerflichkeit des realen Gefährdungspotentials, das von der vom BF geförderten terroristischen Vereinigung ausgeht, sind die vom BF gesetzten Handlungen objektiv als besonders schwerwiegend anzusehen. Die subjektive Betrachtung der Taten, welche neben der objektiven Betrachtung vorzunehmen ist, zeigt, dass bei der Strafzumessung im Strafurteil vom 14.02.2018 als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlugen und als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und das reumütige, sowie überschießende Geständnis, zu werten ist. Bei dieser Verurteilung handelte es sich um die dritte Verurteilung des BF und um eine Zusatzstrafe. Erstmals verurteilt wurde der BF als Jugendlicher, wobei ein Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe nach § 13 JGG erfolgte. Nach Ansicht des erkennenden Gerichts wäre der bisherige ordentliche Lebenswandel schon aufgrund der ersten Verurteilung des BF, mit welcher schließlich ein Schuldspruch erfolgte, nicht als mildernd zu berücksichtigen gewesen. Aus dem Verfahren geht auch nicht hervor, dass der BF Entschuldigungsgründe für sein Verhalten geltend machte oder zu seinem Verhalten in irgendeiner Weise genötigt wurde. Es ist daher davon auszugehen, dass die vom BF begangenen Verbrechen in ihrer Gesamtheit auch als subjektiv besonders schwerwiegend anzusehen sind, zumal der BF dem Urteil zufolge von der Verwirklichung des Tatplanes des verbrecherischen Komplotts lediglich aufgrund eines medial bekannt gemachten anonymen Warnhinweises abließ. So hielt auch das Strafgericht in ihrem Urteil vom 14.02.2018 beweiswürdigend fest, dass die Angaben des BF dahingehend den Raub- und Mordplan freiwillig, noch vor publik werden des Planes, aufgegeben zu haben, als Schutzbehauptung zu werten sei, weil der Mittäter des BF selbst vor der Kriminalpolizei angegeben habe, sich aufgrund des Zeitungsartikels gegen die Verwirklichung des Tatplanes entschieden zu haben. Darüber hinaus ist auf den sehr langen Tatzeitraum von Sommer 2015 bis April 2017 hinzuweisen, welcher den subjektiven Unrechtsgehalt noch weiter verstärkt. Insgesamt gibt die Verurteilung des BF in ihrer Gesamtheit Zeugnis von dessen radikaler Geisteshaltung.
3.5.3.2. Zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit des Straftäters ist eine entsprechende Zukunftsprognose zu erstellen, wobei es auf das gesamte Verhalten des Asylwerbers ankam. Es sind seine Einstellung während der Dauer des Aufenthaltes gegenüber dem Staat bzw. der Bürger dieses und seine in diesem Zeitraum gesetzten Handlungen maßgeblich, welche geeignet sind, das ordentliche und sichere Zusammenleben der Gemeinschaft zu gefährden (vgl. VwGH vom 06.10.1999, 99/01/0288).
Der Beschwerdeführer ist im gegenständlichen Fall als gemeingefährlich einzustufen, als er durch seine wiederholte Delinquenz im Bundesgebiet und der Steigerung der Schwere seiner Taten gezeigt hat, die österreichische Rechtsordnung nicht achten zu wollen. Der Beschwerdeführer wurde im Bundesgebiet 4 Mal rechtskräftig verurteilt und verbüßt trotz seines jungen Alters von erst 23 Jahren, derzeit seine zweite (zum Teil) unbedingte Haftstrafe. Seine bisherigen Verurteilungen, die bedingte Strafnachsicht, die Verbüßung einer Haftstrafe, die Anordnung von Bewährungshilfe, die Weisung der Fortführung der Psychotherapie und die Einleitung eines Asylaberkennungsverfahrens, haben den BF nicht davon abgehalten eine weitere Straftat zu begehen. Wenn auch nicht verkannt wird, dass sich der BF nach seiner Haftentlassung am 14.02.2018 4 Jahre lang wohlverhalten hat, so beging er am 10.03.2022 eine weitere Straftat, indem er einen Dritten durch das Versetzen eines wuchtigen Faustschlages ins Gesicht schwer am Körper verletzte, wobei dieser eine Fraktur des Unterkiefers erlitt. Der BF wurde mit Urteil vom 19.05.2022 zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden, verurteilt. Der BF konnte von seinen bisherigen Verurteilungen, der Verbüßung bisheriger Haftstrafen, der Verlängerung von Probezeiten und der Einleitung eines Asylaberkennungsverfahrens bereits mit Aktenvermerk vom 12.02.2018, welches dem BF zur Kenntnis gebracht wurde, nicht davon abgehalten werden im März 2022 erneut straffällig zu werden und neuerlich eine Straftat gegen die körperliche Integrität anderer zu setzen, die von der immer noch hohen Gewaltbereitschaft des BF im Bundesgebiet zeugt.
Insbesondere ist sein radikales Gedankengut, welches durch die Leistung eines Treueschwurs an den Anführer des XXXX und die Planung eines Raubüberfalls, sowie der anschließenden beabsichtigten Tötung von Polizisten unter Anleitung eines XXXX -Mitgliedes, zum Ausdruck gebracht wurde, zu seinen Ungunsten zu werten. Befragt im Rahmen der Beschwerdeverhandlung nach seinen Deradikalisierungsbemühungen in den letzten Jahren, gab der BF u.a. an, seine Pflichtgebete nicht mehr eingehalten zu haben, den Kontakt zu seinen damaligen Freunden abgebrochen und seine alten Hauptschulkameraden getroffen zu haben, wobei er nunmehr rauche und Bier trinke (S. 16 des VH-Prot.). Diese Angaben des BF in der Beschwerdeverhandlung zu seinen behaupteten Deradikalisierungsschritten in Österreich sind jedoch lediglich als Schutzbehauptungen zu werten, zumal das schwer kriminelle Verhalten des BF auf einer unmissverständlichen und radikalen Geisteshaltung begründet war, welche nicht einfach durch etwa den Abbruch von bisherigen Kontakten, dem Biertrinken und dem Rauchen umgekehrt werden kann. Darüber hinaus zeugen die weiteren Angaben des BF vor dem erkennenden Gericht von einer sehr großen Verankerung seiner radikalen und gemeingefährlichen Geisteshaltung: So brachte der BF zwar vor, nicht einverstanden gewesen zu sein, als ihre Kontaktperson gemeint habe, man könne auch Frauen und Kinder töten, er räumte jedoch gleichzeitig ein, die Planung der Tötung von Polizisten für sowohl durchführbar als auch gedanklich in Ordnung gefunden zu haben. Für sich spricht außerdem, dass das zu überfallende Waffengeschäft bereits vom BF auserkoren und zumindest einmal persönlich ausgekundschaftet worden ist, wie vom BF in der Beschwerdeverhandlung angegeben. Auf Nachfrage des erkennenden Richters, ob der BF mit dem ursprünglichen Tatplan, nämlich dem Überfall auf das Waffengeschäft und der Ermordung der Polizisten zur Tat geschritten wäre, wenn die Kontaktperson ihn nicht aufgefordert hätte, auch Frauen und Kinder zu töten, führte dieser aus: „Das kann ich nicht genau sagen, aber der Gedanke, der war da“ (S. 14 des VH-Prot.). Allein dies zeugt von einer derartigen Verankerung radikalen Gedankenguts beim BF, dass dieser die nunmehr behauptete Abkehr und Lossagung nicht glaubhaft substantiiert darzulegen vermochte, zumal der BF im März 2022 neuerlich ein Gewaltdelikt im Bundesgebiet verwirklichte. Sofern der BF eine Bestätigung vorgelegt hat, welche seine Teilnahme an psychotherapeutischen Sitzungen der Männerberatung von 03.07.2019 bis 19.08.2021 bezeugt, ist dem entgegenzuhalten, dass deren Absolvierung den BF auch nicht davon abgehalten hat, im März 2022 neuerlich straffällig zu werden und einem Dritten einen Faustschlag ins Gesicht zu versetzen. Nicht verkannt wird der zuvor zwischenzeitig 4-jährige Wohlverhaltenszeitraum, welcher jedoch aufgrund der neuerlichen Straffälligkeit, wegen derer sich der BF nunmehr in Strafhaft befindet, nicht gewichtig berücksichtigt werden kann. Die Absolvierung von Psychotherapie, sowohl bei der Männerberatung, als auch zuvor in Haft, sowie der während seiner Haftzeit von Juli 2017 bis 14.02.2018 in Anspruch genommenen Gespräche mit dem Verein XXXX vermochten dem BF sicherlich bei der Unterstützung seines Unrechtsbewusstseins geholfen haben, haben jedoch beim Grad der Radikalisierung des BF keine erkennbare Abkehr von Gewalt bewirkt, wie die weitere Straffälligkeit des BF beweist, wegen der er nunmehr eine neuerliche Haftstrafe verbüßt.
Insofern muss zu Ungunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt werden, dass er sich weder durch das verspürte Haftübel, noch durch die Gewährung von Bewährungshilfe oder der Anordnung von Psychotherapie von der Begehung neuerlicher strafbarer Handlungen in Österreich abhalten ließ. Sofern dem Strafurteil vom 14.02.2018 zu entnehmen ist, dass der BF dem Bewährungshelfer glaubwürdig vermittelt habe, an einer Zukunft in Österreich arbeiten und eine Ausbildung machen zu wollen, ist festzuhalten, dass der BF bis dato zwar seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt hat und im Juni 2020 eine Ausbildung begonnen, diese nach wenigen Monaten jedoch wieder abgebrochen hat und im März 2022 neuerlich straffällig geworden ist. Die damals als glaubhafte befundene Beteuerung gegenüber seinem Bewährungshelfer hat den BF nicht dazu bewogen eine Ausbildung zu absolvieren und auch nicht davon abgehalten, erneut eine Straftat zu begehen. Derzeit verbüßt der BF die zuletzt verhängte Freiheitsstrafe, weshalb derzeit ein relevanter Wohlverhaltenszeitraum in Freiheit nicht vorliegt. Die beschwerdeseitig angeführte gute Beziehung zu seinen in Österreich aufhältigen Familienangehörigen, vermochte den BF darüber hinaus auch in Kenntnis eines Aberkennungsverfahrens, nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Insgesamt konnte ein tatsächlicher Gesinnungswandel des BF hin zu der in Österreich geltenden Werteordnung jedenfalls nicht festgestellt werden.
Sofern beschwerdeseitig ausgeführt wurde, dass womöglich durch die Verhandlung per Video die persönliche Glaubwürdigkeit des BF nicht ausreichend eingeschätzt werden könne, da eine solche Verhandlung nicht dem Unmittelbarkeitsgrundsatz vollständig entspräche, ist dem gegenzuhalten, dass dies im verwaltungsrechtliche-COVID-19-Begleitgesetz in § 3 so vorgesehen ist und diese Regelung nunmehr bis 31.12.2022 gilt, der Gesetzgeber sohin keine Bedenken in dieser Hinsicht hegt. Daneben besteht eine Regelung zum Einsatz der Videotechnologie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch in § 25 Abs. 6b VwGVG. In der Vergangenheit wurde in Strafverfahren bereits mehrfach der EGMR zur Zulässigkeit der Parteieneinvernahme per Videokonferenz und die Vereinbarkeit mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 EMRK befasst (EGMR 16.12.2010, 14248/05, Trepashkin/Russland; EGMR 2.11.2010, 21272/03, Sakhnovskiy/Russland; EGMR 9.11.2006, 26260/02, Golubev/Russland, EGMR 12.1.1985, 9024/80, Colozza/Italien;
Insgesamt ist festzuhalten, dass der BF trotz Gewährung der Rechtswohltaten der Setzung und der Anordnung von Bewährungshilfe, der bedingten Strafnachsicht und der Inanspruchnahme von Psychotherapie, neuerlich Straftaten von erheblicher Schwere beging, sodass es auch vor dem Hintergrund der aktuellen, vom BF zu verbüßenden, Haftstrafe wahrscheinlich ist, dass der BF nach seiner Entlassung neuerlich im Bundesgebiet straffällig wird. Für den Beschwerdeführer kann daher keine positive Zukunftsprognose abgegeben werden.
3.5.3.3. Darüber hinaus ist bei der Güterabwägung auch eine Rückkehrgefährdung des Asylberechtigten, dh. das Ausmaß und die Art der ihm drohenden Maßnahmen (VwGH vom 06.10.1999, 99/01/0288; vom 22.10.2003, 2001/20/0148), zu prüfen (vgl. VwGH vom 27.04.2006, 2003/20/0050; vom 05.10.2007, 2007/20/0416).
Aufgrund der aufgezeigten Umstände, insbesondere der schweren Delinquenz des BF, überwiegen die öffentlichen Interessen an seiner Aufenthaltsbeendigung seine Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch Österreich, zumal der BF keine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK in seinem Herkunftsstaat (mehr) zu befürchten hat:
Dem BF droht keine Verfolgung aus den von seinem Vater geltend gemachten Gründen mehr, auf Grund derer ihm seinerzeit durch Erstreckung Asyl gewährt wurde, sowie auf Grund der Familienangehörigeneigenschaft zu seinen Eltern, wobei der Vater des BF ursprünglich Videokassetten im zweiten Tschetschenienkrieg vervielfältigt, sowie verteilt habe, weswegen dieser verhaftet und in Haft vergewaltigt worden sei. Die Familienmitglieder des BF stellen jedenfalls keine derart „high profile“ Personen dar, dass am BF im Herkunftsstaat noch ein Interesse von staatlichen Organen bestünde (s. Beweiswürdigung). Der BF hat selbst, allein schon aufgrund seines Alters, nicht an Kampfhandlungen im Rahmen der Tschetschenienkriege teilgenommen und ist dem LIB zu entnehmen, dass keine Verfolgung ehemaliger Widerstandskämpfer in der Russischen Föderation stattfindet. Eine Verfolgung des Beschwerdeführers auf Grund der Asylgewährung in Österreich und seinem langjährigen Aufenthalt außerhalb der Russischen Föderation, sowie seiner Verurteilungen in Österreich, besteht bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht.
Wie in der Beweiswürdigung umfassend dargestellt, brachte der Beschwerdeführer im nunmehrigen Aberkennungsverfahren keinerlei konkrete Umstände glaubhaft vor, welche auf das Vorliegen einer noch aktuellen Gefährdung seiner Person im Herkunftsstaat schließen ließen, da der BF keine hinreichend substantiierten Rückkehrbefürchtungen geltend machte. Insgesamt darf dabei auf die umfangreichen Ausführungen in der Beweiswürdigung verwiesen werden.
Auch von Amts wegen konnten, wie dargelegt, keine Gründe dahingehend erkannt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation zum aktuellen Zeitpunkt von russischen Behörden verfolgt bzw. einer sonstigen asylrelevanten Verfolgung in seinem Herkunftsstaat ausgesetzt sein wird.
Die Güterabwägung führt sohin zum Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Österreich im Verhältnis zu seinen privaten Interessen am weiteren Aufenthalt in Österreich. Dabei ist auch berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer zwar bereits als Kind nach Österreich eingereist ist, jedoch bewegte er sich in Österreich im tschetschenisch-russischen Umfeld und ist mit den Gepflogenheiten und der Kultur der Russischen Föderation vertraut. Der BF kann mit seinen Familienangehörigen Kontakt über moderne Kommunikationsmittel aufrechterhalten und steht es ihnen frei allfällige Treffen in Drittstaaten zu organisieren. Der BF spricht Tschetschenisch und zumindest etwas Russisch und hat als junger, 23-jähriger, sowie gesunder Mann die Möglichkeit, sich auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen, anzumelden und so Zugang zum russischen Sozialsystem zu erlangen, weshalb auch unter dem Gerichtspunkt des Art. 3 EMRK keine zu berücksichtigenden Interessen vorliegen (s. 3.6.).
3.5.5. Die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten sind beim Beschwerdeführer daher aus dem Grund des § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 gegeben.
3.5.6. Da sich die Aberkennung des Status des Asylberechtigten insgesamt als rechtmäßig erweist, hat die belangte Behörde auch gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 zu Recht festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.
3.5.7. Der belangten Behörde ist in Spruchpunkt I. scheinbar ein Fehler unterlaufen, zumal das zitierte Datum des Zuerkennungsbescheides und dessen Geschäftszahl nicht dem BF zugeordnet werden können, weshalb davon auszugehen ist, dass es sich dabei um die Daten aus einer Mustervorlage handelt, welche irrtümlich nicht durch die Daten des Zuerkennungsbescheides des BF ersetzt worden sind. Der Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war somit dahingehend zu berichtigen.
3.5.7. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 AsylG 2005 mit Maßgabe als unbegründet abzuweisen.
3.6. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:
Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung dieses Status mit der der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 AsylG 2005 zu verbinden.
Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
§ 8 AsylG 2005 beschränkt den Prüfungsrahmen auf den "Herkunftsstaat" des Asylwerbers. Dies ist dahin gehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen ist, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH 22.04.1999, 98/20/0561; 20.05.1999, 98/20/0300).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören – der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten (oder anderer in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnter) Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwSlg. 15.437 A/2000; VwGH 25.11.1999, 99/20/0465; 08.06.2000, 99/20/0203; 08.06.2000, 99/20/0586; 21.09.2000, 99/20/0373; 25.01.2001, 2000/20/0367; 25.01.2001, 2000/20/0438; 25.01.2001, 2000/20/0480; 21.06.2001, 99/20/0460; 16.04.2002, 2000/20/0131). Diese in der Rechtsprechung zum AsylG 1997 erwähnten Fälle sind nun z.T. durch andere in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnte Fallgestaltungen ausdrücklich abgedeckt. Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat (unter dem Gesichtspunkt des § 57 FremdenG, dies ist nun auf § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu übertragen) als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 27.02.2001, 98/21/0427).
Das Bundesverwaltungsgericht hat somit vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 23.02.1995, Zahl 95/18/0049; 05.04.1995, Zahl 95/18/0530; 04.04.1997, Zahl 95/18/1127; 26.06.1997, Zahl 95/18/1291; 02.08.2000, Zahl 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zahl 93/18/0214).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH vom 08.06.2000, Zahl 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH vom 14.10.1998, Zahl 98/01/0122; vom 25.01.2001, Zahl 2001/20/0011).
Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, Zahl 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH vom 26.06.1997, Zahl 95/21/0294; vom 25.01.2001, Zahl 2000/20/0438; vom 30.05.2001, Zahl 97/21/0560).
Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr („real risk“) – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH vom 23.09.2004, Zahl 2001/21/0137).
Nach der Judikatur des EGMR obliegt es der betroffenen Person, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung behauptet, so weit als möglich Informationen vorzulegen, die den innerstaatlichen Behörden und dem Gerichtshof eine Bewertung der mit einer Abschiebung verbundenen Gefahr erlauben (vgl. EGMR vom 05.07.2005 in Said gg. die Niederlande). Bezüglich der Berufung auf eine allgemeine Gefahrensituation im Heimatstaat, hat die betroffene Person auch darzulegen, dass ihre Situation schlechter sei, als jene der übrigen Bewohner des Staates (vgl. EGMR vom 26.07.2005 N. gg. Finnland).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (vgl. VwGH vom 26.06.1997, Zl. 95/18/1291). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann.
Den Fremden trifft somit eine Mitwirkungspflicht, von sich aus das für eine Beurteilung der allfälligen Unzulässigkeit der Abschiebung wesentliche Tatsachenvorbringen zu erstatten und dieses zumindest glaubhaft zu machen. Hinsichtlich der Glaubhaftmachung des Vorliegens einer derartigen Gefahr ist es erforderlich, dass der Fremde die für diese ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert und, dass diese Gründe objektivierbar sind.
3.6.1. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 fallgegenständlich nicht gegeben sind:
Im Falle des BF ergeben sich aus den Feststellungen zu seiner persönlichen Situation vor dem Hintergrund der spezifischen Länderfeststellungen keine konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Hindernisses der Rückverbringung in seinen Herkunftsstaat Russische Föderation.
3.6.2. Wie die Beweiswürdigung ergeben hat, vermochte der BF eine konkrete Verfolgungsgefahr in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Russische Föderation nicht (mehr) darzutun, weshalb auf Grund des konkreten Vorbringens der Beschwerdeführer auch keinerlei Bedrohung im Sinne des § 8 AsylG erkannt werden kann.
3.6.3. Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat in seinen durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten verletzt würde. Hierzu bleibt festzuhalten:
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände („exceptional circumstances“) vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich, Zahl 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zahl 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zahl 2000/01/0443). Unter „außergewöhnlichen Umständen“ können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB. Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bzw. § 50 Abs. 1 FPG bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH vom 21.08.2001, Zahl 2000/01/0443; vom 13.11.2001, Zahl 2000/01/0453; vom 09.07.2002, Zahl 2001/01/0164; vom 16.07.2003, Zahl 2003/01/0059).
In diesem Kontext sei auch auf die ständige Rechtsprechung des EGMR sowie der Höchstgerichte verwiesen, etwa das Erkenntnis des VfGH vom 06.03.2008 zu B 2400/07-9, welches die Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammenfasst. Der VwGH hat, unter Verweis auf die entsprechenden Urteile des EGMR, ausgeführt, dass sich aus diesen ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, im Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückgelegte Entfernung zu berücksichtigen sind (vgl. zuletzt VwGH vom 21.02.2017, Ro 2016/18/0005 mit Verweis auf EGMR 13.12.2016, 41738/10 Paposhvili gg Belgien). Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. EGMR 02.05.1997, 30.240/96, D. gg. Vereinigtes Königreich). Aus dieser Judikaturlinie des EGMR ergibt sich jedenfalls der für das vorliegende Beschwerdeverfahren relevante Prüfungsmaßstab.
Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich beurteilbar (vgl. VwGH vom 12.12.2012, Zlen. 2012/18/0204 und 0205, mwN, VwGH vom 21.12.2013, 2011/23/0617).
Mit Erkenntnis vom 21.05.2019, Zl. Ro 2019/19/0006-3, wurde seitens des Verwaltungsgerichtshofes bekräftigt, dass dieser an seiner Rechtsprechung festhalte, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat – auch wenn diese nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird – die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG begründen kann.
3.6.4. Zunächst kann im Beschwerdefall nicht angenommen werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. diesbezüglich das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 16.07.2003, 2003/01/0059, zur dargestellten „Schwelle“ des Art. 3 EMRK):
Der 23-jährige, gesunde, arbeitsfähige BF besuchte in Österreich die Volksschule, hat die Hauptschule und eine Lehre begonnen, diese jedoch nicht abgeschlossen. Der BF hat im Bundesgebiet jedoch im Jahr 2020 erfolgreich seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. Er verfügt zwar nicht über umfangreiche Arbeitserfahrung, hat im Bundesgebiet jedoch zumindest erste Arbeitserfahrung gesammelt. Warum es dem BF als jungen, gesunden, arbeitsfähigen Mann, welcher der tschetschenischen Sprache sehr gut mächtig ist und zumindest über grundlegende Russischkenntnisse verfügt, nicht möglich sein sollte, durch Erwerbstätigkeit im Herkunftsstaat den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren, wurde nicht dargetan und ist auch nicht ersichtlich. Der BF verfügt im Herkunftsstaat über seine Großmutter, mit der er zwar keinen Kontakt hat, doch steht es ihm frei, diesen Kontakt zu herzustellen. Bereits im Bundesgebiet hat der BF finanzielle Unterstützung von seiner Mutter erhalten, welche den BF auch bei seiner Rückkehr, von Österreich aus, finanziell unterstützen könnte. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass der BF im Fall seiner Rückkehr jedenfalls auf familiäre Unterstützung zurückgreifen könnte, weshalb er vor Obdachlosigkeit und existentieller Notlage bewahrt wäre.
3.6.5. Der BF ist gesund und nimmt keine regelmäßigen Medikamente.
Der BF leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Dass dringend benötigte ärztliche Versorgung oder Medikamente im Herkunftsstaat nicht zugänglich wären, brachte er zu keinem Zeitpunkt seines Verfahrens vor und ist anhand des zitierten Länderdokumentationsmaterials auch nicht ersichtlich. Ein kritischer Gesundheitszustand bzw. außergewöhnliche Verschlechterung als Rückkehrhindernisse wurden im Übrigen auch nicht substantiiert vorgebracht. Zudem ist auf die vom Verwaltungsgerichtshof übernommene Rechtsprechung des EGMR zu verweisen, wonach im Allgemeinen kein Fremder das Recht hat, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 29.02.2012, Zlen. 2010/21/0310 bis 0314, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich beurteilbar (vgl. VwGH vom 12.12.2012, Zlen. 2012/18/0204 und 0205, mwN, VwGH vom 21.12.2013, 2011/23/0617).
3.6.6. Weiters ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach sich aus schlechten Lebensbedingungen keine Gefährdung bzw. Bedrohung im Sinne des § 57 FrG ergibt (vgl. etwa VwGH vom 30.1.2001, Zl. 2001/01/0021). Selbst wenn vor dem Hintergrund dessen der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in eine in materieller Hinsicht beschwerliche Lebenssituation gelangen könnte, war aus diesen Erwägungen nicht abzuleiten, dass im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden.
3.6.7. Vor dem Hintergrund der Feststellungen kann nicht gesagt werden, dass jene gemäß der Judikatur des EGMR geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegen würde, um die Außerlandesschaffung eines Fremden im Hinblick auf außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegende Gegebenheiten im Zielstaat im Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen zu lassen (VwGH vom 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Es liegen keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass der BF mit der hier erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten müsste, im Herkunftsland Übergriffen von im gegebenen Zusammenhang ausreichender Intensität ausgesetzt zu sein.
3.6.8. Schließlich kann auch nicht gesagt werden, dass eine Abschiebung des BF für ihn als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. In der Russischen Föderation ist eine Zivilperson nicht allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt.
3.6.9. Aufgrund der vorgenommenen Prüfung im Einzelfall (VfGH 13.09.2012, U370/2012) unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des BF, sowie unter Beachtung der Rechtsprechung des VwGH und VfGH und Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides spruchgemäß als unbegründet abzuweisen.
3.7. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.7.1. Der BF befindet sich seit August 2003 im Bundesgebiet, wobei ihm mit Bescheid vom 30.11.2005 der Status eines Asylberechtigten in Erstreckung zuerkannt wurde. Sein Aufenthalt ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor.
3.7.2. Da somit die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG nicht gegeben sind, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
3.7.3. Gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:
"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn
1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder
2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr 60/1974 gilt."
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH vom 26.06.2007, 2007/01/0479; vom 26.01.2006, 2002/20/0423).
3.7.4. Was einen allfälligen Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers betrifft, lässt sich das Bundesverwaltungsgericht von nachstehenden Erwägungen leiten:
Vom Prüfungsumfang des Begriffs des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, die miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. etwa VwGH vom 26.01.2006, 2002/20/0423; vom 08.06.2006, 2003/01/0600; vom 26.01.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554).
In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/10/0479, davon aus, dass „der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren […] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte“. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichthof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. VwGH vom 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 ua. mwH).
Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH vom 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl EGMR 8.3.2008, Nnyanzi v. The United Kingdom, Appl. 21.878/06; 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554). Bei dieser Interessenabwägung sind insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl VfGH 29. 9. 2007, B 1150/07; 12. 6. 2007, B 2126/06; VwGH vom 26. 6. 2007, 2007/01/479; vom 26. 1. 20006, 2002/20/0423; vom 17.12.2007, 2006/01/0216; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention2, 194; Frank/Anerinhof/Filzwieser, Asylgesetz 20053, S. 282ff). Bei der Beurteilung der Rechtskonformität von behördlichen Eingriffen ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR und VfGH auf die besonderen Umstände des Einzelfalls einzugehen. Die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme ist (nur) dann gegeben, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Betroffenen auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens im Inland einerseits und dem staatlichen Interesse an der Wahrung der öffentlichen Ordnung andererseits gefunden wird. Der Ermessensspielraum der zuständigen Behörde und die damit verbundene Verpflichtung, allenfalls von einer Aufenthaltsbeendigung Abstand zu nehmen, variiert nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei sind Beginn, Dauer und Rechtsmäßigkeit des Aufenthalts, wobei bezüglich der Dauer vom EGMR keine fixen zeitlichen Vorgaben gemacht werden, zu berücksichtigen; das Ausmaß der Integration im Aufenthaltsstaat, die sich in intensiven Bindungen zu Dritten, in der Selbsterhaltungsfähigkeit, Schul- und Berufsbewähr, in der Teilnahme am sozialen Leben und der tatsächlichen beruflichen Beschäftigung; Bindung zum Heimatstaat; die strafrechtliche Unbescholtenheit beziehungsweise bei strafrechtlichen Verurteilungen auch die Schwere der Delikte und die Perspektive einer Besserung/Resozialisierung des Betroffenen beziehungsweise die durch die Aufenthaltsbeendigung erzielbare Abwehr neuerlicher Tatbegehungen; Verstöße gegen das Einwanderungsrecht.
3.7.5. Im vorliegenden Fall fällt die gemäß Art 8 Abs. 2 EMRK gebotene Abwägung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes in Übereinstimmung mit dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, das die Interessenabwägung mängelfrei vorgenommen hat, trotz des langjährigen Aufenthalts in Österreich zu Lasten des Beschwerdeführers aus:
3.7.5.1. Der BF lebt seit August 2003, sohin seit 19 Jahren, im österreichischen Bundesgebiet. In Österreich halten sich die Eltern des BF, sowie seine 5 Geschwister (davon zwei Halbbrüder des BF) auf, wobei mit seiner Mutter und 3 Schwestern vor seiner Inhaftierung ein gemeinsamer Haushalt bestanden hat. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Familienangehörigen ist nicht hervorgekommen. Aufgrund der Inhaftierung des BF seit 10.03.2022 ist ein gemeinsamer Haushalt mit seinen Familienangehörigen seit diesem Zeitpunkt ohnehin nicht denkbar. Ein schützenswertes Familienleben des BF im Bundesgebiet iSd Art. 8 EMRK liegt daher nicht vor.
3.7.5.2. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte allenfalls in das Privatleben des BF eingreifen. Geht man im vorliegenden Fall von einem bestehenden Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich aus, fällt die gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotene Abwägung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes zu Lasten des Beschwerdeführers aus und stellt die Rückkehrentscheidung jedenfalls keinen unzulässigen Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK dar:
Insbesondere ins Gewicht zu den Gunsten des BF fällt sein langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet, nämlich seit seiner Asylantragstellung im August 2003, sohin seit 19 Jahren. Seit November 2005 verfügt der BF über den Status eines Asylberechtigten im Bundesgebiet. Der BF hat seit seinem 4. Lebensjahr im Bundesgebiet gelebt und ist hier aufgewachsen. Darüber hinaus spricht der BF sehr gut Deutsch, seine gesamte Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht konnte problemlos auf Deutsch geführt werden, und hat er in Österreich die Volks- und die Hauptschule besucht, wobei er die Hauptschule nicht abgeschlossen hat, ebenso wenig eine kurzzeitig betriebene Lehre. Seinen Pflichtschulabschluss hat der BF am 24.01.2020 erfolgreich nachgeholt. Vor dem Hintergrund seines langjährigen Aufenthalts sind seine Deutschkenntnisse jedoch noch nicht als außergewöhnlich zu qualifizieren. Zudem hat er sich einen Freundeskreis in Österreich aufgebaut, wobei er den Kontakt zu einigen Freunden aufgrund seiner Straffälligkeit abgebrochen hat und verfügt der BF nur über 2 österreichische Freunde, mit denen er keinen Kontakt hat. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass seine gesamte Kernfamilie (Eltern und Geschwister) im Bundesgebiet lebt. Die Beziehungen des BF zu seiner Kernfamilie waren jedoch aufgrund seiner Haftstrafe in der Vergangenheit bereits einmal eingeschränkt und sind es nunmehr durch seine aktuelle Inhaftierung ebenfalls. Der BF verfügt über eine Einstellungszusage, welcher vor dem Hintergrund der bisher immer nur kurzzeitig nachgegangenen Beschäftigungen keine gewichtige Bedeutung zukommt.
3.7.5.3. Zu seinen Lasten wirkt sich jedoch aus, dass der BF in Österreich nur lediglich wenige Tage, Wochen oder Monate Beschäftigungen nachgegangen ist und im Bundesgebiet keinen Beruf erlernt hat. Demgegenüber hat er überwiegend von Sozialleistungen gelebt. Der BF war, nur wenige Monate seines Lebens selbsterhaltungsfähig und liegt auch aktuell keine Selbsterhaltungsfähigkeit vor. Gerade vor dem Hintergrund seines langjährigen Aufenthalts, hätte der BF jede Möglichkeit gehabt, sich beruflich weiterzuentwickeln und zu integrieren, insbesondere auch einen Beruf zu erlernen. Der BF hat diese lange Zeit im Bundesgebiet für seine berufliche Integration jedoch nicht genutzt. Sonstige Aus-, Fort- oder Weiterbildungsbemühungen des BF im Bundesgebiet wurden beschwerdeseitig nicht behauptet. Auch ist der BF in Österreich in keinem Verein oder einer sonstigen Organisation Mitglied und nicht ehrenamtlich tätig.
3.7.5.4. Besonders stark ins Gewicht zu seinen Lasten fallen jedoch seine 4 rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen, ua. wegen terroristischer Straftaten. Insbesondere hervorzuheben ist dabei, dass der BF bereits im jungen Alter von 15 Jahren erstmals straffällig wurde und dies mit stetig steigender krimineller Energie durchgehend bis zu seiner letzten Festnahme am 10.03.2022 war. Nicht verkannt wird, dass sich der BF zuvor 4 Jahre lang wohlverhalten hat, doch ist derzeit aufgrund seiner bestehenden Inhaftierung ein solcher Wohlverhaltenszeitraum nicht absehbar. Im Übrigen hat der BF bereits vor seiner derzeit zu verbüßenden Haftstrafe das Haftübel verspürt, Bewährungshilfe angeordnet bekommen, sowie Psychotherapie in Anspruch genommen und konnte ihn all dies von der Begehung weiterer Straftaten nicht abhalten. Darüber hinaus hat der BF mit der wiederholten Begehung von Straftaten eine Trennung von seinen im Bundesgebiet aufhältigen Familienangehörigen bewusst und billigend in Kauf genommen, zumal er im Februar 2018 bereits über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens in Kenntnis gesetzt wurde und am 22.05.2018 seine Einvernahme im Aberkennungsverfahren erfolgte, wobei er danach neuerlich straffällig wurde. Im Übrigen ist der besondere Unrechtsgehalt terroristischer Straftaten und der lange Tatzeitraum von Sommer 2015 bis April 2017 und die damit verbundene tief verankerte radikale Geisteshaltung des BF, sowie die besondere Abscheulichkeit seiner geplanten Taten für den XXXX im Bundesgebiet hervorzuheben.
3.7.5.5. Die Fortsetzung seines Aufenthalts stellt nunmehr eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Es ist davon auszugehen, dass seitens des Beschwerdeführers - nach wie vor - eine Gefahr für die Gemeinschaft ausgeht und er dadurch eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit darstellt.
3.7.5.6. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich – nach dem Vollzug einer Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat; für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat (VwGH vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0060-5 Rz 11). Angesichts der wiederholten Straffälligkeit, der Anzahl von bisher 4 rechtskräftigen Verurteilungen und der Tatsache, dass der Beschwerdeführer über die Jahre seine kriminelle Energie gesteigert hat, ein Umstand, welcher ihn derzeit eine Freiheitsstrafe bis 10.11.2022 (Entlassung nach 2/3 am 20.08.2022 möglich) verbüßen lässt, kann auch keine für den Beschwerdeführer positive Gefährdungsprognose getroffen werden. Insgesamt bestehen in Hinblick auf die zahlreichen vom BF begangenen Straftaten und Einsichtnahme in die im Akt einliegenden Strafurteile, erhebliche Zweifel an einer hinreichenden Verbundenheit des BF mit der hiesigen Werteordnung und den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates. Eine etwaige Zeit des Wohlverhaltens kann schon angesichts der aktuellen Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden.
In diesem Zusammenhang wird auch auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.03.1995, 95/18/0061, verwiesen, in welcher der VwGH ausdrücklich ausgeführt hat, dass das wiederholte Fehlverhalten des Fremden (im damals vom VwGH beurteilten Verfahren waren dies die Delikte des Einbruchsdiebstahles und der Hehlerei) eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit bewirkt und derart schwerwiegend ist, dass auch die stark ausgeprägten privaten und familiären Interessen des Fremden, der mit seiner Familie, Gattin und Kindern, seit fünfzehn Jahren in Österreich lebte, zurücktreten müssen (VwGH vom 08.02.1996, 95/18/0009).
Außerdem ist festzuhalten, dass der langjährige Aufenthalt des BF jedenfalls durch massives strafrechtliches Fehlverhalten relativiert wird (VwGH vom 18.10.2018 Ra 2017/19/0109) und jedenfalls bei mehrfacher Straffälligkeit eine Rückkehrentscheidung trotz eines mehr als 10- jährigen Aufenthaltes zulässig ist (VwGH vom 27.08.2018, Ra 2018/18/0351). Wie bereits ausgeführt, weist der Beschwerdeführer 4 rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen auf. Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers würde demnach mit einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einhergehen, zumal eine positive Zukunftsprognose in seinem Fall aufgrund der kontinuierlichen Missachtung von Rechtsnormen im Bundesgebiet nicht erkannt werden kann (vgl. dazu VwGH vom 18.6.2013, 2013/18/0066 und VwGH vom 20.12.2018, Ra 2018/21/0224).
3.7.5.7. Zutreffend ist, dass sich der BF seit August 2003 nicht mehr in der Russischen Föderation aufgehalten hat, dennoch hat er zumindest die ersten 4 ½ Jahre seines Lebens dort verbracht, im Rahmen derer er sozialisiert wurde. Darüber hinaus ist er in Österreich in einem tschetschenisch geprägten Familienverband aufgewachsen, spricht die tschetschenische Sprache und verfügt zumindest über grundlegende Russischkenntnisse, weshalb er mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates grundsätzlich vertraut ist. Nicht verkannt wird, dass der BF überwiegend im Bundesgebiet aufgewachsen ist und im Herkunftsstaat lediglich über eine Großmutter verfügt, mit der er keinen Kontakt hat. Dem BF steht es jedoch frei, den Kontakt zu dieser zu aktivieren und aufzubauen. Es ist dennoch davon auszugehen, dass der gesunde, junge und arbeitsfähige BF in der Lage sein wird, im Herkunftsstaat seinen Lebensunterhalt, allenfalls durch Hilfstätigkeiten oder Gelegenheitsjobs, selbst zu verdienen. Überdies kann er sich die in Österreich erworbenen Fähigkeiten, zumindest erste Arbeitserfahrung und seine guten Deutschkenntnisse am tschetschenischen bzw. russischen Arbeitsmarkt zu Nutze machen. Auch ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei Verbringung in die Russische Föderation mit unzumutbaren Schwierigkeiten konfrontiert wäre bzw. ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht davon auszugehen, dass er bei Rückkehr in den Herkunftsstaat, in dem die Grundversorgung gesichert und auch Rückkehrern Sozialbeihilfen zukommen, in eine aussichtlose Lage geraten wird.
3.7.5.8. Dem allenfalls bestehenden Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich (bzw. Europa) stehen öffentliche Interessen gegenüber. Ihm steht das öffentliche Interesse daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden. Im Fall des Beschwerdeführers, der für seine lange fast 19-jährige Aufenthaltsdauer mäßig nennenswerte Integrationsschritte in Österreich vorzuweisen hat, kommt hinzu, dass er 4 rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen aufzuweisen hat, die auf derselben schädlichen Neigung beruhen, nämlich überwiegend gegen das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, aber auch gegen das Vermögen gerichtet sind und die Gewaltbereitschaft des BF widerspiegeln. Nicht verkannt wird, dass die gesamte Kernfamilie des BF im Bundesgebiet leben, doch verfügen die Schwestern und die Mutter des BF über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“, weshalb sie den BF im Herkunftsstaat besuchen könnten. Darüber hinaus kann der Kontakt mit seinem Vater durch Treffen in Drittstaaten und inzwischen mit seiner gesamten Kernfamilie im Wege moderner Telekommunikation aufrechterhalten werden. Es sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, wonach eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Es ist unbestritten, dass aufenthaltsbeendigende Maßnahmen auch unter dem Aspekt der Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen zu sehen sind. Der bisherige Aufenthalt des Beschwerdeführers beeinträchtigte gewichtige Grundinteressen der Gesellschaft – vor allem das Interesse an Ordnung und Sicherheit und Schutz der körperlichen Unversehrtheit Dritter.
Sofern beschwerdeseitig mehrmals der „Aufenthaltsverfestigungstatbestand“ des alten § 9 Abs. 4 BFA-VG, idF., BGBl. I Nr. 70/2015, zitiert wurde, ist darauf hinzuweisen, dass der BF zu keinem Zeitpunkt einen Aufenthaltstitel nach dem NAG verfügt hat und daher auch während seines Aufenthalts in Österreich zu keinem Zeitpunkt rechtmäßig niedergelassen war, weshalb der „Aufenthaltsverfestigungstatbestand“ schon allein aus diesem Grund nicht zu berücksichtigen war.
Vor diesem Hintergrund gefährdet der weitere Aufenthalt des BF im Bundesgebiet die öffentliche Ordnung und Sicherheit, zumal in Anbetracht der wiederholten Delinquenz des Beschwerdeführers und seiner erheblichen Gewaltbereitschaft, insbesondere auch im Bereich terroristischer Straftaten und Körperverletzungsdelikten, jedenfalls von erheblicher krimineller Energie begangener Taten gesprochen werden muss.
3.7.6. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet das persönliche Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden, die im gegenständlichen Fall den Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, rechtfertigen würden.
3.7.7. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
3.7.7.1. Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre. Das entspricht dem Tatbestand des § 8 Abs. 1 AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wurde im gegenständlichen Erkenntnis verneint.
3.7.7.2. Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005). Das entspricht dem Tatbestand des § 3 AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wurde im gegenständlichen Erkenntnis verneint.
3.7.7.3. Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.7.7.4. Die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat ist gegeben, da den dieser Entscheidung zugrundeliegenden Feststellungen zufolge keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.
3.7.8. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer von der belangten Behörde vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
3.7.9. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.
3.7.10. Da somit alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung vorliegen, war die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VI. als unbegründet abzuweisen.
3.8 . Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt VI I . des angefochtenen Bescheides:
3.8.1. Der mit "Einreiseverbot" betitelte § 53 FPG lautet wie folgt:
"§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
…
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;
3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;
4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;
5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;
6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB);
7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder
8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt.
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Abs 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Abs 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht."
3.8.2. Bei der für ein Einreiseverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl VwGH vom 20.10.2016, Ra 2016/21/0289; VwGH vom 24.3.2015, Ra 2014/21/0049).
3.8.3. Bei der Entscheidung betreffend die Verhängung eines Einreiseverbots ist – abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des Fremden – darauf abzustellen, wie lange die vom Fremden ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (VwGH vom 15.12.2011, 2011/21/0237).
3.8.4. Weiters ist bei der Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbots auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen (VwGH vom 30.6.2015, Ra 2015/21/0002; vgl auch Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 53 FPG, K12).
3.8.5. Schließlich darf bei der Verhängung eines Einreiseverbots das Ausschöpfen der vorgesehenen Höchstfristen nicht regelmäßig schon dann erfolgen, wenn einer der Fälle des § 53 Abs. 2 Z 1 bis 9 beziehungsweise des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FPG vorliegt (vgl etwa VwGH vom 30.6.2015, Ra 2015/21/0002 mwH).
3.8.6. Die belangte Behörde hat über den Beschwerdeführer ein auf 5 Jahre befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG verhängt.
3.8.7. Der Beschwerdeführer ist Drittstaatsangehöriger und wurde insgesamt 4 im Bundesgebiet strafrechtlich verurteilt, wobei er zuletzt mit Urteil des LG XXXX vom 19.05.2022, XXXX wegen § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt wurde, wobei 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden. Bereits mit Urteil vom 14.02.2018 wurde der BF wegen §§ 277 Abs. 1 StGB, 278b Abs. 2 StGB, 278a StGB, 142 Abs. 1 und 2 StGB, sowie 15, 142 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt, wovon 10 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden.
3.8.8. Das von der belangten Behörde angeordnete Einreiseverbot nach § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erweist sich grundsätzlich dem Grunde nach als gerechtfertigt. Darüber hinaus ist aber auch § 53 Abs. 3 Z 6 FPG erfüllt, wobei nach Z 6 sogar die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbots möglich ist.
3.8.9. In den Fällen des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FrPolG 2005 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Z 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht (vgl. VwGH vom 24.05.2018, Ra 2017/19/0311). Unzweifelhaft ist deshalb im vorliegenden Fall die Annahme gerechtfertigt, dass der Aufenthalt des BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, womit die Grundvoraussetzung des § 53 Abs. 3 FPG gegeben ist.
3.8.10. Bei der Entscheidung über die Länge des Einreiseverbotes ist die Dauer der vom Fremden ausgehenden Gefährdung zu prognostizieren; außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (VwGH vom 15.12.2011, Zl. 2011/21/0237 und vom 20.12.2016, Ra 2016/21/0109). Bei der Bemessung des Einreiseverbotes ist insbesondere auch die Intensität der privaten und familiären Bindungen zu Österreich einzubeziehen (VwGH vom 07.11.2012, Zl. 2012/18/0057).
3.8.11. Wie bereits auch die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid zutreffenderweise ausgeführt hat, wiegt das gesamte vom Beschwerdeführer gesetzte Fehlverhalten schwer, wobei der BF bei Erlassung des angefochtenen Bescheides 3 rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen im Bundesgebiet aufwies. Nunmehr verfügt der BF bereits über 4 strafgerichtliche Verurteilungen im Bundesgebiet und erfolgte die letzte Verurteilung im Mai 2022, wobei sich der BF zuvor 4 Jahre wohlverhielt, sich nunmehr allerdings in Strafhaft befindet, weshalb ein Wohlverhaltenszeitraum nicht berücksichtigt werden kann. Der BF ist, wenn man die Fülle seiner 4 rechtskräftigen Verurteilungen im Bundesgebiet bei der Beurteilung seines Persönlichkeitsbildes miteinbezieht, mittlerweile über einen längeren Zeitraum wiederholt kriminell in Erscheinung getreten, wobei sich die Intensität seiner kriminellen Energie über die Jahre stetig gesteigert hat und die Hemmschwelle seiner im Bundesgebiet zur Schau gestellten Gewaltbereitschaft zunehmend gesunken ist. Festzuhalten ist, dass sämtliche Verurteilungen des BF auf derselben schädlichen Neigung beruhen, nämlich gegen das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit oder fremdes Vermögen gerichtet sind. Die kriminelle Laufbahn des BF erfolgte vor allem im Bereich der Gewaltdelikte, so wurde der BF wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz, Widerstandes gegen die Staatsgewalt, mehrfach wegen Körperverletzung, Diebstahls durch Einbruch, krimineller Organisation, terroristischer Vereinigung, verbrecherischen Komplotts und Raubes verurteilt. Insgesamt lässt sich daher die erhebliche Gewaltbereitschaft und kriminelle Energie des BF konstatieren und hat der BF durch sein in Österreich gesetztes strafbares Verhalten seine Gefährlichkeit für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, sowie den Rechtsstaat zum Ausdruck gebracht. Sein Verhalten, vor allem die Begehung terroristischer Straftaten, stellt eine erhebliche Gefahr dar, die wesentliche Grundinteressen der Gesellschaft gefährdet.
3.8.12. Weder die Anzahl seiner Verurteilungen haben ihn bezüglich seines rechtswidrigen Verhaltens einsichtiger gemacht, noch seine gesamte im Bundesgebiet lebende Kernfamilie hat in ihm eine innere Umkehr hin zu einem rechtskonformeren Leben bewirkt. Auch der zahlreich gewährten Rechtswohltaten, nämlich des Schuldspruchs unter Vorbehalt der Strafe, der Setzung von Probezeiten, den bedingten Strafnachsichten, sowie der Anordnung von Bewährungshilfe und der Weisung von Psychotherapie hat sich der BF als nicht würdig erwiesen, sondern wurde er stetig erneut straffällig. Auch bereits absolvierte Psychotherapien konnten den BF letztlich trotz 4-jährigem Wohlverhaltenszeitraum am 10.03.2022 nicht dazu bringen seine Gewaltbereitschaft in kontrollierte Bahnen zu lenken, sondern versetzte er einem Dritten einen Faustschlag ins Gesicht, wodurch dieser eine Unterkieferfraktur und damit eine an sich schwere Körperverletzung erlitt. Vielmehr hat der BF durch sein Verhalten gezeigt, dass er schlichtweg nicht gewillt ist, die Gesetze in Österreich zu achten und zu respektieren. Sein bisheriger Aufenthalt in Österreich beeinträchtigte gewichtige Grundinteressen der Gesellschaft, nämlich jenes zum Schutz von Rechtsgütern, nämlich von Leib und Leben und des Vermögens, sowie den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Durch die Begehung terroristischer Straftaten hat der BF eine der schwerwiegendsten Straftaten des österreichischen StGB verwirklicht. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist auch künftig kein Gesinnungswandel des BF zu erwarten, zumal durch die bereits konkrete Planung eines Raubüberfalls, wobei der BF und sein Mittäter das zu überfallende Geschäft bereits ausgesucht, sowie ausgekundschaftet hatten, und der anschließend beabsichtigten Tötung von Polizisten unter Anleitung eines XXXX -Mitgliedes, durch das Drehen eines XXXX -Bekennervideos und der Gründung einer XXXX -Splittergruppe das radikale, das gemeingefährliche Gedankengut beim BF bereits tief verankert gewesen zu sein schien. Gerade vor dem Hintergrund der neuerlichen Begehung einer Straftat am 10.03.2022, welche neuerlich von einer noch präsenten, massiven Gewaltbereitschaft des BF zeugt, ist nicht davon auszugehen, dass eine erkennbare Änderung seines Gesinnungswandels erfolgt wäre. Darüber hinaus ist der überaus lange Tatzeitraum von Sommer 2015 bis April 2017 zu beachten und wurde bereits unter 3.5. ausgeführt, dass der BF nach Ansicht des erkennenden Gerichts ein besonders schweres Verbrechen begangen hat. So schien für diesen die Ermordung von erwachsenen Polizisten denkmöglich und wurde dieser Plan den Ausführungen des Strafurteils zur Folge nur aufgegeben, weil dieser vor der Tatbegehung medial bekannt wurde.
Der BF befindet sich aktuell in Strafhaft, sodass auch keine Zeit eines etwaigen längeren Wohlverhaltens zu seinen Gunsten zu werten ist.
3.8.13. Das Gesamtverhalten des BF ist Ausdruck für dessen Unwillen zur Befolgung der österreichischen Gesetze und der österreichischen Werteordnung. Dem BF kann aufgrund seiner Gewaltbereitschaft und seiner radikalen Geisteshaltung im Hinblick auf einen weiteren Aufenthalt im Gebiet der Mitgliedstaaten sohin keine positive Prognose gestellt werden. Insbesondere hervorzuheben bleibt die Begehung terroristischer Straftaten als Gravierendste des österreichischen StGB und die Resistenz des BF gegenüber jeder bisherigen Reaktion des Rechtsstaates auf sein strafrechtswidriges Verhalten, das ein Durchdringen zu ihm und einem rechtstreuen Verhalten unmöglich macht. Es ist aufgrund des bezeichnenden Vorlebens des BF mit maßgeblicher Sicherheit keinesfalls auszuschließen, dass dieser in derselben Weise erneut straffällig wird. Das vom Beschwerdeführer gezeigte Verhalten im Bundesgebiet kann keinesfalls durch seine Integration, seine Deutschkenntnisse oder seine zuletzt gesetzten Bemühungen um berufliche Integration (Einstellungszusage) im Bundesgebiet, relativiert werden, zumal ihn diese in der Vergangenheit nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten konnte. Die wiederholten Taten des BF gegen die körperliche Unversehrtheit, sowie fremdes Vermögen, insbesondere im Bereich der terroristischen Straftaten, muss aufgrund der Schwere und der Verwerflichkeit der begangenen Straftaten, sowie der Abscheulichkeit der noch geplanten Taten von einer aktuellen, gegenwärtigen Gefahr des BF für die öffentliche Sicherheit und Ordnung weiterhin gesprochen werden.
3.8.14. Wie bereits zur Frage der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ausführlich geprüft und festgestellt, sind die familiären und privaten Anknüpfungspunkte des Beschwerdeführers in Österreich nicht dergestalt, dass sie einen Verbleib in Österreich rechtfertigen würden. Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verletzt in casu nicht die in Art. 8 EMRK geschützten Rechte. Es muss daher unter Berücksichtigung des in § 53 Abs. 3 FPG genannten Tatbestandes ebenso davon ausgegangen werden, dass das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit das persönliche Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich überwiegt.
3.8.15. In einer Gesamtbetrachtung ist mit der erheblichen, wiederholt gegen die körperliche Unversehrtheit anderer gerichtete, kriminelle Energie des Beschwerdeführers ein Gesamtverhalten und ein Persönlichkeitsbild des BF zu konstatieren, welches von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der österreichischen Rechtsordnung und gegenüber dem in Österreich und in der EU vorherrschenden Schutz der körperlichen Integrität Dritter geprägt ist. Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände und in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als gegeben angenommen werden (vgl. VwGH vom 19. Mai 2004, 2001/18/0074). Somit lässt die wiederholte Begehung genannter Straftaten, die allenfalls – auch familiären - Interessen des BF an einem Aufenthalt im Schengenraum klar hinter die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten und Schutz der Rechte und Freiheiten anderer jedenfalls zurücktreten.
3.8.16. Die von der Behörde ausgesprochene 5-jährige Dauer des Einreiseverbotes erweist sich nach Ansicht des erkennenden Gerichts vor dem Hintergrund der Umstände des konkreten Einzelfalls im Sinne der vom Beschwerdeführer begangenen terroristischen Straftaten und der damit grundsätzlich möglichen Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbots, sowie des nach Erlassung des Bescheides begangenen Verbrechens der schweren Körperverletzung, als nicht ausreichend. Gerade in Anbetracht der Schwere und Verwerflichkeit der begangenen Straftaten, der offensichtlich nach wie vor vorhandenen Gewaltbereitschaft des BF, welche sich im Rahmen seiner Strafbegehung am 10.03.2022 neuerlich manifestiert hat und der in casu möglichen Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes erscheint dem Gericht ein Einreiseverbot von 10 Jahren als angemessen, um dem BF das Unrecht seiner Taten vor Augen zu führen und den Wegfall der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung im Schengenraum zu erwarten, weshalb sich die ausgesprochene Dauer des Einreiseverbots von 10 Jahren als verhältnismäßig erweist.
3.8.19. Das erlassene Einreiseverbot war daher spruchgemäß auf 10 Jahre hinaufzusetzen.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl Nr 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Im konkreten Fall ging das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst nicht von der bereits zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab und ist diese auch nicht uneinheitlich. Die Revision ist fallgegenständlich zudem deshalb nicht zulässig, weil weder die Aberkennungsentscheidung, die Frage des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative noch die Rückkehrentscheidung beziehungsweise die Verhängung des Einreiseverbotes neue Rechtsfragen aufwarfen.
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