AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §35
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:G315.2196719.3.00
Spruch:
G315 2168076-3/24EG315 2168081-3/24EG315 2168079-3/20EG315 2168073-3/20EG315 2196719-3/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde 1.) des XXXX , geboren am XXXX , 2.) der XXXX , geboren am XXXX , 3.) der XXXX , geboren am XXXX , 4.) des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 5.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit: Türkei, die minderjährigen Beschwerdeführer gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch Rechtsanwalt XXXX in XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.05.2020, Zahlen: zu 1.) XXXX , zu 2.) XXXX , zu 3.) XXXX , zu 4.) XXXX und zu 5.) XXXX , betreffend die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung, zu Recht:
A.1.) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B.1.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
BESCHLUSS
2.) Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde 1.) des XXXX , geboren am XXXX , 2.) der XXXX , geboren am XXXX , 3.) der XXXX , geboren am XXXX , 4.) des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 5.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit: Türkei, die minderjährigen Beschwerdeführer gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch Rechtsanwalt XXXX in XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.05.2020, Zahlen: zu 1.) XXXX , zu 2.) XXXX , zu 3.) XXXX , zu 4.) XXXX und zu 5.) XXXX , betreffend den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung sowie des Antrages auf Kostenersatz:
A.2.)
I. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird als unzulässig zurückgewiesen.
II. Der Antrag auf Kostenersatz wird als unzulässig zurückgewiesen.
B.2.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Aus dieser Ehe stammen die Drittbeschwerdeführerin, der minderjährige Viertbeschwerdeführer und die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin (im Folgenden gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch auch kurz „BF1“ bis „BF5“ genannt).
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Türkei und brachten der BF1 am 07.02.2017 sowie BF2 bis BF4 am 15.03.2017 nach jeweils rechtswidriger Einreise in das Bundesgebiet Anträge auf internationalen Schutz ein. Für die in Österreich nachgeborene BF5 wurde am 20.04.2018 ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.
2. Erstes Verfahren:
2.1. BF1 wurde am 07.02.2017 und BF2 am 15.03.2017 erstbefragt. Weiters wurden beide vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl jeweils am 05.07.2017 niederschriftlich zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen.
Die minderjährige BF3 und der minderjährige BF4 wurden im Rahmen dieses Verfahrens wegen ihrer Unmündigkeit nicht persönlich einvernommen.
2.2. Die Anträge auf internationalen Schutz wurden folglich mit Bescheiden des Bundesamtes jeweils vom 25.07.2017 (BF1 bis BF4) bzw. vom 07.05.2018 (BF5) gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen und der Status der Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt, gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
2.3. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.
Im Rahmen des vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten Beschwerdeverfahrens wurde in weiterer Folge zusammengefasst vorgebracht, insbesondere der BF1 aber auch die BF2 wären auch in Österreich exilpolitisch tätig, indem sie dem Verein XXXX und dem XXXX der Kurdischen Gesellschaft Österreich beigetreten seien und aufgrund ihrer Mitgliedschaft an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen hätten. Unter anderem wurden dabei drei Fotos vorgelegt, die den BF1 auf einer Demonstration mit einer „Freedom for Öcalan“-Flagge zeigen. Aus den vorgelegten Medienberichten sei ersichtlich, dass insbesondere dem BF1 bei seiner Rückkehr in die Türkei auch wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit staatliche Verfolgung drohe, zumal er Mitglied der HDP sei.
Weiters wurde mit Schreiben vom 30.07.2019 ein Antragsformular für die Mitgliedschaft bei der Demokratischen Partei der Völker (HDP) des BF1 vom 15.07.2014 übermittelt und um Berücksichtigung ersucht.
2.4. Die Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019, Zahlen: XXXX und XXXX , als unbegründet abgewiesen.
2.5. Die gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 erhobene außerordentliche Revision der Beschwerdeführer an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) wurde mit Beschluss vom 18.10.2019, Ra XXXX , zurückgewiesen.
3. Zweites und drittes Verfahren:
3.1. Die Beschwerdeführer kamen ihrer Verpflichtung zur Ausreise binnen der vierzehntägigen Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung in der Folge nicht nach und stellten jeweils am 15.11.2019 einen neuen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag).
3.2. Im Rahmen der jeweils am 15.11.2019 stattfindenden Erstbefragungen wurden sowohl der BF1 und die BF2 als auch die BF3 und der BF4 einvernommen.
3.3. Zwischenverfahren:
3.3.1. Am 16.12.2019 wurden beim Bundesverwaltungsgericht seitens der Beschwerdeführer zudem Anträge auf Wiederaufnahme des bereits mit Erkenntnis vom 06.08.2019 abgeschlossenen Verfahrens eingebracht.
In einer zeitgleich eingebrachten Stellungnahme wurde ausgeführt, dass die Kinder (gemeint BF3 und BF4) im Erstverfahren nicht einvernommen worden seien und im nunmehr anhängigen Folgeverfahren erstmals eine Aussage machen würden. Sie würden nunmehr ihre eigenen Asylgründe im Herkunftsland Türkei sowie ihre nachträglich in Österreich entstandenen Asylgründe mitteilen und wurde diesbezüglich deren Vorbringen in der am 15.11.2019 stattfindenden Erstbefragung wiedergegeben. Die Asylgründe der Beschwerdeführer seien neu. Ihre neuen Asylgründe seien nicht Gegenstand der Prüfung des Erstverfahrens gewesen und hätten deshalb auch nicht geprüft werden können. Es liege ein neuer Sachverhalt vor.
Ferner wurde auf die nach Ergehen des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes sowie des Beschlusses des VwGH vom 18.10.2019 sich „rasant negativ“ ändernden politischen Umstände sowie die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen, Einschränkungen der demokratischen Rechte in der Türkei gegen Menschen, die an Demonstrationen gegen die türkische Regierung teilgenommen haben, verwiesen. Aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen hätten der BF1 und die BF2 wegen der damit verbundenen Verhaftungsgefahr neue Asylgründe. Diese Gründe seien nicht Gegenstand des Erstverfahrens gewesen.
3.3.2. Nach Ergehen eines Verbesserungsauftrages unter Erteilung einer Belehrung zu den rechtlichen Voraussetzungen für einen Antrag auf Wiederaufnahme vom 21.04.2020 und einer weiteren Stellungnahme vom 11.05.2020 wurde der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 69 AVG mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.07.2020, Zahlen: Zahlen: XXXX und XXXX , als unzulässig zurückgewiesen.
3.4. Am 13.02.2020 fanden vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstell XXXX , jeweils die niederschriftlichen Einvernahmen von BF1 bis BF4 statt.
Im Rahmen der Einvernahme wurden vom BF1 nachfolgende Unterlagen vorgelegt:
- im Original vorgelegte Mitgliedsbestätigung der HDP (in Kopie zum Akt genommen) vom 15.07.2014 (vgl. AS 195 Verwaltungsakt Teil II BF1)
- Unterstützungsschreiben vom 12.11.2019 (vgl. AS 197, AS 205, AS 211 Verwaltungsakt Teil II BF1)
- österreichische Geburtsurkunde der Fünftbeschwerdeführerin (AS 201 Verwaltungsakt Teil II BF1)
- Beitrittserklärung des BF1 zum XXXX vom 29.09.2017 (vgl. AS 203 Verwaltungsakt Teil II BF1)
- drei Fotos im Original (in Kopie zum Akt genommen) (vgl. AS 209 Verwaltungsakt Teil II BF1)
- Bestätigung des Vereins XXXX vom 12.06.2019, wonach der BF1 im Verein aktiv ist und an Vereinsaktivitäten teilnimmt (vgl. AS 213 Verwaltungsakt Teil II BF1)
- Liste in Österreich lebenden/aufhältigen Verwandten der Beschwerdeführer (vgl. AS 155 Verwaltungsakt Teil II BF2)
- Konvolut von Reisepass- bzw. Nüfus-Kopien diverser Familienangehöriger der Beschwerdeführer (vgl. AS 219 ff Verwaltungsakt Teil II BF1).
Im Rahmen der Einvernahme wurden von der BF2 nachfolgende Unterlagen vorgelegt:
- Beitrittserklärung der BF2 zum XXXX vom 29.09.2017 (vgl. AS 141 Verwaltungsakt Teil II BF2).
- Konvolut von Befundberichten über die Erkrankungen der Schwester der BF2 (vgl. AS 143 ff Verwaltungsakt Teil II BF2).
- Liste in Österreich lebenden/aufhältigen Verwandten der Beschwerdeführer (vgl. AS 155 Verwaltungsakt Teil II BF2)
3.5. Am 23.04.2020 wurde seitens des Rechtsvertreters eine Stellungnahme zu einem vom Bundesamt schriftlich gewährten Parteiengehör abgegeben.
3.6. Mit den gegenständlich angefochtenen Bescheiden jeweils vom 12.05.2020 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 15.11.2019 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei (Spruchpunkt II.) jeweils abgewiesen, den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Zusammenfassend legte das Bundesamt den gegenständlich angefochtenen Bescheiden vom 12.05.2020 die Feststellungen zugrunde, dass die Identität der Beschwerdeführer mangels Vorlage eines unbedenklichen Personaldokuments im Original nicht feststehe [sic!, vgl. Feststellungen im ursprünglichen Bescheid von 2017 bzw. 2018 sowie im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019, Anm.]. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF1, die BF2 und der BF4 wegen einer aktiven Mitgliedschaft zur HDP-Partei bzw. ihrer Teilnahme an Demonstrationen in der Türkei asylrelevanter Verfolgung oder Gefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt sei bzw. gewesen sei oder „pro futuro“ einer solchen Verfolgung in der Türkei ausgesetzt wäre. Ebenso wenig habe festgestellt werden können, dass BF3 und BF4 aufgrund der von ihnen vorgebrachten Diskriminierung in der Schule im Fall einer Rückkehr in die Türkei asylrelevanter Verfolgung oder Gefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt sei bzw. gewesen sei oder „pro futuro“ einer solchen Verfolgung in der Türkei ausgesetzt wäre. Die minderjährige BF5 habe keine eigenen Fluchtgründe, sondern beziehe sich auf die Fluchtgründe ihrer gesetzlichen Vertreterin (der Mutter, BF2).
Es hätten keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden könne, dass die Beschwerdeführer in der Türkei Gefahr liefen, einer unmenschlichen Behandlung, Strafe oder gar Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden. Alle Beschwerdeführer seien gesund. BF1 habe in der Türkei bereits in mehreren Bereichen gearbeitet und sei dabei sogar Teamleiter der Putz- und Hygieneabteilung eines Hotels gewesen. Sein Einkommen habe zur Versorgung seiner Familie ausgereicht. BF2 befinde sich im arbeitsfähigen Alter und könne ebenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgehen. BF3 und BF4 hätten bereits vor ihrer Ausreise in der Türkei eine Schulbildung genossen und seien alle Beschwerdeführer gleichsam von einer Rückkehrentscheidung betroffen. Insgesamt sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei nicht in eine Art. 2 oder Art. 3 EMRK entsprechende Notlage geraten würden.
3.7. Mit Verfahrensanordnungen jeweils vom 12.05.2020 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.
3.8. Gegen die rechtswirksam zugestellten Bescheide wurde mit dem am 12.06.2020 beim Bundesamt fristgerecht eingebrachten Schriftsatz der bevollmächtigten Rechtsvertretung der Beschwerdeführer vom selben Tag das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben. Es wurde zusammengefasst beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen, der Beschwerde stattgeben und die angefochtenen Bescheide aufheben; in eventu die Bescheide aufheben und das Verfahren an das Bundesamt zurückverweisen und dem Rechtsträger, in dessen Nahmen die Behörde in dem Verfahren gehandelt hat, gemäß §§ 47 ff VwGG iVm. VwGH-Aufwandsersatzverordnung 2014, der Ersatz der Aufwendungen dieses Verfahrens binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution auftragen sowie der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkennen.
3.9. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 18.06.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurden ursprünglich der Gerichtsabteilung L526 zugewiesen.
3.10. Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wurden daraufhin am 24.07.2020 fehlende Aktenteile beim Bundesamt angefordert, welche am 14.09.2020 beim Bundesverwaltungsgericht einlangten.
3.11. Am 30.09.2020 übermittelte das Bundesamt zuständigkeitshalber eine undatierte, am 29.09.2020 beim Bundesamt einlangende, ergänzende Stellungnahme samt Urkundenvorlage des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer.
Es wurde die Änderung der Wohnadresse der Beschwerdeführer samt Vorlage entsprechender Meldebestätigungen sowie eine Bestätigung über eine Mietzahlung in bar mitgeteilt. Weiters wurde ausgeführt, dass BF3 und BF4 nach wie vor die Schule besuchen, über gute Deutschkenntnisse und einen weiten Freundeskreis verfügen würden. BF1 habe bereits eine Arbeitsstelle als Koch bzw. Küchenhilfe in Aussicht und könne nach Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts umgehend zu arbeiten beginnen. Die BF3 habe zudem eine Lehrstelle als Bürokauffrau in Aussicht und könnte diese ebenfalls unmittelbar nach positivem Verfahrensabschluss antreten. Die BF2 beabsichtige ebenfalls eine Beschäftigungsaufnahme, sobald die minderjährige BF5 in den Kindergarten aufgenommen werde. Das Verhältnis der Beschwerdeführer zur Familie der Schwester der BF2 sei weiterhin sehr gut und bestehe ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Es würde zudem auf aktuelle Presseberichte (unter näherer Zitierung) verwiesen werden, wonach in Österreich erst ein türkischer Spitzel festgenommen worden sei, eine türkische Anwältin nach 238 Tagen im Hungerstreik verstorben sei und zwischen 2015 und 2018 fast ein Drittel aller HDP-Mitglieder in der Türkei festgenommen worden seien.
3.12. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und am 01.02.2021 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
3.13. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2022 wurden die Beschwerdeführer aufgefordert am ergänzenden Ermittlungsverfahren des Bundesverwaltungsgerichtes mitzuwirken, binnen einer Frist von zwei Wochen die an sie gerichteten Fragen schriftlich zu beantworten und ihre Behauptungen – soweit möglich – zur Glaubhaftmachung durch Bescheinigungsmittel zu belegen.
3.14. Am 11.03.2022 langte die mit 10.03.2022 datierte Stellungnahme der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Im Rahmen der Beantwortung der Fragen hinsichtlich der unterbliebenen Ausreise nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens in der Stellungnahme vom 10.03.2022 wurden zusammengefasst die Ausführungen in der Beschwerde sowie des ergänzenden Vorbringens vom 29.09.2020 wiederholt. Im Falle einer Rückkehr bestünde daher die Gefahr, dass der BF1, die BF2 und der BF4 völlig zu Unrecht bestraft und im Gefängnis landen würden. Die vorgebrachten „Asylgründe“ der BF3 und der BF4 seien wegen ihrer nicht erfolgten Einvernahme im Erstverfahren neu und seien deshalb dort nicht bereits Prüfungsgegenstand gewesen. Es liege daher ein neuer Sachverhalt vor, sodass der § 68 Abs. 1 AVG nicht anwendbar sei. Aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen in Österreich sei nicht auszuschließen, dass der BF1, die BF2 und der BF4 bei Rückkehr in die Türkei direkt am Flughafen festgenommen werden könnten. In weiterer Folge könnte ihnen der Prozess wegen Terrorismusunterstützung bzw. Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation gemacht werden. Es bestehe weiters auch die Möglichkeit, dass der BF1 aufgrund seiner HDP-Mitgliedschaft bei Wiedereinreise festgenommen werde. In Österreich selbst habe es keine konkreten Bedrohungen, Bedrängungen oder Verfolgungen der Beschwerdeführer gegeben. Es sei aber allgemein bekannt, dass im Zuge solcher Demonstrationen Geheimdienstagenten Informationen, Bilder und Videos von Teilnehmern ermitteln und an die türkische Regierung weiterleiten würden. Übergriffe gegen die Beschwerdeführer in der Türkei seien nicht ausgeschlossen.
Unter einem wurden nachfolgende Dokumente bzw. Unterlagen vorgelegt:
- Besuchsbestätigung des Kindergartens für die BF5 vom 28.02.2022;
- Schulbesuchsbestätigung der BF3 und des BF4 vom jeweils vom 24.02.2022 (Bundeshandelsakademie) für das Sommersemester 2022;
- Jahres- und Abschlusszeugnisse des BF4 aus der Neuen Mittelschule für die Schuljahre 2019/2020 (Beurteilung Deutsch: „Genügend – grundlegende Allgemeinbildung“) und 2020/2021 (polytechnische Schule; Beurteilung Deutsch: „Genügend“)
- Semesterzeugnisse der BF3 der Handelsakademie für Berufstätige für die Schuljahre 2020/2021 (erstes Semester: Deutsch: „nicht beurteilt“; zweites Semester: Deutsch „Nicht genügend“) und 2021/2022 (erstes Semester: Deutsch: „nicht beurteilt“);
- Konvolut an Kopien österreichischer Reisepässe von diversen Verwandten der Beschwerdeführer;
- Bereits aktenkundige Liste angeführter in Österreich lebender Verwandter der Beschwerdeführer;
3.15. Mit Schreiben vom 01.04.2022 wurden den BF aktuelle Länderberichte mit der Einladung zu einer allfälligen Äußerung übermittelt.
3.16. Mit Schreiben vom 05.04.2022 wurde eine „Arbeitszusage“ für BF1 übermittelt. Dieser zufolge könnte BF1 als Koch oder Küchenhilfe beschäftigt werden, sobald er einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt hat.
3.17. In einem Telefonat am 12.04.2022 wurde der Rechtsvertreter der BF eingeladen, eine schriftliche Mitteilung zu den von ihm bei der juristischen Mitarbeiterin deponierten Aussagen zu tätigen.
3.18. In einem Schriftsatz vom 12.04.2022 wurde darauf hingewiesen, dass Fragen erneut gestellt wurden, die bereits beantwortet worden seien. In Bezug auf die Länderberichte werde auf das eigene Vorbringen verwiesen und weiteres Vorbringen ausdrücklich vorbehalten.
3.19. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.04.2022 wurde in Bezug auf den Schriftsatz der Beschwerdeführer vom 12.04.2022 mitgeteilt, dass aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes derzeit kein Umstand ersichtlich sei, der einer weiteren, tiefergehenden Erörterung in einer mündlichen Verhandlung zur Klärung der Rechtssache bedarf. Die Beschwerdeführer wurden eingeladen, innerhalb einer Frist von sieben Tagen eine Stellungnahme abzugeben und wurde unter Hinweis auf die Mitwirkungspflicht mitgeteilt, dass eine Entscheidung auf Basis des bisherigen Vorbringens und der Aktenlage ergehen wird, sofern ihre Stellungnahme nicht anderes erfordern würde.
3.20. Bis dato ist keine Stellungnahme dazu eingegangen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019, Zahlen: XXXX und XXXX , wurden die gegen die Bescheide des Bundesamtes vom 25.07.2017 (BF1 bis BF4) bzw. vom 07.05.2018 (BF5), mit welchen die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.), erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Das Bundesverwaltungsgericht traf dabei nachfolgende Feststellungen (auszugsweise Wiedergabe des genannten Erkenntnisses, in welchem das Bundesamt als belangte Behörde (bB) bezeichnet wird), welche auch zu Feststellungen im gegenständlichen Verfahren erhoben werden:
„II.1.1. Die BF sind Staatsangehörige der Türkei, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und der alevitischen Glaubensrichtung. BF1 und BF2 sind verheiratet, BF3 bis BF5 sind ihre gemeinsamen, minderjährigen Kinder.
BF1 wurde am XXXX in XXXX geboren und besuchte dort [die] drei Jahre lang die Grundschule. Anschließend begann BF1 mit seiner beruflichen Tätigkeit; er arbeitete [als] Hilfsarbeiter. Im Jahr 2014 übersiedelte BF1 nach XXXX , wo er bis zur Ausreise mit seiner Familie lebte. BF1 spricht Türkisch und Kurdisch.
In der Türkei leben Geschwister des BF1 sowie zahlreiche Verwandte zweiten Grades. In Österreich leben zwei Brüder des BF sowie ein Onkel.
Anfang Februar 2017 verließ BF1 die Türkei illegal und schlepperunterstützt auf dem Landweg nach Österreich und stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 07.02.2017 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
BF2 wurde am XXXX in XXXX geboren und besuchte dort die zwei Jahre lang die Grundschule. Bis zu ihrer Ausreise lebte BF2 in XXXX mit ihrem Ehemann und ihren Kindern und betätigte sich dort als Hausfrau. Sie reiste zusammen mit ihren Kindern zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt im März 2017 schlepperunterstützt und illegal aus der Türkei aus, um in Österreich ihren Gatten zu treffen und mit ihm zu leben. Am 15.3.2017 stellte sie die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz für sich und ihre Kinder.
Eine Schwester der BF2 lebt in Wien.
Auch BF2 hat familiäre bzw. verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in der Türkei, beispielsweise in Form ihrer Geschwister und mehrerer Onkel und Tanten.
BF3 bis BF5 sind die minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2. BF3 und BF4 sind am XXXX bzw. am XXXX in der Türkei geboren. Die weibliche BF3 und der männliche BF4 sind zusammen mit ihrer Mutter ins Bundesgebiet eingereist, wo für sie ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht wurde. Zum Zeitpunkt der Einreise waren BF3 und BF4 etwa dreizehn bzw. zwölf Jahre alt. Die weibliche BF5 wurde am 19.1.2018 im Bundesgebiet geboren. Für sie wurde von BF2 als deren gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.
Die Identität der BF steht fest. BF1 und BF2 verfügen über ein türkisches Ausweisdokument (Nüfus) im Original.
II.1.2. BF2 gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte vor ihrer Ausreise keine Schwierigkeiten mit den Behörden ihres Heimatstaates zu gewärtigen. Ob BF1 Mitglied der Halklarin Demokratik Partisi (Demokratischen Partei der Völker, HDP) in der Türkei war, ist nicht feststellbar. Es kann nicht festgestellt werden, dass BF1 vor seiner Ausreise Repressalien und den von ihm behaupteten Gefährdungen ausgesetzt war bzw. im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer sonstigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in ihrem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder die BF im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.
Die BF haben in der Türkei keine Schwierigkeiten aufgrund ihres Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Sie unterliegen bei einer Rückkehr in die Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht der Gefahr einer staatlichen Verfolgung im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe. Selbiges gilt für ihre Zugehörigkeit zur alevitischen Glaubensgemeinschaft.
BF1 unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht der Gefahr einer Verfolgung aufgrund der Mitgliedschaft und Aktivitäten bei Vereinen innerhalb des Verbandes des XXXX der Kurdischen Gesellschaft in Österreich oder der Teilnahme an pro-kurdischen Demonstrationen in Österreich.
Die BF unterliegen bei einer Rückkehr in die Türkei außerdem nicht der Gefahr einer (Straf-) Verfolgung oder Inhaftierung im Zusammenhang mit einer ihnen unterstellten politischen Gesinnung.
Es kann nicht festgestellt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.
II.1.3. Die BF sind gesund. Sie leiden weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Sie nehmen derzeit keine Medikamente.
Bei BF1 und BF2 handelt es sich um gesunde, arbeitsfähige Menschen, wobei sich BF1 vor seiner Ausreise aus der Türkei als Hilfsarbeiter betätigt hat. Es bestehen familiäre und private Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat und eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage.
BF1 und BF2 verfügen für den Fall der Rückkehr über ein türkisches Identitätsdokument.
Die BF sprechen sowohl Kurdisch als auch Türkisch.
Den BF stehen die Systeme der sozialen Sicherheit in der Türkei offen und werden sie insbesondere leistbaren und nichtdiskriminierenden Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung in der Türkei finden.
Die BF halten sich seit ihrer Einreise zu den oben genannten Zeitpunkten in Österreich auf. BF1 bis BF4 reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein; BF5 ist hier geboren. Sie sind seither Asylwerber und verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel.
II.1.4. Die BF pflegen normale soziale Kontakte. BF3 und BF4 besuchen die Mittelschule, verfügen über den für sie alterstypischen Freundeskreis und sprechen gut Deutsch. BF1 und BF2 nehmen an sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen für das Sprachniveau Deutsch A1 teil, haben jedoch keine Prüfung abgelegt.
BF1 engagiert sich in kurdischen Vereinen. Er verfügt auch über eine Einstellungszusage als Koch, wobei über das Ausmaß der Beschäftigung und das Entgelt aus der vorgelegten Absichtserklärung nichts hervorgehen.
Weitere Integrationsschritte haben die BF nicht ergriffen.
Die BF haben keine gemeinnützige Arbeit verrichtet.
Die BF beziehen Mittel aus der Grundversorgung und werden zudem von ihren Bekannten finanziell unterstützt. Sie leben an derselben Adresse wie der Schwager der BF1 und BF2.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten. Ihr Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
II.1.5. Zur aktuellen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
[…]“
1.2. Die gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 erhobene außerordentliche Revision der Beschwerdeführer an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) wurde mit Beschluss vom 18.10.2019, Ra XXXX , zurückgewiesen.
1.3. Ergänzend zu den im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 bereits getroffenen und unter Punkt 1.1. wiedergegebenen Feststellungen werden nunmehr nachfolgende Feststellungen getroffen:
1.3.1. BF1 und BF2 haben bereits im ersten Asylverfahren ihren Nüfus im Original vorgelegt. Die BF5 verfügt zudem über eine aktenkundige, österreichische Geburtsurkunde und wurde auch eine Kopie des türkischen Familienbuches der Beschwerdeführer vorgelegt (vgl. Stellungnahme vor der belangten Behörde vom März 2020 (OZ 8)).
Alle Beschwerdeführer sind gesund und arbeitsfähig, sie leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium, die in der Türkei nicht behandelbar wären (vgl. ua. Stellungnahme vom 10.03.2022 (OZ 16)).
Seit Ende September 2020 haben die Beschwerdeführer eine eigene Wohnung in Österreich gemietet und leben nicht mehr mit der Schwester der BF2 und ihrem Ehemann im gemeinsamen Haushalt. Alle Beschwerdeführer leben in dieser Wohnung, wo sie auch jeweils mit Hauptwohnsitz gemeldet sind. Die Miete beträgt monatlich EUR 500,00 (vgl. ua. Stellungnahme vom 10.03.2022 samt Bestätigung über Mietzahlung (OZ 16); Auszüge aus dem Zentralen Melderegister vom 28.03.2022).
Die Beschwerdeführer missachteten den Spruch des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 und den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 18.10.2019. Sie reisten nicht aus dem Bundesgebiet aus und stellten am 15.11.2019 weitere unbegründete Anträge auf internationalen Schutz.
1.3.2. BF1 hat in der Türkei sowohl als Hilfsarbeiter bzw. bei einem Umzugsunternehmen als auch in der Tourismusbranche in einem Hotel gearbeitet. BF2 war auch als Reinigungskraft in einem Unternehmen beschäftigt (vgl. Stellungnahme vom 10.03.2022 (OZ 16); Stellungnahme des BF1 vor dem Bundesamt vom März 2020 (OZ 8)).
Die von BF1 und BF2 in der Asylunterkunft begonnenen Deutschkurse wurden nicht abgeschlossen. Sie haben auch keine erfolgreiche Integrationsprüfung oder sonstige Deutschsprachprüfung absolviert (vgl. Stellungnahme vom 10.03.2022 (OZ 16)).
Der Antrag des BF1 auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung nach dem Ausländerbe-schäftigungsgesetz (AuslBG) der XXXX vom 12.12.2019 wurde mit Bescheid des zuständigen Arbeitsmarktservice (AMS) vom 17.01.2020 abgewiesen. Diesbezüglich ist noch ein Rechtsmittelverfahren anhängig.
Für BF1 liegt eine Einstellungszusage der XXXX vor, welcher zufolge er „gerne auch im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche mit 1.800 Euro Brutto im Monat“ arbeiten könne, wenn er einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt bekommt (OZ 20), wobei das Dokument ein handschriftlich dazugefügtes Datum (9.3.2022) aufweist. Bereits im Erstverfahren hatte der BF eine Einstellungszusage dieser KG vorgelegt.
Keiner der Beschwerdeführer ging bis dato in Österreich keiner legalen und sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach (vgl. Sozialversicherungsdatenauszug der Beschwerdeführer jeweils vom 28.03.2022).
Bemühungen um den Erhalt einer Arbeit bei einem anderen Beschäftiger bzw. für Tätigkeiten, die auch Asylwerbern offenstehen, sind nicht belegt.
Die BF3 hat in der Türkei bereits die Grundschule absolviert und in weiterer Folge die Mittelschule bis zum Ende des ersten Semesters der siebten Schulstufe im Schuljahr 2016/2017 besucht (vgl. die mit Stellungnahme vom März 2020 vorgelegten türkischen Schulzeugnisse der BF3, die vom Bundesamt am 14.09.2020 dem Bundesverwaltungsgericht nachgereicht wurden (OZ 10)).
Die BF3 besucht in Österreich inzwischen die dritte Klasse einer Bundeshandelsakademie für Berufstätige (vgl. mit Stellungnahme vom 10.03.2022 vorgelegte Semesterzeugnisse und Schulbesuchsbestätigung vom 22.02.2022 (OZ 16)). Aus den vorliegenden Zeugnissen der BF3 gehen nachfolgende Beurteilungen im Fach Deutsch hervor: Semesterzeugnisse der BF3 der Handelsakademie für Berufstätige für die Schuljahre 2020/2021 (erstes Semester: Deutsch: „nicht beurteilt“; zweites Semester: Deutsch „Nicht genügend“) und 2021/2022 (erstes Semester: Deutsch: „nicht beurteilt“).
Der BF4 hat in der Türkei ebenfalls bereits die Grundschule absolviert und in weiterer Folge die Mittelschule bis zum Ende des ersten Semesters der sechsten Schulstufe im Schuljahr 2016/2017 besucht (vgl. die mit Stellungnahme vom März 2020 vorgelegten türkischen Schulzeugnisse des BF4, die vom Bundesamt am 14.09.2020 dem Bundesverwaltungsgericht nachgereicht wurden (OZ 10)).
In Österreich hat der minderjährige BF4 die Neue Mittelschule inklusive Polytechnischem Lehrgang inzwischen abgeschlossen (vgl. mit Stellungnahme vom 10.03.2022 vorgelegte Abschlusszeugnisse (OZ 16)). Er besucht im Schuljahr 2021/2022 die erste Klasse einer Bundeshandelsakademie (vgl. mit Stellungnahme vom 10.03.2022 vorgelegte Schulbesuchsbestätigung (OZ 16)). Aus den vorliegenden Zeugnissen des BF4 gehen nachfolgende Beurteilungen im Fach Deutsch hervor: Jahres- und Abschlusszeugnisse des BF4 aus der Neuen Mittelschule für die Schuljahre 2019/2020 (Beurteilung Deutsch: „Genügend – grundlegende Allgemeinbildung“) und 2020/2021 (polytechnische Schule; Beurteilung Deutsch: „Genügend“).
Die minderjährige BF5 besucht in Österreich inzwischen den Kindergarten (vgl. mit Stellungnahme vom 10.03.2022 vorgelegte Bestätigung des Kindergartens (OZ 16)).
Abgesehen vom Schulbesuch der BF3 und des BF4 haben die Beschwerdeführer in Österreich somit keine Kurse, Schulungen oder sonstige Ausbildungen absolviert (vgl. Stellungnahme vom 10.03.2022 (OZ 16)). Es sind auch sonst keine zwischenzeitig hinzugetretenen maßgeblichen Integrationsschritte feststellbar.
Insgesamt liegt daher keine maßgebliche und zu berücksichtigende Integration der Beschwerdeführer in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht vor.
1.3.3. Die Beschwerdeführer sind nach wie vor allesamt strafgerichtlich unbescholten und halten sich seit ihrer Einreise 2017 bzw. im Fall der BF5 seit ihrer Geburt ununterbrochen in Österreich auf (vgl. Stellungnahme vom 10.03.2022 (OZ 16); Strafregisterauszüge jeweils vom 28.03.2022; Auszüge aus dem Zentralen Melderegister jeweils vom 28.03.2022).
Ihr Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Die Beschwerdeführer wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinne der §§ 382b oder 382e EO.
1.4. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und den Beschwerdeführern offengelegten Quellen getroffen:
„Länderinformation der Staatendokumentation – Türkei aus dem COI-CMS – Version 5 (Datum der Veröffentlichung: 10.03.2022)
[…]
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zum Inhalt:
In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit ist, insbesondere was die COVID-19-Maßnahmen anlangt, das Datum der jeweiligen Quelle zu beachten, und nicht nur das Aktualisierungsdatum des Kapitels.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie auf die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Nebst dem separaten Kapitel zur COVID-19-Situation, das eine aktuelle Momentaufnahme bzw. einen Überblick bietet, finden sich darüber hinaus spezifische Informationen zur COVID-19-Lage und deren Auswirkungen in eigenen Abschnitten folgender Kapitel bzw. Unter-Kapitel der vorliegenden Länderinformation:
- Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
- Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
- Opposition
- Haftbedingungen
- Roma
- Sexuelle Minderheiten
- Bewegungsfreiheit
- Flüchtlinge
- Grundversorgung / Wirtschaft
Auf die Justizreformstrategie 2019-2023 wird nur dann Bezug genommen, wenn tatsächlich Reformen zumindest in Gesetzestexte gegossen werden.
Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung: In der Türkei wird seitens der staatlichen Vertreter und der breiten Öffentlichkeit die Abkürzung "FETÖ", mitunter die vollständige Bezeichnung "Fetullahçı Terör Örgütü" verwendet, in deutscher Übersetzung: "Fetullahistische Terror Organisation". Da die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung weder in Österreich noch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (auch nicht in den USA) als Terrororganisation eingestuft wird, was im gegenteiligen Fall unmittelbare Auswirkungen z.B. auf das Asylverfahren nach sich ziehen würde, wird von der Verwendung der Abkürzung "FETÖ" abgesehen, bzw. ist diese zu vermeiden. Die Abkürzung "FETÖ" tritt im Bericht lediglich dort in Erscheinung, wo aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass diese von Institutionen oder Vertretern des türkischen Staates verwendet wird.
Zur Form:
Wie in allen Länderinformationen wird bei staatlichen nationalen Institutionen in der Quellenangabe das Land in eckiger Klammer genannt. Aus Gründen der Stringenz geschieht dies auch, wenn aus dem Quellennamen das Land bereits eindeutig hervorgeht.
Bei einer Vielzahl von Autoren bzw. Herausgebern wird in der Quellenangabe deren Nennung in der Regel auf zwei bis drei limitiert und mit der Abkürzung "u.a." indiziert, dass es Weitere gibt.
COVID-19-Pandemie
Letzte Änderung: 10.03.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Im Februar 2022 verzeichnete die Türkei täglich im Schnitt rund 93.000 Neuinfektionen und 240 Tote. Bis Ende Februar 2022 waren rund 94.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 1.3.2022).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt. Mit 15.1.2022 wurde die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests für ungeimpfte Personen beim Besuch von Kinos, Konzerten, Theater oder anderen Events aufgehoben. Bei Inlands- oder internationalen Flügen müssen ungeimpfte Personen aber weiterhin einen negativen PCR-Test vorlegen. Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn wird ein sogenannter HES-Code (Hayat Eve Sigar) benötigt. Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt (WKO 21.2.2022). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021).
Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).
Quellen:
- Ahval (20.10.2021): Turkey failed to register at least 55,000 COVID-19 deaths in 2020 - medical group, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-failed-register-least-55000-covid-19-deaths-2020-medical-group , Zugriff 28.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, COVID-19-Zahlen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 28.2.2022
- DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news , Zugriff 28.2.2022
- DW – Deutsche Welle (2.7.2021): Corona: Trügerische Entwarnung in der Türkei? https://www.dw.com/de/corona-tr%C3%Bcgerische-entwarnung-in-der-t%C3%Bcrkei/a-58136817 , Zugriff 28.2.2022
- JHU - Johns Hopkins University & Medicine (1.3.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html , Zugriff 28.2.2022
- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.2.2022): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben , Zugriff 28.2.2022
Politische Lage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, einen „Dauerwahlkampf“ sowie den Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vgl. DFAT 10.9.2020, S.14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S.3, 10f). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S.5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55; vgl. EC 19.10.2021, S.3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vgl. EP 19.5.2021, S.7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz wiederholter Empfehlungen internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vgl. ÖB 30.11.2021, S.5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S.5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vgl. HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12; vgl. HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 11.11.2021), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).
Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden (EDA 10.2.2022).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.858 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 3.2.2022. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert, wobei 255 Opfer auf irakischem und 137 auf türkischem Territorium vermerkt wurden; alleine die Provinz Şırnak verzeichnete 45 Tote (ICG 3.2.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).
Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 10.2.2022).
Im Jänner 2022 wurden die Militäroperationen gegen die PKK im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks fortgesetzt. Insbesondere wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes Anfang Jänner drei türkische Soldaten im Bezirk Akçakale in Şanlıurfa an der türkisch-syrischen Grenze getötet. In den folgenden Tagen reagierte das Militär mit Operationen gegen PKK-Mitglieder im Grenzgebiet. Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich auf die ländlichen Gebiete der Provinzen Tunceli, Mardin und Şanlıurfa. Die Luftoperationen im Nordirak und in Nordsyrien wurden fortgeführt und richteten sich gegen hochrangige PKK-Mitglieder. In Syrien führten Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte und von Ankara unterstützte Rebellen in den türkisch kontrollierten Gebieten Afrin, al-Bab und Azaz Mitte des Monats zu Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Militärs. Währenddessen wurde vermeldet, dass die Sicherheitskräfte im Jänner 2022 über 100 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. Islamischen Staat festnahmen, allein am 12.1.2022 21 Personen in Mersin mit syrischer und irakischer Herkunft (ICG 1.2022).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).
Quellen:
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- İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf , Zugriff 10.2.2022
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 10.2.2022
- SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 10.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 10.2.2022
Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).
Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016).
Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S.4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen an sich unterwandert zu haben (AA 24.8.2020, S.4). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, S.4).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vgl. Sabah 17.6.2017).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 3.6.2021, S.4; vgl. UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020, S.20; vgl. SCF 5.10.2020).
Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Mitte November berichtete der Innenminister, dass im Zeitraum vom 15.7.2016 bis 15.11.2021 rund 320.000 Personen verhaftet wurden und fast 100.000 weitere im Gefängnis landeten. Gegenwärtig (Stand 15.11.2021) befänden sich noch 22.340 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Gefängnis (SCF 22.11.2021).
Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der FETÖ "befreit" (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 3.6.2021, S.7; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23 , EC 19.10.2021, S.45). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 30.11.2021, S.23). Laut Innenminister würde noch nach rund 25.000 Personen (Stand November 2021) wegen terroristischer Vergehen gefahndet (SCF 22.11.2021). Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2021, S.23). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).
Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Sommer 2021 angeführt: Zwischen dem 28.6. und dem 3.7.2021 wurden in landesweit durchgeführten Razzien mindestens 146 Personen verhaftet, darunter aktive und entlassene Militär- und Polizeiangehörige, jedoch in der Mehrzahl ehemalige Beamte. Gegen 47 Personen ermittelte die Staatsanwaltschaft Istanbul wegen der konspirativen Benutzung von Münztelefonen. Basierend auf Gesprächsaufzeichnungen, ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass ein Mitglied der Gülen-Bewegung dasselbe Münztelefon benutzt hatte, um alle seine Kontakte nacheinander anzurufen, wobei angenommen wurde, dass andere Nummern, die direkt vor oder nach diesem Anruf angerufen wurden, ebenfalls zu Personen mit Gülen-Verbindungen gehörten (BAMF 5.7.2021, S.15; vgl. SCF 2.7.2021). Zwischen dem 12. und dem 17.7.2021 wurden in 47 Provinzen mindestens weitere 256 Personen, größtenteils Militärangehörige, verhaftet (BAMF 19.7.2021, S.16; vgl. SCF 16.7.2021). Zwischen dem 6. und 10.9.2021 ordneten die Behörden die Inhaftierung von insgesamt 279 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung an. Am 8.9.2021 erließ die Staatsanwaltschaft in mehreren Städten 65 Haftbefehle gegen Militäroffiziere, Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte und Lehrer. Einige der Verdächtigten werden beschuldigt, über Münztelefone mit ihren Kontakten in der Gülen-Bewegung kommuniziert zu haben, weitere werden verdächtigt, die Handy-Anwendung ByLock genutzt zu haben (BAMF 13.9.2021, S.16; vgl. SDZ 7.9.2021). Bereits am 13.9.2021 wurden 33 entlassene und aktive Soldaten (Anadolu 13.9.2021), und am 24.9.2021 35 Personen, die Teil eines geheimen Netzwerks der Gülen-Bewegung innerhalb der türkischen Streitkräfte sein sollen, verhaftet (BAMF 27.9.2021, S.15). In der ersten Oktoberwoche 2021 wurden bei landesweiten Razzien über 100 Personen festgenommen. Bei den Verdächtigten handelt es sich hauptsächlich um Staatsbedienstete, darunter Angestellte des Militärs und der Luftwaffe, sowie derzeitige oder ehemalige Mitarbeiter des Petro-Chemie-Unternehmens „Petkim“. Letztere sollen Konten bei der inzwischen geschlossenen Asya-Bank geführt haben (BAMF 11.10.2021, S.13; vgl. DS 5.10.2021). Zudem wurden am 5.10.2021 durch den Rat der Richter- und Staatsanwälte (HSK) zehn Mitglieder der Staatsanwaltschaft und drei Mitglieder der Richterschaft ihres Amtes enthoben. Der HSK entschied, dass die Beschuldigten aufgrund ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung, nicht in der Lage seien, ihre Berufe auszuüben (BAMF 11.10.2021, S.13). Am 15.10.2021 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Ankara wegen mutmaßlicher Tätigkeiten für die Gülen-Bewegung Haftbefehle gegen 98 Personen innerhalb des Generalkommandos der Gendarmerie. Weitere 46 Personen wurden bei Polizeieinsätzen in 45 Provinzen festgenommen (BAMF 18.10.2021, S.14), und am 19.10.2021 haben türkische Sicherheitskräfte auf der Basis von 158 Haftbefehlen der Staatsanwaltschaft in Izmir mindestens 97 Personen bei gleichzeitigen Operationen in 41 Provinzen verhaftet, darunter sowohl aktive Soldaten als auch Militärschüler (Anadolu 19.10.2021). Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung wurden am 20.10.2021 Haftbefehle aufgrund eines geheimen Zeugen gegen 39 Frauen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung erlassen. Während Razzien in fünf Provinzen wurden 32 von ihnen festgenommen (BAMF 25.10.2021, S.15f; vgl. DS 20.10.2021). Am 22.10.2021 wurde die landesweite Festnahme von 81 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern vermeldet, nebst Militärangehörigen auch Mitarbeiter des Außenministeriums (DS 22.10.2021). Anfang November 2021 wurden 40 vermeintliche Führungsmitglieder der Gülen-Bewegung, welchen die Infiltration der Gendarmerie vorgeworfen wurde, verhaftet (Anadolu 2.11.2021). Am 23.11.21 erklärte die Polizei, bei Razzien in mehreren Städten in der Türkei mindestens 132 Personen festgenommen zu haben, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Hierbei handelt es sich um entlassene Kadetten und Soldaten sowie Soldaten im aktiven Dienst wie auch Angestellte der Gendarmerie (BAMF 29.11.2021, S.16; vgl. Anadolu 23.11.2021). In der Folgewoche wurden weitere rund 60 Personen verhaftet, unter dem Verdacht, das Generalkommando der Gendarmerie unterwandert zu haben (Anadolu 30.11.2021). Auch 2022 gingen die Verhaftungswellen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder weiter: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, S.15; vgl. DS 4.1.2022). Bereits am 11.1.2022 wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, S.14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet (Ahval 22.2.2022).
Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, S.40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen].
Mit Stand 9.4.2021 waren laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu insgesamt 4.820 Putschverdächtige verurteilt. 1.626 hatten eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen erhalten, 1.373 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und 1.821 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vgl. ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vgl. AP 7.4.2021). Somit waren von den 289 Prozessen hernach noch 14 ausständig (DPA 7.4.2021).
Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S.9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 3.6.2021, S.7; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 3.6.2021, S.7; vgl. JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 3.6.2021, S.7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).
Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen. Zwar kann jeder mit einem Gülen-Hintergrund verfolgt werden, doch scheint eine Priorisierung nach Berufsgruppen zu bestehen, wonach Armee-, Polizei- und Angehörige des diplomatischen Corps, gefolgt von Juristen, stärker ins Visier genommen werden als beispielsweise Mitarbeiter im Medien- oder Bildungsbereich (NL-MFA 18.3.2021, S.38f.).
Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein. Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, S.41).
Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren, und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).
Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolge der Anfeindungen und der Stigmatisierung haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder Schwierigkeiten, in der türkischen Gesellschaft zu überleben. Arbeitgeber sind nicht geneigt, diese einzustellen, aus Angst, selbst als Unterstützer oder Mitglieder der Gülen-Bewegung angesehen zu werden. Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, S.43).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine „in flagranti“-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S.14).
ByLock
ByLock ist eine Handy-Applikation zur verschlüsselten, sicheren Kommunikation. Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Allerdings urteilte der Verfassungsgerichtshof im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020).
Laut Innenministerium wurden (Stand November 2021) mehr als 99.300 Nutzer von ByLock wegen Terrorismus angeklagt (SCF 22.11.2021). Auch 2021 und 2022 ist es zu Verhaftungen auf der Grundlage der Verwendung von ByLock gekommen. Beispielsweise ordnete die Staatsanwaltschaft von Konya im Jänner 2021 die Festnahme von 17 Verdächtigen in einem Untersuchungsverfahren wegen der Verwendung von ByLock an. 13 bereits Festgenommene sollen via ByLock Anordnungen von höher gestellten Mitgliedern der Gülen-Bewegung an niedere Ränge weitergeleitet haben (DS 26.1.2021). Im März erließ die Staatsanwaltschaft Ankara Haftbefehle gegen 15 Verdächtige (Anadolu 10.3.2021) und im Mai 2021 wurden neun vermeintliche Benutzer von ByLock festgenommen (Anadolu 25.5.2021). Am 10.2.2022 sind mindestens 21 Personen wegen der Nutzung der App ByLock als Beweis einer Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen worden (BAMF 14.2.2022, S.18).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).
Am 20.7.2021 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass sich der betroffene ehemalige Polizist, Tekin Akgün, zu Unrecht seit 2016 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft befindet, und zwar, weil die Festnahme lediglich auf der Benutzung von ByLock fußt. Laut Urteil des EGMR verfügte das türkische Gericht nicht über ausreichende Informationen zu ByLock, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Messenger-Anwendung ausschließlich von Mitgliedern der Gülen-Bewegung zu Zwecken der internen Kommunikation verwendet wurde. In Ermangelung anderer Beweise oder Informationen könne das fragliche Dokument, in dem lediglich festgestellt werde, dass der Kläger ein Nutzer von ByLock sei, für sich genommen nicht darauf hindeuten, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass er ByLock tatsächlich in einer Weise nutzte, die den vorgeworfenen Straftaten gleichkommen könne. Der EGMR stellte dahingehend eine Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Artikel 5 § 3 (Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Freilassung bis zur Gerichtsverfahren) und eine Verletzung von Artikel 5 § 4 (Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Das Gericht entschied, dass die Türkei dem Kläger 12.000 Euro für den immateriellen Schaden und 1.000 Euro für Kosten und Auslagen zu ersetzen hat (ECHR 20.7.2021, S.1,6).
Asya Bank
Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. Mit dem Bankengesetz Nr. 5411 wurde der Bank die Betriebserlaubnis vollständig entzogen. Eine Kontoeröffnung ist seither nicht mehr möglich. Bis zum 22.7.2016 hatten neben Gülen nahestehenden Beamten vor allem Geschäftsleute und einige Privatpersonen Konten bei der Asya-Bank. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei dieser Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen. Allerdings konnte die bloße Einzahlung von Geld bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013 zu einer Suspendierung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst führen (ÖB 30.11.2020, S.23).
Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vgl. TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden der Bank Asya waren (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt wurden, die Messenger-App ByLock verwendet und gleichzeitig Geld in der Asya Katılım Bank deponiert zu haben (DS 18.9.2019). [Mehr zu Verurteilungen siehe Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen.]
Gülen-Schulen
Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die türkische Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Laut dem Leiter der Stiftung, Birol Akgün, wurden bis März 2021 216 Gülen-Schulen in 44 Ländern übernommen (TM 23.3.2021). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an. Bislang hat die Maarif-Stiftung etwa 100 Schulen selbst gegründet (NZZ 14.2.2020).
Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen
Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Laut Justizminister Abdülhamit Gül waren es Ende März 2019 107 (Anadolu 27.3.2019). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019). Der türkische Nachrichtendienst MİT als Hauptakteur organisierte verdeckte Operationen, um hauptsächlich Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu entführen und in die Türkei zu bringen, manchmal in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des Landes und in einigen anderen Fällen, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, diese zu informieren. Etliche Regierungen unterstützten die türkische Seite, indem sie selbst die Verfolgung bzw. Auslieferung von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern in ihren jeweiligen Ländern durchführten (AST 9.2020). Zu Beginn des Jahres 2021 wurden mindestens 17 Staaten gezählt, an deren Spitze Saudi-Arabien, die seit 2016 Personen mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung an die Türkei auslieferten (FT 14.1.2021). So lieferte jüngst die Ukraine Anfang Jänner 2021 zwei hochrangige Mitglieder der Gülen-Bewegung, die zuvor im Irak tätig waren, an Ankara aus. Menschenrechtsaktivisten verurteilten den Schritt als illegale Überstellung ohne ordentliches Verfahren (AM 6.1.2021). Mitte Februar 2021 wurden im Rahmen einer Operation des MİT in Usbekistan zwei angebliche Gülen-Mitglieder in die Türkei verbracht (DS 15.2.2021). Im Mai 2021 entführte der türkische Geheimdienst einen Neffen von Fethullah Gülen. Die Frau des Festgenommenen erklärte, Selahaddin Gülen sei in Kenia entführt worden. Die türkischen Behörden warfen dem Neffen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor. Unklar blieb, ob Kenia sein Einverständnis für die Aktion gab (DW 31.5.2021; vgl. France24 31.5.2021). Das Europäische Parlament verurteilte im Mai 2021 die Auslieferung bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, der grundlegenden Menschenrechte und des Völkerrechts, wobei überdies in einigen Fällen lokale Rechtsvorschriften der Drittstaaten für Auslieferungsverfahren missachtet wurden (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40).
Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wirkt mit, unter Auslands-Türken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 9.2020).
Die Türkei hat nach dem Putschversuch von 2016 die Auslieferung von insgesamt 807 Putschverdächtigen aus 105 Ländern beantragt, doch keine dieser Nationen ist den Forderungen Ankaras nachgekommen (HDN 15.7.2020). Dem entgegengesetzt berichtete die regierungstreue Tageszeitung Daily Sabah zur gleichen Zeit, dass von den 807 nur 116 aus 27 Ländern an die Türkei ausgeliefert wurden (DS 13.7.2020). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (INTERPOL) lehnte es laut dem Leiter der INTERPOL-Abteilung des türkischen Innenministeriums in 773 Fällen ab, eine sogenannte Red Notice für Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung auszustellen, nachdem INTERPOL diese Anträge als politisch eingestuft hatte (SCF 4.6.2021; vgl. Ahval 5.6.2021).
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Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 15.6.2021, S.261; vgl. ÖB 30.11.2021, S.21f).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2021, S.22).
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“, bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2021, S.22). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.2.2022 3.717 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen „Adlerklaue“ und „Tigerkralle“ gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S.261).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK-KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S.140f). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S.261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkari 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neuen Monaten - und 17,5 Jahren - verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, wurde zu 17,5 Jahren verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV. 26.1.2022).
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Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK sollen aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 haben sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 4.2.2022; vgl. CEP 3.6.2021). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).
Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).
Quellen:
- AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html , Zugriff 14.2.2022
- CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 14.2.2022
- CTC – Combating Terrorism Center [Gurcan, Metin] (CTC 7.2016): The Kurdistan Freedom Falcons: A Profile of the Arm's-Length Proxy of the Kurdistan Workers' Party, https://ctc.usma.edu/the-kurdistan-freedom-falcons-a-profile-of-the-arms-length-proxy-of-the-kurdistan-workers-party/ , Zugriff 14.2.2022
- DS – Daily Sabah (13.7.2020): 3 PKK terrorists sentenced to life over 2016 Istanbul bombing, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/3-pkk-terrorists-sentenced-to-life-over-2016-istanbul-bombing , Zugriff 14.2.2022
- EU - Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152 , Zugriff 9.2.2022
Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Sie bekennt sich ideologisch zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Sie strebt in der Türkei die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung und die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems an. Nach eigenen Angaben versteht sich die MLKP als politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten (BMIBH 15.6.2021, S.297). "Die kommunistische Bewegung kämpft", laut MLKP, "für die Freiheit und Vereinigung der vier Teile Kurdistans." Denn die "Revolution des in Vier geteilten Kurdistans ist auch die Revolution der Türkei." Und auch die "Frauenrevolution ist eine Notwendigkeit zur Garantierung des endgültigen Sieges des revolutionären Proletariats" (MLKP 3.2019).
Die MLKP verfügt über einen bewaffneten Arm, die "Bewaffneten Kräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK), die unter dem Kommando der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien von Kobanê bis Deir ez-Zour gemeinsam mit US-Truppen in Syrien gegen den sog. Islamischen Staat kämpften (TNA 17.5.2019), was bei der türkischen Regierung zu Irritationen führte (Anadolu 20.8.2019). Die MLKP bekämpft die türkischen Sicherheitskräfte auch im Irak (ANF 12.10.2021, HDN 20.7.2019, TNA 17.5.2019) und in Syrien (ANF 27.6.2021, TNA 17.5.2019, ANF 23.1.2018). In der Türkei selbst kämpfen die Mitglieder der MLKP zumal in den Reihen des bewaffneten Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Volksverteidigungskräfte (HPG) (TNA 17.5.2019), wovon Berichte der MLKP über ihre Gefallenen zeugen (MLKP 20.7.2019, 1.9.2018). Die MLKP/FESK reklamierte im September 2019 u.a. ein Bombenattentat auf eine Polizeistation in Adana für sich (MLKP 27.9.2019).
Die türkischen Behörden nehmen vereinzelt vermeintliche Mitglieder der MLKP fest. Im September 2020 wurden beispielsweise bei Razzien in sieben Provinzen 14 (Anadolu 8.9.2020) und im Oktober 2020 in Istanbul 24 vermeintliche MLKP-Mitglieder verhaftet (Anadolu 7.10.2020). Auch im Jänner 2021 wurde die Verhaftung von MLKP-Mitgliedern vermeldet, ohne jedoch eine genaue Zahl anzugeben, als bei Razzien in zwölf Provinzen 48 Verdächtigte mehrer verbotener links-extremer Gruppen verhaftet wurden (DS 14.1.2021). Am 10.9.2021 wurden im Rahmen einer vom Büro für die Untersuchung von Terrorverbrechen eingeleiteten Untersuchung in Ankara 17 von insgesamt 23 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur MLKP verhaftet (BAMF 13.9.2021, S.16, vgl. Anadolu 10.9.2021).
In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP in Untersuchungshaft genommen bzw. vor Gericht gestellt. Bei den MLKP-Fällen handelt es sich um Fälle mit mehreren Angeklagten, bei denen Anwälte, Vertreter politischer Parteien, Gewerkschaftsmitglieder, Studenten und Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP gemeinsam vor Gericht stehen. Aussagen von Geheimzeugen werden in diesen Fällen häufig als Beweismittel gegen Journalisten verwendet. Betroffen waren beispielsweise Reporter und Redakteure der Nachrichtenagentur Etkin (ETHA), wobei die Anklageschriften ETHA von vornherein als Nachrichtenagentur, die im Namen der MLKP arbeitet, definierten (IPI/MLSA 3.2020).
Quellen:
- Anadolu – Anadolu Agency (10.9.2021): 17 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/17-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2360890 , Zugriff 14.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (7.10.2020): Police in Turkey arrest suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/police-in-turkey-arrest-suspected-leftist-terrorists/1998162 , Zugriff 14.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (8.9.2020): Turkey: Police arrest 14 suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-police-arrest-14-suspected-leftist-terrorists/1966410 , Zugriff 14.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (20.8.2019): US meets with far-left terror group in Syria: minister, https://www.aa.com.tr/en/turkey/us-meets-with-far-left-terror-group-in-syria-minister/1560965 , Zugriff 14.2.2022
- ANF - ANF News (12.10.2021): MLKP guerrilla: We will never allow Turkish occupation, https://anfenglish.com/kurdistan/mlkp-guerrilla-we-will-never-allow-turkish-occupation-55503 , Zugriff 14.2.2022
- ANF - ANF News (27.6.2021): MLKP pays tribute to martyr Zilan Destan, https://anfenglish.com/rojava-syria/mlkp-pays-tribute-to-martyr-zilan-destan-53069 , Zugriff 9.2.2022
- ANF - ANF News (23.1.2018): MLKP Rojava: Wir nehmen am Widerstand von Efrîn teil, https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/mlkp-rojava-wir-nehmen-am-widerstand-von-efrin-teil-1809 , Zugriff 9.2.2022
- BAMF (13.9.2021): Briefing Notes, KW 37, Verhaftung mutmaßlicher MLKP-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw37-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 14.2.2022
- BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2021/verfassungsschutzbericht-2020-startseitenmodul.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 14.2.2022
- DS – Daily Sabah (14.1.2021): Turkish security forces detain 48 suspects in counterterrorism operation, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkish-security-forces-detain-48-suspects-in-counterterrorism-operation , Zugriff 14.2.2022
- HDN - Hürriyet Daily News (20.7.2019): Turkish army ‘neutralizes’ 3 PKK terrorists in N Iraq, https://www.hurriyetdailynews.com/turkish-army-neutralizes-3-pkk-terrorists-in-n-iraq-145104 , Zugriff 14.2.2022
- IPI/MLSA – International Press Institute / Media and Law Studies Association (3.2020): TURKEY FREE EXPRESSION TRIAL MONITORING REPORT - FINAL REPORT, https://www.mlsaturkey.com/wp content/uploads/2020/06/ENG_TMReport_0623.pdf, Zugriff 14.2.2022
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (27.9.2019): Bomb Attack By FESK in Adana, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11372&Bomb_Attack_By_FESK_in_Adana , Zugriff 14.2.2022
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (20.7.2019): MLKP/FESK Guerrillas Martyred In Turkish Airstrike In Dersim, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11277&MLKP/FESK_Guerrillas_Martyred_In_Turkish_Airstrike_In_Dersim _, Zugriff 14.2.2022
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (3.2019): Programm der MLKP, http://www.mlkp-info.org/index.php?icerik_id=11254&Programm_der_MLKP , Zugriff 21.4.2021
- MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (1.9.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Fighter İrfan Çelik fell martyr, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=10678&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Fighter_%C4%B0rfan_%C3%87elik_fell_martyr , Zugriff 14.2.2022
- TNA – The New Arab (17.5.2019): 'Communist militants' among US partners in Syria, https://www.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/5/17/communist-militants-among-us-partners-in-syria , Zugriff 14.2.2022
- Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)
DHKP-C
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), hervorgegangen aus der politisch-militärischen Organisation "Devrimci Sol" (kurz: "Dev-Sol", Revolutionäre Linke), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den „bewaffneten Volkskampf“ unter der Führung der DHKP-C möglich. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei“ (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die „Revolutionäre Volksbefreiungsfront“ (DHKC). Hauptfeinde sind die als „faschistisch“ und „oligarchisch“ bezeichnete Türkei und der „US-Imperialismus“. Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen. Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 15.6.2021, S.272-274, 295; vgl. CEP 21.4.2020; S.7).
Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. Im Februar 2021 wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021). Am 22.09.21 nahmen türkische Sicherheitskräfte bei simultanen Razzien in Istanbul acht Personen fest, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur DHKP-C zu unterhalten (BAMF 27.9.2021, S.16). Mitte Oktober kam es zur Verhaftung von 54 Personen, welche laut Medienberichten Terroranschläge geplant hatten (BAMF 18.10.2021, S.14; vgl. Anadolu 15.10.2021). Und Anfang Dezember 2021 wurden mindestens 25 Verdächtige in sieben Provinzen wegen angeblichen Verbindungen zur DHKP-C festgenommen (Anadolu 3.12.2021).
Die türkische Regierung verdächtigt auch die Musikgruppe "Grup Yorum", die für ihre Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan bekannt ist, Verbindungen zur DHKP/C zu haben. Im Jahr 2020 starben drei Bandmitglieder an den Folgen eines Hungerstreiks aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder, wiederholte Razzien im Kulturzentrum von Grup Yorum und gegen das Verbot von Konzerten der Band (NL-MFA 18.3.2021). Der deutsche Verfassungsschutz sieht eine eindeutige Verbindung zwischen DHKP-C und Grup Yorum. Im September 2020 wurde die „Todesfastenkampagne“ für vorläufig beendet erklärt. Die DHKP-C verklärte sie als Sieg, da einige der übrigen Teilnehmer vorläufig aus dem Gefängnis entlassen worden waren oder Hafterleichterungen erhielten. Die im Rahmen des „Todesfastens“ Verstorbenen wurden von der DHKP-C als „Märtyrer“ und Vorbilder idealisiert (BMIBH 15.6.2021, S.275).
Quellen:
- Anadolu Agency (3.12.2021): 25 suspects linked to far-left terror group DHKP-C nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/25-suspects-linked-to-far-left-terror-group-dhkp-c-nabbed-in-turkey/2437601 , Zugriff 15.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (15.10.2021): Over 50 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-50-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2392752 , Zugriff 15.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (18.10.2021): Briefing Notes KW 42/2021, Verhaftung von mutmaßlichen DHKP-C-Mitgliedern, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw42-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 15.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (27.9.2021): Briefing Notes KW 39/2021, Verhaftung mutmaßlicher DHKP-C-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw39-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 15.2.2022
- BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2021/verfassungsschutzbericht-2020-startseitenmodul.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 15.2.2022
- CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 15.2.2022
- DS – Daily Sabah (12.2.2021) Turkish police nab wanted DHKP-C terrorist in Istanbul, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/turkish-police-nab-wanted-dhkp-c-terrorist-in-istanbul , Zugriff 15.2.2022
- HDN – Hürriyet Daily News (30.3.2021): Turkey nabs senior far-left terror members, https://www.hurriyetdailynews.com/turkey-nabs-senior-far-left-terror-members-163536 , Zugriff 15.2.2022
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 15.2.2022
Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist ein Herkunfts- und Transitland für ausländische (terroristische) Kämpfer, sogenannte "Foreign Terrorist Fighters" (FTF), die sich dem sogenannten Islamischen Staat und anderen terroristischen Gruppen anschließen wollen und in Syrien und im Irak kämpfen, bzw. auch solche, welche die beiden Länder zu verlassen trachten (USDOS 16.12.2021). Die Türkei hat den sog. Islamischen Staat (IS, ISIS, Daesh) im Jahr 2013 als terroristische Organisation eingestuft, doch wird sie seit Langem beschuldigt, als "Dschihad-Highway" zu dienen, da die türkischen Sicherheitskräfte wegschauen, wenn Tausende von ausländischen Kämpfern und türkischen Staatsbürgern illegal über die 911 Kilometer lange, durchlässige Grenze nach Syrien strömen (AM 25.8.2020). Seit 2013 war die Türkei eine führende Quelle von Rekrutierungen für den sog. IS und eine Drehscheibe für den Schmuggel von Waffen, anderen Lieferungen und Menschen über die türkisch-syrische Grenze (ICG 29.6.2020, S.1). Der sog. IS nutzt weiterhin die Türkei als logistische Drehscheibe, um Gelder in den und aus dem Irak und Syrien zu verschieben. So sammelt und schickt der sog. IS häufig Gelder an Mittelsmänner in der Türkei, die das Geld nach Syrien schmuggeln (USDOT-OIG 4.1.2021, S.3).
Aus einem geleakten Bericht des MASAK (eng.: Financial Crimes Investigation Board) einer dem türkischen Finanzministerium unterstellten Behörde, vom 8.3.2021 geht hervor, dass IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Ausrüstung und Teile zur Herstellung von Drohnen und improvisierten Sprengsätzen erworben und Wechselstuben, Juweliergeschäfte, Postämter und Banken für Geldtransfers genutzt haben. Darüber hinaus hätten einige der untersuchten IS-nahen Personen die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Türkische Mitglieder der Gruppe waren laut Bericht aktiv an den Bemühungen des IS beteiligt, Geld zu beschaffen, um die Flucht von Mitkämpfern und ihren Angehörigen aus dem Lager al-Hol in Nordsyrien zu unterstützen (AM 15.2.2022).
Die Türkei leistet einen aktiven Beitrag in internationalen Foren zur Terrorismusbekämpfung. Nach Angaben des Innenministeriums hat die Türkei von 2015 bis Dezember 2020 8.143 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrorismus abgeschoben, wobei die türkische "Einreiseverbotsliste" Berichten zufolge rund 100.000 Namen enthält. Öffentlichen Angaben zufolge hatten die türkischen Behörden bis Ende 2020 2.343 mutmaßliche IS-Anhänger zwecks Verhörs festgenommen und gegen 333 von ihnen Anklage erhoben (USDOS 16.12.2021). Bis April 2017 haben nach offiziellen Zählungen der Regierung etwa 2.100 Türken das Land verlassen, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, meist beim sog. IS (CEP 3.6.2021, S.7). Andere, regierungsunabhängige Schätzungen gehen von einer weit höheren Zahl von 5.000 bis 9.000 aus (ICG 29.6.2020, S.1, FN 2). Es wird angenommen, dass inzwischen mehr als 600 Personen in die Türkei zurückgekehrt sind (CEP 3.6.2021, S.7).
Das Verständnis der türkischen Behörden für die IS-Gefahr hat sich weiterentwickelt. Zunächst unterschätzten sie die Bedrohung, die von Rückkehrern ausgehen könnte, und blieben 2014-2015 weitgehend zwiespältig gegenüber der Rekrutierung durch den sog. IS. Diese Wahrnehmung begann sich im Laufe des Jahres 2016 zu verlagern, insbesondere nach dem ersten IS-Angriff im Mai 2016 auf eine staatliche Institution, der Polizeizentrale in Gaziantep (ICG 29.6.2020, S.2). Laut offiziellen Angaben gab es in der Türkei bislang mindestens zehn Selbstmordattentate, sieben Bombenanschläge und vier bewaffnete Angriffe, bei denen 315 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Die türkischen Behörden machen den sog. IS seit Mitte 2015 für mehrere große Terroranschläge innerhalb des Landes verantwortlich. Im Juli 2015 starben bei einem Selbstmordattentat in Suruç 32 Menschen, und im Oktober desselben Jahres kamen ebenfalls durch ein Selbstmordattentat bei einer Friedenskundgebung in Ankara 102 Menschen ums Leben. Die türkischen Behörden brachten den sog. IS auch in Verbindung mit einem Selbstmordanschlag vom August 2016 auf eine Hochzeit in Gaziantep, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen. Der sog. IS bekannte sich zum Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina am Morgen des 1.1.2017, der 39 Tote und Dutzende weitere Verletzte zur Folge hatte (CEP 3.6.2021, S.4). Seitdem haben die Sicherheitsbehörden den IS in Schach gehalten, indem sie Anschläge durch Überwachung, Verhaftung und strengere Grenzsicherung vereitelt haben. Aber die Bedrohung ist nicht völlig verschwunden, wie türkische Beamte selbst zugeben (ICG 29.6.2020; S.i; vgl. CGRS-CEDOCA 5.10.2020). Ende Jänner 2021 nahmen die türkischen Behörden bei landesweiten Operationen 126 Personen fest, die verdächtigt wurden, Verbindungen zum sog. IS zu haben oder die Gruppe zu finanzieren. Dabei wurden auch Waffen, Dokumente, Pläne für Geldüberweisungen sowie größere Geldbeträge konfisziert (Anadolu 27.1.2021). Ende Juni 2021 wurden 26 Personen mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, der überwiegende Teil Iraker. Dies bestätigt die Befürchtungen, dass der sog. IS weiterhin die Fähigkeit besitzt, innerhalb und nahe dem türkischen Territorium zu operieren (AM 28.6.2021). Die Polizei hat im Laufe des Oktobers 2021 bei landesweiten Razzien mehr als 130 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen festgenommen (ICG 2.2022). Anfang November 2021 wurden in Kayseri 17 (DS 2.11.2021) und Mitte Dezember 14 Personen bei Razzien in Istanbul mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, die u.a. beschuldigt wurden, Anschläge geplant zu haben (BAMF 20.12.2021, S.12, vgl. Anadolu 16.12.2021). Kurz vor Jahresende 2021 nahm die Polizei 16 Personen fest, nachdem Demonstranten mit Stöcken und Steinen gegen Sicherheitskräfte vorgegangen waren, die versuchten, einen nicht lizenzierten religiösen Buchladen in Bingöl, einer Stadt im Südosten des Landes, zu schließen, welcher laut Gouverneursamt Aktivitäten des sog. IS in der Türkei unterstützte (Reuters 28.12.2021).
Was IS-Rückkehrer, z.B. aus Syrien, anbelangt, so werden diese, wenn überhaupt - weniger als 10% oder etwa 450 türkischen Staatsbürger der geschätzten Tausenden Rückkehrer sind inhaftiert - wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für drei oder vier Jahre ins Gefängnis gesteckt. Hunderte werden demnächst entlassen. Gleichzeitig haben die staatlichen Institutionen der Türkei erst vor Kurzem damit begonnen, über sogenannte Deradikalisierungsmaßnahmen nachzudenken (ICG 29.6.2020).
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) berichtete, dass nach der Gefängnisrevolte in Ghuwayran bei Hassakah in Syrien und den anschließenden Kämpfen (Jänner 2022) einige IS-Mitglieder in die Türkei und in Gebiete unter türkischer Kontrolle im Osten und Nordosten von Aleppo geflohen seien (SOHR 6.2.2022).
Quellen:
- AM – Al Monitor (15.2.2022): Islamic State collaborators received Turkish citizenship, official report shows, https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/islamic-state-collaborators-received-turkish-citizenship-official-report-shows , Zugriff 24.2.2022
- AM – Al Monitor (28.6.2021): Turkey arrests 26 in raids against Islamic State, https://www.al-monitor.com/originals/2021/06/turkey-arrests-26-raids-against-islamic-state , Zugriff 15.2.2022
- AM – Al Monitor (25.8.2020): Islamic State operative planning 'sensational' attack nabbed in Istanbul, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-islamic-state-attack-istanbul-syria-gaziantep.html , Zugriff 15.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (16.12.2021): At least 14 Daesh/ISIS suspects caught in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-14-daesh-isis-suspects-caught-in-turkey/2448832 , Zugriff 15.2.2022
- Anadolu – Anadolu Agency (27.1.2021): At least 126 Daesh/ISIS suspects nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-126-daesh-isis-suspects-nabbed-in-turkey/2124900 , Zugriff 15.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.12.2021): Briefing Notes, KW 51, Verhaftungen mutmaßlicher IS-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw51-2021.html , Zugriff 15.2.2022
- CGRS-CEDOCA – Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien], COI unit (5.10.2020): Turquie; Situation sécuritaire, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038786/coi_focus_turquie._situation_securitaire_20201005.pdf , Zugriff 15.2.2022
- CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf , Zugriff 15.2.2022
- DS - Daily Sabah (2.11.2021): 17 Daesh terror suspects arrested in central Turkey's Kayseri, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/17-daesh-terror-suspects-arrested-in-central-turkeys-kayseri , Zugriff 15.2.2022
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ihren Institutionen hält an. Die Verschlechterung der Lage der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21; vgl. CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1, 14f.). Das Europäische Parlament sah in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, S.11).
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass "der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).
Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt "die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte" (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie desEGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, S.6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S.5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 23f).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignoierten (EC 19.10.2021, S.23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.7f; vgl. SCF 3.2021, S.46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, S.7f).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S.7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, S.8).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, S.6).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, S.6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5% seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100% (ÖB 30.11.2021, S.7).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, S.9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, S.9).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, S.15).
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2021, S.15). Bis zum 31.12.2021 waren 126.783 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission bis zu 120.703 bearbeitet, wobei lediglich 16.060 positiv gelöst wurden. 6.080 Fälle waren mit Jahresende 2021 noch anhängig. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen (ICSEM 31.12.2021). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; S.20). Am 21.1.2022 wurde die Funktionsdauer der Kommission mittels Präsidentendekret um ein Jahr verlängert (Ahval 23.1.2022).
Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2021, S.15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2021, S.15; vgl. EC 19.10.2021, S.20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 30.11.2021, S.15).
Quellen:
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Nationale Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (AA 3.6.2021, S.7; vgl. USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 30.11.2021, S.16), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2021, S.2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.000 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, S.16; vgl. BICC 12.2021, S.25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2021, S.17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2021, S.18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2021, S.19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 3.6.2021, S.7).
Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen, sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; S.19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum (lediglich ein 90-tägiges Training) ausgebildet sein (AA 3.6.2021, S.7; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, S.18).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, S.15).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S.15, Pt.38).
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 3.6.2021, S.17). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S.31).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S.31). Folter und Misshandlung kommen weiterhin in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16; İHD 4.10.2021, S.11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S.31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S.11; vgl. TİHV 6.2021, S.13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 19.5.2021 zeigte sich auch das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltenden Vorwürfe von gewaltsamen Verhaftungen, Schlägen, Folter, Misshandlungen und grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam und in Gefängnissen sowie über Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen in den vergangenen vier Jahren, über das Versäumnis der Staatsanwaltschaft, effektive Ermittlungen zu diesen Vorwürfen aufzunehmen, und über die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit für die involvierten Mitglieder der Sicherheitskräfte und Amtsträger" (EP 19.5.2021; S.15, Pt.37). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022).
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten jener Kläger, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudspersonstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Beispiele:
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Quellen:
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- CoE-CPT – Council of Europe – European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (5.8.2020): Report to the Turkish Government on the visit to Turkey carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 6 to 17 May 2019 [CPT/Inf (2020) 24], https://rm.coe.int/16809f20a1 , Zugriff 21.2.2022
- CİSST – Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.3.2021): Annual Report 2019, http://cisst.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/11/cisst_2019_annual_report_rev08-1.pdf , 21.2.2022
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- TM – Turkish Minute (16.1.2021): 3,362 people killed, 3,534 mistreated or tortured in Turkey in 2020, opposition MP says, https://www.turkishminute.com/2021/01/16/3362-people-killed-3534-mistreated-or-tortured-in-turkey-in-2020-opposition-mp-says/ , Zugriff 21.2.2022
- WE – Washington Examiner (3.6.2019): A new phase in Turkey's crackdown: Torturing diplomats, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/op-eds/a-new-phase-in-turkeys-crackdown-as-recep-tayyip-erdogan-tortures-diplomats , Zugriff 21.2.2022
Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen in der Türkei selbst und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in ihr Heimatland zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (Turkey Tribunal 7.2021, S.2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z.B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (Turkey Tribunal 7.2021, S.2; vgl. FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022).
Gemeinsame Recherchen des ZDFs und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ (EC 19.10.2021, S.31; vgl. FR 15.2.2021, AM 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden (EC 19.10.2021, S.31; vgl. AM 17.9.2021, NL-MFA 18.3.2021, S.35), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (Turkey Tribunal 7.2021, S.3; vgl. HRW 29.4.2020).
Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet (EC 19.10.2021, S.17). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2020 von fast 250 Fällen, die seit 1980 registriert wurden, noch immer fast 90 als ungelöst (OHCHR 4.8.2021, S.12, 24). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei „verschwunden“ sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S.50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AM 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AM 17.9.2021; vgl. Turkey Tribunal 7.2021, S.2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (Turkey Tribunal 7.2021, S.2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert (FR 15.2.2021; vgl. AM 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri vom türkischen Menschenrechtsverband İHD habe letztere in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AM 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).
Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland
Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei weiterhin extra-territoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigen. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mitglieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit ihr zu sympathisieren (OHCHR 7.8.2020, S.16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (OHCHR 5.5.2020, S.2).
Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließlich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (OHCHR 5.5.2020, S.3; vgl. FH 2.2021 ,S.10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illegale Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolationshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (OHCHR 5.5.2020, S.3). Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernommen (Turkey Tribunal 7.2021, S.50; vgl. FH 2.2021, S.39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Geheimdienstes MİT hervorgestrichen, beispielsweise anlässlich der Entführung von sechs Lehrern aus dem Kosovo (FH 2.2021, S.39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DF 22.6.2021).
Die UN-Arbeitsgruppe wiederholte 2021 ihre Besorgnis über die fortgesetzte Rechtfertigung von extra-territorialen Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang fordert die Arbeitsgruppe die türkische Regierung auf, das gewaltsame Verschwindenlassen zu unterbinden bzw. zu beenden, wie es in Artikel 2 der Erklärung über den Schutz aller Personen vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen vorgesehen ist (OHCHR 4.8.2021, S.26).
Vergleiche hierzu auch das Kapitel zu: Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Quellen:
- AM - Al Monitor (17.9.2021): Turkish civic groups protest abductions, forced disappearances, https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-civic-groups-protest-abductions-forced-disappearances , Zugriff 21.2.2022
- Corrective – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/ , Zugriff 21.2.2022
- DF – Deutschlandfunk (22.6.2021): Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch.795.de.html?dram:article_id=499152 , Zugriff 21.2.2022
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- FH – Freedom House (2.2021): Out of Sight, not out of Reach: the Global Scale and Scope of Transnational Repression, https://freedomhouse.org/sites/default/files/2021-02/Complete_FH_TransnationalRepressionReport2021_rev020221.pdf , Zugriff 21.2.2022
- FR – Frankfurter Rundschau (15.2.2021): Mysteriöse Vermisstenfälle in der Türkei: Was hat Erdoğans Regierung damit zu tun?, https://www.fr.de/politik/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-vermisste-gewaltsames-verschwindenlassen-putsch-90204396.html , Zugriff 21.2.2022
- Ha'aretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331 , Zugriff 21.2.2022
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- HRW - Human Rights Watch (29.4.2020): Turkey: Enforced Disappearances, Torture, https://www.hrw.org/news/2020/04/29/turkey-enforced-disappearances-torture , 21.2.2022
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- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 21.2.20221
- OHCHR (4.8.2021): 2021 report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, https://undocs.org/A/HRC/48/57 , Zugriff 21.2.2022 [Das Dokument ist z.Z. nicht abrufbar, eine PDF-Kopie liegt jedoch bei der Staatendokumentation.]
- OHCHR (7.8.2020): 2020 report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, https://undocs.org/A/HRC/45/13 , Zugriff 21.2.2022 [Das Dokument ist z.Z. nicht abrufbar, eine PDF-Kopie liegt jedoch bei der Staatendokumentation.]
- OHCHR (5.5.2020): Mandates of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances; the Special Rapporteur on the human rights of migrants; the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism; and the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment [letter to the Turkish Government], (AL TUR 5/2020), https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=25209 , Zugriff 21.2.2022
- TM - Turkish Minute (10.9.2021): Turkish couple in exile protests enforced disappearances in front of European rights court, https://www.turkishminute.com/2021/09/10/kishcouple-in-exile-protests-enforced-disappearances-in-front-of-european-rights-court/ , Zugriff 21.2.2022
- Turkish Tribunal [Heymans Johan] (7.2021): Abductions in Turkey Today, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/AbductionsinTurkey_Turkey-Tribunal-Report_FINAL.pdf , Zugriff 21.2.2022
- ZDF – Zweiten Deutsches Fernsehen (11.12.2018): Kidnapping im Auftrag Erdogans, https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html , Zugriff 21.2.2022
Korruption
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020).
Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (EP 19.5.2021, S.16, Pt.43; vgl. BACP 6.2020, DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vgl. DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).
Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, S.16, Pt.43). Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 3.3.2021; vgl. BACP 6.2020, USDOS 30.3.2021, S.1, 57). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und der Ombudsmann veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).
Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 30.3.2021, S.57; vgl. BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den durch das Business Anti-Corruption Portal (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfindet Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020).
Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung keine Fortschritte. Dem Land fehle es nach wie vor an präventiv agierenden Antikorruptionsbehörden. Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet. Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 19.10.2021, S.5, 25). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen, umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).
Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten für Korruption angesichts der massiven Enteignung von betroffenen Unternehmen und NGOs stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter stärkt (FH 3.3.2021).
Die Schattenwirtschaft bleibt eine zentrale Herausforderung für die Türkei (EC 19.10.2021, S.95). Die Schattenwirtschaft soll in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an AKP-Kumpane. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AM 21.5.2021).
Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTUK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 30.3.2021, S.57f.).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 mit einem Punktewert von 38 von 100 (bester Wert) auf Platz 96 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 25.1.2022), was einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr, um zehn Ränge bzw. zwei Basispunkte entsprach (TI 2021).
Quellen:
- AM - Al Monitor (21.5.2021): Erdogan in hot spot as Turks question 'mafiazation' of politics, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/erdogan-hot-spot-turks-question-mafiazation-politics , Zugriff 21.2.2022
- BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2020): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/ , Zugriff 5.11.2020
- CoE-GRECO – Council of Europe – Group of States Against Corruption (18.3.2021): Third Evaluation Round, Second Addendum to the Second Compliance Report on Turkey - "Incriminations (ETS 173 and 191, GPC 2)", "Transparency of Party Funding" [GrecoRC3 (2020)5], https://rm.coe.int/third-evaluation-round-second-addendum-to-the-second-compliance-report/1680a1cac1 , Zugriff 21.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 21.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 21.2.2022
- EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf , Zugriff 21.2.2022
- FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 21.2.2022
- TI – Transparency International (25.1.2022): Corruption Perceptions Index 2021, https://www.transparency.org/en/countries/turkey , Zugriff 21.2.2022
- TI – Transparency International (2021): Corruption Perceptions Index 2020, https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/tur , Zugriff 21.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 21.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 21.2.2022
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Oktober 2021 gab es über 121.920 Vereine und 5.906 Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.11.2021).
Infolge des Ausnahmezustands und der Anti-Terror-Maßnahmen der türkischen Regierung gerieten mehrere Aktivisten jedoch zunehmend unter Druck, unter anderem wurden sie festgenommen und inhaftiert. Vor allem jene NGOs, die ausländische Gelder erhalten, laufen Gefahr, der Spionage und Kollaboration mit ausländischen Feinden beschuldigt zu werden (BS 29.4.2020). Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.11). Im Juli 2020, beispielsweise, verurteilte ein Gericht vier Menschenrechtsverteidiger, darunter den ehemaligen Vorsitzenden von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation (FH 3.3.2021). Durch Notverordnungen wurden rund 1.400 bis 1.500 Vereinigungen ohne jeden Rechtsbehelf geschlossen (BS 29.4.2020; vgl. AA 3.6.2021, S.7, FH 3.3.2021) und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 3.3.2021). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 3.6.2021, S.7).
Trotz dieses gravierenden Rückschritts sind zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor aktiv. Es ist jedoch offensichtlich, dass regierungsnahe Organisationen eine größere Rolle übernehmen und sichtbarer sind (BS 29.4.2020). Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.30). Im zunehmend repressiven politischen Umfeld verhindern die rechtlichen, politischen, finanziellen und administrativen Belastungen, die den zivilgesellschaftlichen Organisationen auferlegt werden, die Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft (BS 29.4.2020). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juli 2021 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,22% (1.488 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.11.2021).
Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten, sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 3.6.2021; S.6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll. Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, S.36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.30). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Vor Verabschiedung des Gesetzes gaben 694 unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft eine Erklärung gegen den Gesetzentwurf ab. Selbst mehrere AKP-nahe Vereine und -Stiftungen führten ebenfalls eine Kampagne gegen das Gesetz. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, S.36). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff 21.2.2022
- AP – Associated Press (27.12.2020):Turkish lawmakers pass bill monitoring civil society groups, https://apnews.com/article/turkey-recep-tayyip-erdogan-terrorism-bills-europe-d4e48ebdbba76911dc6fb2a94b201ffd , Zugriff 2.2.2021
- BS – Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028926/country_report_2020_TUR.pdf Zugriff 21.2.2022
- CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 21.2.2022
- DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-in-der-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756 , Zugriff 21.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 21.2.2022
- FIDH/ OMCT/ İHD - International Federation for Human Rights/ World Organisation Against Torture/ İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf , Zugriff 7.2.2022
- FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html , Zugriff 21.2.2022
- ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (20.11.2021): Civic Freedom Monitor: Turkey, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkey#resources , Zugriff 4.2.2022
- Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-oversight-law-ngos-b1779231.html , Zugriff 21.2.2022
- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-neues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276 , Zugriff 21.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 4.2.2022
Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık), das organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI o.D.).
Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 19.10.2021, S.12). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 19.10.2021, S.29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 30.3.2021, S.60).
Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 3.6.2021, S.7). Einige HREI-Mitglieder zeigten eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, S.29).
Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt und sie entspricht nicht der Empfehlung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Standards für Gleichbehandlungsstellen. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität bei der Behandlung von Anträgen als begrenzt (EC 19.10.2021, S.29).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 14.6.2021
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 3.11.2021
- OI - Ombudsman Institution of the Republic of Turkey (o.D.): About The Institution, https://www.ombudsman.gov.tr/English/about-the-institution , Zugriff 7.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 2.4.2021
Wehrdienst
Letzte Änderung: 10.03.2022
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (MFA-NL 11.7.2019). Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind vom 20. Lebensjahr bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Sie haben auch die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht frei zu kaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren (ÖB 30.11.2021, S.18). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.21). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt. Es sieht die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor (ÖB 30.11.2021, S.18). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand November 2021 auf rund 3.900 Euro (ÖB 30.11.2021, S.18). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 30.11.2021, S.19). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 30.11.2021, S.20).
Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 30.11.2021, S.36; vgl. EC 6.10.2020, S.40). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 30.11.2021, S.36; vgl. AA 24.8.2020).
Berichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Menschenrechtsgruppen berichten, dass verdächtige Todesfälle im Militär weit verbreitet sind. Die Regierung untersuchte sie nicht systematisch und gibt keine Informationen hierzu frei. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten mindestens 18 verdächtige Todesfälle im Jahr 2020 (USDOS 30.3.2021, S.7).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 22.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 22.2.2022
- EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 22.2.2022
- HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475 , Zugriff 22.2.2022
- MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 22.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 3.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 22.2.2022
Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Letzte Änderung: 10.03.2022
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen (MFA-NL 11.7.2019).
Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder der kurdischen noch der alevitischen. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 30.11.2021, S.21). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MFA-NL 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019; vgl. K24 10.5.2018).
Quellen:
- K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army 'lynched' for singing in Kurdish, MPs say, https://web.archive.org/web/20190203005959/http://www.kurdistan24.net:80/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4-20f41eea9bb5 , Zugriff 22.2.2022 [Der Originallink ist nicht mehr verfügbar.]
- Mezopotamya (14.9.2020): Kurdish soldier attacked at military post: I have no life safety, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/109378?page=1&key=3b84e1dcd1d3fd2e3c8d8d7731ad0653 , Zugriff 22.2.2022
- MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 22.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 7.2.2022
- SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (16.9.2020): Türkei: Situation von kurdischen Personen im Militärdienst, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Europa/Tuerkei/200915_TUR_Kurden_im_Militaerdienst.pdf , Zugriff 22.2.2022
- UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt , Zugriff am 22.2.2022
Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 10.03.2022
Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (MFA-NL 11.7.2019; vgl. AA 3.6.2021, S.14, S.14, DFAT 10.9.2020). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 30.11.2021, S.18). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 3.6.2021, S.14; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Art. 26 dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 3.6.2021, S.14)
Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 30.11.2021, S.18). Der Europarat, insbesondere dessen Ministerkomitee kritisiert die wiederholten Verurteilungen und Inhaftierungen von Kriegsdienstverweigerern wegen Verweigerung des Wehrdienstes; das Fehlen eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens zur Feststellung des Status als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und das Fehlen einer Alternative zum obligatorischen Militärdienst in der Türkei (CoE 27.9.2021, S.3).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 22.2.2022
- CoE - Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto ,-275,848, Zugriff 22.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 22.2.2022
- MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 22.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 7.2.2022
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S.30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.4, 13). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).
Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S.31).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlamanets vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S.30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022).
Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1% aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 28.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 28.2.2022
- AI – Amnesty International (7.4.2021): Türkei 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048610.html , Zugriff 28.2.2022
- CoE - Council of Europe (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights , 28.2.2022
- CoE - Council of Europe (3.12.2021): Implementing ECHR judgments: Council of Europe ministers serve formal notice on Turkey in the Kavala case [Ref. DC 224(2021)], https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a4c19d , Zugriff 21.1.2022
- CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 28.2.2022
- DW - Deutsche Welle (17.1.2022): Türkei ignoriert Frist zur Freilassung von Kavala, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-ignoriert-frist-zur-freilassung-von-kavala/a-60455412 , Zugriff 21.1.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 28.2.2022
- EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 28.2.2022
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Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die gesamte traditionelle Medienlandschaft, vom Fernsehen über das Radio bis hin zu den Printmedien, steht unter mehr oder weniger direkter Kontrolle der Regierung (EJO 5.8.2020; vlg. ÖB 30.11.2021, S.33). Der Druck auf unabhängige Medienorganisationen ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden (DW 4.5.2021; vgl. FH 2.2022, D1). Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), eine Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom Parlament ernannt und sind fast ausschließlich Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder ihres politischen Verbündeten, der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) (FH 3.3.2021). Im Jahr 2021 verhängte der RTÜK insgesamt 71 Bußgelder, die sich alle gegen fünf kritische Fernsehsender richteten, während regierungsfreundliche Medien keine Strafen erhielten. Seit 2019 müssen auch Online-Videoproduzenten eine RTÜK-Lizenz erhalten, um in der Türkei zu senden (FH 2.2022, D1). Das Europäische Parlament zeigte sich "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und der staatlichen Werbeagentur (BİK), die als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S.12, Pt.27; vgl. ÖB 30.11.2021, S.33).
In den letzten zehn Jahren haben Präsident Erdoğans Familie und Verbündete aus der Privatwirtschaft mehr als 90% der türkischen Nachrichtensender und Zeitungen erworben und kontrolliert (MDC 15.6.2020; vgl. FH 2.2022, D1). Diese Kontrolle verschafft Erdoğan einen entscheidenden Vorteil bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses zu seinen Gunsten. Die beiden meistverkauften Zeitungen, Sabah und Hürriyet, sind mittlerweile im Besitz von regierungsfreundlichen Medienmogulen (MDC 15.6.2020). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 30.3.2021, S.30). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen. Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormem politischen Druck, werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 2.2022, D1; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) oder deren Inhalte werden entfernt, insbesondere bei Nachrichten, die sich kritisch über hochrangige Regierungsmitglieder und Mitglieder der Familie von Präsident Erdoğan äußern, oder die nach dem äußerst restriktiven Anti-Terror-Gesetz als strafbar gelten (HRW 13.1.2022). Der Druck auf Journalisten dauert an. Sie sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche jedoch oftmals nicht geahndet werden (ÖB 30.11.2021, S.33). Human Rights Watch zählte Anfang 2022 58 Journalisten und Medienmitarbeiter, welche wegen ihrer journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft waren oder Strafen wegen Terrorismusdelikten verbüßten (HRW 13.1.2022).
Während die Regierung 90% der nationalen Medien mit Hilfe von Regulierungsbehörden wie dem RTÜK kontrolliert, wenden der Pressewerberat (BİK), der staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Präsidialdirektion für Kommunikation (CIB), die Presseausweise ausstellt, eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021). Von Dezember 2018 bis Dezember 2020 wurden z.B. 1.239 Pressekarten türkischer Journalisten annulliert. Ausländische Journalisten, die jährlich eine neue Pressekarte beantragen müssen, warten zum Teil mehrere Monate auf deren Ausstellung (ÖB 30.11.2021, S.34).
In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft. Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62% die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S.28f.). Im Jahr 2020 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 97 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 17.2.2021).
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (ÖB 30.11.2021, S.32). Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und zum Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, S.33). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, welche nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) übereinstimmt (PACE 22.4.2021, S.3).
Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Journalisten und Medienschaffende, wie z. B. der Fall der Journalistin Melis Alphan, die wegen Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt wurde und mit bis zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis rechnen muss, halten an (EP 21.1.2021). Die unverhältnismäßige Umsetzung der restriktiven Maßnahmen wirkt sich weiterhin negativ auf die freie Meinungsäußerung und die Verbreitung der Stimmen der Opposition aus. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen nach wie vor gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere internationale Standards und weichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern und Nutzern sozialer Medien finden nach wie vor statt (EC 19.10.2021, S.5, 32; vgl. PACE 3.1.2020). Laut Media and Law Studies Association (MLSA) ist in der zweiten Jahreshälfte 2020 die Zahl der Beschuldigten, die sich in Untersuchungshaft befanden, deutlich zurückgegangen. Allerdings wurden Journalisten weiterhin wegen ihrer Berichterstattung oder Beiträgen in den sozialen Medien nach dem Anti-Terrorgesetz angeklagt. Im erwähnten Zeitraum machten Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus 46% der Fälle gegen Journalisten aus, während Anklagen wegen "Beleidigung des Präsidenten" 10% umfassten. In 71 der 74 beobachteten Fälle, die unter das Anti-Terrorgesetz fielen, wurden Medienberichte der Angeklagten als Beweismittel für die vermeintliche Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristische Propaganda angeführt (MLSA 7.9.2021, S.4). Dem BIA Media Monitor 2021 Report des unabhängigen Nachrichtenportals Bianet zufolge wurden 35 Journalisten in der Türkei im Jahr 2021 zu insgesamt 92 Jahren Gefängnis verurteilt (BI 25.1.2022). Die Türkei verbesserte sich lediglich um einen Rang im World Press Freedom Index 2021 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang], den Platz 153 von 180 Ländern belegend (RSF 4.2021).
Der EGMR hat am 13.4.2021 im Sinne zweier prominenter Journalisten, Ahmet Altan und Murat Aksoy, entschieden, dass deren Inhaftierung unter anderem einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit darstelle, und die Türkei beiden Männern eine Entschädigung zahlen müsse, denn in beiden Fällen habe es keine konkreten Beweise für die zur Last gelegten Straftaten gegeben (DW 13.4.2021; vgl. ECHR 13.4.2021). Das Gericht stellte im Falle Aksoy, der nach dem Putschversuch wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung bis 2017 - bzw. neuerlich bis Jänner 2019 - in Haft saß, fest, dass es keine plausiblen Gründe für die Inhaftierung gegeben hätte. Altan wurde hingegen wegen Unterstützung des Putschversuches zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem Freispruch durch das Oberste Berufungsgericht (Kassationsgericht) wurde er 2019 wegen "Unterstützung einer Terrorgruppe" zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (DW 13.4.2021; vgl. bianet 13.4.2021). Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass kein "hinreichender Verdacht" vorlag, dass Altan vom Putschversuch im Vorhinein wusste, weshalb dessen Inhaftierung unbegründet war (DW 13.4.2021; vgl. ECHR 13.4.2021). Bereits tagsdarauf, am 14.4.2021 wurde Altan freigelassen, da das Kassationsgericht die bestehende Verurteilung mit der Begründung aufhob, dass Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches, der eine Strafminderung vorsieht, ignoriert wurde bzw. die bereits verbüßte Haft ausreiche (Duvar 14.4.2021; vgl. SDZ 14.4.2021). Zudem hätte es für die Altan zur Last gelegten Straftaten wie Terrorunterstützung keine Beweise gegeben (DW 14.4.2021).
Im Oktober 2019 führte die Justizreformstrategie zu einer geringfügigen Einengung der Definition terroristischer Propaganda und zu einer Ausweitung des Rechts auf Berufung für diejenigen, die zu einer Haftstrafe von weniger als fünf Jahren verurteilt wurden. Trotzdem wird die überarbeitete Definition von terroristischer Propaganda weiterhin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten verwendet. Entgegen klarer Bestimmungen hinsichtlich der Dauer einer Untersuchungshaft werden Journalisten weiterhin willkürlich verhaftet und monatelang eingesperrt (IPI 30.11.2020).
Aufgrund ihrer Berichterstattung werden Journalisten, meist aus den pro-kurdischen Medien, der Beleidigung des Präsidenten und der Nation, der Gefährdung der nationalen Sicherheit und in den letzten Jahren mehr denn je der Propaganda, der Kollaboration mit oder der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen beschuldigt (EJO 5.8.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 30.3.2021, S.28; vgl. EJO 5.8.2020). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als Terrorismus-bezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 13.1.2022; vgl. IPI 30.11.2020). Hinzukommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020). Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). Einige Personen, die in der linken oder kurdischen Politik aktiv sind, berichteten, dass sie von Sicherheitskräften in Zivil entführt und an unbekannten Orten für kürzere Zeit festgehalten wurden (HRW 13.1.2022). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022; vgl. IPI 18.11.2019).
Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staat dienten - z.B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die z.B. über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020). Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, „den Staat und die Regierung zu verunglimpfen“. Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S.12; vgl. Independent 13.12.2021).
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, S.4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des letzteren, die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021). Das Urteil könnte laut Aussagen von Juristen für mehr als zehn Medien positive rechtliche Konsequenzen haben, nicht jedoch für jene Medienhäuser, denen meist ein Naheverhältnis zur Gülen-Bewegung unterstellt wurde, die namentlich im Dekret genannt werden (TM 8.4.2021).
Soziale Medien
Die Internetfreiheit in der Türkei hat weiter abgenommen. Hunderte von Websites wurden gesperrt, in einigen Fällen aufgrund eines neuen Gesetzes über soziale Medien. Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen wurden, wurden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5). Die Sperrung und Löschung von Online-Inhalten ohne gerichtliche Anordnung aus einer unangemessen breiten Palette von Gründen, die sich auf das Internetgesetz und den allgemeinen Rechtsrahmen stützen, wurde fortgesetzt. Die derzeitige Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten sowie das Strafgesetzbuch behindern die Meinungsfreiheit und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, S.32f). Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).
Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vgl. AM 13.12.2021).
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB 30.11.2021, S. 32). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK wird die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet sein, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz durchaus begrüßenswerter Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 30.11.2021, S.32). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020).
Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S.101-104).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020). So teilte das türkische Innenministerium am 21.5.2020 mit, dass in den 65 Tagen zuvor 510 Personen wegen „haltloser“ und „provokativer“ Beiträge im Netz betreffend COVID-19 festgenommen worden wären. 10.111 Social Media Accounts wären überprüft, und dabei 1.105 Verdächtige identifiziert worden. Von diesen wären wiederum 510 festgenommen worden (ÖB 30.11.2021, S.32). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020).
Der Ausbruch des Coronavirus in der Türkei veranschaulichte den Anstieg des öffentlichen Misstrauens gegenüber den Medien als auch die Fragmentierung hinsichtlich des Weges, wie die Bürger ihre Informationen beziehen. Viele Türken, die an der Integrität der traditionellen Medien zweifeln, haben die rosige Berichterstattung über die Reaktion der Türkei auf die Pandemie mit Skepsis betrachtet und sich stattdessen den sozialen Medien zugewandt (CAP 10.6.2020).
Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB), im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten, wie etwa die mangelnde Daten-Transparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Der Vorsitzende der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Regierungspartner der AKP, Davlet Bahçeli, beschuldigte die Ärztekammer, "den Terrorismus zu preisen" (AM 15.10.2020; vgl. BI 14.10.2020).
Quellen:
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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020, S.16, 27; vgl. AA 3.6.2021), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S.5). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, S.37).
In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 3.6.2021, S.9). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vgl. BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, S.34; vgl. FH 2.2022, E1). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, S.36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, S.37).
Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, S.28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der "Aufstachelung zum Hass", des "Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz" und des "Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen" fest (EC 19.10.2021, S.34).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).
Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S.12; vgl. BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022).
Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 3.6.2021).
Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S.37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S.16f; vgl. TM 8.9.2021).
Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021)
[Anm.: Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel "Frauen" sowie "Sexuelle Minderheiten"]
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S.15; vgl. USDOS 30.3.2021, S.44). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S.44).
Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.26).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurde (ICSEM 31.12.2021b, S.9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 30.3.2021, S.42).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 2.2022, E3; vgl. EP 19.5.2021, S.19, Pt.53).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 30.3.2021, S.42).
Siehe auch Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivisten, Studenten, Arbeitern, Oppositionsparteien, und Vertretern sexueller Minderheiten verboten (HRW 13.1.2022).
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- HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 1.3.2022
- HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html , Zugriff 1.3.2022
- ICSEM – The Inquiry Commission on the State of Emergency Measures [Türkei] (31.12.2021b): Activity Report 2021, https://soe.tccb.gov.tr/Docs/SOE_Report_2021.pdf , Zugriff 24.1.2022
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- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 7.2.2022
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Opposition
Letzte Änderung: 10.03.2022
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, dazu gehören die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. das Organisieren von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien (USDOS 30.3.2021, S.53).
Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen, und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, S.11; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).
Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, S.13).
Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als jene der HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. Kaftancıoğlu kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament sah die Anklagen gegen Canan Kaftancıoğlu als politisch motiviert an (EP 21.1.2021).
Vorgehen gegen die HDP
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vgl. DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S.69).
Laut Angaben der HDP waren seit 2015 mehr als 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausend HDP-Mitglieder wurden freigelassen, nachdem sie - manchmal jahrelang - hinter Gittern saßen, dennoch befinden sich immer noch mehr als 4.000 HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, im Gefängnis (HDP 18.5.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.11). Außerdem leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Auch das Europäische Parlament (EP) forderte 2021 mehrmals auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 21.1.2021; vgl. EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).
HDP-Mitglieder sehen sich mit dem Vorgehen seitens der türkischen Behörden gegen sie konfrontiert. Dazu gehören auch nächtliche Razzien am Wohnort u.a. durch maskierte Anti-Terror-Spezialeinheiten. Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 18.3.2021, S. 51f.). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S.20).
Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 3.6.2021, S.8). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).
In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022).
Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022).
Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S.14f).
Siehe auch das Kapitel: Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S.3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S.4).
Gewaltakte gegen die HDP und ihre Vertreter
In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende, Mithat Sancar, sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP. Mehrere Oppositionspolitiker hegten Zweifel an der Einzeltäterthese und forderten weitere Untersuchungen, insbesondere nachdem der Täter erwiesenermaßen in Manbij, Syrien mit Waffen posierte (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotow-Cocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).
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Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland
Letzte Änderung: 10.03.2022
Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (pro-türkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-'Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-'Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UN-HRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021). Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abiad und Ra's al-'Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (SfDJ 10.7.2020; vgl AM 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AM 14.5.2020; vgl. HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN-Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u.a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (SfDJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden. Im Oktober 2020 wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021). Ähnliche Urteile folgten 2021. So wurde am 23.3.2021 ein weibliches Mitlgied Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) Dozgin Temmo, bekannt als Cicek Kobani, von einem türkischen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (NPA 24.3.2021). Im Juni 2021 wurden drei Mitglieder des sog. Militärrats der Suryoye (MFS), einer christlichen, assyrischen-aramäischen Miliz der SDF, die 2019 von pro-türkischen Kämpfern in Nordsyrien festgenommen worden waren, von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt (Rudaw 30.6.2021).
Das Europäische Parlament verurteilt in einer Entschließung vom März 2021, "dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden" (EP 11.3.2021, Pt.7).
- Quellen:
- AM – Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prison-breach-international-law.html , Zugriff 28.2.2022
- EP - Europäisches Parlament (11.3.2021): Der Konflikt in Syrien: 10 Jahre nach dem Aufstand - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2021 zu dem Konflikt in Syrien zehn Jahre nach dem Aufstand (2021/2576(RSP)) [P9_TA(2021)0088], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.pdf , Zugriff 3.3.2022
- HRW – Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syrians-turkey , Zugriff 28.2.2022
- NPA - North Press Agency (24.3.2021): Turkey sentences Syrian Kurdish SDF member to life imprisonment, https://npasyria.com/en/56509/ , Zugriff 28.2.2022
- Rudaw (30.6.2021): Three Syriac fighters from Rojava sentenced to life terms in Turkey, https://www.rudaw.net/english/middleeast/30062021 , Zugriff 28.2.2022
- SfTJ – Syrians for Truth and Justice (10.7.2020): https://stj-sy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkey-following-operation-peace-spring/#_ftnref11 , Zugriff 28.2.2022
- UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf , Zugriff 28.2.2022
Haftbedingungen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.11). In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Vorbehalte gibt es allerdings bei einigen Gefängnissen mit Überbelegung, wo die Ausstattung der Gefängnisse und zum Beispiel die medizinische Versorgung nicht auf die Anzahl der Insassen ausgelegt sind (AA 3.6.2021, S.19; vgl. ÖB 30.11.2021, S.11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u.a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (ÖB 30.11.2021, S.11). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 30.3.2021). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 30.11.2021, S.11). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021, S.10).
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S.38). Die 369 Strafvollzugsanstalten in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 251.299 (Stand 1.10.2021). Die Zahl der Insassen betrug am 30.9.2021 laut türkischen Angaben 292.074 (inkl. 38.900 in U-Haft). Das entspricht einem Belegungsgrad von 116% (ÖB 30.11.2021, S.11). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S.31f). Das Justizministerium lässt weitere 26 Gefängnisse bauen, während 17 Haftanstalten 2020 renoviert wurden, um die steigende Anzahl von Insassen bewältigen zu können, die sich laut Ministerium von 120.000 im Jahr 2010 auf fast 251.000 Ende 2020 mehr als verdoppelt hat (Ahval 3.4.2021). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S.4f; S.32 Tab.).
Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 19.10.2020, S.31; vgl. DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S.1).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S.1).
Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S.32).
Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 30.3.2021, S.8; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S.29). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S.19), zuletzt z.B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).
LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020). Laut der türkischen NGO Civil Society in the Penal System Association (CİSST) gehören Mitglieder von sexuellen Minderheiten zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S.48).
Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 30.3.2021, S.21). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 30.3.2021, S.21).
Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 30.3.2021, S.9).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).
Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte 1.605 kranke Gefangene dokumentieren. 604 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befinden. Seit Anfang 2020 sollen mindestens 59 kranke Häftlinge verstorben sein (BAMF 20.12.2021, S.12; vgl. Ahval 2.1.2022).
Kurdische Häftlinge
Mit Beginn des Ausnahmezustands wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S.16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S.30;68). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S.30;68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S.30;68; vgl. İHD 23.10.2020, S.7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S.55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Frauen werden entweder in Frauengefängnissen oder in den Frauenabteilungen der Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F oder D untergebracht. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S.11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S.4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S.70). Viele Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S.26). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11% aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S.26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S.25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihrer Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S.48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).
Kinder und Minderjährige
Unter den über 370 Haftanstalten fanden sich (Stand März 2021) vier Erziehungshäuser für Kinder und sieben geschlossene Gefängnisse für Kinder (DIS 31.3.2021, S.1). An Orten, an denen es keine speziellen Gefängnisse gibt, werden Minderjährige in getrennten Abteilungen innerhalb der Gefängnisse für männliche und weibliche Erwachsene untergebracht. Kinder unter sechs Jahren können bei ihren inhaftierten Müttern bleiben (USDOS 30.3.2021, S.8; vgl. DFAT 10.9.2020). 2021 befanden sich, je nach Quelle zwischen 743 (DW 23.6.2019) und 800 Kinder unter sechs Jahren bei ihren Müttern im Gefängnis (FP 8.8.2021). Laut offiziellen Angaben befanden sich Ende Mai 2019 jedenfalls 864 Kinder im Alter von 0-6 Jahren im Gefängnis (AST 4.2020). Das türkische Strafgesetzbuch sieht außerdem vor, dass Haftstrafen zwar für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden, nicht jedoch, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019). Einer Studie der Right to Life Association zufolge sind die Kleinkinder durch Leibesvisitationen traumatisiert. Sie werden nicht gut ernährt und erhalten keine ausreichende medizinische Versorgung. Sie haben auch Schwierigkeiten, Zeit zum Spielen zu finden (SCF 12.10.2021). Die Kinder im zentraltürkischen Keskin-Gefängnis haben monatelang keine Milch, keine Eier und kein Spielzeug bekommen, wie ein Bericht des parlamentarischen Unterausschusses für die Rechte der Häftlinge zeigt. Die weiblichen Gefangenen berichteten, dass sie ihre Kinder nur ein paar Mal im Jahr in die Kindertagesstätte des Gefängnisses bringen können und dass sie ihre Kinder nicht sehen dürfen, wenn sie es wollen (Duvar 18.2.2021).
Hinsichtlich straffälliger Minderjähriger gab es laut der „Ankara Medical Chamber“ (ATO) mit Jahresende 2021 1.941 inhaftierte oder verurteilte Kinder, während die Haftstrafen von 566 verurteilten Kindern aufgrund des COVID-19-Ausbruchs außerhalb von Gefängnissen vollstreckt wurden. Die ATO kritisierte, dass im Strafvollzugssystem mehrere Vorkehrungen getroffen werden, ohne die Rechte und Bedürfnisse von Kindern zu berücksichtigen. Kinder würden verhaftet, ohne eine ausreichende Risiko- und Bedarfsanalyse durchgeführt oder wirksame Maßnahmen zu ergriffen zu haben. Zudem wären Kinder aufgrund der schlechten physischen Bedingungen, der sozialen Isolation und der Disziplinarstrafen im Gefängnis einer sekundären Bestrafung ausgesetzt (Bianet 7.1.2022).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der allzu weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, S.32; vgl. AA 3.6.2021, S.19, DFAT 10.9.2020, ÖB 30.11.2021, S.11). Der ständige Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Türkei kritisierte den Ausschluss von Untersuchungshäftlingen und jenen, die wegen ihrer politischen Aktivitäten inhaftiert sind, von der neuen Gesetzeslage. Stattdessen hätten die türkischen Regierungsparteien beschlossen, das Leben von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und denjenigen, die sie als politische Gegner betrachten, bewusst dem Risiko einer tödlichen Erkrankung an COVID-19 auszusetzen (EP 15.4.2020).
Nach den Ergebnissen einer Umfrage, die von der Media and Law Studies Association (MLSA) zwischen Februar und März 2021 in fünf Gefängnissen durchgeführt wurde, fehlte es mehr als der Hälfte der befragten Gefangenen während der COVID-19-Pandemie an Reinigungs- und Hygieneartikeln; die meisten von ihnen waren mit erheblichen Einschränkungen bei kulturellen und sportlichen Aktivitäten sowie beim Besuchsrecht konfrontiert. 44% der Gefangenen wurden nicht über die COVID-19-Pandemie informiert (MLSA 18.7.2021).
Die in den Gefängnissen Verbliebenen erleben durch die Corona-bedingten Quarantänemaßnahmen erschwerte Haftbedingungen und Einschränkungen ihrer Rechte. Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können (DW 17.3.2021). So wurden im April 2021 im Sakarya-Ferizli-Gefängnis in der Nordwest-Türkei fünf Wärter positiv diagnostiziert, die infolge mehrere Häftlinge mit COVID-19 infizierten (SCF 28.4.2021). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) berichtet von gravierenden Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch erhalten zu haben. Zudem wurde infolge der Lage Insassen über mehrere Monate hinweg der Besuch durch ihre Anwälte verwehrt. Nicht zuletzt wächst auch die Not kranker Häftlinge, da ihre Behandlung häufig wegen Corona unterbrochen worden ist (DW 17.3.2021).
NGOs bezeichneten die COVID-Situation in den Haftanstalten bereits im Frühjahr 2020 als alarmierend. Gefangene können Reinigungs- und Hygieneprodukte nur gegen eine Gebühr in der Kantine erhalten. Häftlinge wurden nur in Notfällen ins Krankenhaus eingeliefert, und die 14-tägige Quarantänezeit nach einem Krankenhausbesuch konnte aufgrund des Ärztemangels in den Gefängnissen nicht eingehalten werden. Das Personal, das außerhalb der Gefängnisse arbeitete, trug angeblich keine Schutzbekleidung, und an den Eingängen und in den Warteräumen der Anwälte in den Gefängnissen waren keine Desinfektionsmittel erhältlich (EPO 15.5.2020).
Die türkische NGO CİSST verzeichnete seit Beginn der COVID-19-Pandemie Beschwerden aus 179 Haftanstalten unterschiedlichen Typus' (Stand: Ende November 2021). Die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen stellen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Pandemie dar. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. Es kam zu etlichen Klagen über schmutzige Bettwäsche, Toiletten und Trinkwasser. In einigen Gefängnissen kann auch infolge der Überbelegung keine Frischluft zirkulieren. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten vermehrt Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von COVID-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Die Minimierung der Anzahl der Treffen mit den Familien hat die Isolationsbedingungen für die Gefangenen, die allein untergebracht sind, noch verschärft (CİSST 30.11.2021).
Laut Regierung gibt es derzeit in 115 der 369 Strafvollzugsanstalten Covid-19-Fälle. Die Gesamtzahl der infizierten Inhaftierten beträgt 851 (Stand: 3.11.2021). Seit Ausbruch der Pandemie sind bislang insgesamt 45 Inhaftierte an oder mit Covid-19 verstorben. Im Rahmen des Nationalen Impfprogramms wurden nach Regierungsangaben alle Häftlinge, die sich dazu bereit erklärt hatten, gegen Covid-19 geimpft. Im Oktober 2021 betrug der Anteil der Inhaftierten, die eine Dosis erhalten haben, 91%, und jener, die zwei Dosen erhalten haben, 80%. Zur Minimierung des Infektionsrisikos wurden außerdem seit Pandemiebeginn 88.767 Menschen vorübergehend aus der Haft, zumeist aus dem offenen Strafvollzug, entlassen (Stand: 30.9.2021).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 22.2.2022
- Ahval (2.1.2022): More than 600 sick prisoners in Turkey await urgent release, says healthcare union, https://ahvalnews.com/turkey-prisons/more-600-sick-prisoners-turkey-await-urgent-release-says-healthcare-union , Zugriff 22.2.2022
- Ahval (3.4.2021): Turkey constructing 26 new prisons, says justice ministry, https://ahvalnews.com/prison/turkey-constructing-26-new-prisons-says-justice-ministry , Zugriff 22.2.2022
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Todesstrafe
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2021, S.12).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020).
Quellen:
- Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/ , Zugriff 23.2.2022
- EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 23.2.2022
- FIDH - International Federation for Human Rights 813.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey , Zugriff 3.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 3.2.2022
- OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf , Zugriff 23.2.2022
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 12.5.2021), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, S.23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, S.23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 12.5.2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, S.23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, S.23f; vgl. DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 3.6.2021, S.11).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 12.5.2021).
In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S.10).
Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der "Provozierung von Hass und Feindseligkeit" vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 12.5.2021), oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums (USDOS 10.6.2020). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 12.5.2021). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 12.5.2021). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 12.5.2021; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 12.5.2021).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vgl. USDOS 12.5.2021). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019).
Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, S.24).
Religiöse und ethno-religiöse Minderheiten sind Aggressionen, Intoleranz und Diskriminierung ausgesetzt (NL-MFA 18.3.2021, S.53). Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit Langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten, um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten - einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82).
Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 19.10.2021, S.32; vgl. BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vgl. BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Nur sehr wenige Täter wurden tatsächlich strafrechtlich verfolgt. Es wurden keine Schritte zur Überarbeitung der Schulbücher unternommen, um die Reste diskriminierender Anspielungen zu streichen (EC 19.10.2021, S.40).
Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS 30.3.2021, S.68; vgl. USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 12.5.2021). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 12.5.2021).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vgl. AA 3.6.2021, S.11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, S.26).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 3.6.2021, S.11; vgl. BMZ 10.2020; USDOS 12.5.2021) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 3.6.2021, S.11).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff 1.3.2022
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Aleviten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen Mehrheit (MRGI 6.2018a). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 10.9.2020, S.24).
Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa 10% bis zu 40% der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018a). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (Gatestone 18.1.2018; vgl. DFAT 10.9.2020, S.24). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 10.9.2020, S.24). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95%) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 10.9.2020, S.24).
Das Alevitentum wird offiziell weiterhin als heterodoxe muslimische "Sekte" behandelt, nicht jedoch als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anderslautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsgericht) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 12.5.2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.27, FH 2.2022, D2). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 30.11.2021, S.27). Dies hat auch den Ausschluss von staatlichen Zuwendungen zur Folge (FH 2.2022, D2). Mitglieder der Regierungspartei (AKP) und ihres Koalitionspartners (MHP) lehnen Bestrebungen ebenso ab, alevitische Versammlungshäuser als Gebetsstätten anzuerkennen, wie andere Belange der Religionsfreiheit, die Aleviten betreffend, zu lösen (USCIRF 4.2021, S.82). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet erklärte im März 2018, dass Moscheen der geeignete Ort der Religionsausübung sowohl für Sunniten als auch für Alevis seien. Diese Position wird auch weiterhin von der Regierung eingenommen. Abweichend von der Regierungslinie, wurden den Aleviten vereinzelt auf lokaler Ebene Rechte und Unterstützung eingeräumt. In Izmir erhielten sieben Cemevis den Status einer Kultstätte. In Istanbul wurden kostenlose kommunale Dienstleistungen wie den anderen Religionsgemeinschaften auch den Gebetshäusern der Aleviten zugestanden (USDOS 12.5.2021).
Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des EGMR über Cemevi und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt. Andererseits dürften inzwischen erste Schritte zur Umsetzung eines EGMR-Urteils aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gesetzt worden sein (ÖB 30.11.2021, S.27). Allerdings sah Ende September 2021 das Ministerkomitee des Europarates laut eigenen Angaben in der ungerechtfertigten und diskriminierenden Weigerung, den Glauben der alevitischen Gemeinschaft als Religion anzuerkennen, einen Grund, das Monitoring der Türkei fortzusetzen (CoE 27.9.2021, S.3).
Als zweitgrößte religiöse Gruppe des Landes werden die Aleviten von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als fremd und unzuverlässig angesehen (BMZ 10.2020). Die Aleviten sehen sich weiterhin mit Hassverbrechen konfrontiert, jedoch haben sich die Ermittlungen bisher als ineffektiv erwiesen (EC 19.10.2021, S.32). Wenn auch nicht in verbreitetem Ausmaß, so werden Aleviten auch das Ziel von Bedrohungen und Gewalt. So wurden auch 2021 Häuser von Aleviten in Istanbul, Adana und Yalova mehrfach mit roten Kreuzen gekennzeichnet und Drohparolen besprüht (ÖB 30.11.2021, S.26f). Mehrfach waren Einrichtungen des alevitischen Kulturverbandes, Pir Sultan Abdal, das Ziel von Drohbotschaften. Im Jänner 2020 wurden Böden und Fenster der Kulturverbandes in Istanbul mit Drohbotschaften beschmiert (Ahval 8.2.2020). Im Oktober 2020 schrieben Unbekannte an die Tür des Hauses des Vorsitzenden des Pir Sultan Abdal Vereins in Bursa: "Es ist deine Zeit für den Tod" (USDOS 12.5.2021). Im Jänner 2021 wurden Häuser in der Provinz Yalova in roter Farbe mit einem "X" und der Bezeichnung "Alevi" markiert (TM 26.1.2021). 2020 erfolgte ein Angriff auf den Oppositionsführer der Republikanische Volkspartei (CHP) Kılıçdaroğlu – ein Alevit – durch ein Mitglied der Gruppierung "Graue Wölfe". Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam. Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs (ÖB 30.11.2021, S.27). Allerdings wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben (Gatestone 18.1.2018).
Quellen:
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Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden (USDOS 30.3.2021, S.70). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 3.6.2021, S.11). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, S.40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S.40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73).
Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, S.41).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; S.28).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 25.2.2022
- bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12 , Zugriff 25.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 25.2.2022
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- FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022 , Zugriff 28.2.2022
- HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf , Zugriff 25.2.2022
- MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 25.2.2022
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Kurden
Letzte Änderung: 10.03.2022
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S.20).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, S.27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2020, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang. 2020 wurden mindestens 19 Ausgangssperren verhängt, die kürzeste für 24 Stunden und die längste für 15 Tage, und zwar vom 23. März bis Ende 2020 in Dörfern der Provinzen Bitlis, Mardin, Siirt, Şırnak und Cizre (İHD 4.10.2021, S.18). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, S.4). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]
Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "zutiefst besorgt über die Lage im Südosten der Türkei und die Kurdenfrage, [...] insbesondere in Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte, der politischen Partizipation, der Meinungsfreiheit und der Religions- und Glaubensfreiheit; [...] über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S.16f, Pt.44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S.17, Pt.44).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, S.16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, S.16; vgl. CCRT 8.4.2021)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, S.16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Allerdings entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021).
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S.36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S.21).
Übergriffe
Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S.27; vgl. Bianet 22.7.2021).
Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S.47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022).
Verwendung der Kurdischen Sprache
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, S.28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; S.41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, S.28). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S.46).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, S.28).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S.21; vgl. TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.6.2021, S.11). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereich vollständig (AA 3.6.2021, S.11) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S.27).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021).
[Anm.: siehe auch Kapitel "Opposition"]
Quellen:
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- Ahval (4.7.2021): Pro-Kurdish newspaper closure violated constitutional rights, says Turkey's top court, https://ahvalnews.com/ozgur-gundem/pro-kurdish-newspaper-closure-violated-constitutional-rights-says-turkeys-top-court , Zugriff 25.2.2022
- AI – Amnesty International: Weathering the storm (26.4.2019): Defending human rights in Turkey's climate of fear [EUR 44/8200/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1430738/1226_1524726749_eur4482002018english.PDF , Zugriff 25.2.2022
- Bianet (22.7.2021): 15 bar associations condemn racist attacks against Kurds in Turkey, https://m.bianet.org/english/human-rights/247531-15-bar-associations-condemn-racist-attacks-against-kurds-in-turkey, Zugriff 8.2.2022
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Relevante Bevölkerungsgruppen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Frauen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt. Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt. Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB 30.11.2021, S.35) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019).
Im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter gab es erhebliche Rückschritte bei den Rechten der Frauen. Der Austritt der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sogenannten Istanbul-Konvention, gefolgt von der Verabschiedung eines Präsidentendekretes im März 2021, stellt einen klaren Rückschritt bei den Rechten von Frauen und Mädchen dar. Dieser Beschluss gefährdet laut Europäischer Kommission die Rechte von Frauen und Mädchen und die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in der Türkei und schafft einen gefährlichen Präzedenzfall. Nach dem Austritt kam es in den Medien vermehrt zu Hassreden gegen Frauenorganisationen (EC 19.10.2021, 38).
Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahingehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021).
Die Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, titulierte die Entscheidung als verheerend, da dieser Schritt die Bemühungen hinsichtlich des Schutzes von Frauen in der Türkei, aber auch in ganz Europa und darüber hinaus gefährde (AP 20.3.2021; vgl. MEE 20.3.2021). Das Europäische Parlament "verurteilt aufs Schärfste die Entscheidung der türkischen Regierung, vom Übereinkommen von Istanbul zurückzutreten, wodurch sich die Türkei weiter von EU- und internationalen Standards entfernt und ihre Verpflichtung zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und zur Förderung der Rechte von Frauen ernsthaft infrage gestellt wird, und das ist ein klares Zeichen für die gravierende Verschlechterung der Menschenrechte in dem Land" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.46).
Kinder-, Früh- und Zwangsehen geben nach wie vor Anlass zur Besorgnis, ebenso wie die willkürliche Strafminderung bei Gewalt gegen Frauen in Gerichtsverfahren, die möglicherweise Ausdruck sexistischer Vorurteile und Schuldzuweisungen an die Opfer sind. Insgesamt mangelt es an politischem Engagement, sich mit Fragen der Geschlechtergleichstellung zu befassen, und es herrscht eine wachsende Abneigung, den Begriff "Geschlechtergleichstellung" in offiziellen Dokumenten zu verwenden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung von Politiken und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen, während regierungsnahe, konservativere Organisationen konsultiert werden (EC 6.10.2020, S.39).
Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei bzw. die Regierung der AKP eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleich behandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).
Das Gesetz verpflichtet sowohl die Polizei als auch die lokalen Behörden, Opfer von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht sind, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen sind auch staatliche Leistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner ist auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen Täter verhängen. Das Gesetz schreibt die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und Gewaltüberwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anbieten (USDOS 30.3.2021, S.62).
Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. „qualifizierten Verbrechen“ aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Experten begrüßen, dass der Anwendungsbereich auf frühere Ehepartner erstreckt wurde, sehen die Änderung jedoch als nicht weitreichend genug an und kritisieren die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB 30.11.2021, S.35).
Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies schließt auch Vergewaltigungsopfer mit ein (AA 3.6.2021, S.14f). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S.18). Im Jahr 2020 wurden offiziell rund 300 Frauen umgebracht, wobei die Dunkelziffer viel höher liegt, denn viele Opfer werden laut Frauenorganisationen zu Selbstmörderinnen erklärt. Frauenvereine, wie Kadın Kültür Evi Dernegi, sehen darin ein strukturelles Problem im Justizsystem. Misstrauen sei angesagt, wenn Frauenmord als Suizid klassifiziert wird. Es handele sich immer häufiger um einen Deckmantel für einen Femizid [Anm.: Tötung von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts] (DW 4.3.2021). Nach Angaben der Frauenplattform "Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu" (Plattform Wir werden den Femizid stoppen) wurden im Jahr 2021 280 Frauen ermordet. Von ihnen wurden 124 von ihren Ehegatten, 37 von ihrem Freund und 21 von ihren Ex-Ehemännern getötet. Nur elf der Frauen wurden nicht von einem ihnen nahestehenden Mann getötet. Auch die Zahl der zweifelhaften Todesfälle von Frauen hat während der COVID-19-Pandemie zugenommen (SCF 21.1.2022). Das regierungskritische Nachrichtenportal Bianet zählte 2021 auf der Basis von Medienberichten sogar 339 Frauenmorde, wobei 20 Frauen trotz einer Schutzanordnung getötet wurden (Bianet 14.2.2022).
Die unzureichende Umsetzung der Rechtsvorschriften und die geringe Qualität der verfügbaren Unterstützungsdienste, die auch durch eine negative Rhetorik hochrangiger Beamter und einiger Teile der Gesellschaft gegen die Gleichstellung der Geschlechter verschärft wird, geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu ernster Sorge. Dies gilt auch für die mangelnde Abschreckung von Straftätern, die Verbrechen gegen Frauen begehen, durch Justiz und Verwaltung. Eine parlamentarische Kommission wurde eingesetzt, um die Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu untersuchen und die zu ergreifenden Maßnahmen festzulegen. Der Türkei fehlt ein umfassendes Datenerfassungssystem in diesem Bereich, um das Ausmaß und die Art des Problems zu bewerten. In Gerichtsfällen von Gewalt gegen Frauen wurde weiterhin eine Strafmilderung angewandt (EC 19.10.2021, 38).
Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (EC 6.10.2020, S.38; vgl. ÖB 30.11.2021, S.36, USDOS 30.3.2021, S.62). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Unterkünfte in mehreren südöstlichen Provinzen wurden während des Ausnahmezustands 2016-2018 und den jüngsten COVID-19-Lockdowns 2020 geschlossen, während andere Einrichtungen nach der Absetzung der gewählten Bürgermeister Probleme mit den von der Regierung eingesetzten Treuhändern hatten, da diese Mittel kürzten und die Partnerschaften mit den lokalen NGOs beendeten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 30.3.2021, S.62).
2021 existierten im ganzen Land lediglich 149 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.624 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB 30.11.2021, S.36). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB 30.11.2021, S.36; vgl. EC 6.10.2020, S.38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden. Hingewiesen wurde auch auf den fehlenden Zugang zu Frauenhäusern für Frauen mit körperlichen Einschränkungen (ÖB 30.11.2021, S.36).
Laut Frauenorganisationen gibt es eine Zunahme an Scheidungen infolge der ebenfalls wachsenden häuslichen Gewalt. Umgekehrt behauptet die Regierung, dass die häusliche Gewalt zugenommen hat, weil sich Frauen scheiden lassen wollen. Wahr ist, dass die Zahl der Frauenmorde in der Türkei in den letzten zehn Jahren stetig zugenommen hat. Das Problem im türkischen Recht besteht darin, dass die Beweislast in Fällen häuslicher Gewalt auf die Opfer fällt, die, wie Frauenrechtlerinnen argumentieren, durch die Justiz wie Paria behandelt werden. Wenn ein Mann behauptet, dass seine Partnerin ihn in einer Auseinandersetzung verflucht oder "provoziert" hat, entscheidet der Richter im Zweifel für den Angeklagten. Es gibt oft auch kulturelle Barrieren aus dem familiären Umfeld. Trotz offensichtlicher Gewalt sehen sich einige der Frauen mit Missbilligung ihrer Familien konfrontiert, die der Meinung sind, dass die Frauen für die Gewalt verantwortlich sind, die sie erlebt haben (NYRB 20.2.2019).
Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S.35). Laut einem Bericht aus den Reihen der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), jedoch unter Verwendung offizieller Daten des Justizministeriums, entschied die Justiz in den letzten acht Jahren in 73% von fast 26.000 Fällen von Gewalt gegen Frauen, von einer Verfolgung der Täter abzusehen. Die Staatsanwälte ließen zwischen 2012 und 2020 18.551 Verdächtige häuslicher Gewalt frei, was einer Straffreiheit für sieben von zehn Gewalttätern gleichkommt, wobei es 2012 noch in über der Hälfte der Fälle zu einer Strafverfolgung kam, währenddessen 2019 in 82% der Fälle von einer solchen abgesehen wurde (TM 25.11.2020). In Teilen der Bevölkerung findet allerdings eine wachsende Sensibilisierung zum Thema Gewalt an Frauen statt. Medien begannen Mitte der 2000er Jahre über Vorfälle zu berichten und stärkten so das gesellschaftliche Bewusstsein für das bis dahin als Familienangelegenheit gehandhabte Thema. Projekte von NGOs zielen ebenso auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB 10.2020, S.30f).
Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S.13f).
Im März 2020 untersagten die Behörden zum zweiten Mal in Folge Demonstrationen zum Internationalen Frauentag in Istanbul. Eine Versammlung friedlich Demonstrierender, die sich dem Verbot widersetzt hatten, löste die Polizei mit Tränengas und Plastikgeschossen auf (AI 7.4.2021; vgl. NZZ 8.3.2020). Auch in Izmir ging die Polizei im Juli 2020 gewaltsam gegen Demonstrantinnen vor (DW 24.7.2020). Am 5.4.2021 wurden während einer Razzia in der Provinz Diyarbakır im Frauenrechtsverein Rosa, der sich für Opfer von Gewalt einsetzt, 22 Frauen verhaftet, denen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, Mitglieder für die PKK zu rekrutieren und politischen Propaganda für diese zu verbreiten (BAMF 12.4.2021, S.16; vgl. SCF 9.4.2021). Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weiterhin weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung einschlägiger Gesetze und der Entwicklung politischer Strategien und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen (EC 19.10.2021, S.38).
Auch die Gewalt gegen Journalistinnen hat in der Türkei zugenommen. Nach Angaben der Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) wurden allein in der ersten Hälfte des Jahres 2021 44 Journalistinnen Opfer von Polizeigewalt und 13 verhaftet, während sie über Ereignisse vor Ort berichteten. Nach Angaben der CFWIJ hat die Gewalt gegen Journalistinnen im Jahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 um fast 160% zugenommen (SCF 21.1.2022).
Frauen haben überdurchschnittliche Schwierigkeiten beim Zugang zu höherer Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen (15,1%) blieb auch 2020 nachhaltig höher als jene der Männer (12,6%). Nicht einmal ein Drittel der Frauen (32%) ist in Beschäftigung im Vergleich zu mehr als 70% der Männer (EC 19.10.2021; S.53, 92).
Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) liegt die Türkei auf Platz 133 von 156 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2021. In den Sub-Indices lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 140. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 101), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 114) und bei der "Gesundheit" (Position 105) besser aus (WEF 3.2021).
[zu allgemeinen Situation der kurdischen Frauen siehe Kapitel: Kurden]
Quellen:
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- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 23.2.2022
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- AP – Associated Press (20.3.2021): Turkey withdraws from European treaty protecting women, https://apnews.com/article/world-news-turkey-europe-istanbul-violence-f096c185314cde20dce2504a70ee6889 , Zugriff 22.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (4.10.2021): Briefing Notes, KW 40, Urteil des Verfassungsgerichtshofs in Femizid-Fall, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw40-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 23.2.2022
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (12.4.2021): Briefing Notes, KW 15, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw15-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 23.2.2022
- Bianet (14.2.2022): Men kill at least 339 women in 2021, https://m.bianet.org/english/women/257657-men-kill-at-least-339-women-in-2021, Zugriff 1.3.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 23.2.2022
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- DW – Deutsche Welle (24.7.2020): Türkei: Ein neuer Frauenmord – ein altes Problem, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-ein-neuer-frauenmord-ein-altes-problem/a-54299025 , Zugriff 23.2.2022
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- NYRB – The New York Review of Books (20.2.2019): Divorce Turkish Style, https://www.nybooks.com/daily/2019/02/20/divorce-turkish-style/ , Zugriff 23.2.2022
- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (21.3.2021): Türkei tritt aus Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aus – landesweite Empörung, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-verlaesst-istanbul-konvention-gegen-gewalt-an-frauen-ld.1607689 , Zugriff 23.2.2022
- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (8.3.2020): Proteste am Internationalen Frauentag: Türkische Polizei setzt Gewalt ein, pakistanische Islamisten werfen Steine, https://www.nzz.ch/international/proteste-am-internationalen-frauentag-tuerkische-polizei-setzt-gewalt-ein-pakistanische-islamisten-werfen-steine-ld.1545221 , Zugriff 23.2.2022
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- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SCF – Stockholm Center for Freedom (21.1.2022): Women’s Rights in Turkey: 2021 in Review, https://stockholmcf.org/womens-rights-in-turkey-2021-in-review/ , Zugriff 28.1.2022
- SCF – Stockholm Center for Freedom (9.4.2021): Turkish authorities arrest 6 women’s rights activists in Diyarbakır, https://stockholmcf.org/turkish-authorities-arrest-six-womens-rights-activists-in-diyarbakir/ , Zugriff 23.2.2022
- Standard - Der Standard (20.3.2021): Türkei tritt aus Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aus, https://www.derstandard.at/story/2000125220853/tuerkei-kehrt-istanbul-konvention-gegen-gewalt-an-frauen-den-ruecken , Zugriff 23.2.2022
- TM – Turkish Minute (25.11.2020): Most domestic violence suspects go unprosecuted in Turkey, report reveals, https://www.turkishminute.com/2020/11/25/most-domestic-violence-suspects-go-unprosecuted-in-turkey-report-reveals/ , Zugriff 23.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.2.2022
- WEF – World Economic Forum (30.3.2021): Global Gender Gap Report 2021, https://www3.weforum.org/docs/WEF_GGGR_2021.pdf , Zugriff 23.2.2022
Kinder und Minderjährige
Letzte Änderung: 10.03.2022
Kinder und Minderjährige
Die Türkei ist Vertragsstaat der folgenden internationalen Menschenrechtsinstrumente in Bezug auf die Rechte des Kindes: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) und seine Fakultativprotokolle über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (DFAT 10.9.2020, S.16).
Die Regierung erklärte 2018 zum Jahr der Abschaffung von Kinderarbeit. Darüber hinaus wurden 355 Arbeitsinspektoren, 81 Provinzdirektoren und 320 Lehrer zum Thema Kinderarbeit geschult. Dennoch sind Kinder in der Türkei den schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Rekrutierung durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen. Auch in der saisonalen Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben verrichten Kinder gefährliche Arbeiten. Die uneinheitliche Durchsetzung der Gesetze führt zu einem unzureichenden Schutz von Kindern, die Kinderarbeit verrichten. Darüber hinaus entspricht das Verbot der Zwangsrekrutierung von Kindern durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen nicht den internationalen Standards (USDOL 29.9.2021).
Bei den Kinderrechten gibt es insgesamt nur begrenzte Fortschritte. Im Oktober 2020 wurde im Justizministerium eine eigene Abteilung eingerichtet, die sich für die Rechte und Dienstleistungen für gefährdete Gruppen im Justizsystem einsetzen soll. Probleme im Jugendstrafsystem bestehen weiterhin. Nach wie vor werden Jugendliche wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet und inhaftiert, oft über lange Zeiträume und nicht immer in speziellen Einrichtungen für Kinder. Die Qualität des Rechtsbeistands für Jugendliche und der Rehabilitationsmaßnahmen gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge. Trotz der Maßnahmen, die zur Verbesserung der Bedingungen in den Haftanstalten ergriffen wurden, wurde weiterhin über Misshandlungen berichtet. Der Entwurf einer nationalen Strategie und eines Aktionsplans zur Verhinderung von Früh- und Zwangsverheiratung muss noch angenommen werden. Mechanismen und Dienste zum Schutz von Kindern sind nach wie vor begrenzt. Flüchtlingskinder und ihre Familien waren einem erhöhten Risiko ausgesetzt und hatten besondere Probleme beim Zugang zum nationalen Kinderschutzsystem (EC 19.10.2021, S.39).
Obwohl das Gesetz Eheschließungen von Minderjährigen unter 17 Jahren, ausgenommen bei Vorliegen einer gerichtlichen Genehmigung, verbietet, stellen die sog. "Kinderehen" weiterhin ein großes Problem insbesondere in den ländlichen Gebieten und den südöstlichen Provinzen dar. Unter außerordentlichen Umständen (meist eine Schwangerschaft) kann ein Richter 16-Jährigen die Erlaubnis zur Verehelichung erteilen, sofern die Eltern zustimmen. Verehelichung von Kindern unter 16 Jahren ist unter keinen Umständen rechtlich erlaubt. Ehen können nur durch das Standesamt bestätigt werden. Das Parlament verabschiedete allerdings am 18.10.2017 ein Gesetz, das es auch Muftis (islamischen Rechtsgelehrten) erlaubt, Trauungen vorzunehmen. Laut Statistikamt ist der Anteil der Eheschließungen von minderjährigen Mädchen auf 3,8% gesunken (2018). Die offenkundige Problematik dieser Zahl liegt darin, dass nur amtlich geschlossene Ehen erfasst werden. Die meisten Eheschließungen von Kindern werden aber nur vor einem Imam vollzogen (ÖB 10.2019). NGOs kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen durch Behörden nach oben "korrigiert" werde, um eine zivilrechtliche Heirat zu ermöglichen (AA 3.6.2021, S.14).
NGOs berichteten von Kindern im Alter von zwölf Jahren, die in inoffiziellen religiösen Zeremonien verheiratet wurden, insbesondere in armen und ländlichen Regionen und unter der syrischen Gemeinschaft. Die Zahl der syrischen Flüchtlingsfamilien, die ihre minderjährigen Töchter als "wirtschaftlichen Bewältigungsmechanismus" an türkische Männer verheirateten, stieg im Zuge der COVID-19-Pandemie. Eine Studie der Regierung aus dem Jahr 2018 zeigte, dass 12% der syrischen Mädchen in der Türkei vor dem Alter von 15 Jahren und 38% vor dem Alter von 18 Jahren heirateten (USDOS 30.3.2021, S.67). Siehe auch Unterkapitel "Flüchtlingskinder und minderjährige Flüchtlinge"
Die Türkei hat die Umsetzung des nationalen Programms zur Beseitigung der Kinderarbeit fortgesetzt, die nach wie vor ein ernstes Problem darstellt. Es liegen keine offiziellen Daten über die Beteiligung von Flüchtlingskindern an Kinderarbeit vor (EC 19.10.2021, S.92). Bis zu zwei Millionen leisten in der Türkei Kinderarbeit. Gesetzlich zwar verboten, zwingt aber die Not Familien oft dazu, ihre Kinder zum Geldverdienen anstatt in die Schule zu schicken, z.B. während der Baumwollernte (ARD 25.10.2020, Min 1). Obwohl die Kinderarbeit in der Türkei erheblich zurückgegangen ist, stellt sie in der saisonalen landwirtschaftlichen Produktion immer noch ein Problem dar. In der Agrarwirtschaft, mit Ausnahme von Familienbetrieben, wird mobile und saisonale Landarbeit im Nationalen Programm zur Beseitigung von Kinderarbeit (2017-2023) als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit eingestuft, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen, damit verbundenen Risiken. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit beschäftigt sind, stellen eine der am meisten benachteiligten Gruppen dar, was die Arbeits- und Lebensbedingungen in Verbindung mit Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsproblemen betrifft (ILO 5.3.2021, S.3). Offiziellen Zahlen zufolge sind 720.000 Kinder gezwungen, zum Haushaltseinkommen ihrer Familien beizutragen. Rund 31% dieser Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, fast 24% in der Industrie und 45,5% im Dienstleistungssektor. 20% der Kinder sind Saisonarbeiter (Duvar 7.6.2021; vgl. ILO 5.3.2021, S.2). Der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe 5-17 Jahre wird von der türkischen Statistikbehörde auf 4,4% geschätzt. 79,7% der erwerbstätigen Kinder sind in der Altersgruppe 15-17 Jahre, 15,9% in der Altersgruppe 12-14 Jahre und 4,4% in der Altersgruppe 5-11 Jahre. Eine Untersuchung nach Geschlecht zeigt, dass 70,6% der arbeitenden Kinder männlich und 29,4% weiblich sind (ILO 5.3.2021, S.2). 2020 starben 22 Minderjährige unter 14 Jahren und 46 im Alter von 15 bis 17 Jahren bei Arbeitsunfällen (Duvar 11.6.2021).
Die USA setzten am 1.7.2021 die Türkei, und somit erstmalig ein NATO-Land, auf die Liste jener Staaten, die 2020 in den Einsatz von Kindersoldaten verwickelt waren, und zwar in die Rekrutierung und den Einsatz von Kindersoldaten in Syrien und Libyen. Laut dem Trafficking in Persons Report von 2021, unterstützt die Türkei die Sultan-Murad-Division in Syrien, ein Teil der syrischen Opposition, die laut dem US-Außenministerium Kindersoldaten rekrutiert und einsetzt (USDOS 1.7.2021; vgl. BAMF 5.7.2021, S.15, S.15, MEE 1.7.2021).
Hinsichtlich Kindern und Minderjährigen in Gefängnissen siehe Kapitel Haftanstalten.
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 23.2.2022
- ARD – Das Erste (25.10.2020): Türkei: Kinderarbeit geduldet, https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/tuerkei-kinderarbeit-landwirtschaft-100.html , Zugriff 23.2.2022
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.7.2021): Briefing Notes, KW 27/2021, Einsatz von Kindersoldaten, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw27-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 23.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 23.2.2022
- Duvar (11.6.2021): At least 513 child laborers died in last eight years in Turkey: Report, https://www.duvarenglish.com/at-least-513-child-laborers-died-in-last-eight-years-in-turkey-report-news-57799 , Zugriff 23.2.2022
- Duvar (7.6.2021): Ministry report reveals worrying extent of child labor in Turkey, https://www.duvarenglish.com/ministry-report-reveals-worrying-extent-of-child-labor-in-turkey-news-57742 , Zugriff 23.2.2022
- EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en , Zugriff 23.2.2022
- ILO – International Labour Organization (5.3.2021): ILO’s Programme on the Elimination of Child Labour in Turkey (2021-2025), https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---europe/---ro-geneva/---ilo-ankara/documents/publication/wcms_774757.pdf , Zugriff 23.2.2022
- MEE – Middle East Eye (1.7.2021): US places Turkey on list of countries implicated in use of child soldiers, https://www.middleeasteye.net/news/turkey-list-countries-implicated-child-soldiers-united-states , Zugriff 23.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 23.2.2022
- USDOL – US Department of Labor [USA] (29.9.2021): 2020 Findings on the Worst Forms of Child Labor: Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2061987.html , Zugriff 23.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (1.7.2021): Briefing with Senior State Department Official On the Release of the 2021 Trafficking in Persons (TIP) Report, https://www.state.gov/briefing-with-senior-state-department-official-on-the-release-of-the-2021-trafficking-in-persons-tip-report/ , Zugriff 23.2.2022
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.2.2022
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.03.2022
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. In der Türkei sind die Richter befugt, ein Ausreiseverbot zu verhängen (ÖB 30.11.2021, S.10; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S.27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, S.10).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S.27f).
Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.6.2021, S.23, 26). Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde (AA 24.8.2020, S.27).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, S.6).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 15.6.2021
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 15.6.2021
- Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256 , Zugriff 8.2.2022
- HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 16.10.2019
- MFA-NL – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
- Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 16.11.2021
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/ , Zugriff 11.12.2020
- TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019
- TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 16.10.2019
- TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/ , Zugriff 16.10.2019
- USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 12.4.2021
- USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei war eines der wenigen Länder, die 2020 ein Wachstum verzeichneten, vor allem dank günstiger Kredite nach einer Reihe von Zinssenkungen durch die Zentralbank, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuwehren. Im Jahr 2021 nahm das Wachstum wieder zu, da die COVID-19-Beschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Doch eine Währungskrise Ende 2021, die die Inflation auf fast 50% ansteigen ließ, hat die Wachstumserwartungen für 2022 gedämpft (Reuters 22.2.2022). Das 2021 starke Wachstum von 8,5% des Bruttoinlandsprodukts dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 3,3% abschwächen. Der Türkei droht eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich im letzten Quartal 2021 zugespitzt. Das Wirtschaftswachstum wird teuer erkauft durch niedrige Zinsen, hohe Inflation und eine starke Abwertung der Währung. Die Auslandsschulden der Unternehmen und des Staates sind hoch. Die Währungsreserven hingegen sind gering und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 14.1.2022).
2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht statistisch mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021). Präsident Erdoğan hat angesichts der hohen Inflation von zuletzt 50% und des steigenden Unmuts in der Bevölkerung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von acht auf ein Prozent angekündigt (DW 12.2.2022).
Die Arbeitslosigkeit in der Türkei betrifft insbesondere die jüngere Generation. Die türkische Plattform für Jugendarbeitslosigkeit schätzt, dass im November 2021 mehr als elf Millionen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren arbeitslos waren. Im dritten Quartal 2021 lag die offizielle Jugendarbeitslosenquote bei 22% (AT 3.1.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73% "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Aksoy Research vom Jänner 2022 gaben nur 4% an, dass sie alle ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten decken können, weitere 13,7% zumindest "die meisten". Währenddessen sagten 17%, keines ihrer Grundbedürfnisse decken zu können. Weitere 36,6% meinten, ihre Grundbedürfnisse nur "sehr wenig" befriedigen zu können, immerhin 28,5% zumindest "einige" davon (TM 27.1.2022)
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 30.11.2021, S.39).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).
Auch 2021 verblieb die Türkei im Bann der COVID-19-Pandemie. Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurden bis August 2021 zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Krise insgesamt 70,55 Mrd. Euro an fiskalen Maßnahmen in Form von öffentlichen Unterstützungen und Steuererleichterungen aufgewendet, welche 10,6 % des BIP ausmachen (WKO 14.10.2021).
Quellen:
- AM - Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html , Zugriff 24.2.2022
- AT – Asia Times (3.1.2022): Turkey needs a long-term plan for its young Syrians, https://asiatimes.com/2022/01/turkey-needs-a-long-term-plan-for-its-young-syrians/ , Zugriff 31.1.2022
- DW - Deutsche Welle (12.2.2022): Türkei senkt Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-senkt-mehrwertsteuer-auf-grundnahrungsmittel/a-60759240 , Zugriff 24.2.2022
- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung [Mumay Bülent] (20.5.2021): Brief aus Istanbul : Du gehörst mir oder der schwarzen Erde, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/brief-aus-istanbul-erdogans-politische-taktik-in-der-tuerkei-17348835-p2.html , Zugriff 24.2.20221
- GTAI – Germany Trade and Invest (14.1.2022): Türkische Wirtschaft wächst trotz Coronakrise, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuerkische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908 , Zugriff 24.2.2022
- KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (15.2.2022): Jugendstudie Türkei 2021, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/jugendstudie-tuerkei-2021-2 , Zugriff 24.2.2022
- OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- Reuters (22.2.2022): Turkey's economy grew 11% in 2021; to cool to 3.5% in 2022, https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-economy-grew-11-2021-cool-35-2022-2022-02-22/ , Zugriff 24.2.2022
- TM - Turkish Minute (27.1.2022): Only 4 pct of Turks say they can meet all their basic needs: survey, https://www.turkishminute.com/2022/01/27/ly-4-pct-of-turks-say-they-can-meet-all-their-basic-needs-survey/ , Zugriff 28.1.2022
- WB – World Bank (12.10.2021): The World Bank in Turkey - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3 , Zugriff 24.2.2022
- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (14.10.2021): Die türkische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tuerkische-wirtschaft.html#heading_wirtschaftslage , Zugriff 24.2.2022
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 24.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische , Zugriff 24.2.2022
- SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 24.2.2022
- SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://web.archive.org/web/20210909030059/https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 24.2.2022 [Der Originallink ist z.Z. nicht verfügbar.]
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.420 TL, der Maximalbetrag 2.840 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 30.11.2021, S.39). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.39).
Quellen:
- IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
Pension
Letzte Änderung: 10.03.2022
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.
Berechtigung:
- Staatsbürger über 18 Jahre
- Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)
- Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.
Voraussetzungen:
- Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
- Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden
- Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).
Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40%, die von unabhängigen Instituten auf über 80% im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vgl. Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30% erhöht (Bianet 4.1.2022) Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22% des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S.56f).
Quellen:
- AM - Al Monitor (19.1.2022): Inflation crisis hits Turkey's retirees hardest of all, https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/inflation-crisis-hits-turkeys-retirees-hardest-all , Zugriff 9.2.2022
- Bianet (4.1.2022): Turkey raises lowest pension by 66 percent, https://bianet.org/english/labor/255697-turkey-raises-lowest-pension-by-66-percent , Zugriff 9.2.2022
- ILO - International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22:
- Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf , Zugriff 9.2.2022
- IOM – Internationale Organisation für Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://web.archive.org/web/20210909030059/https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 24.2.2022 [Der Originallink ist z.Z. nicht verfügbar.]
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2021, S.40). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 3.6.2020, S.22). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Das Gesundheitsministerium plant, bis 2021 in weiteren 19 Provinzen noch jeweils ein AMATEM-Zentrum mit einer Gesamtkapazität von 725 Betten einzurichten. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.6.2021, S.22f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S.15).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 24.2.2022
- IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf , Zugriff 24.2.2022
- MedCOI (18.2.2020): BMA 13335, Zugriff 24.2.2022 [Das Dokument liegt in der Staatendokumentation auf.]
- MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__T%C3%BCrkei.pdf , Zugriff 9.2.2022
- MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins , Zugriff 24.2.2022
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S.38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vgl. AA 16.11.2021). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S.10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S.37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. ÖB 30.11.2021, S.38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt. Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d.h. wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
- Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
- Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
- TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S.39).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 30.11.2021, S.38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, S.38).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 , 24.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf , Zugriff am 24.2.2022
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 24.2.2022
- CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf , Zugriff 24.2.2022
- DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 24.2.2022
- EU - Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152 , Zugriff 24.2.2022
- Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1 , Zugriff 24.2.2022 (Übersetzung mittels webtran.de)
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey,https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 24.2.2022
- NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf , Zugriff 24.2.2022
- ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf , Zugriff 8.2.2022
- SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/ , Zugriff 24.2.2022
- TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 24.2.2022
- VB - Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2022): Auskunft des VB, per Mail“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben von BF1 bis BF4, der im Gefolge ihrer Einvernahmen sowie im Beschwerdeverfahren in Vorlage gebrachten Unterlagen sowie des Inhalts der gegen die angefochtenen Bescheide erhobenen Beschwerde und der im Rechtsmittelverfahren eingebrachten Stellungnahmen und den durch Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, die den Beschwerdeführen zur Kenntnis gebracht und die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt wurde. Dabei handelt es sich um folgende Berichte:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 10.03.2022 (generiert aus dem COI-CMS)
Zu dem in der Beschwerde gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Gebiet Länderkunde – Türkei (insbesondere Menschenrechte, Politik im Zusammenhang mit Kurden und Aleviten für die Zeiten 1938-2019 und zur Festnahme von im Ausland an Demonstrationen und Kundgebungen teilnehmenden Personen in der Türkei) ist auszuführen, dass die von den Beschwerdeführern in der Beschwerde und den nachfolgenden schriftlichen Stellungnahmen in das Verfahren eingeführten Presseberichte nicht in Abrede gestellt werden und sich im Übrigen auch mit den Ausführungen in den – der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegten – aktuellen Länderberichten der Staatendokumentation zum Stand 10.03.2022 decken. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde sind in diesen Länderinformationen sehr wohl und vielfach auch Berichte des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) berücksichtigt. Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes besteht daher keine begründete Veranlassung, ein solches Gutachten einzuholen.
2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verfahrensakten der belangten Behörde.
Die Feststellungen zur Person, der Herkunft, der Volksgruppen und Religionszugehörigkeit der Beschwerdeführer ergeben sich aus den diesbezüglichen Angaben in den bislang geführten Verfahren.
Zur Feststellung betreffend die Identität und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer ist zudem festzuhalten, dass diese von Bundesamt bereits in den, das erste Asylverfahren der Beschwerdeführer betreffenden, Bescheiden von 2017 bzw. 2018 aufgrund der dort vorgelegten Personaldokumente (Personalausweise (Nüfus) im Original von BF1 und BF2) festgestellt wurden, die auch im Kopie im entsprechenden Verwaltungsakt einliegen. Auch im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 wurden die entsprechenden Identitätsfeststellungen getroffen. Vor diesem Hintergrund und auch dem Umstand, dass die Beschwerdeführer weiters im gegenständlichen Verwaltungsverfahren vor dem Bundesamt gemeinsam mit der Stellungnahme vom März 2020 eine Kopie ihres türkischen Familienbuches vorgelegt haben und hinsichtlich der BF5 ihre österreichische Geburtsurkunde im Verwaltungsakt einliegt, kann nicht nachvollzogen werden, weshalb das Bundesamt nunmehr in den angefochtenen Bescheiden vom 12.05.2020 von einer nicht feststellbaren Identität der Beschwerdeführer ausgeht.
Das Bundesverwaltungsgericht nahm weiters hinsichtlich der Beschwerdeführer Einsicht in das Fremdenregister, das Strafregister, das Zentrale Melderegister und die Grundversorgungs- sowie Sozialversicherungsdaten. Seitens der Beschwerdeführer wurde zudem zu einigen von den in Österreich lebenden Angehörigen Kopien von deren österreichischen Reisepässen, vorgelegt. Es wurde auch Einsicht in die Akten des Bundesverwaltungsgerichtes zu den Sozialverfahren des BF1 genommen.
Im Zuge des gegenständlichen Verfahrens und den nachfolgenden Stellungnahmen wurde auch kein Vorbringen erstattet, aus welchem abzuleiten wäre, dass die Beschwerdeführer hinsichtlich einer möglichen Infektion mit dem Corona-Virus einer Risikogruppe angehören würde oder warum sonst davon auszugehen wäre, dass konkret die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr mit einer Gesundheitsgefährdung zu rechnen hätten, zumal sie selbst keinerlei, hinsichtlich einer COVID-19-Erkrankung relevante, Erkrankungen vorgebracht haben. Es kann nicht erkannt werden, dass die Beschwerdeführer durch eine Rückkehr in die Türkei einem höheren Risiko ausgesetzt wären, an COVID-19 zu erkranken, als in Österreich.
Im Hinblick auf die zur Zeit vorherrschende Pandemie wegen des Corona-Virus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 – statistische Daten über die Infektionslage in der Türkei sowie Berichte über die dort getroffenen Maßnahmen sind für die Allgemeinheit über das Netz leicht zugänglich – und der Situation in der Türkei kann aufgrund der Zahl der Infektionen sowie des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation der Beschwerdeführer (aus den Altersangaben und den Angaben der Beschwerdeführer zu ihrem Gesundheitszustand kann nicht geschlossen werden, dass diese zur Gruppe der von COVID-19 besonders Gefährdeten gehören) und des Umstandes, dass der türkische Staat auf die Situation bisher angemessen reagierte, nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Art. 2 bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls kann dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden.
Die übrigen Feststellungen hinsichtlich den Sprachkenntnissen, Lebensumständen, familiären Bindungen und dem Gesundheitszustand der Beschwerdeführer ergibt sich einerseits aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes im Erkenntnis vom 06.08.2019, sowie andererseits aus den im Verwaltungs- bzw. Gerichtsakt einliegenden Beweismitteln und insbesondere den im gesamten Verfahren von den Beschwerdeführern gemachten Angaben, welche jeweils in Klammer zitiert und von den Beschwerdeführern zu keiner Zeit bestritten wurden.
2.3. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und den geäußerten Rückkehrbefürchtungen:
2.3.1. Bereits im Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz machten die Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, der BF1 sei Mitglied der kurdischen HDP-Partei in der Türkei, sowohl BF1 als auch BF2 würden sich in pro-kurdischen Vereinen in Österreich exilpolitisch betätigen, an Demonstrationen gegen das türkische Regime teilnehmen und würde ihnen daher wegen unterstellter politischer Gesinnung in der Türkei im Fall ihrer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung drohen. Außerdem wären sie als Zugehörige der alevitischen Kurden ständig diskriminiert worden, was auch die BF3 und den BF4 etwa in der Schule betroffen habe.
Das Bundesverwaltungsgericht traf dazu im Erkenntnis vom 06.08.2019 betreffend die Abweisung des ersten Antrages der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auszugsweise nachfolgende beweiswürdigende Erwägungen (auszugsweise Wiedergabe des genannten Erkenntnisses, in welchem das Bundesamt als belangte Behörde (bB) bezeichnet wird):
„[…]
II.2.6. In Bezug auf den weiteren festgestellten Sachverhalt ist anzuführen, dass die von der belangten Behörde vorgenommene freie Beweiswürdigung (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305) im hier dargestellten Rahmen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze im Wesentlichen von ihrem objektiven Aussagekern her in sich schlüssig und stimmig ist. Durch die ergänzenden Ermittlungen des Bundesverwaltungsgerichtes wird das von den BF im Verfahren vor der bB vermittelte Bild über ihre Ausreisegründe und Rückkehrbefürchtungen, ihre familiären und privaten Interessen im Bundesgebiet sowie ihre Integration bestätigt bzw. verstärkt, weshalb sich das Gericht den Ausführungen der bB anschließt. Die nachfolgenden diesbezüglichen Erwägungen des Gerichts stellen lediglich Konkretisierungen und Abrundungen hierzu dar. Auf die behauptete Gefährdung der BF durch ihre exilpolitischen Tätigkeiten wird im Rahmen der Beweiswürdigung unter II.2.7.2. noch einzugehen sein.
II.2.7. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und den geäußerten Rückkehrbefürchtungen:
BF1 erachtet sich ausweislich seines Vorbringens vor der bB wegen seiner politischen Überzeugung und seiner Mitgliedschaft zur Partei „HDP“ verfolgt. Die BF bringen auch vor, dass ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe und ihrer Religionszugehörigkeit in Verbindung mit ihrem politischen Engagement Verfolgung drohe. Die BF erachten sich im Rückkehrfall ferner der Gefahr einer Inhaftierung wegen ihrer Ausreise aus der Türkei ausgesetzt. Im Rechtsmittelverfahren wurde zudem vorgebracht, dass BF1 und BF2 aufgrund ihres exilpolitischen Engagements in Österreich Verfolgung seitens der türkischen Regierung drohe.
II.2.7.1. Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der Glaubhaftmachung im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinn der Zivilprozessordnung zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hierzu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers, voraus (vgl. VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058 mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt ebenso wie die Beweisführung den Regeln der freien Beweiswürdigung (VwGH 27.05.1998, Zl. 97/13/0051). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.2.1993, Zl. 92/03/0011; 1.10.1997, Zl. 96/09/0007).
Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers sind positive Feststellungen von der Behörde nicht zu treffen (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).
Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht. Der Asylwerber hat im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069; 30.11.2000, Zl. 2000/01/0356). Die Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).
Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes beziehungsweise Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650). Die Unkenntnis in wesentlichen Belangen indiziert ebenso mangelnde Glaubwürdigkeit (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).
Unter Berücksichtigung der vorstehend angeführten Rechtsprechung ist es den BF nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen glaubhaft und in sich schlüssig darzulegen; im Einzelnen:
II.2.7.2. Zum Vorbringen in Bezug auf die Ausreise und die darauf bezogenen Rückkehrbefürchtungen:
Zum Vorbringen des BF1 und der BF2:
Die bB hat dem Vorbringen der BF in Bezug auf eine Verfolgung wegen des politischen Engagements die Glaubhaftigkeit abgesprochen, zumal BF die behauptete Mitgliedschaft nicht belegen konnte und führt weiter aus, dass auch im Falle der Wahrunterstellung nichts für den BF zu gewinnen sei, da eine pauschale Verfolgung aller HDP Mitglieder bzw. – Sympathisanten sich nicht mit dem Amtswissen über die Vorkommnisse in der Türkei decke. Dem ist nicht entgegenzutreten. BF1 wurde im Beschwerdeverfahren die Gelegenheit eingeräumt, Belege für sein Vorbringen in Bezug auf seine politische Betätigung, etwa durch die Kontaktaufnahme mit der genannten Partei (diese betreibt auch eine Seite im Internet), zu beschaffen.
Mit Schreiben vom 30.7.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Ablichtung eines Antrages auf Mitgliedschaft bei der HDP, datiert mit 15.7.2014, ein. Dazu ist zunächst anzumerken, dass es sich bei dem vorgelegten Dokument offenbar um eine Fotographie handelt, die in elektronischer Form übermittelt wurde. Die Echtheit des Dokumentes, insbesondere des darauf applizierten Stempels der Partei ist damit nicht überprüfbar. Die Vorlage des Originals wurde weder angekündigt, noch ist diese bis dato erfolgt.
In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage der BF2 vor der bB zu beachten, als diese einerseits angab, ihr Mann habe die HDP unterstützt, andererseits aber ausführte: „… Mein Mann wollte immer Mitglied bei der Partei sein, er wurde es aber nie, weil wenn man legal Parteimitglied ist, kommt man sowieso sofort drauf. …“
Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen lässt sich letztlich nicht mit Sicherheit feststellen, ob BF1 tatsächlich Parteimitglied wurde. Ob bzw. welche Aktivitäten BF1 für oder im Namen der Partei ausübte, lässt sich weder dem Schreiben entnehmen noch erstattet BF1 diesbezüglich ein Vorbringen. Wie die bB richtigerweise argumentiert, ist allein aufgrund einer Mitgliedschaft zur besagten Partei aber auch noch nicht von der Gefahr einer Verfolgung auszugehen.
Der bB ist auch beizutreten, wenn sie ausführt, dass ein ernsthaftes Interesse der türkischen Behörden an der Person des BF1 auch deshalb nicht anzunehmen ist, da sich dessen politisches Engagement seinen eigenen Angaben zufolge als äußerst bescheiden darstellten; eine exponierte Stellung innerhalb der türkischen bzw. kurdischen Gesellschaft könne ihm aufgrund seiner Schilderungen jedenfalls nicht zugeschrieben werden.
In diesem Zusammenhang ist vor allem auf folgende Aussage des BF1 zur Frage der bB, ob er als Aktivist für die Rechte der Kurden bekannt gewesen sei, hinzuweisen: „Ich war nicht Aktivist, ich hätte es sein wollen, aber das lässt man bei uns nicht zu. Kaum will man etwas für die Kurden machen, wird man gestoppt.“
In Bezug auf seinen politischen Werdegang tätigte BF1 folgende Angaben: „Ich habe eine, wie man sagt, herzliche Verbindung zur kurdischen Partei, weil ich selbst auch Kurde bin und wir hatten eine kurdische Partei, die die Kurden vertritt. Deshalb unterstütze ich diese Partei. Und so viel von meiner Politisierung.“
Aufgrund der Angaben des BF1 im Verfahren kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass BF1 eine politische Tätigkeit für die besagte Partei oder auch außerhalb der Partei ausübte, die ihm ein besonderes politisches Profil verleihen würde. Überdies wäre diesfalls auch davon auszugehen, dass in der Türkei noch Personen leben, die eine persönliche Erinnerung an BF1 haben (BF1 ist ausweislich seiner Angaben im Jahr 2017 dort ausgereist) und über seine Aktivitäten zumindest schriftlich Auskunft gegeben hätten, selbst wenn man BF1 glauben möchte, dass das Hauptgebäude der Partei im Jahr 2015 samt seinen Archiven vernichtet wurde.
Ferner hielt es BF1 für notwendig, sein Vorbringen zu steigern, als etwa in der Beschwerdeschrift ausgeführt wird, dass ihm von der türkischen Regierung eine von ihnen abweichende politische Gesinnung unterstellt werde, weshalb er inhaftiert worden sei. Dies steht jedoch in krassem Widerspruch zu den bisherigen Angaben, die BF1 vor der bB tätigte, als er dort lediglich von kurzen Anhaltungen sprach: So gab er an, er sei bei Demonstrationen beobachtet worden, man habe ihm den Ausweis weggenommen und „kurz einvernommen“ und sei er, nachdem sie etwas Negatives gefunden hätten (gemeint war wohl: nachdem nichts Negatives gefunden worden sei) wieder freigelassen worden; er sei zwei Mal einvernommen worden, wobei die Einvernahmen jeweils circa fünfzehn Minuten gedauert hätten (AS 44f).
Insofern ist auf die obige Judikatur zu verweisen, wonach ein Vorbringen eines Asylwerbers insbesondere dann glaubhaft ist, wenn es konkrete, detaillierte Schilderungen der behaupteten Geschehnisse enthält und frei von Widersprüchen ist. Umgekehrt jedoch indizieren unwahre Angaben in zentralen Punkten oder das Verschweigen wesentlicher Sachverhaltsumstände die Unglaubwürdigkeit, ebenso gesteigertes Vorbringen, das heißt das Vorbringen gravierender Eingriffe nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit berichtet wird, sondern – inhaltlich vom Erstvorbringen abweichend – erst in einem (späteren) Verfahrensstadium, in welchem sich die asylrechtliche Irrelevanz des Erstvorbringens bereits gezeigt hat.
Eine weitere Steigerung ist in dem Vorbringen zu sehen, welchem zufolge die Wohnung der BF regelmäßig durchsucht worden sei und nach der Flucht des BF1 Sicherheitskräfte in das Haus der Familie gekommen wären, dabei explizit nach BF1 gefragt und BF2 misshandelt hätten. Von Hausdurchsuchungen hat BF2 erst anlässlich ihrer Einvernahme vor der bB gesprochen – bei ihrer Ersteinvernahme durch die Landespolizeidirektion hatte BF1 lediglich davon gesprochen, dass sie keine Perspektiven in der Türkei habe und ihr Onkel und ihre Schwester wegen der türkischen Polizei verstorben wären. BF1 hat von den von BF2 erwähnten Hausdurchsuchungen nichts berichtet. Sofern in der der Beschwerdeschrift von einer „Misshandlung“ der BF anlässlich der Hausdurchsuchungen gesprochen wird, ist darauf hinzuweisen, dass sie vor der bB Folgendes angegeben hat: „Sie haben mich auf die Seite geschubst, ich bin runtergefallen, meine Kinder haben das gesehen und Angst bekommen, (AS 33)“.
Aufgrund der Widersprüchlichkeit der Aussagen und den darin enthaltenen Steigerungen können diese als nicht glaubhaft erachtet werden.
Im Übrigen hat BF1 weder anlässlich seiner Ersteinvernahme durch die Landespolizeidirektion noch vor der bB von einem konkreten fluchtauslösenden Ereignis berichtet und erscheint es aus der Logik der von BF1 dargebotenen Geschichte auch nicht nachvollziehbar, dass die Behörde nach seiner Ausreise plötzlich Hausdurchsuchungen vorgenommen und nach ihm gesucht hätte.
Zudem weist auch der Umstand, dass BF1 alleine ausreiste und die übrigen Familienmitglieder etwa einen Monat danach ausreisten darauf hin, dass BF1 sein Land nicht aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verließ. Hätte BF1 sein Land tatsächlich aus Furcht vor Verfolgung verlassen, so wäre doch anzunehmen gewesen, dass er seine Familie mitgenommen hätte und sie nicht in einer den BF feindlich gesinnten Gesellschaft, wie dies vor der bB geschildert wurde, zurückgelassen hätte. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen erweist es sich als die insgesamt plausiblere Annahme, dass BF1 lediglich zu dem Zweck vor seiner Familie ausreiste, um deren Ankunft im Zielland vorzubereiten.
Sofern BF1 angibt, er sei als Kurde immer wieder beschimpft und erniedrigt worden und die Polizei habe ihm gegenüber die Aussage getätigt: „Warum seid ihr nicht in XXXX geblieben, sondern in unsere Stadt gekommen, wir werden Euch vernichten.“, sodass er nun Angst vor Polizisten habe, ist der bB beizupflichten, dass aus diesem Vorbringen die für einen asylrelevanten Übergriff erforderliche Intensität nicht ableitbar ist. Zwar ist es nachvollziehbar, dass Erniedrigungen und Diskriminierungen durch Mitbürger und Behörden ein subjektives Unwohlsein oder auch Angst erzeugen können, jedoch handelte es sich bei den vom BF geschilderten Verbalinjurien offenkundig um Unmutsäußerungen gegen die Kurden im Allgemeinen, die objektiv nicht geeignet erscheinen, Furcht vor Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes auszulösen.
Sowohl BF1 als auch BF2 schilderten zudem mehrere Begebenheiten aus der Vergangenheit, anlässlich welcher sie von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften sowie türkischen Mitbürgern schikaniert bzw. erschreckt worden seien und bringen sie auch vor, dass die Familie arm gewesen sei und Hunger habe leiden müssen – die BF seien in ihrer Schulzeit ausgegrenzt worden, die Schwester der BF2 im Jahr 2007 aus Schreck bei einer Kontrolle durch die türkischen Behörden gestorben, auch der Onkel sei verstorben und die Eltern seien vor ihren Augen geschlagen worden; von ähnlichen Geschehnissen wusste auch BF1 zu berichten, als er beispielsweise bei einem verspäteten Einrücken zum Militär schikaniert worden oder im Straßenverkehr wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe beschimpft und mit einer Waffe auf ihn gezielt worden sei.
Wiewohl es verständlich ist, dass derartige Erlebnisse in einem Menschen nachwirken, so mangelt es diesen doch – wie rechtlich noch näher auszuführen sein wird – an der im Sinne der Judikatur notwendigen Aktualität und/oder Intensität.
In Bezug auf die Befürchtungen der BF, im Falle einer Rückkehr wegen ihres politischen Engagements in Österreich einer Gefährdung ausgesetzt zu sein, ist Folgendes auszuführen:
Die BF brachten mit Schreiben vom 31.10.2017 vor, dem „ XXXX “ anzugehören und an Demonstrationen für politische Gefangene sowie die Freiheit des kurdischen Freiheitskämpfers Abdullah Öcalan in Österreich teilzunehmen. Diesem Schreiben wurden Fotos von BF2 vor einem Getränkestand, in dessen Hintergrund beispielsweise ein Bild von Abdullah ÖCALAN ersichtlich ist, und Fotos von BF1, auf welchen er bei einer Demonstration mit einer „Freedom for Öcalan“ – Flagge zu sehen ist, beigelegt und dazu ausgeführt, dass diese Demonstration am 7.10.2017 in Wien stattgefunden habe. Ferner wurde ein „Antrag auf Mitgliedschaft /Beitrittserklärung“ für „ XXXX “ vom 29.9.2017 vorgelegt.
Im gegenständlichen Fall wurde zwar über das Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens hinausgehend im Rechtsmittelverfahren behauptet, dass eine Verfolgung aufgrund der exilpolitischen Tätigkeit der BF1 und BF2 vorliege, jedoch haben die BF dies im Rechtsmittelverfahren nicht substantiiert und haben sie auch sonst an der Feststellung des Sachverhaltes nicht mitgewirkt: So wurden die BF zunächst mit einem Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.5.2019 aufgefordert, Angaben zu ihrer exilpolitischen Tätigkeit zu machen, insbesondere anzugeben, seit wann dieses besteht. Ferner wurden sie aufgefordert, nähere Angaben zu dem Verein, zu welchem ein Antrag auf Mitgliedschaft gestellt wurde und die darin ausgeübte Tätigkeit bzw. Funktion zu machen sowie eine Erklärung darüber abzugeben, weshalb sich die BF aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeiten der Gefahr einer Verfolgung durch die türkische Regierung ausgesetzt sehen, wie in ihrer Eingabe vom 31.10.2017 behauptet.
Zu ihrer exilpolitischen Tätigkeit tätigen die BF selbst keinerlei Angaben (in ihrer Stellungnahme vom 14.6.2019 verwiesen sie – unter Anführung verschiedener Berichte zur HDP und der allgemeinen politischen Situation in der Türkei – lediglich auf die Mitgliedschaft des BF1 bei der HDP in der Türkei und die dortige Teilnahme an Demonstrationen), vorgelegt wurde allerdings ein Schreiben des XXXX in Österreich vom 12.6.2019, wonach BF1 seit etwa zwei Jahren bei den Vereinen der Dachorganisation aktiv sei und er bei vielen Vereinsaktivitäten ein aktiver Teilnehmer sei. Näheres ist diesem Schreiben nicht zu entnehmen.
Deutet man die Bestätigung vom 14.6.2019, wonach BF2 seit etwa zwei Jahren an Vereinsaktivitäten teilnehme, so, dass die politische Tätigkeit bereits vor Abschluss des Verfahrens der bB – die Zustellverfügung wurde am 25.7.2019 unterzeichnet – begonnen hat, so ist kein Grund ersichtlich, weshalb die BF diesen Umstand nicht der bB vor Abschluss ihres Verfahrens hätten mitteilen können. Will man den BF zugestehen, dass die exilpolitische Tätigkeit der BF erstmals mit der Teilnahme an einer Demonstration im Oktober 2017, also erst im Rechtsmittelverfahren, begann und damit nicht vom Neuerungsverbot im Sinne des § 20 BFA-VG umfasst wäre, so wirft dies die Frage auf, weshalb die BF gerade zu dieser Zeit politisch aktiv wurden, als die bB ihre Anträge auf internationalen Schutz kurz zuvor wegen mangelnder Asylrelevanz abgewiesen hat (die belegte Teilnahme an einer Demonstration erfolgte am 7.10.2017, der Bescheid der bB wurde am 31.7.2017 hinterlegt) und erweckten die BF damit sehr stark den Eindruck, dass die Mitgliedschaft in einem Kurdischen Verein und die Teilnahme an einer Demonstration in Wien lediglich aus verfahrenstaktischen Gründen eingegangen wurde bzw. erfolgte.
Ferner sei auch auf folgende Darstellung der Vereinsaktivitäten in der vorgelegten Bestätigung des F XXXX in Österreich hingewiesen: dieser zufolge sei die Tätigkeit des Verbandes unter anderem die breite Präsentation kurdischen Kulturschaffens in Malerei, Theater, Musik, Literatur, Tanz und Film gemeinsam mit dem österreichischen Kulturleben. Der Verband veranstalte im weiteren Seminare und Diskussionsreihen mit internationalen Expertinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Politikerinnen, die zur soziokulturellen Entwicklung und zu neuen Perspektiven der in Österreich lebenden Kurdinnen beitragen würden. XXXX fördere die Zusammenarbeit von Österreicherinnen und Kurdinnen in den Bereichen Kultur, Integration, Gesellschaftspolitik, Arbeitsmarkt, Frauen, Wissenschaft, Menschenrechte, Globalisierung und internationale Kooperationen.
Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.6.2019 wurden die BF damit konfrontiert, dass mit der Bestätigung des XXXX die behauptete Gefahr einer Verfolgung nicht belegt werden kann. Den BF wurde Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen und wurde ihnen neuerlich die Möglichkeit eingeräumt, Bescheinigungsmittel für ihr Vorbringen beizubringen.
Mit Stellungnahme vom 9.7.2019 wurde in Bezug auf das Fluchtvorbringen und die Rückkehrbefürchtungen der BF lediglich dargelegt, dass BF1 Kontakt zur HDP aufgenommen habe. In Bezug auf die exilpolitische Betätigung der BF wurde kein Vorbringen erstattet.
Aufgrund der äußerst vagen Angaben der BF über ihre Antragstellung bzw. Beitrittserklärung für „ XXXX “ aus dem Jahr 2017 in Zusammenschau mit der Tatsache, dass sich der XXXX der kurdischen Gesellschaft in Österreich in seinem Bestätigungsschreiben als Kultur und Bildungsverein präsentiert und daraus auch nicht hervorgeht, dass BF1 in einem der Vereine der Dachorganisation eine Funktion mit maßgeblichem Einfluss oder sonst eine Aufgabe innehätte, die ihm ein herausragendes politisches Profil verleihen würden, sowie aufgrund des Umstandes, dass die BF ihrer Obliegenheit zur Mitwirkung in Bezug auf ihre exilpolitische Tätigkeit nicht nachkamen, war insgesamt zu erkennen, dass ein nennenswertes politisches Engagement und damit einhergehend ein besonderes Profil der BF aufgrund ihrer Aktivitäten in Österreich nicht vorliegt.
Hinsichtlich des bloßen Umstands einer Mitgliedschaft in einem kurdischen Verein oder der Teilnahme an Demonstrationen ist auch anzumerken, dass sich aus den herangezogenen Länderberichten und aktuellen Medienberichten keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte ableiten lassen, nach welchen gegenwärtig jede Person kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, die sich in einem kurdischen Verein engagiert, einer maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen würde. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an dem von den BF genannten Verein oder der Dachorganisation haben sollten, kamen im Verfahren nicht hervor. Ebenso lässt sich der Quellenlage nicht entnehmen, dass jede Person kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit Verfolgung bzw. Inhaftierung in der Türkei wegen der Teilnahme an Demonstrationen zu erwarten hätte. Auch ist aufgrund des Profiles der BF nicht ersichtlich, weshalb gerade an ihnen ein nachhaltiges Interesse der türkischen Behörden bestehen sollte. In diesem Zusammenhang ist neuerlich darauf zu verweisen, dass die BF auch keinen Sachverhalt bescheinigen konnten, aufgrund dessen von einem nennenswerten politischen Engagement in der Türkei auszugehen wäre.
Insgesamt ist es den BF daher nicht gelungen, das Gericht davon zu überzeugen, dass sie aufgrund ihrer nunmehrigen Mitgliedschaft bzw. ihres Engagements bei dem genannten Verein oder der Teilnahme an Demonstrationen bzw. einer ihnen deshalb unterstellten (oppositionellen) politischen Gesinnung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung oder Inhaftierung in der Türkei entgegensehen müssten.
Sofern die BF befürchten, im Falle ihrer Rückkehr wegen ihrer Ausreise eingesperrt zu werden, ist unter Hinweis auf die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Berichte anzumerken, dass sich daraus nicht ableiten lässt, dass Rückkehrer aus dem Ausland allgemein einer asylrelevanten Behandlung durch Sicherheitskräfte nach der Wiedereinreise unterzogen würden, sonstigen besonderen Repressalien unterliegen würden und allein aufgrund ihrer Ausreise eine Inhaftierung zu erwarten hätten. Den Länderfeststellungen sind die BF auch nicht substantiiert entgegengetreten.
Zum Vorbringen des BF3 und BF4:
BF1 und BF2 gaben vor der bB an, dass ihre Kinder keine eigenen Asylgründe haben, wiewohl sie auch diskriminiert worden seien, als sie etwa in der Schule ihre Sprache nicht hätten sprechen dürfen.
Wie soeben ausgeführt, erachtet das Bundesverwaltungsgericht das gesamte Vorbringen des BF1 und der BF2 in Bezug auf ihre Ausreise als nicht glaubhaft beziehungsweise - was im Zuge der rechtlichen Beurteilung nachfolgend dargelegt wird - als nicht asylrelevant, weshalb auch für BF3 und BF4 aus diesem Vorbringen nichts zu gewinnen war.
Das Bundesverwaltungsgericht kann aus diesen Erwägungen daher keine individuelle Gefährdung der minderjährigen Kinder erkennen.
Auf ihr Vorbringen bezüglich der Benachteiligung wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe wird im Folgenden eingegangen.
II.7.3. Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie der alevitischen Religionsgemeinschaft ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Diesbezüglich ist grundsätzlich festzuhalten, dass allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers für sich allein nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.01.2002, Zl. 2000/20/0358). So hat der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise im Erkenntnis vom 23.06.1998, Zl. 96/20/0144, ausgesprochen, dass die bloße Zugehörigkeit türkischer Staatsangehöriger zur Volksgruppe der Kurden und das alevitische Religionsbekenntnis samt der damit einhergehenden Diskriminierung keinen ausreichenden Grund für die Asylgewährung bilden.
Hinsichtlich des Umstands der kurdischen Abstammung der BF ist weiter auszuführen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichten die Situation für Kurden und Aleviten nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig sämtliche Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgeblichen Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
Hinsichtlich des Umstands der Zugehörigkeit der BF zur alevitischen Glaubensgemeinschaft ist ebenfalls auf die herangezogenen Länderberichte zu verweisen, in welchen keine von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass gegenwärtig Personen alevitischer Glaubenszugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
Die getroffenen Feststellungen unter Punkt II.1.5. zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen (aktuelles Länderinformationsblatt zur Türkei sowie Berichte des British Home Office zu Aleviten, wie unter II.2.1. zitiert), welche den BF zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt wurden. Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Auch kann aufgrund der großen Anzahl von Kurden und Aleviten in der Türkei eine pauschale Verfolgung sämtlicher Kurden und Aleviten in der Türkei durch die Behörden nicht angenommen werden. In gegenständlichem Fall ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass Verwandte der BF nach wie vor in der Türkei und dort in Antalya oder an verschiedenen anderen Orten leben, weshalb das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen kann, weshalb den BF allein aufgrund ihrer kurdischen Abstammung und ihrer alevitischen Religionszugehörigkeit ein weiterer Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll.
Das Bundesverwaltungsgericht tritt der Ansicht der bB bei, wonach exponierte Vertreter pro-kurdischer Parteien oftmals – meist unter Unterstellung, der PKK anzugehören oder diese zu unterstützen – mit Repressionen seitens des türkischen Staates konfrontiert seien. Eine derart exponierte Stellung kann den BF aus den unter II.2.7.2. dargelegten Gründen jedoch nicht zugeschrieben werden.
Wie die bB, so verkennt auch das Bundesverwaltungsgericht nicht, dass Aleviten den Berichten nach zufolge Diskriminierungen, etwa bei ihrer Religionsausübung oder auch im Bereich der Bildung, erfahren. Im Allgemeinen aber gipfelt diese Behandlung, wie etwa dem Bericht des British Home Office über Aleviten (siehe II.1.5.) zu entnehmen ist, nicht in Verfolgung oder schwerwiegende Schäden.
Sofern die BF unter Vorlage eines Artikels auf www.vienna.at veröffentlichten Artikels vom 7.2.2018 und einer Presseaussendung – aus dem Artikel geht hervor, dass ein Aleviten-Vertreter aus Wien nicht in die Türkei einreisen habe dürfen; einem in diesem Artikel zitierten österreichischen Parlamentarier zufolge sei dieser Vertrter verhaftet worden und auch in der vorgelegten Presseaussendung eines Parlamentsclubs wird von einer Verhaftung gesprochen – darauf hinweisen, dass ihnen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit in Verbindung mit ihrem politischen Engagement für die HDP Verfolgung droht, so ist, zunächst anzumerken, dass sich die türkischen Behörden dem Artikel zufolge nicht über den Grund für das Einreiseverbot geäußert haben und lässt sich auch nicht nachvollziehen, aus welchem Grund von verschiedenen Politikern bzw. einem Parlamentsclub von einer Verhaftung der betroffenen Person gesprochen wird. Wiewohl über das in dem Artikel berichtete Einreiseverbot bzw. einer Verhaftung offenbar lediglich Mutmaßungen angestellt wurden, so ist den darin enthaltenen Aussagen auch zu entnehmen, dass dem betroffenen Vertreter der Aleviten ein außergewöhnliches politisches Engagement und damit einhergehend ein herausragendes Profil zugeschrieben werden kann (der Aussage eines österreichischen Parlamentariers sei die „Verhaftung“ deshalb erfolgt, da der Betroffene eine Woche vor dem Geschehnis in Straßburg bei einer Veranstaltung gegen den türkischen Kriegseinsatz vor dem Europäischen Parlament gesprochen habe), was auf die BF gerade nicht zutrifft.
In diesem Zusammenhang sei noch einmal angemerkt, dass das Bundesverwaltungsgericht die Einschätzung der bB teilt, wonach es sich bei BF1 – abgesehen von der Frage, ob er nun Mitglieder der türkischen HDP war oder nicht – um einen Kurden bzw. Aleviten handle, dessen politisches Engagement den eigenen Angaben nach als äußerst bescheiden zu qualifizieren sind und ihm eine exponierte Stellung innerhalb der türkischen bzw. kurdischen Gesellschaft daher nicht zugeschrieben werden kann. Auch konnten die BF im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens nicht darstellen, inwiefern sie durch ihre exilpolitische Tätigkeit, etwa der Mitgliedschaft in einem kurdischen Verein oder der Teilnahme an politischen Demonstrationen, ein besonderes Profil erworben hätten und daher einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sein sollten.
II.7.4. Zu den Ausführungen der BF im Hinblick auf die Lage im Herkunftsstaat in ihrer Beschwerde sowie den abgegebenen Stellungnahmen ist noch Folgendes zu bemerken:
Insoweit unter auszugsweiser Zitierung verschiedener Berichte zusätzlich zu den von der Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Berichten die Situation der Aleviten in der Türkei thematisiert wird (etwa Turkey Country Report – Update vom 25.1.2017, Berichte von domradio.de vom 9.6.2017 und Telepolis vom 10.8.2016), ist darauf hinzuweisen, dass diese von den Beschwerdeführern beigebrachten Beweismittel nicht in Widerspruch zum Inhalt der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichte stehen. So geht aus diesen Berichten ebenfalls hervor, dass die umfassende rechtliche oder politische Anerkennung der Aleviten, der größten religiösen Minderheit, durch die türkische Regierung verweigert wird. In diesem Zusammenhang sei jedoch auch angemerkt, dass den vom Gericht eingesehenen Berichten jedoch auch zu entnehmen ist, dass Aleviten nichtsdestoweniger ihrer religiösen Betätigung ungehindert nachgehen dürfen. Den von den BF vorgelegten Berichten ist auch nichts Gegenteiliges zu entnehmen.
Der Berichtslage ist auch zu entnehmen, dass es in unmittelbarer Folge des gescheiterten Putschversuches im Juli 2016 Hinweise auf Bedrohungen, soziale Unruhen und Proteste in alevitischen Bezirken gab und zeigte sich ferner, dass alevitisch-kurdische Vereine in Anbetracht der Ereignisse in der Türkei rund um den versuchten Militärputsch und damit zusammenhängende Reaktionen der Regierung von Schließungen betroffen waren, wobei aber die Bedrohung von Kurden und (kurdischen) Aleviten nicht von Seiten türkischer Behörden, sondern von türkischen, gewaltbereiten Nationalisten im Zuge des gescheiterten Putschversuches ausging bzw. ausgeht. Den Berichten zufolge wurden Aleviten von den Behörden jedoch effektiver Schutz gewährt.
Hinzu kommt noch die wachsende Bedrohung durch Daesh oder den sogenannten Islamischen Staat, dessen (versuchte) Anschläge sich auch gegen nicht-sunnitische Minderheiten, wie die Aleviten, richten, wobei den Berichten zufolge auch Aleviten gegen Bedrohungen von nicht staatlichen bewaffneten Gruppierungen effektiver Schutz gewährt wird.
Übereinstimmend mit den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten ergibt sich aus diesen vom Beschwerdeführer vorgelegten Bescheinigungsmitteln zudem, dass stigmatisierende Äußerungen über die Aleviten durch hohe Vertreter des Staates, Staatspräsident Erdoğan eingeschlossen, laut Analysten und Aleviten-Vertretern zur Stimmungslage beigetragen haben, die zu verbalen bzw. physischen Übergriffen auf Aleviten führten. Insoweit lässt sich im Ergebnis auch aus diesen Bescheinigungsmitteln keine anders gelagerte Sachlage ableiten.
Vor dem Hintergrund dieser länderkundlichen Informationen war aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Lebensverlauf des BF1 und der BF2 vor der Ausreise aus dem Herkunftsstaat zu gewinnen, dass diese selbst auch angesichts eines allgemein intoleranten gesellschaftlichen Klimas und gewaltsamer Angriffe auf Personen in Einzelfällen, die etwa der alevitischen Glaubensgemeinschaft angehören, bis zur Ausreise keiner maßgeblichen Einschränkung in ihrem Alltagsleben aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit unterlagen, dies unter Außerachtlassung des behaupteten, jedoch nicht glaubhaften Bedrohungsszenarios durch die Hausdurchsuchungen und Fahndung nach BF1.
Aus den obenstehenden Erwägungen lässt sich ableiten, dass die bloße Zugehörigkeit der BF zur (kurdisch) alevitischen Glaubensgemeinschaft als solche nicht zu einer nachhaltigen individuellen Bedrohung durch Dritte oder staatliche Organe führte bzw. pro futuro nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit führt. Aus den länderkundlichen Informationen selbst ist zwar zu gewinnen, dass es in manchen Fällen zu gewaltsamen Angriffen auf Personen, die der (kurdisch) alevitischen Glaubensgemeinschaft angehören, gekommen ist, diese jedoch - bei einem Anteil von 15 bis 25 Millionen Aleviten an der türkischen Gesamtbevölkerung - zahlenmäßig relativ gering sind, wobei den länderkundlichen Informationen auch entnommen werden kann, dass es zwar zu Diskriminierungen und Assimilationsversuchen bezüglich der Aleviten kommt, von offizieller Seite aber auch Bemühungen unternommen werden, Spannungen abzubauen, insbesondere angesichts der kollektiven Bedrohung durch die Aktionen des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei. Die türkische Polizei vereitelte beispielsweise Anschläge des Islamischen Staates gegen Aleviten.
In ihrer Beschwerdeschrift und der Stellungnahme vom 1.7.2019 zitieren die BF auch Berichte über den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 sowie den daran anschließenden und bis zum Entscheidungszeitraum fortdauernden Ausnahmezustand. Insbesondere werden nochmals auf das sich seither verschärfte politische und religiöse Klima und die große Anzahl an Verdächtigen, die wegen der Teilnahme am Putschversuch und der Nähe zur Gülen-Bewegung angeklagt worden seien, hingewiesen. Die von den Beschwerdeführern zitierten Quellen zeichnen diesbezüglich ein nachvollziehbares und insgesamt stimmiges Bild. Das Bundesverwaltungsgericht verweist diesbezüglich jedoch zunächst auf die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei, welche die wesentlichen Ereignisse seit dem versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 abbilden. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die BF nicht vorbringen, individuell von diesen Geschehnissen betroffen zu sein und wurde auch im bisherigen Verfahren nicht davon berichtet, dass die BF der Gülen-Bewegung angehört oder am Militärputsch direkt oder indirekt teilgenommen hätten. Die Die BF gehören auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an. Ausweislich der vorstehenden beweiswürdigenden Erwägungen besteht demnach kein Anlass, eine Inhaftierung oder anderweitige Repressionen befürchten zu müssen.
Was die Ausführungen beziehungsweise den Verweis auf die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen in der Stellungnahme vom 22.05.2017 bezüglich des Verfassungsreferendums vom 16.04.2017, der Massenverhaftungen und Entlassungen von Polizisten und Richtern wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, der Einschränkungen der Aktivitäten der Medien durch den türkischen Staat, der Verletzungen des Versammlungsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung sowie der Fälle exzessiven Gebrauchs von Polizeigewalt und der Misshandlungen in Gefängnissen betrifft, so bleibt zunächst festzuhalten, dass hiermit ebenso wenig ein abweichendes Vorbringen erstattet wird. Entscheidend ist, dass diese Schilderungen keinerlei erkennbaren Bezug zum Vorbringen der BF erkennen lassen.
II.7.5. Soweit sich die BF in ihrer Beschwerde und ihren Stellungnahmen auf die Konflikte an der Grenze und im Landesinneren der Türkei, im Besonderen Terroranschläge und Kampfhandlungen, so geht auch das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die Sicherheitslage in der Türkei als angespannt zu bezeichnen ist und die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert ist. Die BF haben diesbezüglich jedoch nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Art. 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. In den Kurdengebieten der Südost-Türkei wurden nach dem Beginn der Dezember-Offensive im Jahr 2015 gegen die PKK in den drei Städten Cizre, Silopi und Diyarbakır zahlreiche PKK-Anhänger und Zivilsten getötet. Insbesondere zwischen Januar und Mai 2016 fanden massive Sicherheitsoperationen in urbanen Gebieten im Südosten statt. Mitte August 2015 wurden in 19 Distrikten von sieben Städten, vorwiegend in Diyarbakır, Şırnak, Mardin und Hakkâri, Ausgangssperren verhängt.
Festzuhalten ist jedoch, dass die BF nicht vorbrachten, vor ihrer Ausreise von Kampfhandlungen betroffen gewesen zu sein, noch, dass sie durch Ausgangssperren beeinträchtigt waren. Eine individuelle, aktuelle Betroffenheit der BF von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren ist demnach – schon in Anbetracht ihres Wohnortes in XXXX nicht anzunehmen.
Aus den zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen geht ferner eindeutig hervor, dass die Dezember-Offensive im Jahr 2016 abgeschlossen wurde und die Zahl ziviler Opfer daraufhin im Jahr 2017 stark abgesunken ist. Die verhängten Ausgangssperren wurden ebenfalls aufgehoben und in den Jahren 2017 und 2018 wurden keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt. Aus den Feststellungen lässt sich auch nicht ableiten, dass ein Wiederaufflammen der Kämpfe zu besorgen wäre. In Würdigung dieser Umstände ist festzuhalten, dass keine maßgebliche Gefahr erkennt werden kann, dass die Beschwerdeführerin im Rückkehrfall, etwa nach Antalya, wo sie vor ihrer Ausreise lebten, von willkürlicher Gewaltanwendung durch staatliche Organe aufgrund innerer Unruhen, von Luftangriffen oder von anderweitigen Kampfhandlungen im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes betroffen wären.
II.7.6. Da die BF keine staatliche Strafverfolgung in der Türkei aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt haben und die Todesstrafe in der Türkei darüber hinaus abgeschafft ist, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass sie im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würden. Ebenso kann aus ihrem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden, zumal keine polizeilichen Maßnahmen wider die BF glaubhaft gemacht wurden.
II.7.7. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist es den BF aus den vorstehend im Detail erörterten Aspekten nicht gelungen, eine sie betreffende Bedrohungs- oder Verfolgungssituation in der Türkei vor ihrer Ausreise oder im Rückkehrfall glaubhaft darzulegen. Das Bundesverwaltungsgericht tritt in einer Gesamtwürdigung des Vorbringens der BF der Ansicht der bB bei, welche davon ausging, dass die BF ihren Herkunftsstaat vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen verließen.
[…]
II.7.10. Zu den Einwänden in der Beschwerde, wonach die bB gehalten gewesen wäre, im Hinblick auf die Parteimitgliedschaft des BF selbst Ermittlungen anzustellen – BF1 brachte im Wesentlichen vor, er könne keinen Mitgliedsausweis vorlegen, auch sonstige Hinweise seien wegen eines Brandes des Parteigebäudes nicht erhältlich, ist zunächst neuerlich darauf hinzuweisen, dass – wie bereits die bB zutreffend ausführte – im gegenständlichen Verfahren vor allem der Frage einer exponierten politischen Stellung Relevanz zukommt, was durch den Umstand der Mitgliedschaft zur HDP alleine nicht belegt werden kann. Aus den unter II.2.7.2 näher dargelegten Gründen konnte BF1 oder den BF eine derart exponierte Stellung nicht zugeschrieben werden. Wie bereits ausgeführt, ist wohl anzunehmen, dass es dem BF – würde er tatsächlich über ein herausragendes Profil verfügen – gelungen wäre, Belege, etwa in Form von Aussagen (früherer) Parteimitglieder über die frühere Tätigkeit des BF bei der Partei zu erhalten, zumal BF1 erst im Jahr 2017 aus der Türkei ausreiste und frühere Parteigefährten und Aktivisten über die Parteizentrale leicht ausfindig gemacht werden könnten. Dem BF ist dies trotz Einladung des Bundesverwaltungsgerichtes, mit der Partei in Kontakt zu treten und Belege zu beschaffen, die sein Vorbringen über seine politische Aktivität stützen können, nicht gelungen.
Ferner sei darauf hingewiesen, dass eine über §§ 37 und 39 Absatz 2 AVG hinausgehende Ermittlungspflicht § 18 Asylgesetz nicht normiert (vgl. schon die Judikatur zu § 28 AsylG 1997, VwGH 14.12.2000, Zahl 2000/20/0494) und im Asylverfahren das Vorbringen des Antragstellers als zentrales Entscheidungskriterium heranzuziehen ist. Ungeachtet der gesetzlichen Verpflichtung der Asylbehörde bzw. des Asylgerichtshofes, im Einklang mit den im Verwaltungsverfahren geltenden Prinzipien der materiellen Wahrheit und des Grundsatzes der Offizialmaxime, den maßgeblichen Sachverhalt amtswegig (§ 39 Abs 2 AVG, § 18 AsylG 2005) festzustellen, obliegt es in erster Linie dem Asylwerber auf Nachfrage alles Zweckdienliche für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung darzulegen (vgl VwGH 16. 12 1987, 87/01/0299; 13. 4. 1988, 87/01/0332; 19. 9. 1990, 90/01/0133; 7. 11. 1990, 90/01/0171; 24. 1. 1990, 89/01/0446; 30. 1. 1991, 90/01/0196; 30. 1. 1991, 90/01/0197; vgl zB auch VwGH 16. 12. 1987, 87/01/0299; 2. 3. 1988, 86/01/0187; 13. 4. 1988, 87/01/0332; 17. 2. 1994, 94/19/0774) und glaubhaft zu machen (VwGH 23.2.1994, 92/01/0888; 19.3.1997, 95/01/0525). Es ist in erster Linie Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen. (VwGH 30. 11. 2000, 2000/01/0356).
Spiegelbildlich zum Einwand der BF ist jedoch auch darauf hinzuweisen, dass mit der amtswegigen Pflicht zur Sachverhaltsfeststellung die Pflicht der Parteien, an der Ermittlung des Sachverhaltes mitzuwirken. Die Offizialmaxime befreit die Parteien nicht davon, durch substanziiertes Vorbringen zur Ermittlung des Sachverhaltes beizutragen, wenn es einer solchen Mitwirkung bedarf; eine solche Mitwirkungspflicht ist dann anzunehmen, wenn der behördlichen Ermittlung faktische Grenzen gesetzt sind und die Behörde von sich aus nicht in der Lage ist, ohne Mitwirkung der Partei tätig zu werden (siehe die Nachweise bei Hengstschläger-Leeb, AVG § 39 Rz. 9 f; Erk. d. VwGH vom 24.4.2007, 2004/05/0285). Nach der Rechtsprechung des VwGH hat die Verpflichtung der Behörde zur amtswegigen Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes dort ihre Grenze, wo es der Mitwirkung der Partei bedarf und diese eine solche unterlässt (Erk. d. VwGH vom 12.9.2006, 2003/03/2006).
Gerade im antragsbedürftigen Asylverfahren auf die Mitwirkung des Asylwerbers im Verfahren ist Bedacht zu nehmen (§ 15 AsylG 2005) und im Rahmen der Beweiswürdigung – und damit auch bei der Beurteilung der Glaubhaftmachung - zu berücksichtigen (Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005 Kommentar, S 385 mwN auf die Judikatur des VwGH). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279). Wenn Sachverhaltselemente im Ausland ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungspflicht und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, als die Pflicht der Behörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht der Partei in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihr, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhalte beizuschaffen (VwGH 12.07.1990, Zahl 89/16/0069).
Das Gericht geht davon aus, dass seitens der bB im Rahmen der korrespondierenden Verpflichtung zur amtswegigen Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts und der Verpflichtung der BF an der Mitwirkung im Verfahren den Sachverhalt so weit ermittelte, dass sich das ho. Gericht ein ausreichendes Bild machen konnte. Zudem wurde den BF auch im Rechtsmittelverfahren die Gelegenheit gegeben, Belege für ihr Vorbringen zu erstatten und wurden sie diesbezüglich auch angeleitet. Eine amtswegige Ermittlung in Bezug auf die entscheidungsrelevante Frage, ob BF1 in der Türkei politisch aktiv war bzw. ob sich BF1 mit seiner Aktivität auch einen gewissen Bekanntheitsgrad oder ein politisches Profil erworben hat war sowohl der Behörde als auch dem Bundesverwaltungsgericht ohne Mitwirkung des BF nicht möglich.
Das Gericht geht davon aus, dass weitere Ermittlungen letztlich in einem nicht zulässigen Erkundungsbeweis geendet hätten und wurde von diesbezüglichen weiteren Ermittlungen daher Abstand genommen.
Im Übrigen konnte dies auch deshalb unterbleiben, da schon die Schilderungen des BF1 über seinen politischen Werdegang, wie unter II.2.7.2. näher ausgeführt, recht deutlich darauf hinweisen, dass sich BF1 kein nennenswertes politisches Profil, ob nun innerhalb der Partei oder davon unabhängig, erwarb.
Die Ausführungen in Bezug auf die Mitwirkung gelten auch für die Behauptungen in Bezug auf die Verfolgung der BF wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeiten, bezüglich derer trotz mehrerer Gelegenheiten im Verfahren keine Initiative zur Mitwirkung gezeigt wurde. Da weder ein Vorbringen erstattet wurde noch Beweismittelanträge gestellt wurden, aus welchen das Gericht hätte erkennen können, dass weitere Ermittlungsschritte zu einer Klärung des Sachverhaltes führen würden, wurde auch diesbezüglich von weiteren amtswegigen Ermittlungen abgesehen.“
2.3.2. Vorbringen der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren:
2.3.2.1. Im gegenständlichen Verfahren gab der BF1 auf Befragen zu seinen Gründen für eine neuerliche Asylantragstellung trotz rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens in der Erstbefragung am 15.11.2019 zusammengefasst an, er habe in XXXX am XXXX .2019 an Protestkundgebungen und Demonstrationen gegen die Verletzung der Menschenrechte in der Türkei und gegen den Einmarsch türkischer Truppen in Syrien teilgenommen. Er nehme an pro-kurdischen Demonstrationen schon seit seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2017 teil. Weiters habe er Beweise, dass er Mitglied der HDP-Partei mit einer Zweigstelle in XXXX und Hauptsitz in XXXX sei. Mitglieder der HDP würden in der Türkei als Terroristen betrachtet und behandelt werden. Während im Erstverfahren seine Mitgliedschaft nicht habe belegt werden können, habe nun eine Kopie der Mitgliedschaftsbestätigung nachgereicht werden können. Er sei seit 15.07.2014 Parteimitglied. Weiters sei er seit 2017 Mitglied im XXXX . Im Falle einer Rückkehr in die Türkei würde er sicher unverzüglich inhaftiert werden. Die vorhandenen Beweise in Form von Fotos würden sich auch in den Händen der türkischen Behörden befinden und gegen den BF1 als Beweis verwendet werden. Wenn der BF1 inhaftiert werden würde, müsste seine Familie auf der Straße leben, da keiner für seine Familie sorgen könne. Es sei durchaus möglich, dass er lange Zeit ohne Anklage in der Haft verbleibe und danach Anklage wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten erhoben werde.
Konkrete Hinweise, dass dem BF1 im Falle seiner Rückkehr in die Türkei unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe drohen würde oder er sonst mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, lägen jedoch nicht vor.
BF2 gab auf Befragen zu ihren Gründen für eine neuerliche Asylantragstellung trotz rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens in der Erstbefragung am 15.11.2019 zusammengefasst an, sie habe in XXXX gemeinsam mit dem BF1 an Protestkundgebungen teilgenommen, die vom XXXX organisiert worden seien. Dazu lege sie zwei Beweisfotos von vor damals etwa einer Woche vor. Generell würde sie schon seit ihrer Einreise 2017 in Österreich an Demonstrationen teilnehmen. Bei diesen Veranstaltungen würden von türkischer Seite Fotos und Videos gemacht werden, die dann in sozialen Medien verbreitet würden. Davon würden der türkische Staat bzw. die türkischen Behörden erfahren und bestehe deswegen für die Beschwerdeführer Lebensgefahr. Sie hätten bei diesen Veranstaltungen für den Frieden und gegen die Verletzung der Menschenrechte demonstriert, würden aber dennoch [in der Türkei, Anm.] als Terroristen betrachtet werden. Im Falle einer Rückkehr fürchte die BF2, gemeinsam mit dem BF1 bei Einreise am Flughaften inhaftiert zu werden, sodass die Kinder ohne ihre Eltern bleiben müssten und auch keine Möglichkeit auf eine Schulbildung erhalten würden.
Konkrete Hinweise, dass der BF2 im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe drohen würde oder sie sonst mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, lägen nicht vor. Es sei aber allgemein bekannt, dass jedem HDP-Mitglied Sanktionen in Form einer Haftstrafe, teilweise sogar ohne Gerichtsverfahren, drohen würden, vor allem wenn es wie im Fall der Beschwerdeführer Fotobeweise geben würde.
Die unmündig minderjährige Fünftbeschwerdeführerin habe keine eigenen Fluchtgründe und würden die von der BF2 vorgebrachten Gründe auch für die BF5 gelten.
BF3 gab auf Befragen zu ihren Gründen für eine neuerliche Asylantragstellung trotz rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens in der Erstbefragung am 15.11.2019 zusammengefasst an, sie habe bei ihrer Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2017 keine eigene Erstbefragung gehabt, da sie damals noch unmündig gewesen sei. Ihr Vater (BF1) sei Mitglied der HDP und hätte die Familie in der Türkei deshalb immer wieder Probleme mit der Polizei gehabt. Sie habe in der Schule oder auf der Straße nicht Kurdisch sprechen dürfen, da sie sonst mit den Türken Probleme bekommen hätte. Sie wisse auch von ihrem Bruder (BF4), dass er deshalb einmal einen Streit gehabt habe. In der Türkei gebe es keine Menschenrechte. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie, ihr Vater würde inhaftiert werden und, dass sie dann ohne Geld und Unterkunft auf der Straße landen würden. Sie könnte außerdem ihre Schulbildung nicht fortsetzen, da in der Türkei für das Gymnasium eine Aufnahmeprüfung erforderlich sei, die sie nicht bestehen würde, weil sie die Mittelschule nicht in der Türkei besucht habe. Sie habe inzwischen gut Deutsch gelernt, das würde ihr jedoch nicht helfen, da die Prüfung auf dem Stoff türkischer Schulen aufbaue.
Konkrete Hinweise, dass der BF3 im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe drohen würde oder sie sonst mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, lägen nicht vor.
BF4 gab auf Befragen zu seinen Gründen für eine neuerliche Asylantragstellung trotz rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens in der Erstbefragung am 15.11.2019 zusammengefasst an, er habe bei seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2017 keine eigene Erstbefragung gehabt, da er damals noch unmündig gewesen sei. In der Schule sei er von seinen Mitschülern abgelehnt, ausgelacht und verspottet worden, weil er Kurde sei. Manchmal sei er von ihnen auch geschlagen worden. Oft hätten sie ihn in eine Ecke gedrängt und ihn verspottet oder beschimpft. Er sei schon deswegen schlecht in der Schule benotet worden, weil er Alevit sei und im sunnitischen Religionsunterricht Dinge, die im Widerspruch zu seiner Religion gestanden seien, nicht gemacht habe. Als er in der Schule geschlagen worden sei, hätten seine Eltern die Polizei gerufen. Die Polizisten seien zur Schule gekommen und haben mit dem anderen Schüler, seinen Eltern und dem Schuldirektor gesprochen. Jedoch sei der Mitschüler weder verwarnt noch bestraft worden, nur, weil der BF4 Kurde und der Mitschüler Türke gewesen sei. Außerdem dürften sie sich in der Schule und auf der Straße nicht auf Kurdisch unterhalten. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei habe der BF4 Angst, dass die Polizisten seine Mutter oder seinen Vater festnehmen und er dann mit seinen Geschwistern allein zurückbleibe oder auf der Straße leben müsse. Außerdem bestünde keine weitere Möglichkeit der Schulbildung, da er durch den Aufenthalt in Österreich viel in der türkischen Schule versäumt habe und an der Aufnahmeprüfung in der Türkei scheitern würde.
Konkrete Hinweise, dass dem BF4 im Falle seiner Rückkehr in die Türkei unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe drohen würde oder er sonst mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, lägen nicht vor.
Im ergänzend schriftlich eingebrachten Antrag auf internationalen Schutz, datiert mit 07.11.2019, wurde zudem seitens des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer noch ausgeführt, dass alle Beschwerdeführer Mitglieder der HDP seien, in Österreich an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen und zudem auch in Sozialen Medien ihre Meinung kundgetan hätten. Allen Beschwerdeführer würde daher im Fall der Rückkehr in die Türkei Verfolgung aus politischen Gründen drohen.
2.3.2.2. Der BF1 gab am 13.02.2020 vor dem Bundesamt zu den Gründen für die erneute Asylantragstellung befragt im Wesentlichen zusammengefasst an, die Beschwerdeführer hätten in Österreich gegen den Krieg und für Demokratie sowie Menschrechte in der Türkei demonstriert. An das Datum der Demonstrationen könne er sich nicht so gut erinnern, es sei eine Demonstration vor der Oper gewesen, an der er teilgenommen habe. Zum Beweis lege er drei Fotos vor. Die Fotos seien von verschiedenen Kundgebungen und er könne sich nicht erinnern, wann er zuletzt an einer Kundgebung teilgenommen habe. Der türkische Geheimdienst mache zudem Fotos und Videos von Demonstranten und schicke diese dann weiter. Er wisse nicht genau wer die Aufnahmen mache, aber es seien Leute dabei gewesen, die mit dem Handy gefilmt hätten. Die Demonstrationen seien vom Verein XXXX organisiert worden und hätten sich gegen den Krieg gerichtet bzw. für den Frieden. Nunmehr lege er auch eine Mitgliedsbestätigung zur HDP vor, die ihm sein Schwager besorgt habe. Dieser lebe in Österreich, sei aber in die Türkei geflogen und habe diese mitgebracht. Er selbst habe keine so guten Beziehungen zur HDP oder eine Telefonnummer, sodass er sich die Bestätigung nicht habe schicken lassen können. Er habe seinem Schwager seine Daten mitgegeben und dieser habe die Bestätigung dann vor Ort abgeholt. Auf Vorhalt, weshalb er die Bestätigung nicht bereits bei der letzten Einvernahme vorgelegt habe, gab der BF1 lediglich an, es sei sich zeitlich nicht ausgegangen. Er sei ein ganz normales HDP-Mitglied gewesen ohne Verantwortung. Auf Nachfrage, wann der BF1 der HDP beigetreten sei, gab er nur an, auf dem Schreiben stünde das Datum. Es sei seine Volkspartei, deswegen habe er sich für eine Mitgliedschaft entschieden. Der Hauptsitz der Partei sei in Ankara. In XXXX sei das Zentrum der Kurden. Aktuell sei XXXX Parteivorsitzender, nachdem XXXX in Untersuchungshaft sitze. Die HDP verfolge das Ziel, dass alle Menschen ihre Muttersprache sprechen und in demokratischer Freiheit leben dürften. Er nehme an pro-kurdischen Kundgebungen teil, weil er selbst Kurde sei und es ihn persönlich sehr treffe. Er wolle, dass alle Menschen frei leben und in ihrer Muttersprache sprechen könnten. Mit Behörden an sich habe der BF1 keine Probleme gehabt. Es sei sehr oft sein Ausweis kontrolliert und sei er auch mehrmals auf der Polizeistation befragt worden. Zum kurdischen Verein in Österreich sei er durch seine Verwandten gekommen, da diese dort alle Mitglieder seien. Er sei dort nur Mitglied und werde über anstehende Kundgebungen informiert. Der Verein XXXX sei an derselben Adresse situiert, wie der Verein XXXX . Im Falle seiner Rückkehr in die Türkei fürchte er, wegen seinen Teilnahmen an Kundgebungen und Demonstrationen verhaftet zu werden. Es gebe viele Beispiele in den Medien, wonach Künstler und Journalisten in Untersuchungshaft wären. Persönlich kenne er aber niemanden. Seine bereits verstorbenen Eltern hätten kein Türkisch sprechen können und seien unterdrückt und gefoltert worden. Die ganze Familie im Dorf habe Angst vor dem Militär gehabt, sodass sich das politische Interesse des BF1 entwickelt habe. Er mache sich Sorgen um seine Kinder, diese seien in Österreich gut integriert und würden in einem demokratischen Land leben wollen.
Die BF2 gab am 13.02.2020 vor dem Bundesamt zu den Gründen für die erneute Asylantragstellung befragt im Wesentlichen zusammengefasst an, die BF3 und der BF4 hätten eigene Flucht- bzw. Asylgründe und würden diese nunmehr selbst vorbringen wollen. Die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin habe hingegen keine eigenen Fluchtgründe und würde für sie ein Antrag im Rahmen des Familienverfahrens gestellt werden. Die Beschwerdeführer würden seit drei Jahren in Österreich wohnen und hätten an vielen Demonstrationen und Kundgebungen gegen das türkische Regime teilgenommen. Sie würden wissen, dass ihre Daten vom türkischen Geheimdienst weitergegeben worden und sie nicht in Sicherheit seien. So habe sie etwa an einer Demonstration bzw. einer Solidaritätskundgebung nahe der Oper gemeinsam etwa insgesamt etwa 1000 Personen teilgenommen. Diese Kundgebung sei vom kurdischen Verein XXXX organisiert worden. Sie habe an vielen Demonstrationen und Kundgebungen, darunter auch gegen Zwangsverwaltungen in der Türkei, und zuletzt im Dezember 2019, teilgenommen, könne aber keine genaue Anzahl nennen. Es würde dabei von Journalisten und Kameramännern fotografiert und gefilmt werden, sie wisse aber nicht, wem diese Journalisten und Kameramänner zugehörig wären. Sie nehme aber nur an Demonstrationen und Kundgebungen teil bzw. helfe sie dort mit. Politisch sei sie selbst nicht aktiv, da sie nur geringe Schulbildung besitze. Sie sei auch kein offizielles Mitglied der HDP. Der BF4 nehme an den Kundgebungen auch immer teil, die BF3 hingegen nur, wenn sie nicht in der Schule sei. Es sei ihr wichtig, dass Menschen in Freiheit und Frieden leben könnten und wolle sie ihren Teil dazu beitragen. Kurden wären in der Türkei einem starken Druck ausgesetzt. Künstler und Sänger würde man inhaftieren, weil sie Kurdisch sprechen. Selbst habe sie in der Türkei keine Probleme mit Behörden gehabt. Der BF4 sei geschlagen worden, die herbeigerufene Polizei habe aber nichts unternommen. Als alevitische Kurdin sei sie generell gesellschaftlich diskriminiert worden. Sie mache sich große Sorgen um ihre Familie. Es gebe eine Sängerin namens XXXX , welche in der Türkei verhaftet worden sei.
Die damals noch minderjährige BF3 gab am 13.02.2020 vor dem Bundesamt zu den Gründen für die erneute Asylantragstellung befragt im Wesentlichen zusammengefasst an, sie sei im ersten Verfahren nicht einvernommen worden und wolle nunmehr aussagen. Ihre Eltern seien in letzter Zeit sehr oft an Demonstrationen in Österreich beteiligt gewesen und von türkischen Agenten aufgenommen worden. Daher hätten die Beschwerdeführer große Sorge um ihre Sicherheit. Man werde schnell als Terrorist abgestempelt. Sie selbst habe an keinen Demonstrationen teilgenommen, ihr Bruder (BF4) aber schon. In der Schule in der Türkei sei gemobbt worden, weil sie der Volksgruppe der Kurden angehöre. Ihre Freunde hätten sie immer gefragt, welcher Partei sie angehöre. Sie habe immer verheimlichen müssen, dass sie Kurdin sei. Kurden würden generell als Terroristen gelten. Der Bruder sei deswegen in der Schule auch geschlagen worden, es sei Anzeige erstattet worden, jedoch ohne Ergebnis. Sie selbst sei in der kurdischen Partei nicht aktiv, weil sie minderjährig sei. In Österreich habe man viele Möglichkeiten zur Weiterbildung und könne sie nicht sagen, was in der Türkei passieren werde.
Der minderjährige BF4 gab am 13.02.2020 vor dem Bundesamt zu den Gründen für die erneute Asylantragstellung befragt im Wesentlichen zusammengefasst an, er und seine Schwester (BF3) hätten neue Gründe, da sie im ersten Verfahren keine Aussage gemacht hätten. Er sei mit seinen Eltern auf Demonstrationen und Kundgebungen gewesen. Dort würde fotografiert und Videos aufgenommen werden, welche dann an den türkischen Geheimdienst geschickt würden. Es könne auch sein, dass diese Videos und Fotos auf Sozialen Medien veröffentlicht würden und wäre es daher möglich, dass auch der BF4 ins Gefängnis komme. Befragt, an welchen Demonstrationen er teilgenommen habe, gab der BF4 an, es habe immer Solidaritätskundgebungen gegeben. In Syrien sei eine kurdische Politikerin erschossen worden, da hätten die Beschwerdeführer an der Kundgebung teilgenommen. Diese habe am Stephansplatz an einem Samstag im Jahr 2019 stattgefunden und hätten daran etwa 30 Leute teilgenommen. Weiters hätte es in der Türkei Streit zwischen dem BF4 und einem Klassenkameraden gegeben, weil der BF4 angegeben habe, die HDP zu unterstützen. Der Mitschüler habe ihn beschimpft und geschlagen. Die Polizei sei zwar gekommen, habe aber nichts unternommen und sei der Mitschüler auch nicht bestraft worden, weil dieser Türke sei. BF4 werde wegen seiner Zugehörigkeit zu den alevitischen Kurden diskriminiert, sei aber nicht verfolgt worden.
2.3.2.3. Beweiswürdigend führte das Bundesamt in den angefochtenen Bescheiden vom 12.05.2020 zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates hinsichtlich des BF1 zusammengefasst aus, dass es ihm nicht gelungen sei, vor dem Bundesamt ein fundiertes und substanziiertes Vorbringen zu erstatten. Er habe angegeben, gegen den Krieg und für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei demonstriert zu haben. Konkrete Angaben zu diesen Demonstrationen habe er nicht machen können. So habe der BF1 weder Daten noch detaillierte Inhalte nennen können. Er habe drei Fotos vorgelegt, auf welchen die BF2 und der BF4 mit Flaggen von XXXX zu sehen wären. Ob diese Fotos tatsächlich publiziert worden wären, hätte der BF1 nicht angeben können. Er habe lediglich behauptet, dass es einen türkischen Geheimdienst gebe, der Fotos und Videos mache. Er habe weiters ausgeführt, immer an Kundgebungen teilzunehmen, habe jedoch nicht angeben können, welche das konkret gewesen wären oder wann diese stattgefunden hätten. Weiters habe der BF1 ein Schreiben der HDP vorgelegt, welches seine Parteimitgliedschaft belegen sollte. Es sei nicht nahvollziehbar, dass der BF1 – als vorgeblich aktives Mitglied der HDP – über keinerlei Kontaktdaten der Partei verfüge und die Bestätigung deswegen vom in die Türkei gereisten Schwager besorgt hätte werden müssen. Die Authentizität des Schriftstückes könne nicht verifiziert werden. Auch habe der BF1 seine Aussage, Aktivist der HDP gewesen zu sein, selbst relativiert und angeführt, nur ein ganz normales Parteimitglied gewesen zu sein. Er habe nur äußerst vage Parteiziele nennen können und sei der Frage nach dem Grund des Beitritts zur Partei ausgewichen. Auch den Grund für seine Teilnahme an pro-kurdischen Kundgebungen sowie die Inhalte der Vereine XXXX und XXXX bzw. die Gründe für seine Mitgliedschaft habe er nicht substanziiert nennen können. Der erste Asylantrag sei bereits rechtskräftig negativ entschieden worden und habe nicht festgestellt werden können, dass bis zur neuerlichen Asylantragstellung am 15.11.2019 tatsächlich asylrelevantes neues Vorbringen hinzugekommen wäre. Zusammengefasst habe der BF1 keine konkreten Anhaltspunkte nennen können, dass er als Person explizit von staatlicher Seite einem künftigen asylrelevanten Verfolgungsszenario ausgesetzt wäre. Die Angaben zu etwaigen Teilnahmen an Demonstrationen oder anderweitigen pro-kurdischen Aktivitäten seien zu vage gewesen und ein gesteigertes Interesse türkischer Behörden an seiner Person nicht hervorgekommen.
Zur BF2 führte das Bundesamt in seiner Beweiswürdigung im Wesentlichen aus, ihr Vorbringen sei vage. Auch sie habe angegeben, an Demonstrationen und Kundgebungen gegen das türkische Regime teilgenommen zu haben, sei jedoch nicht in der Lage gewesen, konkret anzugeben, welche Demonstrationen das gewesen seien. Auch habe sie nur eine einzige konkrete Kundgebung angeben können, jedoch deren Zweck und Inhalte nur sehr vage präsentieren können. Auch habe die BF2 nicht angeben können, an wie vielen Kundgebungen sie insgesamt teilgenommen habe und auch keine Beweismittel für ihre Teilnahme vorgelegt. In sozialen Medien seien ihr Name oder Fotos nachweislich nicht veröffentlicht worden. Auch habe die BF2 nicht angeben können, wer Aufnahmen gemacht haben soll. Die BF2 sei weder offizielles Mitglied der HDP-Partei, noch sei sie als besonders aktive Unterstützerin anzusehen. Ihre Aktivitäten hätten sich nur auf unpräzise angeführte Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen beschränkt. Der erste Asylantrag sei bereits rechtskräftig negativ entschieden worden und habe nicht festgestellt werden können, dass bis zur neuerlichen Asylantragstellung am 15.11.2019 tatsächlich asylrelevantes neues Vorbringen hinzugekommen wäre. Zusammengefasst habe die BF2 keine konkreten Anhaltspunkte nennen können, dass sie als Person explizit von staatlicher Seite einem künftigen asylrelevanten Verfolgungsszenario ausgesetzt wäre. Die Angaben zu etwaigen Teilnahmen an Demonstrationen oder anderweitigen pro-kurdischen Aktivitäten seien zu vage gewesen und ein gesteigertes Interesse türkischer Behörden an seiner Person nicht hervorgekommen.
Zum Vorbringen der BF3, in der Schule diskriminiert worden zu sein, hielt das Bundesamt beweiswürdigend fest, dass eine konkrete Verfolgung der BF3 aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe ihren eigenen Angaben nicht stattgefunden habe und sie selbst auch nicht politisch aktiv sei bzw. gewesen sei. Sie habe in Österreich auch an keinen Demonstrationen teilgenommen und habe die BF3 daher keine konkreten Anhaltspunkte nennen können, dass sie als Person konkret von staatlicher Seite einem künftig asylrelevanten Verfolgungsszenario ausgesetzt wäre.
Auch das Vorbringen des BF4 sei vage. Er habe keine genauen Angaben zu den von ihm besuchten Demonstrationen machen können und lediglich einen nicht näher definierten Samstag im Jahr 2019 genannt. Hinsichtlich der vorgebrachten Diskriminierungen in der Schule in der Türkei sei auch hinsichtlich des BF4 festzuhalten, dass eine konkrete Verfolgung des BF4 aufgrund seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe seinen eigenen Angaben nicht stattgefunden habe und er selbst in der Türkei auch nicht politisch aktiv gewesen sei.
2.3.2.4. In der Beschwerde wurde im Wesentlichen begründend ausgeführt, dass im gegenständlichen zweiten Asylverfahren der Beschwerdeführer neue Beweismittel und Tatsachen, welche im Erstverfahren unberücksichtigt geblieben seien und ohne Verschulden der Beschwerdeführer nicht geltend gemacht hätten werden können, bestünden, die zu einer anderslautenden Entscheidung geführt hätten. BF1, BF2 und BF4 hätten in Österreich vor und nach dem ablehnenden ersten Bescheid des Bundesamtes vom 25.07.2017, der Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 sowie nach Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 18.10.2019 über die Zurückweisung der außerordentlichen Revision bei Demonstrationen teilgenommen. Es handle sich dabei um in Österreich nachträglich begründete Nachfluchtgründe. Aufgrund der sich „rasant negativ“ verändernden politischen Umstände und der damit einhergehenden Menschrechtsverletzungen und Einschränkungen demokratischer Rechte in der Türkei hätten in Österreich mehrere Solidaritätsdemonstrationen und Kundgebungen stattgefunden, an welchen BF1, BF2 und BF4 teilgenommen hätten. Insbesondere sei gegen den Einmarsch des türkischen Militärs gemeinsam mit islamischen Gruppierungen in das kurdische Gebiet in Nordsyrien, die Vertreibung der Kurden und der Besatzung des Gebietes, die Verhaftungen von HDP-Bürgermeistern, Politikern und Parteimitgliedern, Journalisten und von aus dem Ausland in die Türkei einreisenden Menschen protestiert worden. Es sei allgemein bekannt, dass insbesondere aus der Türkei stammende, oppositionsnahe, regierungskritische Freidenker, Kurden und Kurdenfreunde sowie Aleviten und Alevitenfreunde von türkischen Spitzeln beobachtet werden. Es würden Namenslisten sowie Aufzeichnungen geführt und diese an die türkischen Behörden weitergegeben werden. In diesem Zusammenhang wurde auf mehrere, in der Beschwerde näher zitierte Presseberichte verwiesen. Die Beschwerdeführer hätten damit insbesondere aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen sowie der damit verbundenen Verhaftungsgefahr in der Türkei in Österreich neu entstandene Asylgründe, welche nicht Gegenstand des ersten Asylverfahrens gewesen seien, zumal BF3 und BF4 damals nicht einvernommen worden seien. Die vom Bundesamt herangezogenen Länderberichte hätten keinerlei Berichte des türkischen Menschrechtsvereins berücksichtigt und seien daher einseitig und nicht objektiv nachvollziehbar. Dennoch würde auch aus diesen Länderfeststellungen hervorgehen, dass es in der Türkei insbesondere gegen Kurden, HDP-Mitglieder oder Sympathisanten, sowie Journalisten und Künstler zu Menschenrechtsverletzungen kommen würde. Dem BF1 drohe allein aufgrund seiner politisch-regierungskritischen Einstellung und seiner Zugehörigkeit zur kurdisch-alevitischen Volksgruppe ein Prozess wegen Unterstützung von Terrororganisationen gemäß Art. 134 des türkischen Strafgesetzbuches. Die Beschwerdeführer würden aus XXXX (ehemals: XXXX ) stammen und handle es sich dabei um eine historisch bedingte politisch sehr aktive kurdisch-alevitische und als oppositionell aufgefasste Region. Menschen in dieser Region würden in der Türkei deshalb nach wie vor unterdrückt und diskriminiert. Es brachte daher nicht viel, um als politisch aktiv zu gelten und deswegen verfolgt zu werden. Die BF3 und der BF4 hätten im gegenständlichen Verfahren erstmals selbst ihre Fluchtgründe vorbringen können und liege daher ein anderer Sachverhalt vor. Beide wären in der Schule wegen ihrer Zugehörigkeit zu den alevitischen Kurden diskriminiert worden. Im Falle einer Rückkehr könnten sie ihre Schulbildung nicht fortsetzen, da sie die entsprechende Aufnahmeprüfung nicht schaffen würden. Das gegenständliche Ermittlungsverfahren sei mangelhaft und die Begründungen aus dem ersten Verfahren unreflektiert übernommen worden. Es sei insbesondere unterlassen worden festzustellen, inwieweit Demonstranten an prodemokratischen, regimekritischen Demonstrationen gegen die Lage in der Türkei wegen ihrer Teilnahme in Österreich sowie wegen der Mitgliedschaft zum Verein XXXX im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit einem Strafprozess wegen Terrorvorwürfen ausgesetzt und zu unverhältnismäßigen Strafen verurteilt werden würden.
Das Bundesamt habe weiters bei Erlassung der gegenständlichen Rückkehrentscheidung nicht berücksichtigt, dass die Beschwerdeführer bei der Familie der Schwester der BF2 leben würden und sehr starke gegenseitige familiäre Bindungen bestünden. Die Erkrankung der Schwester der BF2 habe sich seit der Anwesenheit der Beschwerdeführer gebessert, insbesondere habe diese Schwester eine starke Bindung zur in Österreich nachgeborenen Fünftbeschwerdeführerin und würde eine Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer bedeuten. Die Kinder seien schulpflichtig, hätten die deutsche Sprache bereits gut gelernt und seien in der Schule gut integriert.
2.3.2.5. Im Rahmen der Beantwortung der Fragen hinsichtlich der unterbliebenen Ausreise nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens in der Stellungnahme vom 10.03.2022 wurden zusammengefasst die Ausführungen in der Beschwerde sowie des ergänzenden Vorbringens vom 29.09.2020 wiederholt. Im Falle einer Rückkehr bestünde die Gefahr, dass der BF1, die BF2 und der BF4 völlig zu Unrecht bestraft und im Gefängnis landen würden. Die vorgebrachten „Asylgründe“ der BF3 und der BF4 seien wegen ihrer nicht erfolgten Einvernahme im Erstverfahren neu und seien deshalb dort nicht bereits Prüfungsgegenstand gewesen. Es liege daher ein neuer Sachverhalt vor, sodass der § 68 Abs. 1 AVG nicht anwendbar sei. Aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen in Österreich sei nicht auszuschließen, dass der BF1, die BF2 und der BF4 bei Rückkehr in die Türkei direkt am Flughafen festgenommen werden könnten. In weiterer Folge könnte ihnen der Prozess wegen Terrorismusunterstützung bzw. Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation gemacht werden. Es bestehe weiters auch die Möglichkeit, dass der BF1 aufgrund seiner HDP-Mitgliedschaft bei Wiedereinreise festgenommen werde. In Österreich selbst habe es keine konkreten Bedrohungen, Bedrängungen oder Verfolgungen der Beschwerdeführer gegeben. Es sei aber allgemein bekannt, dass im Zuge solcher Demonstrationen Geheimdienstagenten Informationen, Bilder und Videos von Teilnehmern ermitteln und an die türkische Regierung weiterleiten würden. Übergriffe gegen die Beschwerdeführer in der Türkei seien nicht ausgeschlossen.
2.3.2.6. Zusammengefasst machen die Beschwerdeführer daher geltend, BF1, BF2 und BF4 hätten sich schon während des ersten Asylverfahrens bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes über die Zurückweisung der außerordentlichen Revision mit Beschluss vom 18.10.2019 und auch danach – zumindest bis zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Dezember 2019 – an den vom Verein XXXX organisierten pro-kurdischen Demonstrationen und Solidaritätskundgebungen beteiligt, hätten sich somit auch weiterhin exilpolitisch betätigt und bestünde daher die Gefahr, dass dieser Umstände durch Geheimagenten der türkischen Regierung in der Türkei bekannt geworden sei, sodass BF1, BF2 und BF4 im Fall der Rückkehr in die Türkei die sofortige Inhaftierung sowie ein unverhältnismäßige Bestrafung wegen unterstellter Unterstützung von Terroristen drohe. Weiters könne der BF1 nunmehr eine Bestätigung der HDP über seine Parteimitgliedschaft seit 2014 vorlegen und wären sowohl BF3 als auch BF4 in der Schule wegen ihrer Zugehörigkeit zu den alevitischen Kurden diskriminiert worden.
2.3.4. In Ergänzung zu den oben unter Punkt 2.3.2. bereits auszugsweise wiedergegebenen beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes im Erkenntnis vom 06.08.2019, die auch gegenständlich aufrechterhalten werden, ist zum nunmehrigen Vorbringen der Beschwerdeführer – im Einklang mit den diesbezüglichen beweiswürdigenden Ausführungen des Bundesamtes in den angefochtenen Bescheiden vom 12.05.2020 – festzuhalten, dass der BF1 zwar nunmehr ein als Original des bereits im ersten Asylverfahren vorgelegten Antrages auf seine Mitgliedschaft bei der HDP vom 15.07.2014 bezeichntetes Schriftstück vor dem Bundesamt vorlegte, welche von diesem in Kopie zum Verwaltungsakt genommen wurde (vgl. AS 195 Verwaltungsakt Teil II BF1), der Behörde aber grundsätzlich zu folgen ist, wenn sie darlegt, dass die Authentizität des Schreibens nicht verifiziert werden kann und so auch die Richtigkeit der in dem Formular enthaltenen Angaben und die diesbezüglich getätigten Ausführungen des BF in Zweifel zieht.
Nur ergänzend sei dazu in diesem Zusammenhang festgehalten, dass es sich bei dem vorgelegten Dokument offenkundig nur um einen Mitgliedschaftsantrag, nicht jedoch um eine Mitgliedschaftsbestätigung handelt. Der Stempel der Partei befindet sich im Feld „ XXXX “ und bestätigt daher nur den Erhalt bzw. die Annahme des Formulars, nicht jedoch, dass der BF auch tatsächlich Parteimitglied der HDP geworden ist. Im Feld XXXX (Aufnahmedatum der Mitgliedschaft) ist lediglich handschriftlich ein Datum eingetragen, wobei dort kein Stempel angebracht wurde. Ebenso findet sich kein Foto auf dem Formular, über welchem üblicherweise ein Stempel appliziert wird, um einer Verfälschung des Dokumentes durch den Austausch eines Fotos entgegenzuwirken.
Auch konnte der BF1 auf Nachfrage des Behördenorganes das Beitrittsdatum zur Partei gar nicht nennen und wies das Behördenorgan an, dieses vom Formular abzulesen.
Selbst, wenn man über das offenkundige Unwissen des BF hinwegsehen und das Formular so deuten möchte, dass lediglich mit dem Eintrag eines Datums (dazu sei im Übrigen auch noch angemerkt, dass der Schriftzug des eingetragenen Datums jenem ähnelt, mit dem die persönlichen Daten des BF in das Formular eingetragen wurden und daher auch zweifelhaft ist, ob das Datum der XXXX von einem Parteimitglied eingesetzt bzw. bestimmt wurde) der Antrag auf Mitgliedschaft als positiv erledigt anzusehen ist, so ist der Behörde jedenfalls dahingehend zu folgen, dass nicht erhellt, weshalb ein tatsächlich registriertes Parteimitglied nicht vom Ausland aus eine Mitgliedschaftsbestätigung über Kontaktaufnahme – sei es über Internet oder telefonisch – erlangen können könnte.
Dem Bundesamt ist auch dahingehend zu folgen, dass es wenig nachvollziehbar erscheint, dass der BF1 im Falle seiner tatsächlichen HDP-Mitgliedschaft über keinerlei Kontaktdaten verfügt hätte oder sich diese nicht hätte besorgen können und stattdessen die vorgelegte Bestätigung durch den in die Türkei gereisten Schwager hätte „besorgt“ werden müssen.
Sofern der BF1 auf entsprechenden Vorhalt vor dem Bundesamt angab, er habe keine so guten Beziehungen zur HDP oder keine Telefonnummer, sodass er sich die Bestätigung nicht habe schicken lassen können, bestätigt er damit die bereits im Vorverfahren aufgestellte Annahme, dass er – selbst im Falle einer Parteimitgliedschaft – wohl nur eine sehr untergeordnete Rolle innerhalb der Partei eingenommen haben konnte.
Das steht auch im Einklang mit den bereits im vorangehenden Verfahren getätigten Angaben des BF, er sei lediglich ein einfaches Parteimitglied ohne jegliche Verantwortung gewesen. Die deswegen im ersten Verfahren vorgebrachten Probleme in der Türkei wurden allesamt als unglaubwürdig bzw. nicht asylrelevant qualifiziert. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die oben auszugsweise wiedergegebenen Passagen verwiesen.
Insgesamt konnte auch im gegenständlichen Verfahren trotz Vorlage des Mitgliedschaftsantrages im „Original“ im Verfahren vor dem Bundesamt nicht festgestellt werden, dass BF1 tatsächlich HDP-Mitglied ist bzw. war. Selbst bei Wahrunterstellung einer Mitgliedschaft bei der HDP kann alleine aufgrund einer Mitgliedschaft des BF1 bei dieser Partei auch nicht von einer maßgeblichen Verfolgungsgefahr im Fall seiner Rückkehr in die Türkei geschlossen werden, zumal sich aus den gesamten bisher durchgeführten Verfahren unter Zugrundelegung der Angaben der Beschwerdeführer keine exponierte Stellung des BF1 innerhalb der türkischen bzw. kurdischen Gesellschaft ergeben hat. Es konnte auch nicht dargelegt werden, dass im Vergleich zu den rechtskräftig abgeschlossenen Vorverfahren nunmehr ein neuer Sachverhalt vorliegt, der geeignet wäre, zu einem anderslautendes Ergebnis zu führen.
Zu den im gegenständlichen Verfahren vorgebrachten Teilnahmen an den von den Vereinen XXXX bzw. XXXX organisierten Demonstrationen bzw. Solidaritätskundgebungen des BF1, der BF2 und des BF4 in Österreich ist festzuhalten, dass die Beteiligung des BF1 und der BF2 an den genannten Vereinen sowie die Teilnahme des BF1, der BF2 und des BF4 an diesen Demonstrationen ebenfalls bereits im ersten Asylverfahren vorgebracht und auch entsprechend vom Bundesamt und in der Folge dann auch vom Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis vom 06.08.2019 beurteilt bzw. gewürdigt wurde. Auf die entsprechenden Ausführungen in der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes im Erkenntnis vom 06.08.2019, wie oben zitiert, wird, um Wiederholungen zu vermeiden, hiermit ebenfalls verwiesen.
Zudem relativierte insbesondere der BF1 sein Engagement im Verein, indem er angab, er wäre dort nur Mitglied, weil es viele seiner in Österreich lebenden Angehörigen wären und würde nur vom Verein über anstehende Kundgebungen informiert werden. Er konnte auch keine näheren Vereinsziele nennen und gab lediglich an: „Ich weiß, dass sich der Verein für Menschenrechte und Demokratie kümmert.“ [sic!] (vgl. AS 192 ff Verwaltungsakt Teil II BF1).
Sofern weiter vorgebracht wurde, die Beschwerdeführer hätten auch während des ersten Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht bzw. dem Verwaltungsgerichtshof weiter an Demonstrationen bzw. Solidaritätskundgebungen teilgenommen, ist Folgendes festzuhalten:
Keiner der im gegenständlichen Verfahren einvernommenen Beschwerdeführer (daher weder BF1, BF2, BF3 oder BF4) haben selbst oder im Rahmen der gegenständlichen Beschwerde bzw. in den durch ihre rechtsfreundliche Vertretung verfasste Stellungnahmen vorgebracht, auch nach Dezember 2019 noch aktiv an solchen Demonstrationen oder Kundgebungen teilgenommen zu haben. Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen liegt daher schon über zwei Jahre zurück. Keiner der einvernommenen Beschwerdeführer konnte zudem trotz der dazu wiederholt eingeräumten Möglichkeiten im gegenständlichen Verfahren eine konkrete Anzahl, Daten oder konkrete Themen der Demonstrationen oder Kundgebungen nennen. Das gesamte Vorbringen erweist sich damit als völlig unsubstantiiert.
Während der BF1 in seiner Erstbefragung etwa noch angab, er habe am 08.11.2019 an einer Demonstration in XXXX teilgenommen (vgl. AS 13 Verwaltungsakt Teil II BF1), gab er vor dem Bundesamt dann an, er könne sich nicht an Daten erinnern, aber es sei eine Demonstration vor der Oper gewesen. Zum Beweis dafür lege er drei Fotos vor (vgl. AS 189 ff Verwaltungsakt Teil II BF1). Die Fotos, worauf die BF2 und der BF4 mit Flaggen von XXXX zu sehen sind (vgl. AS 207 ff Verwaltungsakt Teil II BF1), lassen aber keinerlei konkreten Rückschlüsse auf Zeit, Ort oder Thema der Veranstaltung zu. Auch scheinen – zumindest soweit auf einem Foto ersichtlich – kaum Personen an der Veranstaltung beteiligt gewesen zu sein (vgl. AS 207 Verwaltungsakt Teil II BF1) und kann auf den Fotos nicht erkannt werden, dass es sich dabei um verschiedene Veranstaltungen gehandelt hätte, wie der BF1 vor dem Bundesamt angab, sondern ist vielmehr wahrscheinlicher, dass es sich ob der Kleidung, der Tageszeit und des Hintergrundes auf den Fotos um ein und dieselbe Veranstaltung gehandelt hat (vgl. AS 190 Verwaltungsakt Teil II BF1).
Hingegen gab die BF2 in ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt im Widerspruch zu den Angaben des BF1 an, sie hätte zuletzt an der Kundgebung vor der Oper teilgenommen, diese hätte im Dezember 2019 stattgefunden und wären etwa 1000 Personen beteiligt gewesen (vgl. AS 137 f Verwaltungsakt Teil II BF2). Der BF4 gab an, es hätten sich an der Demonstration nur 30 Leute beteiligt, sie habe an einem Samstag im Jahr 2019 und am Stephansplatz stattgefunden (vgl. AS 73 Verwaltungsakt Teil II BF4). Widersprüchlich ist auch die Angabe der BF2, die BF3 hätte auch an den Kundgebungen teilgenommen, sofern sie nicht gerade in der Schule gewesen sei (vgl. AS 139 Verwaltungsakt Teil II BF2), während die BF3 selbst angab, sich nie an Demonstrationen und Kundgebungen beteiligt oder daran teilgenommen zu haben (vgl. AS 83 Verwaltungsakt Teil II BF3).
Eine gehäufte oder besonders engagierte Teilnahme an den von den Beschwerdeführern vorgebrachten Demonstrationen bzw. Solidaritätskundgebungen oder eine konkrete exilpolitische Tätigkeit kann daher auch im gegenständlichen Verfahren nicht erkannt werden.
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch, dass zu den genannten Zeitpunkten für die Teilnahme an einer Demonstration (08.11.2019 bzw. Dezember 2019) entweder eine Ausreiseverpflichtung bestand (die neuen Anträge wurden am 15.11.2019 gestellt) oder sich die BF nach Einbringung des Folgeantrages wegen der bereits erhaltenen Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes und des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes (die gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 erhobene außerordentliche Revision der Beschwerdeführer an den Verwaltungsgerichtshof wurde mit Beschluss vom 18.10.2019 zurückgewiesen) der Unsicherheit des weiteren Aufenthaltes in Österreich und der hohen Wahrscheinlichkeit der Verpflichtung zur Rückkehr in die Türkei bewusst gewesen sein mussten, zumal sie keinen wesentlich geänderten Sachverhalt im Vergleich zum Erstverfahren dargelegt haben und in Österreich schon zu diesem Zeitpunkt anwaltlich vertreten waren.
In Anbetracht des Umstandes, dass die Beschwerdeführer die Gefährlichkeit der Teilnahme an Demonstrationen für die Sache der Kurden in Österreich hervorstrichen bzw. dies auch im gegenständlichen Verfahren tun, ist nicht ersichtlich, weshalb sie – wiewohl sie zu einer Rückkehr in die Türkei verpflichtet waren bzw. mit einer alsbaldigen Rückkehr dorthin zu rechnen hatten – sich in eine solche Gefahr begeben hätten; unverständlich ist vor diesem Hintergrund vor allem, weshalb die erwachsenen BF ihre minderjährigen Kinder dieser Gefahr wissentlich ausgesetzt haben sollten. Eine Teilnahme an Demonstrationen im Falle einer tatsächlichen Furcht vor Verfolgung wegen der Teilnahme an Demonstrationen wäre wohl nur durch besonders gewichtige Gründe erklärbar, die im Verfahren aber nicht vorgebracht wurden. Lägen solche gewichtigen Gründe vor, wäre auch anzunehmen, dass den Beschwerdeführern die näheren Umstände der Teilnahme an den Demonstrationen in Erinnerung geblieben wären und sie nicht nur vage und widersprüchliche Angaben darüber hätten machen können.
Insgesamt ist schon zweifelhaft, ob die Beschwerdeführer tatsächlich an Demonstrationen teilgenommen haben oder sich anlässlich der in Österreich stattfindenden Demonstrationen vielmehr nur vor diesem Hintergrund ablichten ließen.
Jedenfalls konnte auch in diesem Verfahren nicht glaubhaft gemacht werden, dass die Beschwerdeführer aus einer aufrichtigen politischen Motivation heraus an Demonstrationen für die Sache der Kurden in Österreich teilgenommen haben. Vielmehr erwecken sie mit ihrem Verhalten und ihrem Vorbringen sehr stark den Eindruck, die in Österreich stattfindenden Demonstrationen nur zu benutzen, um einen Asylgrund zu konstruieren.
Sofern die Beschwerdeführer darauf verwiesen, dass der türkische Geheimdienst bzw. von diesem beauftragte „Spitzel“ regelmäßig Teilnehmer an pro-kurdischen oder regimekritischen Demonstrationen – auch im Ausland – filmen, fotografieren und ihre Daten an die türkische Regierung weitergeben würden, sodass es im Falle der Wiedereinreise in die Türkei bei Abgleich der Personendaten sofort zu einer Verhaftung und in Folge unrechtmäßiger bzw. unverhältnismäßiger Bestrafung wegen unterstellter Terrorismusunterstützung kommen könne, sind folgende Erwägungen maßgeblich:
Dem Vorbringen ist grundsätzlich nicht entgegenzutreten und steht das allgemein gehaltene Vorbringen der Beschwerdeführer mit den aktuellen Länderinformationen zum Herkunftsland Türkei jedenfalls nicht in Widerspruch. Vielemehr deckt es sich mit dem Amtswissen, zumal türkische Beschwerdeführer in anderen in der Gerichtsabteilung geführten Verfahren immer wieder glaubhaft darlegen, dass in Österreich Agenten türkischer Sicherheitsdienste tätig sind und sich auf verschiedenste Art und Weise Informationen beschaffen.
Jedoch konnte keiner der Beschwerdeführer – auch nicht auf konkrete Nachfrage hin –Angaben dazu machen, dass sie über konkrete Hinweise verfügen würden, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei von unmenschlicher Behandlung, unmenschlicher Strafe, der Todesstrafe oder einer sonstigen Sanktion bedroht wären.
Es liegen im gegenständlichen Fall – auch vor dem Hintergrund der fragwürdigen Teilnahme der Beschwerdeführer an den von ihnen vorgebrachten Demonstrationen bzw. Solidaritätskundgebungen – vielmehr gar keine ernstzunehmenden Hinweise vor, die darauf hindeuten, dass die Beschwerdeführer tatsächlich von türkischen Agenten fotografiert oder gefilmt und ihre Daten an türkische Behörden weitergegeben worden sind. Dass auf den Demonstrationen viele Menschen mit „Handys“ zu sehen waren, ist nicht ungewöhnlich. Zumal Mobiltelefone in der heutigen Zeit schon für die Dokukmentation banalster Ereignisse gerne genutzt werden, wird das umsomehr erfolgen, wenn die Beteiligten ein Ereignis selbst für bedeutsam halten, wie es bei einer politischen Demonstration wohl der Fall ist. Zwar kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass feindliche Agenten auf diese Art und Weise unerkannt Informationen sammeln, entscheidungswesentlich scheint aber die Frage, weshalb konkret an den Beschwerdeführern ein Interesse bestehen sollte; diese Frage vermochten sie aber nicht zu beantworten.
Es entspricht jedenfalls nicht der in den Länderberichten dargestellten allgemeinen Lage in der Türkei, dass gleichsam jedes einfache HDP-Mitglied oder jeder Teilnehmer an pro-kurdischen bzw. alevitischen oder regimekritischen Demonstrationen oder Kundgebungen im Ausland von Sanktionen in Form einer Haftstrafe bei Rückkehr in die Türkei betroffen wäre.
Auch haben die Beschwerdeführer keine Kenntnis davon, dass entsprechende Fotos oder Videos auf sozialen Medien veröffentlicht worden wären, noch haben sie substantiiert vorgebracht und durch entsprechende Bescheinigungsmittel belegt, dass sie selbst dahingehend auf sozialen Medien aktiv geworden sind. Es liegen seitens der Beschwerdeführer auch keinerlei Hinweise auf einen Haftbefehl, ein bestehendes Ausreiseverbot oder sonstige behördliche Fahndungsmaßnahmen vor.
Aus den Länderberichten geht zudem in Bezug auf HDP-Mitglieder oder Personen mit tatsächlich oppositioneller Gesinnung hervor, dass Behörden oder die Polizei zeitweise auch Verwandte bedrängen, die selbst nicht Parteimitglied sind. Dem Schwager des BF1 ist es offensichtlich aber ohne Probleme möglich gewesen, von Österreich in die Türkei zu reisen und wieder unbehelligt nach Österreich zurückzukehren. Auch haben die Beschwerdeführer noch eine Vielzahl an Familienangehörigen in der Türkei und wurden diesbezügliche Probleme nicht vorgebracht.
Wie bereits in den beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes im Erkenntnis vom 06.08.2019 festgehalten, ist es den Beschwerdeführern auch im gegenständlichen Verfahren nicht gelungen vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte darzulegen, dass Anhaltspunkte dafür vorliegen, wonach gegenwärtig jede Person kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit oder alevitischer Religionszugehörigkeit, die sich in einem kurdischen oder alevitischen Verein engagiert oder an kleineren Kundgebungen im Ausland teilgenommen hat, einer maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen wäre. Auch im gegenständlichen Verfahren sind keine Gründe hervorgekommen, weshalb die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse geraden an den von den Beschwerdeführern genannten kurdischen Vereinen oder den Beschwerdeführern selbst haben sollten. Ebenso wenig lässt sich der Quellenlage entnehmen, dass jede Person kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit oder alevitischer Religionszugehörigkeit Verfolgung bzw. Inhaftierung in der Türkei wegen der Teilnahme an Demonstrationen zu erwarten hätte.
Zumal keine konkreten Hinweise auf eine Bespitzelung der Beschwerdeführer vorliegen und auch aufgrund ihres Profils nicht ersichtlich ist, weshalb gerade an ihnen ein nachhaltiges Interesse der türkischen Behörden bestehen sollte, erweisen sich die Befürchtungen der Beschwerdeführer als reine Spekulation. Wie bereits ausgeführt, haben die Beschwerdeführer durch die unterlassene Ausreise und ihr Vorbringen vielmehr den Eindruck erweckt, dass sie die Demonstrationen in Österreich für die kurdischen Angelegenheiten für ihre Zwecke benutzten.
Insgesamt ist es den Beschwerdeführern auch im gegenständlichen Verfahren nicht gelungen, das Gericht davon zu überzeugen, dass sie aufgrund ihrer Mitgliedschaft bzw. ihres Engagements bei den genannten pro-kurdischen Vereinen oder der Teilnahme an Demonstrationen und einer ihnen deshalb unterstellten (oppositionellen) politischen Gesinnung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung oder Inhaftierung in der Türkei entgegensehen müssten.
2.3.5. Auch, wenn die BF3 und der minderjährige BF4 aufgrund ihrer damaligen Unmündigkeit im ersten Asylverfahren nicht persönlich einvernommen wurden, so wurden ihre nunmehr auch selbstständig vorgebrachten Fluchtgründe, konkret die Diskriminierung in der Schule aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den alevitischen Kurden, auch im ersten Asylverfahren ausführlich beurteilt. Sofern dargestellt wird, dass es sich dabei nun um neue Fluchtgründe handelt, ist darauf zu verweisen, dass die Beschwerdeführer bereits in ihrem Zwischenverfahren (Antrag auf Wiederaufnahme) darüber belehrt wurden, dass die Eltern der minderjährigen Beschwerdeführer im ersten Asylverfahren von der Behörde aufgefordert wurden, allfällige Asylgründe iher Kinder zu nennen, welche diese auch vorbrachten und welche von der Behörde und später dann vom Gericht auch gewürdigt wurden und es grundsätzlich in der Verantwortung der gesetzlichen Vertreter steht, die Minderjährigen bestmöglich zu vertreten. Allein der Umstand, dass die (damals) minderjährigen Beschwerdeführer im Folgeverfahren selbst befragt wurden, stellt keinen neuen Fluchtgrund dar.
Das nunmehrige Vorbringen der BF3 und BF4 weicht im Wesentlichen auch gar nicht von den bereits im ersten Asylverfahren durch den BF1 und die BF2 erstatteten Angaben ab, sodass diesbezüglich ebenfalls auf die bereits vom Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis vom 06.08.2019 (vgl. dazu Punkt II.7.3. dieses Erkenntnisses) getroffenen und im gegenständlichen Erkenntnis unter Punkt 2.3.1. wiedergegebenen Ausführungen verwiesen wird, die nach wie vor auch in der aktuellen Lage im Herkunftsland Türkei (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 10.03.2022) ihre Deckung finden.
2.3.6. Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie und zur alevitischen Religionsgemeinschaft ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Diesbezüglich ist grundsätzlich festzuhalten, dass allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers für sich allein nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.01.2002, Zl. 2000/20/0358). So hat der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise im Erkenntnis vom 23.06.1998, Zl. 96/20/0144, ausgesprochen, dass die bloße Zugehörigkeit türkischer Staatsangehöriger zur Volksgruppe der Kurden und das alevitische Religionsbekenntnis samt der damit einhergehenden Diskriminierung keinen ausreichenden Grund für die Asylgewährung bilden.
Hinsichtlich des Umstands der kurdischen Abstammung der Beschwerdeführer ist weiter auszuführen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für Kurden und Aleviten nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig sämtliche Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgeblichen Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
Hinsichtlich des Umstands der Zugehörigkeit der BF zur alevitischen Glaubensgemeinschaft ist ebenfalls auf die herangezogenen Länderberichte zu verweisen, in welchen keine von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass gegenwärtig Personen alevitischer Glaubenszugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.
2.3.7. Dies gilt auch für die Schwierigkeiten, von denen BF3 und BF4 in ihrer Schulzeit in der Türkei berichteten. Außerdem haben sowohl BF3 als auch BF4 bis unmittelbar vor ihrer Ausreise im März 2017 eine Mittelschule in der Türkei besucht (die entsprechenden Zeugnisse wurde in Kopie vorgelegt und liegen im Akt ein). Es sind keine Umstände hervorgekommen, dass den (damals noch) schulpflichtigen Beschwerdeführern aufgrund ihrer kurdisch-alevitischen Abstammung die Absolvierung ihrer Schulzeit in der Türkei unzumutbar gewesen war oder der minderjährigen BF5, die derzeit noch den Kindergarten in Österreich besucht, sein sollte, wohingegen eine Vielzahl von kurdischen Kindern die Schule nach wie vor besuchen kann.
Dass den Beschwerdeführern im Falle der Rückkehr der Schulbesuch durch die türkischen Behörden verweigert würde, wurde von den Beschwerdeführern nicht explizit vorgebracht. Die Beschwerdeführer weisen im Beschwerdeverfahren jedoch darauf hin, dass der BF3 und dem BF4 die Wiedereingliederung in eine (höhere) Schule aufgrund des fehlenden türkischen Stoffes und der dafür nötigen Aufnahmeprüfung verwehrt bzw. erheblich erschwert würde.
In diesem Zusammenhang ist zunächst daraufhin zu verweisen, dass in der Türkei Schulpflicht herrscht und werden die türkischen Behörden – allenfalls unter (teilweiser) Anrechnung der an österreichischen Schulen verbrachten Zeit – feststellen, ob die Beschwerdeführer die für den Pflichtschulabschluss in der Türkei vorgesehene Schulzeit absolviert haben. Die dafür fehlenden Jahre werden die Beschwerdeführer gegebenenfalls nachholen müssen. Sofern die Beschwerdeführer mit ihrem Vorbringen, insbesondere dahingehend, dass die volljährige BF3 und der bald volljährige BF4 wegen der Aufnahmeprüfung keine Möglichkeit hätten, ihren Schulabschluss in der Türkei nachzuholen, implizit vorbringen wollen, dass sie deswegen ihre Schulpflicht nicht erfüllen bzw. keinen Schulabschluss erreichen würden, so ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass der BF3 und dem BF4 grundsätzlich frei steht, sich einer freiwilligen Aus- oder Weiterbildung zu unterziehen. Beide verfügen zudem über einen österreichischen Pflichtschulabschluss und eine begonnene kaufmännische Ausbildung nebst Deutschkenntnissen und kann nicht darauf geschlossen werden, dass diese Kenntnisse für eine Berufswahl oder weitere Ausbildung in der Türkei völlig ungeeignet wären.
Selbst wenn BF3 und BF4 künftig eine nicht gut bezahlte Arbeit annehmen müssten, so ist auch in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass die Annahme auch einer unattraktiven Erwerbsmöglichkeit zumutbar ist und die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK nicht ausreichend für die Zuerkennung von internationalem Schutz ist. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307).
Mit ihrem Vorbringen vermochten die Beschwerdeführer jedenfalls nicht, eine konkrete Gefährdung darzustellen. Dass die Beschwerdeführer allenfalls verminderten Berufschancen und einem im Vergleich zu Österreich niedrigeren Lebensstandard entgegenzusehen haben, vermag eine Verletzung in dem von Art. 3 EMRK geforderten Ausmaß nicht zu begründen. Die Ausführungen in Bezug auf das künftige Schicksal der Beschwerdeführer erweisen sich darüber hinaus als spekulativ.
2.4. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführer im Rückkehrfall über eine Existenzgrundlage verfügen werden, ergibt sich vornehmlich daraus, dass es sich bei BF1 und BF2 um gesunde, arbeitsfähige Menschen handelt. BF1 brachte im gegenständlichen Verfahren auch vor, in der Türkei nicht nur als Hilfsarbeiter, sondern auch für ein Umzugsunternehmen und zuletzt als Teamleiter des Reinigungsteams eines Hotels gearbeitet zu haben. BF2 gab im gegenständlichen Verfahren auch an, sie habe in der Türkei auch als Reinigungskraft gearbeitet. BF1 zeigte im Übrigen auch Interesse daran, in Österreich eine Arbeit zu finden und konnte er eine Einstellung für einen Gastronomiebetrieb als Koch oder Küchenhilfe in Vorlage bringen. Es ist icht ersichtlich, weshalb er eine ähnliche Tätigkeit nicht auch in der Türkei ausüben könnte, um damit die Existenz für seine Familie zu sichern. Auch die BF2 gab im gegenständlichen Verfahren an, eine Beschäftigung anzustreben, sobald die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin den Kindergarten besucht.
Die BF3 ist inzwischen volljährig und hat in Österreich eine gute weiterführende Schulbildung, zuletzt in der Handelsakademie für Berufstätige, genossen. Auch ihr ist – wie soeben ausgeführt – zuzumuten, in der Türkei durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zum Familieneinkommen beizutragen. BF4 befindet sich nun ebenfalls in einem arbeitsfähigem Alter und verfügt über die oben näher dargestellte Ausbildung.
Ferner brachten die Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Bundesamt, aber auch dem Bundesverwaltungsgericht vor, dass sie über viele Familienmitglieder bzw. Verwandte im Herkunftsland – etwa in Gestalt von Geschwistern der BF2 oder der Geschwister des BF1, von denen viele ebenfalls in Antalya leben, oder vieler Verwandter zweiten Grades des BF1 – leben und ist daher davon auszugehen, dass die BF zumindest noch Teile ihres familiären – bzw. verwandtschaftlichen Netzwerkes vorfinden werden, durch welches sie wieder Aufnahme und Unterstützung finden werden, wenngleich sie auch über erhebliche verwandtschaftliche Bindungen in Österreich verfügen.
Überdies stehen den BF noch die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigte offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf.
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Zudem ist auch für die gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger gesorgt: Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises. 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren.
Ein substantiiertes Vorbringen, wonach die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr einer mangelnden Lebensgrundlage gegenüberstünden, wurde nicht erstattet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte in einer Gesamtschau damit – wie bereits das belangte Bundesamt – zur Ansicht, dass es den Beschwerdeführern in kurzer Zeit unter Anspannung ihrer Kräfte gelingen wird, sich erneut eine gesicherte Existenz in der Türkei aufzubauen und ist in Ansehung der Länderberichte, insbesondere zur Medizinischen Versorgung und den Sozialleistungen für Bedürftige, auch nicht zu befürchten, dass die Beschwerdeführer in eine ausweglose Lage geraten würden.
Die Feststellung zur Unbescholtenheit der Beschwerdeführer in Österreich entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich). Die Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer basieren auf den Angaben der Beschwerdeführer und den beigebrachten Unterlagen.
Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder die Beschwerdeführer im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor und es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine dahingehenden positiven Feststellungen getroffen werden können.
2.5. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat und zur Lage von Angehörigen der kurdischen Volksgruppe, Mitgliedern bzw. Sympathisanten der HDP bzw. im Ausland an pro-kurdischen oder regimekritischen Demonstrationen teilnehmenden Personen bzw. Frauen und Kindern beruhen im Wesentlichen auf den, den Beschwerdeführern zur Kenntnis- und Stellungnahme übermittelten aktuellen aktuellen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, wie oben unter 2.1. aufgelistet.
Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Insgesamt wurde den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Berichten von den Beschwerdeführern bzw. deren gewillkürter Vertretung nicht substantiiert entgegengetreten. Soweit die Beschwerdeführer in ihrer Stellungnahme vom 12.05.2020 auf das eigene Vorbringen verweisen, ist darauf hinzuweisen, dass im Rechtsmittelverfahren trotz expliziter Einladung dazu keine Stellungnahme zu den Länderberichten erging. Sofern sich die BF in selbem Schriftsatz weiteres Vorbringen ausdrücklich vorbehalten, ist festzuhalten, dass das Gericht gemäß § 39 Abs 2 AVG die Art und den Gang des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens bestimmt und die Art und das Ausmaß der Mitwirkung/Nichtmitwirkung einer Partei an einer aufgetragenen Verfahrenshandlung im Rahmen der Beweiswürdigung für die Beschwerdeentscheidung zu werten ist (§ 18 AsylG, § 39 Abs 2a AVG).
Weder die mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 01.04.2022 gesetzte Frist, noch die mit Note vom 14.4.2022 gesetzte Frist wurde – trotz Belehrung über die Folgen des ungenützten Verstreichens der Frist – von den Beschwerdeführern genutzt, um ihren Standpunkt darzustellen.
Es wird somit explizit weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der den Beschwerdeführerinnen seitens des Bundesverwaltungsgerichtes vorgehaltenen aktuellen Quellen zur gegenwärtigen Lage in der Türkei aufgezeigt.
Sofern in der Beschwerde die damals aktuellen Länderberichte als einseitig und objektiv nicht nachvollziehber bemängelt wurden, werden keine konkreten Gründe dafür angegeben, vielmehr werden die von der Behörde verwendeten Berichte auszugsweise für das eigene Vorbringen herangezogen. Sofern bemängelt wird, die Berichte enthielten keine Berichte des türkischen Menschenrechtsvereines, unterließen es die Beschwerdeführer, solche Berichte beizubringen oder aber darzulegen, welche Inhalte diesen Berichten konkret zu entnehmen wären und was konkret daraus für die Beschwerdeführer zu gewinnen wäre.
Zu den in der Beschwerdeschrift dargestellten Fällen zu rassistischen Übergriffen und Verurteilung von Aktivisten in der Türkei durch auszugsweise Zitate aus verschiedenen Medien ist auszuführen, dass diese den in den Länderberichten enthaltenen Aussagen nicht entgegenstehen. Das Gericht verkennt keinesfalls, dass Diskriminierungen und Übergriffe in der Türkei stattfinden.
Diesbezüglich ist jedoch – wie auch bereits in den vorangegangenen Verfahren – festzuhalten, dass allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.
Bei den in den Artikeln dargestellten Übergriffen handelt es sich schon vor dem Hintergrund des Umstandes, dass Kurden (etwa 19% der Gesamtbevölkerung, wie sich allgemein zugändlichen Quellen entnehmen lässt) und Aleviten (etwa 15% der Gesamtbevölkerung, wie sich allgemein zugändlichen Quellen entnehmen lässt) – auch Familien – in der Türkei und dort in der Herkunftsregion der Beschswerdeführer leben können, offenkundig um – bedauerliche – Einzelfälle; auf das Vorliegen einer Gruppenverfolgung von Kurden und/oder Aleviten lassen auch die vorgelegten Artikel nicht schließen.
Im Übringen ist auf die oben getätigten Ausführungen zur mangelnden Eingriffsintensität der behaupteten Vorfälle im konkret vorliegenden Einzelfall unter 2.3.6. ff zu verweisen.
Aus den übrigen in der Beschwerde zitierten Artikeln zu den Festnahmen von verschiedenen Personen lässt sich für die Beschewerdeführer ebenfalls kein Gefährdungsszenario ableiten, zumal die portätierten Personen allesamt über ein herausragendes Profil verfügen (Sängerin, die auf eine HDP-Veranstaltung auftreten sollte und welcher der Vorwurf gemacht wurde, sie habe mit einem ihrer Filme Propaganda für die HDP gemacht; Personen, denen eine PKK-Mitgliedschaft oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation unterstellt wurde, Abgeordnete etc.). Über derartige Profile verfügen die Beschwerdeführer, wie oben und auch bereits im Erstverfahren ausführlich dargelegt, nicht.
Auch den Artikeln über in der Türkei inhaftierte Österreicher bieten keine Hinweise auf eine Gefährdung der BF, zumal es sich dabei lediglich um Kurzartikel handelt, die über die Hintergründe zu den Festnahmen keine verlässliche Auskunft geben können – die Darstellung erfolgt auch durchweges im Konkunktiv (eine in Österreich an Demonstrationen teilnehmende Person sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen, sei nach einer Verhaftung aber wieder frei gekommen und müsse sich regelmäßig bei den türkischen Behörden melden; es komme in der Türkei immer wieder zu kurzfristigen bis mehrwöchigen Anhaltungen, Abschiebungen, Ein- oder Ausreiseverweigerungen von denen auch österreichische Staatsbürger betroffen seien etc).
In Bezug auf die Markierung von Häusern alevitischer Personen wurde schließlich ebenfalls nicht dargelegt, inwiefern die Beschwerdeführer davon betroffen waren oder im Falle ihrer Rückkehr in die Region oder den Landkreis, wo sie zuletzt lebten, betroffen wären. Im Übrigen wird auf die oben dargestellten Ausführungen zur nicht angenommenen Gruppenverfolgung von Kurden und/oder Aleviten unter 2.3.6. ff verwiesen.
Zu der in der Beschwerde beantragten Einvernahme eines Zeugen wird zunächst auf die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten länderkundlichen Informationen verwiesen, denen die Beschwerdeführer nicht substantiiert entgegengetreten sind. Zu den von der Behörde herangezogenen Berichten haben sie in ihrer Beschwerde lediglich angemerkt, dass Berichte einer bestimmten Institution fehlen würden, ohne jedoch diese Berichte oder andere Dokumente vorzulegen und darzulegen, was konkret daraus für den gegenständlichen Fall ableitbar wäre. Wenn den Beschwerdeführern Gutachten bekannt sind, die für ihre Sache von wesentlicher Bedeutung sind, wie in der Beschwerde anklingt, erhellt nicht, weshalb sie diese dem Gericht nicht von sich aus unterbreiten.
Beweisanträge können abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (VwGH 28.09.2018, Ra 2018/08/019; 23.06.2017, Ra 2016/08/0141, jeweils mwN).
Die Erheblichkeit des Beweisantrags kann vom Bundesverwaltungsgericht schon in Anbetracht der vorliegenden Informationen zur Lage im Herkunftsstaat, denen die Beschwerdeführer nicht substantiiert entgegentreten konnten, nicht erkannt werden. Dazu tritt, dass die Beschwerde auch keine schlüssigen Beweisanträge enthält und aus den unklaren Ausführungen (vgl. etwa AS 337 verso) auch nicht erschließbar ist, welches Beweisthema mit einem Zeugen oder Gutachter erörtert werden soll bzw. was konkret von der genannten Person erfragt oder den genannten Gutachten entnommen werden könnte, das den Standpunkt der BF unterstützen würde, sodass von der Einvernahme der genannten Person oder der Bestellung eines länderkundlichen Sachverständigen Abstand genommen werden konnte (vgl. VwGH 17.11.2015, Ra 2015/02/0141).
In Anbetracht der klaren Sachlage und dem fehlenden Vorbringen, das eine Notwendigkeit weiterer Ermittlungen schlüssig begründen würde, sieht sich das Gericht zu keinen weiteren amtswegigen Ermittlungen veranlasst und ist vielmehr davon auszugehen, dass weitere Ermittlungen letztlich in einem nicht zulässigen Erkundungsbeweis geendet hätten.
Da die Beschwerdeführer keine staatliche Strafverfolgung in der Türkei aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt hat und die Todesstrafe in der Türkei darüber hinaus abgeschafft ist, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass sie im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würden. Ebenso kann aus ihrem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden.
Dass Rückkehrer aus dem Ausland – nach einer illegalen Ausreise – allgemein einer asylrelevanten Behandlung durch Sicherheitskräfte nach der Wiedereinreise unterzogen würden, kann aus den getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei nicht abgeleitet werden. Die Sicherheitslage in der Türkei ist durchaus als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie dem Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Die Beschwerdeführer haben jedoch diesbezüglich nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.
Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der PKK, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 ausweislich einer aktuellen Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes nachgelassen.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle jedoch festzuhalten ist, dass der Landkreis, in welchem die Beschwerdeführer vor der Ausreise lebten ( XXXX ), deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der PKK stattfinden. Außerdem ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer nicht vorbrachten, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten, sodass weitergehende Feststellungen hierzu nicht geboten sind.
Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer den behaupteten Gefährdungen ausgesetzt waren bzw. im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefahr ausgesetzt wären. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Anzuwendendes Verfahrensrecht:
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit .).
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 69/2020 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; 12.11.2014, Ra 2014/20/0069 mwN).
Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 mwN). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183; 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).
3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der Beschwerdeführer, in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Im gegenständlichen Fall ist ausweislich der Feststellungen und der diesbezüglichen Beweiswürdigung nach Ansicht des erkennenden Gerichts keine die Beschwerdeführer betreffende aktuelle, unmittelbare und konkrete Verfolgungsgefahr in der Türkei aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund gegeben. Wie beweiswürdigend ausführlich dargestellt, konnten die Beschwerdeführer nicht glaubhaft vorbringen, dass sie vor ihrer Ausreise asylrelevant verfolgt.
Auch konnte im Rahmen einer Prognoseentscheidung nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer nach einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer weiteren aktuellen Gefahr von Übergriffen zu rechnen hätten (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194). Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie oder des alevitischen Glaubens ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme ist als Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396). Allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt der Beschwerdeführer im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen. Ausweislich der Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat sind Angehörige der kurdischen Ethnie und auch des alevitischen Glaubens zwar Nachteilen ausgesetzt, diese erreichen jedoch nicht die Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt in der Türkei als unerträglich anzusehen oder mit einem gänzlichen Verlust der Lebensgrundlage verbunden wäre – was auch daran erkennbar ist, dass nahe Angehörige der beschwerdeführenden Parteien weiterhin in der Türkei leben, ohne Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein.
Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind. Bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur sind hinzunehmen, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist zusammenfassend davon auszugehen, dass BF1 bis BF4 sowie auch der minderjährigen BF5, die keine eigenen Fluchtgründe oder Rückkehrbefürchtungen darlegte und auf die Gründe ihrer Familienangehörigen verwies, keine Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht.
Eine Verfolgung der Beschwerdeführer im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt somit nicht vor und es braucht daher auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe in der Türkei sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0202).
Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide ist demgemäß jedenfalls nicht zu beanstanden und kommt der Beschwerde insoweit keine Berechtigung zu.
3.3. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei:
3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung der Beschwerdeführerinnen in die Türkei Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.
Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).
Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es dabei grundsätzlich der beschwerdeführenden Partei, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255; VwGH 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Die Mitwirkungspflicht der beschwerdeführenden Partei bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, Zl. 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande, 5.7.2005).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).
3.3.2. Unter „real risk“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (grundlegend VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; RV 952 BlgNR XXII. GP 37). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die Feststellung einer Gefahrenlage im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfordert das Vorliegen einer konkreten, den BF betreffenden, aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbaren Gefährdung bzw. Bedrohung. Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände, welche ihnen noch einen aktuellen Stellenwert geben, nicht geeignet, die begehrte Feststellung zu tragen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 14.10.1998, Zl. 98/01/0122).
3.3.3. Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der betroffenen Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. EGMR U 08.04.2008, Nnyanzi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein ausreichend reales Risiko für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (EGMR U 04.07.2006, Karim gegen Schweden, Nr. 24171/05, U 03.05.2007, Goncharova/Alekseytev gegen Schweden, Nr. 31246/06).
Der EGMR geht weiter allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische oder sonstige unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann diesbezüglich die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (EGMR U 15.02.2000, S.C.C. gegen Sweden, Nr. 46553/99).
3.3.4. Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände vorliegen (EGMR U 02.05.1997, D. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 30240/96; U 06.02.2001, Bensaid gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 44599/98; VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443).
Unter außergewöhnlichen Umständen können auch lebensbedrohende Ereignisse (etwa das Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0142). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung dieser Frage unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137). Außergewöhnlicher Umstände liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (VwGH 11.11.2015, Ra 2015/20/0196, mwN).
3.3.5. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).
Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person der beschwerdeführenden Partei so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).
3.3.6. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gegeben sind:
Dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen. Die Sicherheitslage in der Türkei ist als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der Partiya Karkerên Kurdistanê konfrontiert. Die Beschwerdeführer haben diesbezüglich jedoch nicht dargetan, dass sie von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.
Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbündenden Opfern erwiesen ist.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle festzuhalten ist, dass der Landkreis, in welcher die beschwerdeführende Partei vor der Ausreise lebte, ferner deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Außerdem ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer nicht vorbrachten, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein, zumal sie vor ihrer Ausreise in XXXX lebten. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten. Darüber hinaus haben die Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass sie schon aufgrund ihrer bloßen Präsenz in ihrer letzten Heimatprovinz XXXX oder auch allenfalls in Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wären.
Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass BF1 bis BF4 weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch die Beschwerdeführer selbst nicht vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.
BF1 und BF2 sind gesunde, grundsätzlich (dem Vorbringen im gegenständlichen Verfahren entsprechend) arbeitsfähige und arbeitswillige Menschen, die im Herkunftsstaat zwar nur grundlegende Schulbildung genossen haben, jedoch ihren Angaben nach auch dort – insbesondere der BF1 – erwerbstätig gewesen sind und den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern vermochten. So hat der BF1 als Hilfsarbeiter, bei einem Umzugsunternehmen und zuletzt gar als Teamleiter des Reinigungsteams eines Hotels gearbeitet. Auch die BF2 gab – im Gegensatz zum ersten Asylverfahren – an, sie habe in der Türkei zeitweise als Reinigungskraft gearbeitet und strebt sie eine solche Tätigkeit auch in Österreich an. Es ist nicht ersichtlich, weshalb BF1 und BF2 nicht wieder eine ähnliche Tätigkeit in der Türkei wiederaufnehmen könnten. Die grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme am Erwerbsleben des BF1 und der BF2 (bei ihr wohl aufgrund der bestehenden Betreuungspflichten zur minderjährigen BF5 nur in Teilzeit bzw. in eingeschränktem Ausmaß) kann somit vorausgesetzt werden.
Auch die zum Zeitpunkt der Ausreise noch minderjährige BF3 ist inzwischen in Österreich volljährig geworden. Der BF4 wird in einem Jahr volljährig sein. Beide haben in Österreich einen Pflichtschulabschluss und Deutschkenntnisse. Weiters absolvieren sie eine derzeit eine Ausbildung an einer berufsbildenden höheren Schule (Handelsakademie). Wie bereits ausgeführt, kann gegenständlich nicht erkannt werden, dass diese Ausbildungen bzw. Kenntnisse in der Türkei völlig wertlos wären. Es ist somit zumindest auch in Ansehung der bereits volljährigen BF3 ebenso davon auszugehen, dass sie bei einer Rückkehr in die Türkei – wenngleich möglicherweise eine einfache – Beschäftigung aufnehmen wird können, um so zum Familieneinkommen beizutragen. Auch BF4 hat inzwischen jedenfalls ein Alter erreicht, indem er jedenfalls in der Lage ist, zum Einkommen der Familie beizutragen. Das Bundesverwaltungsgericht geht demnach davon aus, dass die Beschwerdeführer in der Türkei grundsätzlich in der Lage sein werden, sich mit ihren bislang ausgeübten Tätigkeiten oder gegebenenfalls mit anderen Tätigkeiten (BF1 legte im Verfahren eine Einstellungszusage für die Tätigkeit als Koch bzw. Küchenhilfe eines Restaurants für „Anatolische Spezialitäten“ vor und ist nicht ersichtlich, weshalb er ein derartiges Vorhaben nicht auch in seinem Heimatland angehen könnte) ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts zu erwirtschaften. Sowohl BF1 als auch BF2 verfügen in der Türkei ferner über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte, sodass davon auszugehen ist, dass sie im Falle einer Rückkehr – zumindest für die Phase einer ersten Orientierung am Arbeitsmarkt – nicht nur Unterstützung hinsichtlich Wohnraums und Gütern des täglichen Bedarfs, sondern allenfalls auch bei der Betreuung der minderjährigen BF5 im Familienverband finden werden.
Darüber hinaus stehen den Beschwerdeführern die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt.
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demgemäß nicht vor.
In diesem Zusammenhang verweist das Bundesverwaltungsgericht auch auf das Erkenntnis des VwGH vom 06.11.2009, 2008/19/0174, in dem die Schwelle einer Verletzung von Art 3 EMRK in einem Fall einer alleinstehenden Mutter eines Kleinkindes (ohne Berufserfahrung) trotz Erwartung einer tristen finanziellen Situation ohne familiäre Unterstützung im Heimatland mangels realer Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse verneint und die Behandlung der Beschwerde abgelehnt wurde. In casu stellt sich die Rückkehrsituation der Beschwerdeführer aufgrund der oben aufgezeigten Möglichkeiten als weit besser dar, als in dem zuvor genannten Judikat.
Wie beweiswürdigend ausgeführt, konnte das Gericht der Argumentation, die BF3 bzw. der minderjährige BF4 könnten aufgrund der fehlenden Schuljahre und Kenntnisse des Schulstoffes in der Türkei die dort nötige Aufnahmeprüfung für eine höhere Schule nicht schaffen, sodass ihnen eine weitere Schulbildung verwehrt wäre, nicht folgen.
Dass den BF wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe oder der alevitischen Glaubensgemeinschaft der Zugang zur Bildung in der Türkei generell verweigert würde oder Kurden und Aleviten generell in den Schulen in einer die Menschenwürde widerstrebenden Weise behandelt würden, brachten die Beschwerdeführer weder glaubhaft vor, noch kann dies aus den eingesehenen Berichten abgeleitet werden. Da die Beschwerdeführer in der Türkei bereits die Grundschule abgeschlossen haben und die Mittelschule besuchten, ist auch davon auszugehen, dass sie die dort gesprochene türkische Sprache noch hinreichend beherrschen, um sich den Prüfungen für eine Wiedereingliederung in das reguläre türkische Schulsystem stellen können oder sich allenfalls an privaten Institutionen weiterzubilden.
Die behauptete schwierige Wiedereingliederung stellt sich aber nicht nur aus den beweiswürdigend dargelegten Erwägungen als spekulativ dar, sondern ist an dieser Stelle auch darauf zu verweisen, dass die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK nicht ausreichend ist. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307).
Mit ihrem Vorbringen vermochten die BF jedenfalls nicht, eine konkrete Gefährdung darzustellen. Selbst unter der Annahme, dass die BF keine höhere Bildung genießen könnten (beide minderjährigen Beschwerdeführer haben in der Türkei zumindest die Grundschule absolviert und sind auch eine zeitlang auf die Mittelschule gegangen; seit ihrer Einreise in Österreich gehen sie ebenfalls zur Schule) und einem im Vergleich zu Österreich niedrigeren Lebensstandard entgegenzusehen hätten, vermag damit eine Verletzung in dem von Art. 3 EMRK geforderten Ausmaß nicht begründet zu werden.
Insgesamt vermag das Bundesverwaltungsgericht auch nicht zu erkennen, dass die BF in ihrem Recht auf Bildung verletzt wären.
Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Herkunftsstaat letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiären Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH vom 29.04.2010, Zl. 2009/21/0055).
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die erwachsenen Beschwerdeführer ihr Heimatland zusammen mit ihren damals minderjährigen Kindern offenkundig aus wirtschaftlichen Gründen verließen, mehrfach unbegründete Anträge stellten und selbst die höchstgerichtliche Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, nämlich den Beschluss vom 18.10.2019, mit der die erhobene außerordentliche Revision der Beschwerdeführer gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes im Erstverfahren zurückgewiesen wurde, missachteten und nicht ausreisten, sondern einen neuen Asylantrag stellten, ohne einen wesentlich geänderten Sachverhalt vorzubringen.
Die erwachsenen Beschwerdeführer konnten auch schon nach Erhalt des Bescheides der Behörde im Erstverfahren nicht davon ausgehen, dass sie das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt in Österreich erwirken würden und haben sie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung – die in gegenständlichem Fall jedoch bei weitem nicht das Ausmaß der in der Judikatur zu Art. 3 EMRK definierten Schwelle erreichen – daher hinzunehmen.
In Bezug auf die Minderjährigkeit der BF – BF3 und BF4 waren zum Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei zwischen dreizehn und elf Jahre alt, BF5 war noch nicht geboren – verkennt das ho. Gericht zwar nicht, dass sich die Kinder das Verhalten der Eltern im Rahmen der Interessensabwägung gemäß Ar. 8 EMRK nicht im vollen Umfang subjektiv verwerfen lassen müssen, doch ist dieses Verhalten dennoch nicht unbeachtlich. Hier sei etwa auf die Erkenntnisse des VfGH vom 12.6.2010 U 614/10, U613/10, U615/10 ua verwiesen. Aus den im Beschluss U615/10 genannten Fällen ist ableitbar, dass trotz fehlender subjektiver Vorwerfbarkeit des Verhaltens der minderjährigen Beschwerdeführer im Hinblick auf die Verfahrensdauer aufgrund deren Minderjährigkeit und des Verhaltens der Mutter gerade dieses Verhalten der Mutter im Rahmen der Interessensabwägung in Bezug auf die minderjährigen Kinder dennoch eine Rolle spielte, sie sich dieses zwar nicht vorwerfen aber in einem gewissen Umfang zurechnen lassen mussten.
Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes würde es auch dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen, wenn sich ein Fremder generell in einer solchen Situation wie die der Beschwerdeführer auf eine durch seine freiwillige Ausreise aus dem Herkunftsland bedingte Verminderung seiner beruflichen Chancen im Falle einer Rückkehr berufen kann. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes würde es ferner einen Wertungswiderspruch und eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung von Fremden, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, darstellen, zumal diese letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages – in diesem Fall mehrerer unberechtigter Anträge – erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. auch VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde).
Aufgrund einer eingehenden Beleuchtung der Rückkehrsituation haben sich keine konkreten Hinweise darauf ergeben, dass die minderjährigen Beschwerdeführer einer Gefahr entgegenzusehen hätten, wirtschaftlich ausgebeutet und zu einer Arbeit herangezogen werden zu müssen, die Gefahren mit sich bringt, die ihre Erziehung behindern oder ihre Gesundheit, ihre körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte, zumal dergleichen auch gar nicht vorgebracht wurde.
Bei der Beurteilung, ob im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Verletzung von durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten droht, ist nach der Judikatur des VwGH eine eventuelle besondere Vulnerabilität der Betroffenen im Speziellen zu berücksichtigen, wobei der VwGH auch auf die Definition schutzbedürftiger Personen in Art. 21. Der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) verweist (vgl. zuletzt VwGH vom 13.12.2018, Zl. Ra 2018/18/0336 sowie vom 30.08.2017, Zl. Ra 2017/18/0089 zum Irak sowie VwGH vom 06.09.2018, Ra 2018/18/0315 und diverse andere zu Afghanistan). Art. 21 der Aufnahmerichtlinie zählt als besonders schutzbedürftige Personen unter anderem Minderjährige auf.
Die Judikatur fordert – zuletzt etwa in einer Entscheidung hinsichtlich des sicheren Herkunftsstaates Armenien (VwGH vom 07.03.2019, Ra 2018/21/0216 bis 0217-13) – eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation eine Familie mit minderjährigen Kindern im Herkunftsstaat tatsächlich vorfindet, insbesondere unter Berücksichtigung der dort herrschenden Sicherheitslage und Bewegungsfreiheit (VwGH 21.03.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479) sowie der Unterkunftsmöglichkeit (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0315).
Im vorliegenden Fall ist daher insbesondere zu berücksichtigen, dass unter den Beschwerdeführern ein minderjähriges Kind (die BF5) sowie ein gerade noch minderjähriger Jugendlicher (der BF4) – somit Angehörige einer besonders vulnerablen und besonders schutzbedürftigen Personengruppe – sind. Daher ist eine konkrete Auseinandersetzung mit der Rückkehrsituation, diese Minderjährigen bzw. die erwachsenen Beschwerdeführer als Eltern mit einem minderjährigen Kind im Heimatstaat tatsächlich vorfinden würden, erforderlich.
Im gegenständlichen Fall sind alle Beschwerdeführer türkische Staatsangehörige und daher alle im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. BF4 und BF5 teilen als Kinder des BF1 und der BF2 somit das sozioökonomische Schicksal ihrer Eltern.
Wie oben näher dargestellt, war nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in eine Notlage geraten würden, zumal es dem BF1, der BF2 und auch der BF3, allenfalls auch dem BF4, möglich und zumutbar ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, um das Auskommen der Familie zu sichern, die Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit nutzen können und auch mit einer Unterstützung des in der Türkei vorhandenen verwandtschaftlichen Netzwerkes zu rechnen ist. Darüber hinaus hat die BF5 inzwischen ein Alter erreicht, in dem sich jedenfalls eine Teilzeitbeschäftigung der BF2 mit den Betreuungspflichten der BF5 vereinbaren ließe. BF5 wird keine Barrieren beim Eintritt in das türkische Schulsystem vorfinden, zumal dies von den Beschwerdeführern nicht vorgebracht wurde und die Länderberichte auch keine derartigen Hindernisse erkennen lassen. Zur Fortsetzung des Schulbesuches des BF4 und allenfalls auch der BF3 ist auf die obenstehenden Erwägungen zu verweisen.
Im Herkunftsstaat befinden sich auch noch Familienangehörige bzw. Verwandte der Beschwerdeführer, sodass auch nicht davon auszugehen ist, dass diese völlig auf sich allein gestellt und gesellschaftlich isoliert sein werden. Zudem befindet sich BF5 in einem anpassungsfähigen Alter und BF4 hat im Alter von etwa elfeinhalb Jahren sein Herkunftsland verlassen, weshalb davon auszugehen ist, dass er mit den Gepflogenheiten und den Gebräuchen im Herkunftsland noch vertraut ist und dort auch noch ein gewisser Freundeskreis existiert. Er befindet sich jetzt auch bereits in einem Alter, in welchem ihm zuzutrauen ist, selbständig Schritte zu setzen, sich im Herkunftsland wieder zu vernetzen und allenfalls eine Lehrstelle oder sonstige Beschäftigung zu finden.
Eine Verletzung des Kindeswohles ist daher ingesamt nicht ersichtlich.
Im gegebenen Zusammenhang ist neuerlich darauf zu verweisen, dass die bloße Möglichkeit, einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK nicht ausreichend ist. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307). Die Beschwerdeführer haben auch in Bezug auf die Vulnerabilität der Beschwerdeführer nicht substanziiert dargelegt, wie sich eine Rückkehr in den Herkunftsstaat konkret auf ihre individuelle Situation auswirken würde, insbesondere inwieweit sie durch die Rückkehr einem realen Risiko einer extremen Gefahrenlage, vor allem der Gefahr einer Ausbeutung, ausgesetzt wären.
Auf die bereits getätigten Ausführungen zur Zurechenbarkeit des Verhaltens der erwachsenen Beschwerdeführer wird verwiesen.
Was die Folgen der COVID-19-Pandemie in der Türkei betrifft, so ist festzuhalten, dass es sich hierbei um eine derzeit weltweite auftretende Erkrankung handelt und in Ermangelung von Heilmitteln und Impfstoffen derzeit kein Staat der Welt Sicherheit vor dieser Erkrankung bieten kann, was die aktuellen Entwicklungen in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika belegen. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen leicht. Sehr schwere Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf. Die Beschwerdeführer, insbesondere auch nicht der BF1 und die BF2, gehören diesen Risikogruppen (vgl. dazu die COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II. Nr. 203/2020) nicht an, sodass aus diesem Grund von keiner Art. 3 EMRK-Relevanz im konkreten Fall der Beschwerdeführer auszugehen ist. Eine durch die Lebensumstände im Zielstaat bedingte Verletzung des Art. 3 EMRK setzt darüber hinaus in jedem Fall nach der Rechtsprechung eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr voraus. Die bloße Möglichkeit eines dem Art. 3 EMRK widersprechenden Nachteils reicht hingegen nicht aus, um Abschiebungsschutz zu rechtfertigen (VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174). Eine mögliche Ansteckung der Beschwerdeführer in der Türkei mit COVID-19 und ein diesbezüglicher außergewöhnlicher Krankheitsverlauf ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar und eine reale und nicht auf Spekulationen gegründete Gefahr somit nicht zu erkennen. Ergänzend ist festzustellen, dass sie auch kein substantiiertes Vorbringen in Bezug auf die Rückkehrsituation im Lichte der COVID-19-Pandemie dargelegt haben. Eine bei der Rückkehr aus medizinischen Gründen allenfalls vorgeschriebene Quarantäne stellt keinen Eingriff in Art. 3 EMRK dar und findet ihre sachliche Rechtfertigung in der Hintanhaltung der Verbreitung von SARS-CoV-2.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.
Weder droht ihnen im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Da somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind, waren die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
Im gegenständlichen Fall liegt ein Familienverfahren vor. Nachdem jedoch keinem der Beschwerdeführer Asyl oder subsidiärer Schutz gewährt worden ist, sondern deren Beschwerden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag bezüglich Spruchpunkt I. und II. ihrer jeweils angefochtenen Bescheide abgewiesen wurden, können die jeweiligen Beschwerdeführer auch über diesen Weg keinen Schutz erlangen.
3.4. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (jeweils Spruchpunkte III. der angefochtenen Bescheide):
3.4.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
§ 10 Abs. 1 AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach dem Asylgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn - wie im Gegenstand - der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen wird (Z. 3 leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird.
3.4.2. Im Ermittlungsverfahren sind keine Umstände zu Tage getreten, welche auf eine Verwirklichung der in § 57 Abs. 1 AsylG 2005 alternativ genannten Tatbestände hindeuten würden, insbesondere wurden von den Beschwerdeführern selbst nichts dahingehend dargetan und auch in der Beschwerde kein diesbezügliches Vorbringen erstattet.
Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
Den Beschwerdeführern ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Den gegen die jeweiligen Spruchpunkte III. der angefochtenen Bescheide erhobenen Beschwerden kommt daher keine Berichtigung zu.
3.5. Erlassung einer Rückkehrentscheidung:
3.5.1. Die Einreise der Beschwerdeführer in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Bisher stützte sich der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet alleine auf die Bestimmungen des AsylG für die Dauer ihres ersten und nunmehr auch des zweiten Asylverfahrens. Ein sonstiger Aufenthaltstitel ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet mehr vor und unterliegen diese damit nicht dem Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 BFA-VG in der geltenden Fassung BGBl. I Nr. 56/2018 lautet:
„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).
Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 09. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 08.06.2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29.03.2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).
Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 8 EMRK Rz 76). Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, Zl. 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, Zl. 97/21/0778; 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Art. 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.
In Bezug auf die Beschwerdeführer untereinander ist festzuhalten, dass diese gleichermaßen von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, insoweit liegt deshalb kein Eingriff in das schützenswerte Familienleben vor (VwGH 19.12.2012, Zl. 2012/22/0221 mwN).
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, so wie die Beziehung zwischen erwachsenen Geschwistern, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd Art. 8 EMRK erreichen. Eine solche liegt vor, wenn einen entsprechenden Grad an über die bloße Verwandtschaft hinausgehenden Bindungen vorliegt, z.B. besondere Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht, vorliegen (dazu VwGH 18.06.2009, 2008/22/0135).
Zwar leben in Österreich noch sehr viele weitere Familienangehörige der Beschwerdeführer und haben diese eine Zeit lang mit einer Schwester der BF2 und deren Familie im gemeinsamen Haushalt gelebt. Der gemeinsame Haushalt liegt jedoch nicht mehr vor. Es wurde auch nicht vorgebracht, dass die Beschwerdeführer konkret finanziell von der Schwester der BF2 abhängig werden. Sofern eine Abhängigkeit der psychisch kranken Schwester von der BF2 bzw. insbesondere von der in Österreich nachgeborenen BF5 vorgebracht wurde, so ist eine solche weder medizinisch belegt worden noch geht sonst aus dem Vorbringen konkret hervor, inwiefern die Schwester der BF2 tatsächliche Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Erkrankung bzw. ihres Lebens von den Beschwerdeführern erhält und wieso diese nicht auch durch die zahlreichen anderen Familienangehörigen in Österreich geleistet werden könnte. Im Übrigen verfügt Österreich auch über ein hervorragendes Sozialsystem und wäre eine pflegebedürftige Person, die hier legal aufhältig ist, jedenfalls versorgt.
Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis oder maßgebliche finanzielle Unterstützung liegt somit nicht vor. Ein schützenswertes Familienleben iSd Art. 8 EMRK zu den Angehörigen der BF2 und auch des BF1 liegt gegenständlich somit nicht vor. Die Rückkehrentscheidung betreffend die Beschwerdeführer stellt somit keinen Eingriff in das Recht auf Familienleben dar, jedoch einen solchen in das Recht auf Privatleben.
3.5.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).
Hinsichtlich der Abwägung der öffentlichen Interessen mit jenen des Berufungswerbers ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass Asylwerber und sonstige Fremde nicht schlechthin gleichzusetzen sind. Asylwerber hätten regelmäßig ohne Geltendmachung von Asylgründen keine rechtliche Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Soweit die Einreise nicht ohnehin unter Umgehung der Grenzkontrolle oder mit einem Touristenvisum stattgefunden hat, ist Asylwerbern der Aufenthalt bloß erlaubt, weil sie einen Asylantrag gestellt und Asylgründe geltend gemacht haben. Sie dürfen zwar bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung weder zurückgewiesen, zurückgeschoben noch abgeschoben werden, ein über diesen faktischen Abschiebeschutz hinausgehendes Aufenthaltsrecht erlangen Asylwerber jedoch lediglich bei Zulassung ihres Asylverfahrens sowie bis zum rechtskräftigen Abschluss oder bis zur Einstellung des Verfahrens. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehene Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Grund dieser Besonderheit Asylwerber und andere Fremde unterschiedlich behandelt (VfSlg. 17.516/2005).
3.5.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).
Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vgl. VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.
Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).
Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.
Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen (vgl. auch VfSlg. 19.357/2011).
Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).
Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn er sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.
Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).
Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.
3.5.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der Beschwerdeführer ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:
Die Beschwerdeführer (BF1 bis BF4) reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und halten sich seit Februar 2017 (BF1) bzw. März 2017 (BF2 bis BF4) im Bundesgebiet auf bzw. wurde die BF5 im XXXX im Bundesgebiet geboren. Sie konnten ihren Aufenthalt bisher lediglich durch die Stellung von insgesamt bereits zwei unbegründeten Anträgen auf internationalen Schutz vorübergehend legalisieren, wobei auch schon ihr erster Antrag rechtskräftig abgewiesen und gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde.
Ins Gewicht fällt auch, dass die Beschwerdeführer ihrer Ausreiseverpflichtung nach Beendigung des ersten Asylverfahrens nicht nachgekommen sind, sondern einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, ohne einen wesentlich geänderten Sachverhalt vorzubringen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Beschwerdeführer selbst den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 18.10.2019, Ra XXXX , mit dem die gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 erhobene außerordentliche Revision der Beschwerdeführer zurückgewiesen wurde, ignorierten und einen weiteren unbegründeten Antrag, den gegenständlichen, stellten, ohne einen wesentlich geänderten Sachverhalt vorzubringen. Auch ein im Dezember 2019 gestellter Antrag auf Wiederaufnahme erwies sich als unbegründet und – trotz erfolgter rechtlicher Belehrung – im Übrigen auch als rechtlich verfehlt.
Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der oben genannten Determinanten im Lichte der soeben zitierten Judikatur Folgendes:
- Aufenthaltsdauer, Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
Die Beschwerdeführer halten sich seit fünf Jahren (BF1 bis BF4) in Österreich auf bzw. wurde die BF5 vor XXXX Jahren in Österreich geboren. Sie reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und konnten ihren Aufenthalt lediglich durch die Stellung zweier unbegründeter Anträge auf internationalen Schutz vorübergehend legalisieren. Die Dauer ihres Aufenthaltes wird durch die offenkundig nicht vorhandene Bereitschaft, den Entscheidungen von Gerichten und Höchstgerichten zu folgen, relativiert. Dazu wird auf die gerade vorhin getätigten Ausführungen verwiesen. Die Beschwerdeführer verfügen über die unten näher beschriebenen privaten Anknüpfungspunkte.
- Schutzwürdigkeit des Privatlebens
Die Beschwerdeführer begründeten ihr Privatleben zu einem Zeitpunkt, als der Aufenthalt durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages vorübergehend legalisiert wurde bzw. intensivierte sich dieses durch die nicht erfolgte Ausreise und Stellung eines zweiten, im Ergebnis ebenfalls unbegründeten, Asylantrages. Auch war der Aufenthalt der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Privat- und Familienlebens ungewiss und nicht dauerhaft, sondern auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt.
Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt ohne dem Dazutreten weiterer maßgeblicher Umstände nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2016/19/0031 mwN). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist. Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, Zl. 2007/10/0479, davon aus, dass der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [...] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte.
Die Beschwerdeführer haben die festgestellten verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte im Inland und haben sich auch einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Es ist aufgrund der Aufenthaltsdauer und dem Schul- bzw. Kindergartenbesuch von BF3 bis BF5 sowie der Mitgliedschaft in den kurdischen Vereinen durch BF1 und BF2 auch davon auszugehen, dass sie die üblichen sozialen freundschaftlichen Kontakte, darunter auch zu österreichischen Staatsbürgern, pflegen.
Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich lebenden Verwandten ist – wie bereits ausgeführt – nicht hervorgekommen.
- Grad der Integration
Abgesehen davon, dass der BF1 und die BF2 Mitglied in den festgestellten kurdischen Vereinen in Österreich sind, konnte sonst weder seitens des BF1 und der BF2 bzw. der BF3 und des BF4 ein darüber hinausgehendes Engagement in anderen Vereinen oder bei gemeinnützigen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten festgestellt werden.
Weder BF1 noch BF2 haben in Österreich einen Deutschkurs oder gar eine Deutschsprachprüfung erfolgreich abgeschlossen. Dass sie über maßgebliche Deutschkenntnisse verfügen, ist nicht hervorgekommen und ist auch keiner der Beschwerdeführer bisher einer sozialversicherten Erwerbstätigkeit in Österreich nachgegangen.
Die minderjährige BF5 besucht in Österreich inzwischen den Kindergarten, BF3 und BF4 haben ihren Pflichtschulabschluss absolviert und besuchen derzeit eine Bundeshandelsakademie. Aufgrund des vorliegenden Pflichtschulabschlusses ist davon auszugehen, dass die BF3 und der BF4 Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllen würden, wenngleich die in den vorliegenden Zeugnissen vorliegenden Beurteilungen im Fach Deutsch (sofern eine Beurteilung vorhanden ist) nicht besonders gut sind.
In diesem Zusammenhang ist jedoch auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, wonach selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht und sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt, weshalb diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (VwGH vom 06.11.2009, Zl. 2008/18/0720; und vom 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029).
Zum Schulbesuch der BF3 und des BF4 zumindest bis zur Erfüllung der Schulpflicht ist auch festzuhalten, dass dies die Erfüllung einer durchsetzbaren gesetzlichen Verpflichtung darstellt, welcher im Rahmen der Interessensabwägung nur sehr untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH v. 26.9.2007 2006/21/0288 mwN).
Für BF1 liegt eine Einstellungszusage der XXXX vor, welcher zufolge er „gerne auch im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche mit 1.800 Euro Brutto im Monat“ arbeiten könne, wenn er einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt bekommt (OZ 20), wobei das Dokument ein handschriftlich dazugefügtes Datum (9.3.2022) aufweist. Bereits im Erstverfahren hatte der BF eine Einstellungszusage dieser KG vorgelegt.
Der Antrag des BF1 auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung nach dem Ausländerbe-schäftigungsgesetz (AuslBG) der XXXX vom 12.12.2019 wurde mit Bescheid des zuständigen Arbeitsmarktservice (AMS) vom 17.01.2020 abgewiesen. Diesbezüglich ist noch ein Rechtsmittelverfahren anhängig.
Selbst wenn davon auszugehen ist, dass BF1 im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Anstellung in diesem Unternehmen erhalten würde, so ist auch darauf hinzuweisen, dass er sich offenkundig nicht für eine Stelle bei einem anderen Unternehmen oder aber für andere, für Asylwerber zugängliche, Tätigkeiten (etwas als Selbständiger oder Saisonarbeiter in der Gastronmie oder Landwirtschaft) gemeldet hat bzw. keine Schritte dokumentiert sind, die dem Gericht vermitteln können, dass BF1 abgesehen von der Bereitschaft, seine Wunsch-Stelle anzutreten, grundsätzlich arbeitswillig und selbsterhaltungsfähig ist.
Hinsichtlich der vorgelegten Einstellungszusage, ist auch anzumerken, dass dies kein Beleg für die Selbsterhaltungsfähigkeit des BF ist, sondern allenfalls ein Hinweis darauf, dass sich der BF – sofern er sich auf dem entsprechenden Arbeitsplatz tatsächlich bewährt – in die Situation kommen könnte, den Lebensunterhalt für seine Familie aus Eigenem zu bestreiten.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kommt einer Einstellungszusage gegenüber einem Asylwerber, der nur über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach asylrechtlichen Vorschriften und nicht über eine Arbeitserlaubnis verfügt, daher keine wesentliche Bedeutung zu (VwGH 22.02.2011, Zl. 2010/18/0323 mwN).
Die Beschwerdeführer beziehen auch noch Leistungen aus der Grundversorgung.
Gerade vor dem Hintergrund, dass BF1 offenkundig nicht gewillt war, während seines nunmehr fünfjährigen Aufenthaltes eine andere Stelle anzunehmen oder sich zumindest beim Arbeitsmarktservice dafür vormerken zu lassen, ist auch nicht mit der erforderlichen Sicherbeit prognostizierbar, dass BF1 sich nachhaltig am österreichischen Arbeitsmarkt integrieren wird, zumal nicht mit Sicherheit angenommen werden kann, dass die Arbeitsstelle tatsächlich längerfristig verfügbar ist bzw. das besagte Unternehmen auf Dauer betrieben wird.
In Bezug auf die nunmehr volljährige BF3 und den siebzehnjährigen BF4 wurde schließlich gar nicht vorgebracht, dass diese bereit wären, eine Lehr- oder Arbeitsstelle anzunehmen, um so zum Familieneinkommen und der Selbsterhaltungsfähigkeit der Familie beizutragen.
Soweit die Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügen, ist auch darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wären, den Kontakt zu jenen Personen, die ihnen in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihnen frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrecht zu erhalten. Es steht den Beschwerdeführern im Übrigen frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen.
- strafrechtliche Unbescholtenheit
Alle Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten. Die minderjährige BF5 ist aufgrund ihres Alters noch strafunmündig.
- Bindungen zum Herkunftsstaat
Soweit Kinder von einer Ausweisung betroffen sind, sind nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (EGMR U 18.10.2006, Üner gegen Niederlande, Nr. 46.410/99; GK 6.7.2010, Neulinger und Shuruk gegen Schweiz, Nr. 1615/07). Maßgebliche Bedeutung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter (EGMR U 31.7.2008, Darren Omoregie ua. gegen Norwegen, Nr. 265/07; U 17.2.2009, Onur gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 27.319/07; siehe dazu auch VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072) befinden.
BF1 bis BF4 verbrachten den bisher überwiegenden Teil ihres Lebens in der Türkei, wo sie sozialisiert und aufgewachsen sind. BF3 und BF4 haben dort bereits die Mittelschule besucht.
Sie sprechen sowohl Türkisch als auch Kurdisch auf muttersprachlichem Niveau. Jedenfalls wurden sprachliche Schwierigkeiten im Falle einer Rückkehr nicht substantiiert dargelegt. Im Verfahren kam hervor, dass auch in der Türkei noch maßgebliche familiäre Anknüpfungspunkte bestehen und ist auch davon auszugehen, dass ein gewisser Freundes- und/oder Bekanntenkreis des BF1 bis BF4 noch existiert, da nichts darauf hindeutet, dass die Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise in ihrem Herkunftsstaat in völliger sozialer Isolation gelebt hätten. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es – insbesondere dem BF1 und der BF2, aber auch BF3 und BF4 – im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Die minderjährige BF5 wurde in Österreich geboren und hat bisher ihr gesamtes Leben in Österreich verbracht. Sie ist allerdings erst XXXX Jahre alt und hat in Österreich erst kürzlich mit dem Kindergartenbesuch begonnen. Ihr soziales Umfeld beschränkte sich bisher überwiegend auf den Familienverband mit den Beschwerdeführern und ist auch davon auszugehen, dass mit der minderjährigen BF5 zuhause Türkisch bzw. Kurdisch gesprochen wird. Jedenfalls ist kein Grund ersichtlich, weshalb BF5 nicht bis zu ihrem Schuleintritt türkisch lernern sollte. Es ist insgesamt davon auszugehen, dass hinsichtlich der BF5 in Österreich noch keine derartige Sozialisierung stattgefunden hat, die eine Rückkehr in die Türkei mit ihrer gesamten Familie unzumutbar erscheinen ließe oder sonstige Hindernisse für eine Rückkehr entgegenstehen.
- Recht auf körperliche Unversehrtheit
Der Verwaltungsgerichtshof geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass dem Art. 8 EMRK innewohnenden Recht auf das Privat- und Familienleben auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit abzuleiten ist (vgl. etwa Erk. d. VwGH vom 28.6.2016, Ra 2015/21/0199-8). Vor diesem Hintergrund ist die Zulässigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Lichte des Art. 8 EMRK auch vor dem Hintergrund der Lage im Herkunftsstaat, welche die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr vorfinden, zu prüfen, wobei bereits an dieser Stelle Art. 8 EMRK –anders als Art. 3 leg. cit.- einen Eingriffsvorbehalt kennt.
Im gegenständlichen Verfahren ergaben sich jedoch keine Hinweise auf einen aus diesem Blickwinkel relevanten Sachverhalt. Auf die oben getätigten Ausführungen zur Situation im Land wird verwiesen.
- Verfahrensdauer
Es ist im Rahmen einer Gesamtschau zwar festzuhalten, dass eine raschere Erledigung des Asylverfahrens bei Vorhandensein entsprechender Ressourcen denkbar ist, dennoch ist die zeitliche Dauer des Verfahrens nur ein Aspekt unter vielen.
Aufgrund des Umstandes, dass die Beschwerdeführer nach rechtskräftigem Abschluss ihres ersten Asylverfahrens mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.08.2019 und Zurückweisung ihrer Revision durch den VwGH mit Beschluss vom 18.10.2019 einerseits gleich am 15.11.2019 den gegenständlichen (unbegründeten) Folgeantrag sowie im Dezember 2019 auch noch einen (unzulässigen) Antrag auf Wiederaufnahme dieses Verfahrens stellten, ist von den Beschwerdeführern die Dauer des gegenständlichen Verfahrens auch zu einem nicht unerheblichen Anteil zu vertreten, zumal sie ihrer rechtskräftigen Ausreiseverpflichtung nicht nachkamen oder auch nicht den Versuch unternahmen, ihren Aufenthalt in Österreich auf andere Weise zu legalisieren.
In diesem Zusammenhang sei auch noch bemerkt, dass gerade das Stellen unberechtigter Folgeanträge auf erhebliche Weise Ressourcen bindet, was eine schnelle Erledigung der Rechtssachen nicht immer möglich macht.
Im gegenständlichen Verfahren ist insgesamt keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, die den zuständigen Behörden oder dem Gericht zur Last zu legen wäre (vgl. hiezu auch VwGH 24.05.2016, Ro 2016/01/0001).
- die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren
Dem volljährigen BF1 und der volljährigen BF2 musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die rechtswidrige und schlepperunterstützte Einreise sowie die gegenständliche Folgeantragstellung nach bereits rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens den Umstand, dass sich der BF1 und die BF2 der Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst waren, da davon auszugehen ist, dass sie in diesem Fall diese weitaus weniger beschwerliche und kostenintensive Art der legalen Einreise und Niederlassung gewählt hätte.
Ins Gewicht fällt vor allem, dass die Beschwerdeführer trotz des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens einen weiteren Asylantrag stellten, in dem kein wesentlich geänderter Sachverhalt dargelegt wurde. Umsomehr musste ihnen vor Stellung dieses die mangelnde Aussicht auf Erfolg bewußt sein.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes schlägt – wenngleich Kindern das fremdenrechtliche Fehlverhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden kann – dieses auch auf die Kinder von Fremden durch und ist daher insbesondere das Bewusstsein der Eltern um die Unsicherheit des Aufenthaltsstatus auch in Bezug auf die minderjährigen Beschwerdeführer von entscheidungswesentlicher Bedeutung (VwGH 22.02.2017, Ra 2017/19/0001; 20.03.2012, Zl. 2010/21/0471 mwN).
- Schlussfolgerungen
In einer Gesamtbetrachtung ist festzuhalten, dass ein schützenswertes Privatleben, welches die angeführten öffentlichen Interessen überwiegen würde, nicht gegeben ist und geht das Bundesverwaltungsgerichts aufgrund der vorgenommen Prüfung auch in Bezug auf die Minderjährigen davon aus, dass der mit der Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet einhergehende Eingriff in ihr Privatleben einschließlich ihrer Beziehungen in Schule und Kindergarten sowie zu Freunden gerechtfertigt ist.
Auch konnten keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale festgestellt werden und sind auch andere unter dem Gesichtspunkt des § 9 BFA-VG zu beachtende Interessen der Beschwerdeführer nicht zutage getreten, sodass das Bundesverwaltungsgericht insgesamt zur Ansicht gelangt, dass die individuellen Interessen der Beschwerdeführer im Sinne der zitierten Judikatur nicht so ausgeprägt sind, dass sie insbesondere das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der österreichischen aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen überwiegen.
Auch Art. 24 Abs. 2 GRC oder die in nationalen Normen verbrieften Kinderrechte stehen der Beendigung des Aufenthalts der Beschwerdeführer nicht entgegen:
Nach Art. 1 des B-VG Kinderrechte hat jedes Kind Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Nach Art. 2 leg.cit. hat jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Jedes Kind, das dauernd oder vorübergehend aus seinem familiären Umfeld, welches die natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder ist, herausgelöst ist, hat Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates. Eine Beschränkung der in den Artikeln 1, 2, 4 und 6 dieses Bundesverfassungsgesetzes gewährleisteten Rechte und Ansprüche ist gemäß Art. 7 leg.cit. nur zulässig, insoweit sie gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Durch die gemeinsame Rückkehr der minderjährigen BF mit ihren Eltern bzw. ihrer volljährigen Schwester wird in ihr Familienleben nicht eingegriffen und werden sie nicht aus ihrem familiären Umfeld herausgelöst. Ein Eingriff in Art. 2 BVG Kinderrechte liegt sohin nicht vor. Zudem sind die minderjährigen Beschwerdeführer gesund. Da sie auch gemeinsam mit ihren Eltern in die Türkei ausreisen müssen, wo – wie das Beweisverfahren ergeben hat – ihr Lebensunterhalt gesichert ist und sie grundsätzlich Zugang zu Bildung haben, ist auch in dieser Hinsicht kein unzulässiger Eingriff in ihr Kindeswohl ersichtlich.
Es wird im gegenständlichen Fall auch darauf hingewiesen, dass es nunmehr an den Eltern der minderjährigen Beschwerdeführer liegen wird, ihrer Verpflichtung zum Verlassen des Bundesgebietes nachzukommen und nicht in weiterer Folge abermals rechtswidrig in diesem zu verharren, zumal sie durch ein solches Verhalten die Eingliederung ihrer Kinder in die türkische Gesellschaft bzw. das dortige Schulsystem weiter verzögern bzw. erschweren und ihnen somit schaden würden.
3.5.5. In Anbetracht der Abwägung der dargelegten Umstände in Ansehung der Person der Beschwerdeführer ergibt sich zwingend, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig und diesen daher ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen nicht zu erteilen ist, zumal es an der in § 55 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 angeführten Voraussetzung der gebotenen Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG mangelt.
3.6. Zulässigkeit der Abschiebung:
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 2 FPG 2005 ferner unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen sowie die länderkundlichen Feststellungen sind keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Türkei unzulässig wäre.
Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für die Türkei nicht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei beruht somit darauf, dass ein Beschwerdeführer weder vor der belangten Behörde, noch im Rechtsmittelverfahren substantiierte Angaben dahingehend getätigt hat, denen zufolge eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung anzunehmen gewesen wäre. Auch sind keine Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG aus von den Beschwerdeführern zu vertretenden Gründen nicht möglich wäre (§ 52 Abs. 9 FPG).
Daher war festzustellen, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat Türkei zulässig ist.
3.7. Frist für die freiwillige Ausreise:
Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die die Beschwerdeführer bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch in der Beschwerdeschrift kein Vorbringen erstattet.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
3.8. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:
§ 24 VwGVG laut idgF BGBl. I Nr. 138/2017 lautet:
„§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn
1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben oder die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig zu erklären ist oder
2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist;
3. wenn die Rechtssache durch einen Rechtspfleger erledigt wird.
(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.“
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG idgF BGBl. I Nr. 145/2017 kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH sind für das Absehen einer mündlichen Verhandlung gem. § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts allgemein folgende Kriterien beachtlich (vgl. VwGH vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, Beschluss des VwGH vom 25.4.2017, Ra 2016/18/0261-10):
- Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt wurde von der belangten Behörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben und weist dieser bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch das ho. Gericht noch immer die gebotene Aktualität und Vollständigkeiten auf.
- Die belangte Behörde musste die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das ho. Gericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen.
- In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der belangten Behörde festgestellten Sachverhalts ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, welches gegen das Neuerungsverbot gem. § 20 BFA-VG verstößt.
- Auf verfahrensrechtliche Besonderheiten ist Bedacht zu nehmen.
Im gegenständlichen Fall wurde zwar in der Beschwerdeschrift die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt, jedoch kein über das Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens hinausgehendes, substantiiertes Vorbringen erstattet.
Trotz mehrfacher Gelegenheiten und expliziter Aufforderungen seitens des Bundesverwaltungsgerichtes konnten die Beschwerdeführer ihr Vorbringen zur exilpolitischen Tätigkeit und der behaupteten HDP-Mitgliedschaft nicht näher substantiieren. Das diesbezügliche Vorbringen war größtenteils bereits gegenstand des ersten Asylverfahrens, welches bereits rechtskräftig abgeschlossen ist. Auch ein wesentlicher Teil der von den Beschwerdeführern vorgelegten Beweismittel und Unterlagen war bereits Gegenstand des ersten Asylverfahrens.
Diesbezüglich wird insbesondere auf die beweiswürdigenden Erwägungen dieses Erkenntnisses verwiesen, wie oben zitiert.
Zwar wurde in der Beschwerdeschrift die persönliche Einvernahme der Beschwerdeführer beantragt, jedoch war wie zuvor dargestellt, festzustellen, dass die Beschwerdeführer zur Frage der exilpolitischen Tätigkeit und der behaupteten Verfolgung trotz mehrerer Gelegenheiten im Verfahren keine Initiative zur Mitwirkung und Aufklärung des Sachverhaltes zeigten bzw. auch im Rahmen des gegenständlich zweiten Asylantrages in den Einvernahmen vor der belangten Behörde kein im Vergleich zum ersten Asylverfahren anders lautendes oder substantiiertes Vorbringen erstatten konnten, weshalb ein weiter- oder tiefergehendes Vorbringen im Falle einer mündlichen Verhandlung auch nicht zu erwarten war. Im Übrigen wurde in den im Rechtsmittelverfahren erstatteten Stellungnahmen auch nicht dargelegt, dass eine persönliche Einvernahme der Beschwerdeführer zur Erhebung in Bezug auf die exilpolitische Tätigkeit als erforderlich erachtet würde noch wurden sonst Ausführungen getätigt oder (nachvollziehbare) Beweisanträge gestellt, aus welchen das Gericht hätte erkennen können, was bei einer persönlichen Anhörung konkret an entscheidungsrelevantem und zu berücksichtigendem Sachverhalt noch hervorkommen hätte können.
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beschwerdeführern mit Note vom 14.04.2022 auch mitgeteilt, dass aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes derzeit kein Umstand ersichtlich sei, der einer weiteren, tiefergehenden Erörterung in einer mündlichen Verhandlung zur Klärung der Rechtssache bedarf. Die Beschwerdeführer wurden ausdrücklich eingeladen, innerhalb einer Frist von sieben Tagen eine Stellungnahme abzugeben und wurde unter Hinweis auf die Mitwirkungspflicht auch mitgeteilt, dass eine Entscheidung auf Basis des bisherigen Vorbringens und der Aktenlage ergehen wird, sofern ihre Stellungnahme nicht anderes erfordern würde. Bis dato ist keine Stellungnahme dazu eingegangen.
Aufgrund der geschilderten Umstände im konkret vorliegenden Einzelfall wurde trotz der Behauptung im Rechtsmittelverfahren, die Beschwerdeführer würden im Rückkehrfall der Gefahr einer Inhaftierung wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit entgegenzusehen haben, von einer mündlichen Erörterung dieser Frage abgesehen.
Zum übrigen Vorbringen der Beschwerdeführer ist festzuhalten, dass der Sachverhalt von der belangten Behörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde.
Eine Verletzung von Art. 6 EMRK stellt die unterlassene Verhandlung nicht dar, zumal nach der ständigen Judikatur des VwGH (vgl. VwGH vom 05.09.2002, Zl. 98/21/0124 mwN) und des VfGH (vgl. etwa VfGH vom 15.10.2004, GZ G237/63 ua.) Art. 6 EMRK im asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren nicht zur Anwendung kommt (vgl. auch EGMR 05.10.2000, Fall Maaouia, Appl. 39.652/98).
Ebenso ergibt sich auch aus dem auf Asylverfahren anwendbaren Art. 47 der Grundre-chtecharta der Europäischen Union im gegenständlichen Fall keine Verhandlungspflicht (VfGH U 466/11-18, U 1836/11-13). In diesem Zusammenhang wird auch auf das Erkenntnis des VwGH vom 27.09.2013, Zl. 2012/05/0213 verwiesen („…Im Übrigen lassen die Schriftsätze der Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und die vorgelegten Verwaltungsakten erkennen, dass die Erörterung in einer Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, zumal das Verfahren rechtliche … Fragen betrifft, zu deren Beantwortung auch im Sinne der Judikatur des EGMR (Hinweis E vom 28. Mai 2013, 2012/05/0120 bis 0122, mwH auf die Rechtsprechung des EGMR; ferner etwa das Urteil des EGMR vom 18. Juli 2013, Nr. 56422/09, Schädler-Eberle gegen Liechtenstein) eine öffentliche, mündliche Verhandlung nicht geboten erscheint.“), wo das genannte Höchstgericht zum Schluss kam, dass keine Verhandlung durchzuführen ist (zumal sich § 24 Abs. 4 VwGVG mit § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG inhaltlich deckt, erscheinen die dort angeführten Überlegungen im gegenständlichen Fall sinngemäß anwendbar).
Aufgrund der obigen Ausführungen konnte die Durchführung einer Verhandlung gegenständlich unterbleiben.
Zu Spruchteil A.2.I.): Zur Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung:
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass § 18 Abs. 5 erster Satz BFA-VG regelt, dass das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung unter den dort genannten Voraussetzungen zuzuerkennen hat. Ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung - wie er etwa in § 13 Abs. 3 und 4 und § 22 Abs. 1 und 3 VwGVG sowie § 30 Abs. 2 VwGG vorgesehen ist - ist in § 18 Abs. 5 BFA-VG nicht vorgesehen. Ein (zusätzlicher) Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 5 BFA-VG ist somit unzulässig (vgl. zum Ganzen den Beschluss des VwGH vom 13. September 2016, Fr 2016/01/0014, sowie dem folgend die Beschlüsse des VwGH vom 19. Juni 2017, Fr 2017/19/0023 und 0024, und vom 27. Juni 2017, Fr 2017/18/0022).
Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde war daher zurückzuweisen, zumal der Beschwerde mit den angefochtenen Bescheiden die aufschiebende Wirkung gar nicht aberkannt wurde, sodass dieser gemäß §§ 13 und 22 VwGVG ex lege die aufschiebende Wirkung zukommt.
Zu Spruchteil A.2.II.): Zur Zurückweisung des Antrages Kostenersatz:
Der mit „Rechtsberatung vor dem Bundesverwaltungsgericht“ betitelte § 52 BFA-VG idgF BGBl. I Nr. 53/2019 lautet:
„§ 52. (1) Das Bundesamt hat den Fremden oder Asylwerber bei Erlassung einer Entscheidung, ausgenommen Entscheidungen nach § 53 BFA-VG, §§ 19, 76 bis 78 AVG, §§ 46 Abs. 2 bis 2b, 60 Abs. 1 und 2, 69 Abs. 2, 88 bis 94 FPG und nach dem VVG, oder einer Aktenvorlage gemäß § 16 Abs. 2 VwGVG, schriftlich darüber zu informieren, dass ihm kostenlos ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt wird. Zugleich hat das Bundesamt den bestellten Rechtsberater oder die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung davon in Kenntnis zu setzen.
(2) Rechtsberater unterstützen und beraten Fremde oder Asylwerber jedenfalls beim Einbringen einer Beschwerde und im Beschwerdeverfahren gemäß Abs. 1 vor dem Bundesverwaltungsgericht, sowie bei der Beischaffung eines Dolmetschers. Rechtsberater haben ihre Beratungstätigkeit objektiv und nach bestem Wissen durchzuführen und den Beratenen die Erfolgsaussicht ihrer Beschwerde darzulegen. Auf deren Ersuchen haben sie die betreffenden Fremden oder Asylwerber auch im Verfahren, einschließlich einer mündlichen Verhandlung, zu vertreten. Im Fall der Erlassung eines Schubhaftbescheides bezieht sich die Beratung und Vertretung durch den Rechtsberater auch auf die unmittelbar vorangegangene Festnahme und Anhaltung nach diesem Bundesgesetz.“
Der mit „Gebühren“ betitelte § 70 AsylG idgF BGBl. I Nr. 56/2018 lautet:
„§ 70. Die in Verfahren nach diesem Bundesgesetz erforderlichen Eingaben, Vollmachtsurkunden, Niederschriften, Zeugnisse und ausländischen Personenstandsurkunden sowie die Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen sind von den Gebühren befreit. Weiters sind für Amtshandlungen auf Grund oder unmittelbar für Zwecke dieses Bundesgesetzes Verwaltungsabgaben des Bundes sowie Barauslagen nicht zu entrichten. Die Befreiung von Gebühren, Verwaltungsabgaben und Barauslagen gilt auch im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.“
Der mit „Kosten im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt“ betitelte § 35 VwGVG idgF BGBl. I Nr. 109/2021 lautet:
„§ 35. (1) Die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG) obsiegende Partei hat Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei.
(2) Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei.
(3) Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei.
(3a) § 47 Abs. 5 VwGG ist sinngemäß anzuwenden.
(4) Als Aufwendungen gemäß Abs. 1 gelten:
1. die Kommissionsgebühren sowie die Barauslagen, für die der Beschwerdeführer aufzukommen hat,
2. die Fahrtkosten, die mit der Wahrnehmung seiner Parteirechte in Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht verbunden waren, sowie
3. die durch Verordnung des Bundeskanzlers festzusetzenden Pauschalbeträge für den Schriftsatz-, den Verhandlungs- und den Vorlageaufwand.
(5) Die Höhe des Schriftsatz- und des Verhandlungsaufwands hat den durchschnittlichen Kosten der Vertretung bzw. der Einbringung des Schriftsatzes durch einen Rechtsanwalt zu entsprechen. Für den Ersatz der den Behörden erwachsenden Kosten ist ein Pauschalbetrag festzusetzen, der dem durchschnittlichen Vorlage-, Schriftsatz- und Verhandlungsaufwand der Behörden entspricht.
(6) Die §§ 52 bis 54 VwGG sind auf den Anspruch auf Aufwandersatz gemäß Abs. 1 sinngemäß anzuwenden.
(7) Aufwandersatz ist auf Antrag der Partei zu leisten. Der Antrag kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden.“
§ 35 VwGVG regelt daher lediglich einen Kostensatz für Beschwerden über Maßnahmen unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im Sinne des Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG.
Gegenständlich handelt es sich jedoch um ein Verfahren gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit im Sinne des Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG.
Nachdem das VwGVG für Bescheidbeschwerden keinen Kostenersatz vorsieht, sind gemäß § 17 VwGVG subsidiär die entsprechenden Regelungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG) anzuwenden.
Gemäß § 74 Abs. 1 AVG hat jeder Beteiligte die ihm im Verwaltungsverfahren erwachsenden Kosten selbst zu bestreiten. Nach Abs. 2 leg. cit. bestimmen die Verwaltungsvorschriften, inwieweit einem Beteiligten ein Kostenersatzanspruch gegen einen anderen Beteiligten zusteht.
Hinsichtlich des Begehrens der Beschwerdeführer, dem Rechtsträger der belangten Behörde den Ersatz der dem Beschwerdeführer entstandenen Verfahrenskosten im gesetzlichen Ausmaß binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution aufzutragen, ist somit darauf hinzuweisen, dass das VwGVG mit Ausnahme des oben zitierten und nicht einschlägigen § 35 VwGVG zur Kostentragung im Verfahren betreffend Beschwerden über Maßnahmen unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt keine Regelung enthält, wodurch die Parteien des Verfahrens die Kosten grundsätzlich selbst zu tragen haben (Eder/Martin/Schmid, Das Verwaltungsverfahren der Verwaltungsgerichte2 § 49 VwGVG E 1).
Auch sind die von den Beschwerdeführern zitierten Regelungen des §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandsersatzverordnung 2014 nicht im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht anwendbar.
§ 52 BFA-VG sieht zudem die Beistellung eines kostenlosen Rechtsberaters in Asylverfahren vor. Den Beschwerdeführern wurde auch amtswegig ein solcher Rechtsberater beigestellt. Die Kosten für die gewillkürte Rechtsvertretung sind von den Beschwerdeführern daher selbst zu tragen. Gemäß § 70 AsylG fallen im Verfahren auch keine Gebühren oder Barauslagen für die Beschwerdeführer an.
Der Antrag auf Kostenersatz war daher als unzulässig zurückzuweisen.
Zu Spruchteil B.1.) und B.2.) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz, dem Refoulementschutz und zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor und wird eine solche auch in der Beschwerde nicht dargetan. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. liegt der Schwerpunkt zudem auf Fragen der Beweiswürdigung.
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