AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:L510.1261330.2.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.06.2021, Zahl XXXX , nach mündlicher Verhandlung am 24.06.2022, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I., II., III., IV., V. und VI. werden als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf 4 (vier) Jahre herabgesetzt wird.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
1. Am 12.03.2004 stellte die bP in Österreich ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des BAA vom 23.05.2005, Zl. XXXX , wurde ihr Asylantrag vollinhaltlich abgewiesen.
Gegen den Bescheid erhob die bP am 06.06.2005 das Rechtsmittel der Berufung.
Mit 01.07.2006 verzog die bP nach unbekannt.
Mit Aktenvermerk des UBAS vom 24.11.2006 wurde das Asylverfahren gemäß § 30 AsylG eingestellt.
2. Am 04.06.2010 stellte die bP in Österreich einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des BAA vom 29.07.2010, Zl. XXXX , wurde der bP nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens der Status des Asylberechtigten im Familienverfahren gewährt. Als Bezugsperson wurde ihre damalige Lebensgefährtin XXXX , geb. XXXX , herangezogen.
Im Jahr 2013 wurde die Beziehung der bP zu XXXX beendet.
Am 27.09.2016 wurde XXXX von der BH XXXX ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ gewährt.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 26.01.2017 wurde der Asylstatus von XXXX aberkannt. Diese Entscheidung erwuchs aufgrund eines Rechtsmittelverzichts mit 26.01.2017 in Rechtskraft.
3. Am 18.12.2020 wurde aufgrund einer Strafanzeige gegen die bP ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet.
4. Mit Aktenvermerk vom selben Tag wurde dieses Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Strafverfahren gem. § 38 AVG unterbrochen.
5. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2021, Zl. XXXX , wurde die bP wegen des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 1 WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten und einer Geldstrafe in der Höhe von 300 Tagessätzen zu je EUR 4,-- verurteilt, wobei der Vollzug der Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde.
6. Mit Bescheid vom 05.05.2021 wurde die bP für den 02.06.2021 zur Einvernahme vor das Bundesamt geladen. Diese gestaltete sich im Wesentlichen folgend:
„…
LA: Haben Sie Ihren Konventionsreisepass mit?
VP: Mir ging es heute nicht gut. Ich habe ihn leider vergessen.
LA: Ich weise Sie darauf hin, dass Sie verpflichtet sind, Ihren KP mit sich zu führen.
Wenn Sie das nicht tun, ist das grundsätzlich eine Verwaltungsübertretung.
Identifikation via LiBi
Anmerkung: Die Einvernahme findet via Video statt. VP, LA und Dolmetscherin befinden sich in verschiedenen Räumlichkeiten der RD Sbg.
Anmerkung: Die anwesenden Personen werden dem Antragsteller vorgestellt und deren Funktion/ Aufgabe im Verfahren dargestellt.
LA: Beherrschen Sie die deutsche Sprache hinreichend, um auf den Dolmetscher zu verzichten oder ist die Hinzuziehung des Dolmetschers in Ihrem Sinne?
VP: Ich möchte mit Dolmetscherin einvernommen werden.
LA: Wie gut beherrschen Sie die türkische bzw. die kurdische Sprache?
VP: Ich beherrsche beide Sprachen sehr gut.
Anm.: Die VP wird belehrt, dass Verfahrensgegenstand ein amtswegiges Verfahren auf Aberkennung des Asylstatus ist. Grund dafür ist die Änderung der Lage im HKS sowie die Straffälligkeit der VP.
LA: Haben Sie diese Belehrung verstanden?
VP: Ja.
LA: Sollten Sie eine Frage nicht verstehen oder sich unsicher sein, wie genau die Frage gemeint ist können Sie jederzeit rückfragen. Missverständnisse könnten sich nachteilig auswirken. Haben Sie das verstanden?
VP: Ja.
LA: Fühlen Sie sich heute psychisch und physisch in der Lage, Angaben zu machen?
VP: Ja.
LA: Ich empfehle Ihnen dringend, die Wahrheit anzugeben. Falsche Angaben können zu einer nachteiligen Glaubwürdigkeitsprüfung führen. Sollten Sie eine Frage nicht beantworten können, weil Sie etwas nicht wissen, dann sagen Sie das bitte auch so. Sie müssen sich nach der StPO aber nicht über Ihr bereits ergangenes Urteil hinaus selbst belasten bzw. einer Straftat bezichtigen. Haben Sie das verstanden?
VP: Ja.
LA: Sind Sie geistig und körperlich gesund?
VP: Ich bin gesund, aber mein Blutdruck ist etwas erhöht.
LA: Nehmen Sie Medikamente oder sind Sie in ärztlicher Behandlung?
VP: Ich suche hin und wieder den Arzt auf. Aber immer geht es nicht.
LA: Leiden Sie an etwas Konkretem oder sind das Routineuntersuchungen?
VP: Nein. Es tritt nur hin und wieder ein.
LA: Was tritt hin und wieder ein?
VP: Der hohe Blutdruck.
LA: Welche Verwandten haben Sie in Österreich?
VP: Meine Exfrau und mein Sohn.
LA: Wie heißt Ihr Sohn und wie alt ist er?
VP: XXXX , geb. XXXX . das Jahr habe ich vergessen.
LA: Wie alt ist Ihr Sohn ungefähr?
VP: Er ist jetzt 15 Jahre alt. (IFA XXXX )
LA: Wo wohnt Ihr Sohn?
VP: XXXX .
LA: Lebt er bei Ihrer Exfrau?
VP: Ja.
LA: Inwiefern beteiligen Sie sich an der Kindererziehung?
VP: Ich habe einmal wöchentlich Kontakt zu ihm.
LA: Ist der Kontakt persönlich oder über ein Kommunikationsmittel?
VP: Ja, jede Woche persönlichen Kontakt.
LA: Leisten Sie Unterhalt?
VP: Ja.
LA: Wie viel?
VP: EUR 305,-- monatlich.
LA: In welchem Verhältnis stehen Sie zu XXXX ?
VP: Wenn Sie wegen des Unterhalts fragen zahle ich keinen.
LA: Ich möchte nicht wissen, ob Sie Frau XXXX Unterhalt leisten, sondern in welchem Verhältnis Sie zu ihr stehen.
VP: Wir haben ein gutes Verhältnis, es gibt keine Unstimmigkeiten.
LA: XXXX ist Ihre Exfrau, richtig?
VP: Ja.
LA: Waren Sie standesamtlich oder traditionell verheiratet?
VP: Ich hatte keine standesamtliche Ehe.
LA: Also wurden Sie nur vom Imam getraut?
VP: Ja, so kann man es sagen.
LA: Wurden Sie dann auch nach traditionellen Regeln geschieden?
VP: Nein.
LA: Wie lief dann die Trennung ab?
VP: Wir vertrugen uns nicht mehr.
LA: Seit wann sind Sie von XXXX getrennt?
VP: Seit über fünf Jahren.
LA: Ich frage deshalb, weil Sie im ZMR als „geschieden“ erfasst sind.
VP: Ja.
LA: Eine Scheidung setzt nach österreichischem Rechtsverständnis eine standesamtliche Ehe voraus.
VP: ja, das ist richtig.
LA: Wie kann dann im ZMR „geschieden“ stehen, wenn Sie nie standesamtlich verheiratet und daher auch nicht gerichtlich geschieden wurden.
VP: Wir lebten zusammen.
LA: Die ZMR-Eintragung mit „geschieden“ ist aber demnach falsch.
VP: Achso, das war meine zweite Ehe. Ich ließ mich in der Türkei scheiden.
LA: Von wem ging die Trennung mit Frau XXXX aus?
VP: Wir haben uns beide dafür entschieden.
LA: Leben Sie aktuell mit einer Frau in einer Beziehung?
VP: Nein.
LA: Haben Sie abgesehen von XXXX Kinder oder sind für minderjährige Personen sorgepflichtig?
VP: Nein. In der Türkei. Aber der ist schon älter.
LA: Sie haben ein Kind in der Türkei, verstehe ich das richtig?
VP: Ja.
LA: Wie heißt das Kind und wie alt ist es?
VP: XXXX , geb. XXXX . Ich habe auch eine Tochter. Sie heißt XXXX , geb. XXXX .
LA: Haben Sie Kontakt zu Ihren Kindern in der Türkei?
VP: Telefonischen Kontakt.
LA: Haben Sie einen Beruf erlernt?
VP: Ich bin Landwirt und Gärtner.
LA: Gehen Sie derzeit einer bezahlten Erwerbstätigkeit nach?
VP: Aufgrund der Pandemie kann ich seit 3 Monaten nicht arbeiten. In circa einer Woche werde ich beginnen. Ich habe noch ein paar Gespräche zu führen, bevor ich zu arbeiten beginne.
LA: Wann gingen Sie zuletzt einer bezahlten Erwerbstätigkeit nach?
VP: Im Dezember.
LA: Laut Ihrem Versicherungsdatenauszug gingen Sie in den letzten zehn Jahren insgesamt lediglich rund vier Jahre einer Erwerbstätigkeit nach. Warum?
VP: Ich war damals Asylwerber.
LA: Herr XXXX , ich darf Sie daran erinnern, was ich über die Notwendigkeit der Wahrheit gesagt habe. Sie haben Ihren Asylantrag am 04.06.2010 gestellt und sehr schnell, nämlich am 29.07.2010 Asyl bekommen. Die Verfahrensdauer vor dem BAA können Sie also nicht als Grund dafür, dass Sie nicht einmal die Hälfte Ihres Aufenthalts gearbeitet haben, ins Treffen führen.
VP: Entschuldigung. Es war so, meine Frau arbeitete und das Kind war noch recht klein. Und ich passte auf das Kind auf.
LA: Zuletzt waren Sie am 13.05.2021 für einen Tag bei der XXXX beschäftigt. Warum dauerte das Anstellungsverhältnis nur einen Tag?
VP: Sie sagten, es gäbe noch zwei weitere Personen, die sie sich anschauen werden. Und sie würden mich benachrichtigen.
LA: Sie sind seit 15.10.2020 quasi durchgehend arbeitslos. Warum?
VP: Nein. Wegen der Pandemie.
LA: Was jetzt: „Nein“ oder „Wegen der Pandemie“?
VP: Ich kann nichts dafür, die Firma musste zusperren.
LA: Inwiefern bemühen Sie sich derzeit um Arbeit?
VP: Es gibt eine Firma für Gartenarbeit mit der ich noch ein Gespräch führen werde. Und ein Restaurant, wo ich als Küchengehilfe arbeiten könnte.
LA: Vorhin sagten Sie, Sie würden nächste Woche zu arbeiten beginnen. Das jetzt klingt weniger sicher. Fangen Sie nächste Woche sicher an zu arbeiten, oder sondieren Sie die Lage?
VP: Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Ich kann sogar sagen 100%.
LA: Das höre ich hier sehr oft. Eingehalten wird das nur sehr selten.
VP: Nein. Ich möchte arbeiten.
LA: Wie viele Bewerbungen haben Sie in den letzten zwei Monaten geschrieben?
VP: Ich war an vielen Stellen. Aber es wurde immer die Auskunft erteilt, dass es wegen der Pandemie nicht möglich sei.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: Circa über fünf. Ich habe noch zwei weitere Termine. Und die Unterlagen habe ich auch mit.
LA: Ich bitte Sie, mir die Unterlagen im Anschluss abzugeben.
LA: Wie heißen die Firmen, wo Sie evtl. nächste Woche zu arbeiten beginnen?
VP: Es sind zwei Stellen als Küchengehilfe. Aber die Namen muss ich mir schnell anschauen. Hotel „ XXXX “, „ XXXX “.
LA: Vorhin war es einmal Küchengehilfe und einmal Gärtner. Jetzt ist es zwei Mal Küchengehilfe.
VP: Ich werde mit beiden Restaurants sprechen. Wo ich genommen werde, dort fange ich an.
LA: Ja. Aber vorhin sagten Sie mir, eine Stelle wäre als Gärtner frei, eine als Küchengehilfe. Jetzt wollen Sie zwei Stellenangebote als Küchengehilfe haben.
VP: Es gibt über die AMS-Stellen hinaus noch ein weiteres Restaurant, mit dem ich sprechen werde, und Gartenarbeit beherrsche ich auch.
LA: Sie haben aber vorhin gesagt, Sie hätten ein konkretes Jobangebot als Gärtner.
VP: Die Firma heißt XXXX und dort habe ich schon einmal gearbeitet.
LA: Wie viel würden Sie verdienen?
VP: EUR 1.500,--. Und wenn ich Überstunden mache mehr.
LA: Sind die EUR 1.500,-- netto oder brutto?
VP: Netto.
LA: Wie sind Sie zu den Restaurants gekommen?
VP: Über das AMS. Und mit einem Restaurant habe ich persönlich Kontakt hergestellt.
LA: Wie sicher ist es, dass Sie einen der Arbeitsplätze bekommen?
VP: Eine Stelle wird mich garantiert nehmen. Wie gesagt, die Firma mit der Gartenarbeit und die drei Restaurants.
LA: Befinden Sie sich derzeit in AMS-Maßnahmen?
VP: Das AMS sagte, ich müsse so schnell wie möglich Arbeit finden. Sie schickten mir auch immer wieder offene Stellen zu. Wegen der Pandemie war es mir leider länger nicht möglich. Aber jetzt hat wieder alles geöffnet. Können Sie mir ein paar Minuten gewähren. Ich müsste auf die Toilette.
Anm.: 5 Minuten Pause
LA: Wenn Sie einen Arbeitsplatz antreten, legen Sie mir unverzüglich einen Arbeitsvertrag samt Lohnbestätigung vor!
VP: Ja.
LA: Empfangen Sie Sozialleistungen oder andere staatliche Hilfen?
VP: Nein.
LA: Sie bekommen Arbeitslosengeld.
VP: Ja, das schon.
LA: Haben Sie in Österreich Schulen oder berufliche Fortbildungen absolviert?
VP: Ja. Bis zum Gymnasium.
LA: Sie sind mit 45 Jahren nach Österreich gekommen. Die Frage richtete sich auf Österreich, nicht auf die Türkei.
VP: Nein.
LA: Also keine Schulen oder beruflichen Fortbildungen in Österreich?
VP: Nein, so eine Gelegenheit hatte ich nicht.
LA: Naja, verschiedene AMS-Kurse kann man schon machen, Schweißerkurs, Staplerkurs, etc.
VP: Einen Kurs habe ich schon besucht.
LA: Und welchen?
VP: Sprachkurs.
LA: Was ist aktuell Ihr höchstes Deutschzertifikat?
VP: A oder B, aber ich glaube B. Ich kann mich jetzt nicht erinnern.
LA: Haben Sie darüber einen Nachweis?
VP: Muss ich zu Hause nachsehen. Aber 100%ig, ja.
LA: Ich räume Ihnen eine zweiwöchige Frist für die Vorlage des Deutschzertifikats ein.
VP: ich werde Ihnen alles schicken.
LA: Wie gut beherrschen Sie die deutsche Sprache nach Ihrer eigenen Einschätzung?
VP: Ich kann mich verständigen und verstehe auch viel.
LA: Können Sie sich auf Deutsch vorstellen?
VP: (auf Türkisch) sagt er es mir?
LA: Ich gebe nicht meiner Dolmetscherin den Auftrag ,sich auf Deutsch vorzustellen.
LA: Bitte stellen Sie sich auf Deutsch vor.
VP: (auf Deutsch) Ich verstehen Deutsch reden aber nix sehr gut. (Anm.: Dolmetscherin wird ersucht, der VP auf Türkisch zu sagen, sie solle sich vorstellen) Ich heiße XXXX , ich komme aus Türkei, (auf Türkisch) was soll ich noch sagen?
LA: Wie alt sind Sie?
VP: (auf Deutsch) 1965.
LA: Wo wohnen Sie?
VP: (auf Deutsch) ich wohne in Bregenz.
LA: Was haben Sie gestern Abend gemacht?
VP: (auf Deutsch) Gestern Abend. In Haus.
LA: Was planen Sie am Wochenende?
VP: (auf Deutsch) Gehen Firma. Und für melden Arbeit.
LA: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
VP: (auf Deutsch) Welche Pläne. Dieser Woche bewerben gehen Firma. Für Arbeit.
Anm.: Das Deutsch der VP ist sehr unterdurchschnittlich. Eine Kommunikation ist grundsätzlich möglich, aber sehr schwierig. Auch ist nicht klar, ob alles verstanden wird.
VP: Ich bin etwas nervös. Und krank. Ich leide unter hohem Blutdruck.
LA: Warum ist Ihr Deutsch nach 11 Jahren nicht besser?
VP: Ich weiß es auch nicht.
LA: Sind Sie in Österreich in Vereinen aktiv?
VP: Nein.
LA: Wie gestalten Sie Ihre Freizeit?
VP: Ich habe keine Freizeit. Ich gehe nur ein bisschen Spazieren.
LA: Sie sind seit geraumer Zeit arbeitslos. Sie haben sehr viel Freizeit. Was machen Sie den ganzen Tag?
VP: Ich bin noch nicht so lange arbeitslos. Ich spaziere herum.
LA: Das letzte Mal mehrere Monate durchgehend waren Sie von 09.06.2020 bis
15.10.2020 beschäftigt. Das ist über ein halbes Jahr her.
VP: Aber ich habe in Restaurants gearbeitet. Vor der Pandemie.
LA: Seit wann haben wir die Pandemie, Herr XXXX ?
VP: Das ist jetzt das zweite Jahr. Ich meine, ich konnte im letzten Jahr nicht arbeiten.
LA: Beschreiben Sie mir Ihren Freundeskreis in Österreich?
VP: Ich habe keinen großen Freundeskreis.
LA: Wie kann das nach elf Jahren Aufenthalt in Österreich sein?
VP: Ich kenne viele Leute, aber ich bin nicht eng mit jemandem.
LA: Welche Verwandten haben Sie in der Türkei?
VP: Zwei Brüder, einer ist seit 30 Jahren in XXXX . Mein Vater ist auch dort.
LA: Ich habe Sie nicht gefragt, welche Verwandten Sie überhaupt haben, sondern wen Sie in der Türkei haben. (Frage wird wiederholt)
VP: Die Kinder, meine Onkeln und Tanten.
LA: Haben Sie in der Türkei Geschwister?
VP: Nein. Nur die zwei Brüder.
LA: Wo genau sind Ihre beiden Brüder?
VP: Einer in XXXX und der andere in XXXX .
LA: Sind Ihre Brüder verheiratet und haben Kinder?
VP: Ja.
LA: Haben Sie Kontakt zu Ihren Angehörigen in der Türkei?
VP: Ja. Aber nicht mit allen.
LA: Mit den Brüdern?
VP: ja.
LA: Wovon leben Ihre Angehörigen in der Türkei?
VP: Wie gesagt, wir besitzen eine Landwirtschaft. Durch Ernte und Feldarbeiten.
LA: Verfügen Ihre Verwandten über eigene Häuser oder Wohnungen?
VP: Wir haben einen Bauernhof.
LA: Gibt es einen großen Familienbauernhof oder haben Ihre Verwandten mehrere Höfe? Wie schaut das aus?
VP: Es gibt einen Familienbauernhof.
LA: Wo ist der?
VP: In XXXX . Das Dorf heißt XXXX .
LA: Unter welchen Umständen leben Ihre Angehörigen?
VP: In guten Umständen.
LA: haben Ihre Angehörigen irgendwelche Probleme?
VP: Nein.
LA: Gehören Ihre Angehörigen der Oberschicht-, der Mittelschicht oder der Unterschicht an?
VP: Mittelschicht.
LA: Wann waren Sie zuletzt in der Türkei?
VP: Daran kann ich mich nicht erinnern.
LA: War das vor oder nach der Asylzuerkennung? Warne Sie vielleicht auf Begräbnissen oder Familienfeiern?
VP: Ich war nach meiner Einreise nach Österreich nie wieder in der Türkei. Ich darf auch nicht.
LA: Verfügen Sie über türkische Ausweisdokumente? Einen Führerschein oder Reisepass zB?
VP: Nein.
LA: Was würde passieren, wenn Sie in die Türkei zurückkehren müssten?
VP: Ich war Geschäftsmann und besaß eine Landwirtschaft. Ich musste in Haft, weil ich Organisationsmitglied war. Und mir wurde gesagt, dass ich nach meiner Freilassung umgebracht werde, da mir eine PKK-Mitgliedschaft vorgeworfen wird.
LA: Wann war das?
VP: 1998.
LA: Wie lange waren Sie in Haft?
VP: 3 Jahre.
LA: Wann sind Sie ausgereist?
VP: 2001.
LA: Sie haben 2010 in Österreich Asyl beantragt, wo waren Sie dazwischen?
VP: Ich möchte mich korrigieren. Es war doch nicht 2001, sondern 2003. Nein, doch 2001.
LA: Egal ob 2001 oder 2003. Es besteht eine große Lücke zwischen angeblicher Ausreise und Asylantragsstellung.
VP: Ich war in der Türkei.
LA: Wann haben Sie die Türkei das letzte Mal verlassen?
VP: 2003.
LA: Warum haben Sie dann erst 2010 einen Asylantrag gestellt?
VP: Entschuldigung, ich bin 2011 ausgereist.
LA: Das kann auch nicht stimmen, Sie haben 2010 einen Asylantrag gestellt.
VP: Wegen der PKK.
LA: Herr XXXX . Die Frage war nicht, warum Sie ausgereist sind. Die Frage war, wann Sie ausgereist sind. Zuerst haben Sie gesagt, Sie seien in den frühen 2000ern ausgereist, dann würde mich interessieren, warum es so lange gedauert hat, bis Sie einen Asylantrag gestellt haben, nämlich circa 10 Jahre. Auf Vorhalten haben Sie mir zuletzt ein Ausreisedatum gesagt, das nach der Asylantragsstellung zu verorten ist.
Ich möchte jetzt endlich den Zeitpunkt Ihrer Ausreise abklären.
VP: Da habe ich mich geirrt. Ich bin zuletzt im Jahr 2010 aus der Türkei ausgereist.
LA: Wann wurden Sie nochmal aus der Haft entlassen?
VP: Von 1998 bis Ende 2000 war ich in Haft, weil ich von der Amnestie Gebrauch machen konnte.
LA: Was genau befürchten Sie, wenn Sie jetzt in die Türkei zurückkehren würden?
Oder befürchten Sie überhaupt Probleme?
VP: Vor einem Jahr wurde wieder ein Haftbefehl gegen mich erlassen. Bürgermeister, Abgeordnete, viele werden verhaftet.
LA: Woher wissen Sie, dass gegen Sie ein Haftbefehl erlassen wurde?
VP: Die Polizei und Gendarmerie hat unser Haus gestürmt. Und meinem Bruder wurde das mitgeteilt.
LA: Sie sind aber schon seit guten 10 Jahren nicht mehr in der Türkei. Ist das den türkischen Behörden nicht bewusst?
VP: Doch, die Behörden wissen das, aber nach dem Putschversuch gab es Operationen gegen FETÖ-Anhänger und gegen alle anderen Organisationsmitglieder.
LA: Haben Sie für den Haftbefehl Beweise?
VP: Ich kann es anfordern.
LA: Wie wollen Sie das anfordern?
VP: Ich werde es meinem Bruder sagen. Und dem Dorfvorsteher.
LA: Ich räume Ihnen zwei Wochen für die Beischaffung von Beweismitteln ein.
VP: In zwei Wochen kann man das in der Türkei nicht schaffen.
LA: Wie viel Zeit glauben Sie, brauchen Sie?
VP: Drei Wochen würden reichen.
LA: Dann gebe ich Ihnen drei Wochen.
LA: Warum sollte man jetzt gegen Sie einen Haftbefehl erlassen, Sie sind seit circa elf Jahren nicht mehr in der Türkei?
VP: Das ist möglich in der Türkei. Es brauchen nur andere meinen Namen nennen. Und gegen mich Anzeige erstatten. Das hat alles mit meiner damaligen Vergangenheit zu tun.
LA: Dass es möglich ist, kann ich mir schon vorstellen. Aber warum sollte man das machen? Sie sind seit 11 Jahren weg.
VP: Sobald man in der Türkei verhaftet wurde, ist man immer abgestempelt. Und andere werden auch befragt, die sich in dieser Organisation bewegt haben. Und da werde ich wohl namentlich genannt worden sein.
LA: Wer hätte warum welches konkrete Interesse daran, gegen einen Mann, der so lange weg ist, Anzeige zu erstatten?
VP: Das ist reine Willkür. Wenn ich Ihnen die Beweismittel vorlege, werden Sie es verstehen.
LA: Was genau haben Sie bei der PKK gemacht?
VP: Ich machte nur Politik.
LA: Haben Sie aktiv gekämpft oder jemanden getötet?
VP: Nein. Ich war nicht in den Bergen.
LA: Kann man es so zusammenfassen, dass Sie wegen Ihrer PKK-Mitgliedschaft circa 3 Jahre in Haft waren, aber bei der Amnesie freigelassen wurden und Ihre Strafe verbüßt haben?
VP: Ja.
LA: Ich weise Sie darauf hin, dass Sie ausschließlich im Wege der Erstreckung aufgrund der XXXX Asyl bekommen haben. Der Asylstatus der Genannten wurde bereits rechtskräftig aberkannt. Da Ihrer Bezugsperson der Asylstatus nicht mehr zukommt, ist auch die Grundlage Ihres Asylstatus weg.
VP: Ich werde meine Beweismittel bringen.
LA: Haben Sie sich in Österreich politisch engagiert?
VP: Nein.
LA: Wurden Sie in Österreich von Gerichten verurteilt?
VP: Nein.
LA: Herr XXXX . Ich möchte Sie nochmals an das erinnern, was ich zum Thema Wahrheit gesagt habe. Laut Strafregister wurden Sie im Februar 2021 wegen schwerer Nötigung und nach dem WaffG verurteilt. Was sagen Sie dazu?
VP: Ich habe geglaubt, Sie reden von damals. Diese Straftat ist noch nicht lange her.
LA: Ich habe Sie aber explizit gefragt, ob Sie in Österreich von Gerichten verurteilt wurden.
VP: Ja, aber ich war in Gedanken in der Vergangenheit.
LA: Konkret haben Sie am 01.10.2020 mit einer geladenen Pistole abwechselnd auf XXXX , XXXX und XXXX (Anm.: Die Namen sind im Urteil offenbar teilweise falsch erfasst) gezielt, XXXX aufgefordert, Ihnen sofort EUR 38.000,-- zu geben und ihm gedroht, ansonsten seinen Sohn und seine Frau zu erschießen. Außerdem haben Sie die drei mit dem Umbringen bedroht, falls sie sich bewegen und XXXX aufgefordert, „die Schnauze zu halten“, sonst sei sie tot. Warum macht man so etwas?
VP: Niemals habe ich so etwas gesagt. Mein Arbeitskollege hat mir mein ganzes Geld gestohlen. Ich weiß, dass dieser Kollege keine EUR 38.000,-- hat. Warum sollte ich ihn damit bedrohen?
LA: Und warum wurden Sie dann deshalb verurteilt?
VP: Ich habe mein Geld zurückgefordert. Herr XXXX , seine Frau und sein Sohn, sind auf mich losgegangen. Ich war überall am Körper blau. Ich bekam Angst.
LA: Dass Sie grundsätzlich Anspruch auf das Geld haben, wurde offenbar vom Gericht auch so gesehen, deshalb wurden Sie auch nicht wegen eines Raubdelikts verurteilt. Wie kam XXXX an so viel Geld von Ihnen bzw. wie viel schuldete er Ihnen?
VP: Er hat mir EUR 38.000,-- aus der Tasche gestohlen. Ich kenne ihn. Wir haben drei Jahre zusammengearbeitet. Ich forderte mein Geld zurück.
LA: Warum tragen Sie EUR 38.000,-- in einer Tasche herum?
VP: Ich wollte mir ein Auto kaufen. Aber es war blöd von mir, dass ich die Tasche in die Arbeit mitgenommen habe.
LA: Wer kauft ein Auto mit Bargeld? Das Geld wird üblicherweise überwiesen.
VP: Ich wollte keine Schulden machen, da ich Geld besaß, wollte ich es bar zahlen.
LA: Ich habe Ihnen nicht vorgeschlagen, Schulden zu machen, sondern das Geld zu überweisen.
VP: Es war eh meine Schuld, Sie haben recht.
LA: Warum haben Sie sich nicht an die Polizei gewandt und ihn wegen Diebstahls angezeigt oder haben versucht, das Geld zivilrechtlich einzuklagen?
VP: Ich glaubte, er würde es mir zurückgeben. Und ein Freund aus der Türkei war zu diesem Zeitpunkt auch da und etwas Alkohol habe ich auch konsumiert. Deswegen ist das passiert.
LA: Warum haben Sie eine geladene Schusswaffe mitgenommen gehabt?
VP: Ja, weil ich dachte, dass jemand, der so viel Geld stiehlt, einen auch umbringen kann.
LA: Das spricht jetzt noch mehr dafür, dass man die Polizei einschaltet.
VP: ja, das war ein Fehler.
LA: Haben Sie den Herrn XXXX mittlerweile angezeigt?
VP: Nein, erst als ich vor Gericht war. Als ich auf der Polizeidienststelle einvernommen wurde, habe ich ihn auch angezeigt.
LA: Wissen Sie, wie das Strafverfahren derzeit ausschaut?
VP: Es ist abgeschlossen.
LA: Ich meine das Strafverfahren gegen XXXX .
VP: Da ist nichts gekommen nach der Anzeige bei der Polizei. Ich habe es auch dem Anwalt gegeben, bekam aber keine Rückmeldung.
LA: Ich habe mir jetzt die KPA, SA und EDE des Herrn XXXX angeschaut. Da ist keine Anzeige erfasst. Möglicherweise wurde das Verfahren auch eingestellt, das führt teilweise dazu, dass Einträge aus dem KPA gelöscht werden. Aber von einer Einstellung des Verfahrens müssen Sie als Opfer verständigt worden sein. Es hat aber auch das BFA keine Verständigungen bekommen, und wir müssen von sämtlichen Amtshandlungen (Anzeigen, Einstellungen, Anklageerhebungen, Verurteilungen) gegen Fremde verständigt werden. Beim BFA langte absolut nichts ein. Für mich schaut es also so aus, als hätten Sie keine Anzeige erstattet.
VP: Das ist mein Anwalt, dem ich es weitergegeben habe (Anm.: VP hält eine Visitenkarte des Mag. Nicolas STIEGER). Es ist Wahnsinn, dass er das nicht weitergegeben hat.
LA: In sämtlichen Datenbanken, auf die ich Zugriff habe, liegt nichts Nachteiliges gegen Herrn XXXX vor.
VP: Und ich warte die ganze Zeit auf eine Mitteilung.
LA: Also zur Nötigung sagen Sie, das ganze hat sich völlig anders abgespielt, als es vom Gericht festgestellt wurde, verstehe ich Sie richtig?
VP: Ja. Denn der hat die Polizei und das Gericht angelogen. Warum sollte ich sein Haus aufsuchen, wenn so etwas nicht passiert ist.
LA: Nochmal: Es geht nicht um Ihren Anspruch auf das Geld. Sie wurden wegen Nötigung, nicht wegen Raubes verurteilt. Es geht darum, was im Haus passiert ist.
VP: Ich weiß, dass es sich um eine Straftat handelt, aber diese war auch begründet. Ich hätte gleich die Polizei rufen sollen, das war ein Fehler, er hat mich bestohlen, und ich forderte das Geld zurück.
LA: Interessant ist aber, in welcher Form Sie das Geld zurückgefordert haben.
VP: ja, das war falsch. Ich sage nicht, dass mich keine Schuld trifft. Mich trifft eine Schuld.
LA: Möchten Sie mir noch sagen, in welcher Form Sie Ihrer Ansicht nach das Geld zurückverlangt haben oder stimmt das, was im Urteil steht?
VP: Das, was ich aussagte, entspricht der Wahrheit, aber seine Aussagen sind falsch.
LA: Das heißt, Sie haben das Geld ohne Drohungen zurückverlangt und wurden von der Familie angegriffen?
VP: Genau, so war es. Er sah so viel Geld und es war verlockend für ihn. Ich kann Ihnen 10 Kollegen liefern, die bestätigen, dass er in keiner guten wirtschaftlichen Lage ist.
LA: Nochmal: Es geht nicht darum, dass Sie Anspruch auf das Geld haben. Sie wurden wegen Nötigung, nicht wegen Raubes verurteilt.
VP: Ja, es war falsch von mir. Ich war auch betrunken. Ich war noch in Arbeitskleidung.
LA: Haben Sie wegen dieses Vorfalls Ihre Arbeit verloren? Sie haben laut Versicherungsdatenauszug nach dem Vorfall noch 4 Tage bei der XXXX gearbeitet.
VP: Ja, habe ich. In der Rangelei habe ich mich sogar selbst angeschossen.
LA: Das Gericht darf Sie aber nur verurteilen, wenn es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Ihrer Täterschaft ausgeht. Das Gericht muss sich also sehr sicher gewesen sein, dass Sie die Familie bedroht haben.
VP: Ja, weil ich die Waffe trug. Deshalb gehen Sie davon aus.
LA: Vor Gericht waren Sie übrigens geständig.
VP: Ja, das was ich hier Ihnen sagte. Ich bin schuldig und machte einen Fehler.
LA: Bei mir sind Sie bisher teilgeständig. Sie räumen nicht ein, die Familie bedroht zu haben, das ist aber das Kernelement der schweren Nötigung.
VP: Ich habe ihnen nicht gedroht. Als ich mein Geld zurückforderte habe ich nicht einmal die Waffe gegen ihn gerichtet. Ich war betrunken und einer hat mich gehalten, die anderen schlugen auf mich ein. Ich war an der Brust, an den Armen, im Gesicht überall blau.
LA: Warum besitzen Sie eine Schusswaffe und führen diese mit sich?
VP: Wir tragen manchmal Gegenstände für Obdachlose und ich hatte es bei der Firma XXXX gefunden. Es war ein Haus eines Verstorbenen.
LA: Wann war das?
VP: Ich kann mich jetzt an das Jahr nicht mehr erinnern, es war schon ziemlich lange her.
LA: Was macht man in Österreich üblicherweise, wenn man eine Waffe findet?
VP: Ich hätte es in den Müll werfen oder der Polizei abgeben müssen. Es war auch mein Fehler, ich weiß.
LA: In den Müll werfen Sie eine Waffe bitte nicht, da könnte jeder – auch Kinder – die Waffe finden. Aber Sie hätten die Waffe der Polizei geben müssen, wie Sie richtig sagen. Warum haben Sie das nicht gemacht?
VP: Ja. Stimmt.
LA: Aber warum haben Sie das nicht gemacht?
VP: Es gibt keinen Grund, es war ein Fehler.
LA: Ist Ihnen bewusst, dass Sie die für den Besitz und das Führen einer Waffe erforderlichen Dokumente nicht innehaben?
VP: Ja.
LA: Warum verstoßen Sie bewusst gegen die österreichische Rechtsordnung?
VP: Es gibt keinen Grund. Ich war blöd.
LA: Außerdem gibt es eine Anzeige wegen Suchmitteln. Ich weise Sie nochmal darauf hin, dass Sie sich nicht selbst belasten müssen. Was sagen Sie dazu?
VP: Das ist ein junger verrückter Dorfangehöriger, der zur Polizei ging und Anzeige gegen mich erstattete. Wir kannten uns schon aus der Türkei. Er hat hier geheiratet. Er gab EUR 25.000,-- für die Hochzeit aus, seit der Trennung ist er verrückt.
LA: Welches Interesse hat er daran, Sie anzuzeigen?
VP: Es gab weder in der Türkei, noch hier einen Grund. Er leidet an Paranoia. Er redet Schwachsinn daher. Ich tat ihm nichts an.
LA: Gegenüber der Polizei gaben Sie am 03.11.2020 an, Sie würden Cannabis konsumieren.
VP: Ja, ich rauche Gras.
LA: Wissen Sie, dass Drogen in Österreich verboten sind?
VP: Nein.
LA: Sie leben seit 11 Jahren in Österreich und wollen nicht mitbekommen haben, dass Marihuana in Österreich verboten ist?
VP: Ich weiß. Dass man normalerweise nicht konsumieren darf, weiß ich.
LA: Warum konsumieren Sie trotzdem?
VP: Es beruhigt mich. Nur wenn ich unter Stress stehe.
LA: Das ist verboten und kann Probleme bringen.
VP: Ich leugne es ja nicht. Und gestehe auch meine Fehler. Aber geben Sie mir noch eine Chance.
LA: Wurden Sie von Verwaltungsbehörden bestraft?
VP: Nein.
LA: Wenn ich sie jetzt frage, warum das BFA davon ausgehen soll, dass Sie in Zukunft nicht mehr nachteilig in Erscheinung treten. Insbesondere, dass Sie eine geladene Waffe mit sich führen, ist relativ harter Tobak. Was würden Sie sagen?
VP: Ich möchte nur, dass Sie mir eine Chance geben. Ich habe ein Kind hier und gestehe auch ein, dass es falsch war. In der Türkei würde ich nur Probleme haben.
LA: Gibt es etwas, was Sie mir zu Ihrer Integration in die österreichische Gesellschaft sagen wollen?
VP: Ich glaube fest daran, dass ich gut integriert bin. Bis auf den Fehler, den ich gemacht habe.
LA: Wie stellen Sie sich Ihre weitere Zukunft in Österreich vor?
VP: Ich werde hier bis zum Tod leben.
LA: Ihnen wird das aktuelle LIB zur Türkei ausgefolgt. Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, hiezu binnen drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Diese dient zusätzlich der Entscheidungsfindung und Würdigung Ihres Vorbringens. Zum Umstand, dass Sie in deutscher Sprache zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert werden, wird auf Folgendes hingewiesen:
§ 39a AVG regelt nur den mündlichen Verkehr mit der Behörde, begründet aber keinen Anspruch auf die Verwendung einer fremden Sprache im Schriftverkehr mit den Beteiligten; insbesondere ist die Beifügung einer Übersetzung eines Schriftstückes nicht vorgesehen (Ringhofer I, 367; VwGH 11.1.1989, Zl 88/01/0187;
1.2.1989, Zl. 88/01/0330).
VP: Ich kenne die Lage in der Türkei.
LA: Das heißt, Sie verzichten auf die Ausfolgung des Länderinformationsblattes?
VP: ja, ich verzichte.
LA: Ich beende jetzt die Befragung. Wollen Sie noch etwas sagen?
VP: Ich entschuldige mich für meine begangenen Fehler. Geben Sie mir noch eine Chance. Und ich werde Ihnen die erforderlichen Beweismittel bringen.
LA: Die Dolmetscherin wird die Niederschrift jetzt rückübersetzen. Falls Sie
Einwendungen gegen das Protokoll haben, können Sie diese im Anschluss an die Einvernahme geltend machen.
VP: Ja.
Anm.: Die Niederschrift wird von der Dolmetscherin rückübersetzt.
LA: Haben Sie die Dolmetscherin in der EV und bei der Rückübersetzung einwandfrei verstanden?
VP: Ja.
LA: Haben Sie nun nach der Rückübersetzung Einwendungen vorzubringen?
VP: Nein.
LA: Bestätigen Sie nunmehr durch Ihre Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift!
Anm.: Der VP wird eine Kopie der Niederschrift ausgefolgt.
…“
7. Mit Bescheid des BFA vom 24.06.2021, Zahl XXXX , wurde der bP der mit Bescheid vom 29.07.2010 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG aberkannt und gemäß § 7 Absatz 4 AsylG festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.), der bP der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.), festgestellt, dass gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Mit Verfahrensanordnung vom 25.06.2021 wurde der beschwerdeführenden Partei ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
8. Mit Schriftsatz der rechtsfreundlichen Vertretung vom 13.07.2021 wurde fristgerecht Beschwerde eingebracht.
9. Am 24.06.2022 wurde eine mündliche Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht durchgeführt. Neben der bP wurden auch deren ehemalige Ehegattin sowie ihr gemeinsamer Sohn als Zeugen einvernommen. Das BFA blieb entschuldigt fern.
Mit der Ladung wurde der beschwerdeführenden Partei das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei übermittelt, welche das BVwG in die Entscheidung miteinbezieht. Eine schriftliche Stellungnahmefrist bis zum Verhandlungstermin oder eine Stellungnahmemöglichkeit in der Verhandlung wurden dazu eingeräumt. Eine schriftliche Stellungnahme wurde nicht abgegeben und auch in der mündlichen Verhandlung wurde den Länderinformationen nicht entgegengetreten.
10. Mit Schreiben vom 13.07.2022 und 25.07.2022 erfolgte eine Stellungnahme seitens der bP und wurden Beweismittel vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei
Die bP ist Staatsangehöriger der Türkei, führt den im Spruch genannten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum, gehört der Volksgruppe der Kurden und der muslimischen Glaubensgemeinschaft an. Ihre Identität steht fest. Sie stammt aus der Stadt XXXX , der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz.
Die bP ist geschieden. Die Ex-Ehegattin der bP lebt mit ihren gemeinsamen volljährigen Kindern in der Türkei. Der Sohn XXXX wurde XXXX geboren, lebt in XXXX und ist im Großhandel tätig. Die Tochter XXXX wurde XXXX geboren, lebt in XXXX und ist verheiratet.
Die bP wurde in XXXX geboren, wuchs dort auch auf und besuchte dort die Schule. Ab ihrem 10. Lebensjahr arbeitete die bP auf der familieneigenen Landwirtschaft. Die bP leistete in der Türkei 18 Monate lang den Militärdienst ab. Die bP war bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern. Ihre Muttersprache ist Kurdisch, darüber hinaus spricht sie auch Türkisch und etwas Deutsch.
Die bP reiste erstmals im März 2004 in Österreich ein, wo sie am 12.03.2004 ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit 01.07.2006 verzog die bP nach unbekannt, weswegen mit Aktenvermerk des UBAS vom 24.11.2006 das Asylverfahren gemäß § 30 AsylG eingestellt wurde. Die bP reiste in weiterer Folge zurück in die Türkei. Im Mai 2010 reiste die bP erneut unrechtmäßig in Österreich ein und stellte am 04.06.2010 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz und ist seit 29.07.2010 als Asylberechtigter in Österreich durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Mit Bescheid des BAA vom 29.07.2010, Zl. XXXX , wurde der bP der Status des Asylberechtigten im Familienverfahren gewährt. Als Bezugsperson wurde ihre damalige Lebensgefährtin XXXX , geb. XXXX , herangezogen. Im Jahr 2013 wurde die Beziehung der bP zu XXXX beendet. Mit Bescheid des BFA vom 26.01.2017 wurde der Asylstatus von XXXX aberkannt. Diese Entscheidung erwuchs aufgrund eines Rechtsmittelverzichts mit 26.01.2017 in Rechtskraft.
Die bP verfügt im Herkunftsstaat noch über ein familiäres bzw. verwandtschaftliches Netz. Zwei Brüder, ein volljähriger Sohn und eine volljährige Tochter der bP sowie mehrere Onkel und Tanten, Nichten und Neffen leben nach wie vor in der Türkei. Ein Bruder arbeitet in einer Eisenfirma, der andere verdient seinen Lebensunterhalt als Musiker, beide sind verheiratet und haben Kinder. Die Familie der bP verfügt über eine Landwirtschaft in XXXX in der Provinz XXXX , welche von den Brüdern der bP verpachtet wird. Den Familienangehörigen der bP in der Türkei geht es finanziell gut und zählen diese zur Mittelschicht. Die bP steht sowohl zu ihren Brüdern, als auch zu ihren erwachsenen Kindern in - wenn auch nicht regelmäßigem - telefonischen Kontakt.
Die beschwerdeführende Partei leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Sie leidet unter Bluthochdruck, muss diesbezüglich jedoch weder Medikamente einnehmen, noch befindet sie sich in ärztlicher Behandlung. Die bP ist arbeitsfähig.
Die beschwerdeführende Partei bezog lediglich von Juni bis November 2010 Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde in Österreich. Sie war bis dato bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt, bezog jedoch den Großteil der Zeit Arbeitslosengeld sowie Notstands- und Überbrückungshilfe. Insbesondere war die bP in Österreich nie durchgehend ein Jahr oder länger bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt. Zuletzt arbeitete die bP unselbstständig für XXXX , welcher als Subunternehmer für die „ XXXX “ Geräte wie Kühlschränke oder Waschmaschinen transportiert. Die bP half beim Tragen der Geräte und verdiente hierfür ca. 1.500,- Euro im Monat netto. Seit 26.09.2021 geht die bP keiner Erwerbstätigkeit in Österreich nach. Eine aktuelle Einstellungszusage brachte die bP nicht in Vorlage.
Die bP verfügt über derart geringe Kenntnisse der deutschen Sprache, dass ihr eine Unterhaltung auf einfachem Niveau in Deutsch kaum möglich ist. Eine Verhandlungsführung ohne Dolmetscher wäre nicht möglich. Nachweise absolvierter Deutschkurse oder positiv abgelegter Deutsch- oder Integrationsprüfungen wurden im Verfahren nicht vorgelegt. Sie ist kein Mitglied eines Vereines in Österreich und auch ansonsten nicht ehrenamtlich tätig. Ihre Freizeit verbringt sie mit damit, mit ihren Freunden Essen oder spazieren zu gehen. Besonders enge Freundschaften wurden im Verfahren nicht vorgebracht, ebenso wenig wie Unterstützungsschreiben. Der Vater der bP lebt in Deutschland.
Die bP heiratete die türkische Staatsangehörige XXXX , geb. XXXX , traditionell. Eine standesamtliche Hochzeit fand nicht statt. Am XXXX wurde ihr gemeinsamer Sohn XXXX in Österreich geboren. Seit 2013 sind die bP und ihre damalige Lebensgefährtin wieder getrennt. XXXX und ihr Sohn leben nach wie vor im Bundesgebiet und verfügen über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“. Das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn liegt bei ihrer ehemaligen Lebensgefährtin. Die bP bezahlt Unterhalt für ihren Sohn in der Höhe von 305,- Euro im Monat. Sie sieht ihren Sohn einmal die Woche jeden Montag zwischen einer und drei Stunden lang.
Der minderjährige Sohn der bP leidet an einer Harninkontinenz, wird diesbezüglich in der Türkei ärztlich behandelt und wird nach seinem 18. Geburtstag in der Türkei operiert. Aktuell arbeitet er am Wochenende bei der Firma XXXX und ist auf der Suche nach einer Lehrstelle.
Der beschwerdeführenden Partei fehlt es an persönlicher Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit.
1.2. Zur strafgerichtlichen Verurteilung der beschwerdeführenden Partei
1.2.1. Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX .2021 ( XXXX ) unter der Zahl XXXX wurde die bP wegen des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 1 WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten sowie einer Geldstrafe in der Höhe von insgesamt 1.200 Euro verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Die bP hat in XXXX
I. am 01.10.2020 andere durch gefährliche Drohung mit dem Tod zu nötigen versucht, während sie mit einer geladenen Faustfeuerwaffe der Marke „Sauer und Sohn .765“ abwechselnd auf XXXX , XXXX und XXXX zielte, nämlich
1) XXXX zu einer Handlung, nämlich zur Herausgabe von 38.000,- Euro nötigte, indem er wiederholt 38.000,- Euro von ihm forderte und zu ihm sagte, „gib mir sofort 38.000,- Euro sonst erschieße ich dich, deinen Sohn und deine Frau“,
2) XXXX , XXXX und XXXX zu einer Unterlassung, nämlich sich nicht zu bewegen, indem er sagte, „wenn sich jemand bewegt, bringe ich euch um“,
3) XXXX zu einer Unterlassung, nämlich nicht zu sprechen, indem er sagte, sie solle die „Schnauze halten“ sonst sei sie tot.
II. in einem unbekannten Zeitpunkt bis zum 01.10.2020 wenn auch nur fahrlässig, unbefugt eine Faustfeuerwaffe der Marke „Sauer und Sohn .765“, somit eine Schusswaffe der Kategorie B besessen und geführt.
Mildernd wertete das Gericht bei der Strafbemessung den Umstand, dass die bP geständig, unbescholten sowie vermindert zurechnungsfähig war, es teilweise beim Versuch blieb und der bP ein eigener Nachteil aus der Tat entstand, erschwerend demgegenüber das Zusammentreffen von drei Verbrechen mit einem Vergehen.
1.2.2. Hinsichtlich ihrer Verurteilung übernimmt die beschwerdeführende Partei nicht die volle Verantwortung, sondern gibt diesbezüglich an, dass sie das Geld ohne Drohungen zurückverlangt habe und XXXX vor Gericht gelogen habe.
1.2.3. Darüber hinaus gestand die bP sowohl in der behördlichen Einvernahme am 02.06.2021, als auch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, in Österreich Cannabis konsumiert zu haben, obwohl sie wusste, dass dies in Österreich nicht erlaubt ist. Diesbezüglich kam es auch zu einer Anzeige; zu einer Verurteilung der bP kam es jedoch nicht.
1.2.4. Gegen die beschwerdeführende Partei besteht in Österreich ein aufrechtes Waffenverbot.
1.3. Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei und ihrer Ex-Ehegattin
1.3.1. Der Ex-Ehegattin der bP wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 04.04.2008, Zl.: 268.562/0/6E-VIII/23/06, Asyl gewährt, weil diese aufgrund von Vorwürfen, wonach ihr damaliger Lebensgefährte PKK Mitglied gewesen sei, von Jitem sowie der Polizei beobachtet, gefoltert und angeschossen worden sei.
Mit Bescheid des BAA vom 29.07.2010, Zl. XXXX , wurde der bP der Status des Asylberechtigten durch Erstreckung ihrer damaligen Lebensgefährtin im Familienverfahren gewährt.
Mit Bescheid des BFA vom 26.01.2017 wurde der Asylstatus von XXXX aberkannt. Diese Entscheidung erwuchs aufgrund eines Rechtsmittelverzichts mit 26.01.2017 in Rechtskraft. Die ehemalige Lebensgefährtin der bP stellte sich freiwillig unter den Schutz ihres Herkunftsstaates und gab gegenüber dem BFA ausdrücklich an, in die Türkei reisen zu wollen. Ihr und der Aufenthalt ihres Sohnes in Österreich stützt sich mittlerweile auf das NAG und verfügen beide über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“.
Die Umstände, auf Grund derer der Ex-Ehegattin der bP der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, bestehen aufgrund einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in der Türkei nicht mehr. Die Ex-Ehegattin der bP wäre im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt.
1.3.2. Das gegen den bP in der Türkei Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation erhoben sowie ein Haftbefehl erlassen wurde, ist glaubhaft.
Ein Urteil in Abwesenheit wegen dem Verdacht der Propaganda für eine terroristische Organisation ist bisher nicht ergangen.
Die bP ist Anhänger bzw. Sympathisant der PKK und bestritt während des Verfahrens nicht, die ihr in der Anklageschrift vorgeworfenen Handlungen auch tatsächlich gesetzt zu haben.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die gegen die bP erhobene Anklage aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Gesinnung erhoben wurden oder dass die strafrechtliche Verfolgung der bP auf anderen unsachlichen Motiven beruht.
Bereits in der Vergangenheit wurde die bP wegen Beihilfe sowie Unterschlupfgewährung von Mitgliedern der illegalen PKK-Organisation zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und sie verbüßte von 1998 bis 2000 drei Jahre im Gefängnis, ehe sie im Rahmen der Amnesie freigelassen wurde. Die bP brachte diesbezüglich während des gesamten Verfahrens nicht vor, dass die Verurteilung zu Unrecht erfolgt sei oder sie die ihr zur Last gelegten Straftaten nicht begangen habe.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Zusammenhang mit der oben genannten Anklage einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen wäre.
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die bP von den zuständigen türkischen Gerichten einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen der ihr zur Last gelegten Straftat unterworfen wäre.
Zum Entscheidungszeitpunkt kann nicht festgestellt werden, ob bzw. wann ein (erstinstanzliches) Urteil infolge der gegen die bP erhobene Anklage ergehen wird. Zudem kann nicht festgestellt werden, dass die bP hinsichtlich der ihr zur Last gelegten Taten ganz oder teilweise schuldig erkannt wird oder ein gänzlicher oder teilweiser Freispruch ergeht bzw. zu welcher Strafe sie im Fall eines Schuldspruches verurteilt werden würde. Folglich kann auch nicht festgestellt werden, dass die bP mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und sie anschließend ihre Strafe in einem türkischen Gefängnis verbüßen müsste.
Es kann nicht festgestellt werden, dass sie bei einem Strafvollzug in einer Haftanstalt real Gefahr liefe, dass hier maßgebliche Rechtsgüter der bP in relevanter Weise verletzt würden.
Dass ein Verfahren zur Auslieferung der bP angestrengt oder ein internationaler Haftbefehl erlassen wurde, kann nicht festgestellt werden.
Die bP gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt.
Das Vorbringen der bP, wonach sie nach wie vor politisch aktiv sei und an Protestdemonstrationen teilnehme bzw. diese teilweise auch organisiere, ist nicht glaubhaft.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP in ihrem Herkunftsstaat aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung, willkürlichem Freiheitsentzug oder exzessiver Bestrafung durch staatliche Organe ausgesetzt wäre.
Die bP hat nicht glaubhaft dargelegt und kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass sie vor ihrer Ausreise aus ihrer Heimat in dieser einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wäre oder in eine lebens- bzw. existenzbedrohliche Notlage geraten würde.
1.4. Zur aktuellen Lage in der Türkei (auszugsweise):
COVID-19
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://ww w.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/ situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bd a7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Im Februar 2022 verzeichnete die Türkei täglich im Schnitt rund 93.000 Neuinfektionen und 240 Tote. Bis Ende Februar 2022 waren rund 94.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 1.3.2022).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben, ebenso Zugangsbeschränkungen, etwa in der Gastronomie oder im Einzelhandel. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt (WKO 19.10.2021; vgl. DW 2.7.2021). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021). Angesichts einer beinahe Vervierfachung der täglichen Infektionen (rund 20.000) nach den Lockerungen der Restriktionen Ende Juli 2021 mahnte Gesundheitsminister Koca seine Landsleute zur Vorsicht (Ahval 28.7.2021).
Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).
Politische Lage
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, einen „Dauerwahlkampf“ sowie den Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vgl. DFAT 10.9.2020, S.14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S.3, 10f). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S.5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55; vgl. EC 19.10.2021, S.3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vgl. EP 19.5.2021, S.7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz wiederholter Empfehlungen internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vgl. ÖB 30.11.2021, S.5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S.5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vgl. HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).
Sicherheitslage
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12; vgl. HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 11.11.2021), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).
Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden (EDA 10.2.2022).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.858 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 3.2.2022. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert, wobei 255 Opfer auf irakischem und 137 auf türkischem Territorium vermerkt wurden; alleine die Provinz Şırnak verzeichnete 45 Tote (ICG 3.2.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).
Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 10.2.2022).
Im Jänner 2022 wurden die Militäroperationen gegen die PKK im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks fortgesetzt. Insbesondere wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes Anfang Jänner drei türkische Soldaten im Bezirk Akçakale in Şanlıurfa an der türkisch-syrischen Grenze getötet. In den folgenden Tagen reagierte das Militär mit Operationen gegen PKK-Mitglieder im Grenzgebiet. Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich auf die ländlichen Gebiete der Provinzen Tunceli, Mardin und Şanlıurfa. Die Luftoperationen im Nordirak und in Nordsyrien wurden fortgeführt und richteten sich gegen hochrangige PKK-Mitglieder. In Syrien führten Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte und von Ankara unterstützte Rebellen in den türkisch kontrollierten Gebieten Afrin, al-Bab und Azaz Mitte des Monats zu Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Militärs. Währenddessen wurde vermeldet, dass die Sicherheitskräfte im Jänner 2022 über 100 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. Islamischen Staat festnahmen, allein am 12.1.2022 21 Personen in Mersin mit syrischer und irakischer Herkunft (ICG 1.2022).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 15.6.2021, S.261; vgl. ÖB 30.11.2021, S.21f).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2021, S.22).
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“, bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2021, S.22). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.2.2022 3.717 getötete PKKKämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 „neutralisierten“ PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen „Adlerklaue“ und „Tigerkralle“ gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S.261).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vgl. NaT 14.2.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK-KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S.140f). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S.261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkari 30 Personen wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“ zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neuen Monaten - und 17,5 Jahren - verurteilt (Bianet 4.10.2021, vgl. WKI 5.10.2021). Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, wurde zu 17,5 Jahren verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vgl. TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen „Propaganda für eine illegale Organisation“ zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV. 26.1.2022).
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ihren Institutionen hält an. Die Verschlechterung der Lage der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vgl. HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21; vgl. CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1, 14f.). Das Europäische Parlament sah in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, S.11).
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass "der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).
Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt "die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte" (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie desEGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, S.6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S.5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 23f).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignoierten (EC 19.10.2021, S.23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.7f; vgl. SCF 3.2021, S.46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, S.7f).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S.7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, S.8).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, S.6).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, S.6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5% seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100% (ÖB 30.11.2021, S.7).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, S.9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, S.9).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, S.15).
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2021, S.15). Bis zum 31.12.2021 waren 126.783 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission bis zu 120.703 bearbeitet, wobei lediglich 16.060 positiv gelöst wurden. 6.080 Fälle waren mit Jahresende 2021 noch anhängig. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen (ICSEM 31.12.2021). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; S.20). Am 21.1.2022 wurde die Funktionsdauer der Kommission mittels Präsidentendekret um ein Jahr verlängert (Ahval 23.1.2022).
Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2021, S.15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2021, S.15; vgl. EC 19.10.2021, S.20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 30.11.2021, S.15).
Sicherheitsbehörden
Die Nationale Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (AA 3.6.2021, S.7; vgl. USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 30.11.2021, S.16), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2021, S.2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.000 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, S.16; vgl. BICC 12.2021, S.25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2021, S.17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2021, S.18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2021, S.19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 3.6.2021, S.7).
Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen, sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; S.19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum (lediglich ein 90-tägiges Training) ausgebildet sein (AA 3.6.2021, S.7; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, S.18).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, S.15).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S.15, Pt.38).
Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 3.6.2021, S.17). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S.31).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S.31). Folter und Misshandlung kommen weiterhin in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S.34; vgl. EC 19.10.2021, S.16; İHD 4.10.2021, S.11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S.31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S.11; vgl. TİHV 6.2021, S.13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 19.5.2021 zeigte sich auch das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltenden Vorwürfe von gewaltsamen Verhaftungen, Schlägen, Folter, Misshandlungen und grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam und in Gefängnissen sowie über Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen in den vergangenen vier Jahren, über das Versäumnis der Staatsanwaltschaft, effektive Ermittlungen zu diesen Vorwürfen aufzunehmen, und über die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit für die involvierten Mitglieder der Sicherheitskräfte und Amtsträger" (EP 19.5.2021; S.15, Pt.37). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022).
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten jener Kläger, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudspersonstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Beispiele:
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Oktober 2021 gab es über 121.920 Vereine und 5.906 Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.11.2021).
Infolge des Ausnahmezustands und der Anti-Terror-Maßnahmen der türkischen Regierung gerieten mehrere Aktivisten jedoch zunehmend unter Druck, unter anderem wurden sie festgenommen und inhaftiert. Vor allem jene NGOs, die ausländische Gelder erhalten, laufen Gefahr, der Spionage und Kollaboration mit ausländischen Feinden beschuldigt zu werden (BS 29.4.2020). Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.11). Im Juli 2020, beispielsweise, verurteilte ein Gericht vier Menschenrechtsverteidiger, darunter den ehemaligen Vorsitzenden von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation (FH 3.3.2021). Durch Notverordnungen wurden rund 1.400 bis 1.500 Vereinigungen ohne jeden Rechtsbehelf geschlossen (BS 29.4.2020; vgl. AA 3.6.2021, S.7, FH 3.3.2021) und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 3.3.2021). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 3.6.2021, S.7).
Trotz dieses gravierenden Rückschritts sind zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor aktiv. Es ist jedoch offensichtlich, dass regierungsnahe Organisationen eine größere Rolle übernehmen und sichtbarer sind (BS 29.4.2020). Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.30). Im zunehmend repressiven politischen Umfeld verhindern die rechtlichen, politischen, finanziellen und administrativen Belastungen, die den zivilgesellschaftlichen Organisationen auferlegt werden, die Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft (BS 29.4.2020). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juli 2021 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,22% (1.488 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.11.2021).
Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten, sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 3.6.2021; S.6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll. Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vgl. DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, S.36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.30). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Vor Verabschiedung des Gesetzes gaben 694 unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft eine Erklärung gegen den Gesetzentwurf ab. Selbst mehrere AKP-nahe Vereine und -Stiftungen führten ebenfalls eine Kampagne gegen das Gesetz. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, S.36). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020).
Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık), das organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI o.D.).
Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 19.10.2021, S.12). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 19.10.2021, S.29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 30.3.2021, S.60).
Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 3.6.2021, S.7). Einige HREI-Mitglieder zeigten eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, S.29).
Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt und sie entspricht nicht der Empfehlung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Standards für Gleichbehandlungsstellen. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität bei der Behandlung von Anträgen als begrenzt (EC 19.10.2021, S.29).
Allgemeine Menschenrechtslage
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S.30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.4, 13). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).
Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S.31).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlamanets vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S.30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022).
Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1% aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).
OPPOSITION
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, dazu gehören die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. das Organisieren von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien (USDOS 30.3.2021, S.53).
Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen, und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, S.11; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).
Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, S.13).
Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als jene der HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. Kaftancıoğlu kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament sah die Anklagen gegen Canan Kaftancıoğlu als politisch motiviert an (EP 21.1.2021).
Vorgehen gegen die HDP
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vgl. DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S.69).
Laut Angaben der HDP waren seit 2015 mehr als 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausend HDP-Mitglieder wurden freigelassen, nachdem sie - manchmal jahrelang - hinter Gittern saßen, dennoch befinden sich immer noch mehr als 4.000 HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, im Gefängnis (HDP 18.5.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.11). Außerdem leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Auch das Europäische Parlament (EP) forderte 2021 mehrmals auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 21.1.2021; vgl. EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).
HDP-Mitglieder sehen sich mit dem Vorgehen seitens der türkischen Behörden gegen sie konfrontiert. Dazu gehören auch nächtliche Razzien am Wohnort u.a. durch maskierte Anti-Terror-Spezialeinheiten. Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 18.3.2021, S. 51f.). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S.20).
Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 3.6.2021, S.8). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).
In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022).
Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022).
Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S.14f).
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S.3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S.4).
Gewaltakte gegen die HDP und ihre Vertreter
In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende, Mithat Sancar, sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP. Mehrere Oppositionspolitiker hegten Zweifel an der Einzeltäterthese und forderten weitere Untersuchungen, insbesondere nachdem der Täter erwiesenermaßen in Manbij, Syrien mit Waffen posierte (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotow-Cocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).
Haftbedingungen
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.11). In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Vorbehalte gibt es allerdings bei einigen Gefängnissen mit Überbelegung, wo die Ausstattung der Gefängnisse und zum Beispiel die medizinische Versorgung nicht auf die Anzahl der Insassen ausgelegt sind (AA 3.6.2021, S.19; vgl. ÖB 30.11.2021, S.11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u.a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (ÖB 30.11.2021, S.11). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 30.3.2021). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 30.11.2021, S.11). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021, S.10).
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S.38). Die 369 Strafvollzugsanstalten in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 251.299 (Stand 1.10.2021). Die Zahl der Insassen betrug am 30.9.2021 laut türkischen Angaben 292.074 (inkl. 38.900 in U-Haft). Das entspricht einem Belegungsgrad von 116% (ÖB 30.11.2021, S.11). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, S.31f). Das Justizministerium lässt weitere 26 Gefängnisse bauen, während 17 Haftanstalten 2020 renoviert wurden, um die steigende Anzahl von Insassen bewältigen zu können, die sich laut Ministerium von 120.000 im Jahr 2010 auf fast 251.000 Ende 2020 mehr als verdoppelt hat (Ahval 3.4.2021). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S.4f; S.32 Tab.).
Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 19.10.2020, S.31; vgl. DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S.1).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S.1).
Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S.32).
Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 30.3.2021, S.8; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S.29). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S.19), zuletzt z.B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).
LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020). Laut der türkischen NGO Civil Society in the Penal System Association (CİSST) gehören Mitglieder von sexuellen Minderheiten zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S.48).
Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 30.3.2021, S.21). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 30.3.2021, S.21).
Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 30.3.2021, S.9).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).
Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte 1.605 kranke Gefangene dokumentieren. 604 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befinden. Seit Anfang 2020 sollen mindestens 59 kranke Häftlinge verstorben sein (BAMF 20.12.2021, S.12; vgl. Ahval 2.1.2022).
Kurdische Häftlinge
Mit Beginn des Ausnahmezustands wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S.16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S.30;68). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S.30;68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S.30;68; vgl. İHD 23.10.2020, S.7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S.55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Frauen werden entweder in Frauengefängnissen oder in den Frauenabteilungen der Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F oder D untergebracht. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S.11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S.4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S.70). Viele Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, S. 36).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S.26). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11% aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S.26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S.25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihrer Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S.48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der allzu weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, S.32; vgl. AA 3.6.2021, S.19, DFAT 10.9.2020, ÖB 30.11.2021, S.11). Der ständige Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Türkei kritisierte den Ausschluss von Untersuchungshäftlingen und jenen, die wegen ihrer politischen Aktivitäten inhaftiert sind, von der neuen Gesetzeslage. Stattdessen hätten die türkischen Regierungsparteien beschlossen, das Leben von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und denjenigen, die sie als politische Gegner betrachten, bewusst dem Risiko einer tödlichen Erkrankung an COVID-19 auszusetzen (EP 15.4.2020).
Nach den Ergebnissen einer Umfrage, die von der Media and Law Studies Association (MLSA) zwischen Februar und März 2021 in fünf Gefängnissen durchgeführt wurde, fehlte es mehr als der Hälfte der befragten Gefangenen während der COVID-19-Pandemie an Reinigungs- und Hygieneartikeln; die meisten von ihnen waren mit erheblichen Einschränkungen bei kulturellen und sportlichen Aktivitäten sowie beim Besuchsrecht konfrontiert. 44% der Gefangenen wurden nicht über die COVID-19-Pandemie informiert (MLSA 18.7.2021).
Die in den Gefängnissen Verbliebenen erleben durch die Corona-bedingten Quarantänemaßnahmen erschwerte Haftbedingungen und Einschränkungen ihrer Rechte. Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können (DW 17.3.2021). So wurden im April 2021 im Sakarya-Ferizli-Gefängnis in der Nordwest-Türkei fünf Wärter positiv diagnostiziert, die infolge mehrere Häftlinge mit COVID-19 infizierten (SCF 28.4.2021). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) berichtet von gravierenden Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch erhalten zu haben. Zudem wurde infolge der Lage Insassen über mehrere Monate hinweg der Besuch durch ihre Anwälte verwehrt. Nicht zuletzt wächst auch die Not kranker Häftlinge, da ihre Behandlung häufig wegen Corona unterbrochen worden ist (DW 17.3.2021).
NGOs bezeichneten die COVID-Situation in den Haftanstalten bereits im Frühjahr 2020 als alarmierend. Gefangene können Reinigungs- und Hygieneprodukte nur gegen eine Gebühr in der Kantine erhalten. Häftlinge wurden nur in Notfällen ins Krankenhaus eingeliefert, und die 14-tägige Quarantänezeit nach einem Krankenhausbesuch konnte aufgrund des Ärztemangels in den Gefängnissen nicht eingehalten werden. Das Personal, das außerhalb der Gefängnisse arbeitete, trug angeblich keine Schutzbekleidung, und an den Eingängen und in den Warteräumen der Anwälte in den Gefängnissen waren keine Desinfektionsmittel erhältlich (EPO 15.5.2020).
Die türkische NGO CİSST verzeichnete seit Beginn der COVID-19-Pandemie Beschwerden aus 179 Haftanstalten unterschiedlichen Typus' (Stand: Ende November 2021). Die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen stellen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Pandemie dar. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. Es kam zu etlichen Klagen über schmutzige Bettwäsche, Toiletten und Trinkwasser. In einigen Gefängnissen kann auch infolge der Überbelegung keine Frischluft zirkulieren. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten vermehrt Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von COVID-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Die Minimierung der Anzahl der Treffen mit den Familien hat die Isolationsbedingungen für die Gefangenen, die allein untergebracht sind, noch verschärft (CİSST 30.11.2021).
Laut Regierung gibt es derzeit in 115 der 369 Strafvollzugsanstalten Covid-19-Fälle. Die Gesamtzahl der infizierten Inhaftierten beträgt 851 (Stand: 3.11.2021). Seit Ausbruch der Pandemie sind bislang insgesamt 45 Inhaftierte an oder mit Covid-19 verstorben. Im Rahmen des Nationalen Impfprogramms wurden nach Regierungsangaben alle Häftlinge, die sich dazu bereit erklärt hatten, gegen Covid-19 geimpft. Im Oktober 2021 betrug der Anteil der Inhaftierten, die eine Dosis erhalten haben, 91%, und jener, die zwei Dosen erhalten haben, 80%. Zur Minimierung des Infektionsrisikos wurden außerdem seit Pandemiebeginn 88.767 Menschen vorübergehend aus der Haft, zumeist aus dem offenen Strafvollzug, entlassen (Stand: 30.9.2021).
Todesstrafe
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2021, S.12).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020).
Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden (USDOS 30.3.2021, S.70). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 3.6.2021, S.11). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, S.40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S.40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73).
Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, S.41).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; S.28).
Kurden
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S.20).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, S.27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2020, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang. 2020 wurden mindestens 19 Ausgangssperren verhängt, die kürzeste für 24 Stunden und die längste für 15 Tage, und zwar vom 23. März bis Ende 2020 in Dörfern der Provinzen Bitlis, Mardin, Siirt, Şırnak und Cizre (İHD 4.10.2021, S.18). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, S.4). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]
Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "zutiefst besorgt über die Lage im Südosten der Türkei und die Kurdenfrage, [...] insbesondere in Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte, der politischen Partizipation, der Meinungsfreiheit und der Religions- und Glaubensfreiheit; [...] über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S.16f, Pt.44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S.17, Pt.44).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, S.16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, S.16; vgl. CCRT 8.4.2021)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, S.16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Allerdings entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021).
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S.36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S.21).
Übergriffe
Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S.27; vgl. Bianet 22.7.2021).
Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, S.47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vgl. TP 20.7.2021). Im September wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022).
Verwendung der Kurdischen Sprache
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, S.28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; S.41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, S.28). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S.46).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, S.28).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S.21; vgl. TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.6.2021, S.11). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereich vollständig (AA 3.6.2021, S.11) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S.27).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021).
Bewegungsfreiheit
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. In der Türkei sind die Richter befugt, ein Ausreiseverbot zu verhängen (ÖB 30.11.2021, S.10; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S.27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, S.10).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S.27f).
Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.6.2021, S.23, 26). Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde (AA 24.8.2020, S.27).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, S.6).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Grundversorgung / Wirtschaft
Die Türkei war eines der wenigen Länder, die 2020 ein Wachstum verzeichneten, vor allem dank günstiger Kredite nach einer Reihe von Zinssenkungen durch die Zentralbank, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuwehren. Im Jahr 2021 nahm das Wachstum wieder zu, da die COVID-19-Beschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Doch eine Währungskrise Ende 2021, die die Inflation auf fast 50% ansteigen ließ, hat die Wachstumserwartungen für 2022 gedämpft (Reuters 22.2.2022). Das 2021 starke Wachstum von 8,5% des Bruttoinlandsprodukts dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 3,3% abschwächen. Der Türkei droht eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich im letzten Quartal 2021 zugespitzt. Das Wirtschaftswachstum wird teuer erkauft durch niedrige Zinsen, hohe Inflation und eine starke Abwertung der Währung. Die Auslandsschulden der Unternehmen und des Staates sind hoch. Die Währungsreserven hingegen sind gering und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 14.1.2022).
2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht statistisch mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021). Präsident Erdoğan hat angesichts der hohen Inflation von zuletzt 50% und des steigenden Unmuts in der Bevölkerung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von acht auf ein Prozent angekündigt (DW 12.2.2022).
Die Arbeitslosigkeit in der Türkei betrifft insbesondere die jüngere Generation. Die türkische Plattform für Jugendarbeitslosigkeit schätzt, dass im November 2021 mehr als elf Millionen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren arbeitslos waren. Im dritten Quartal 2021 lag die offizielle Jugendarbeitslosenquote bei 22% (AT 3.1.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73% "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Aksoy Research vom Jänner 2022 gaben nur 4% an, dass sie alle ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten decken können, weitere 13,7% zumindest "die meisten". Währenddessen sagten 17%, keines ihrer Grundbedürfnisse decken zu können. Weitere 36,6% meinten, ihre Grundbedürfnisse nur "sehr wenig" befriedigen zu können, immerhin 28,5% zumindest "einige" davon (TM 27.1.2022)
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 30.11.2021, S.39).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).
Auch 2021 verblieb die Türkei im Bann der COVID-19-Pandemie. Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurden bis August 2021 zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Krise insgesamt 70,55 Mrd. Euro an fiskalen Maßnahmen in Form von öffentlichen Unterstützungen und Steuererleichterungen aufgewendet, welche 10,6 % des BIP ausmachen (WKO 14.10.2021).
Sozialbeihilfen / -versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Arbeitslosenunterstützung
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.420 TL, der Maximalbetrag 2.840 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 30.11.2021, S.39). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S.39).
Medizinische Versorgung
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2021, S.40). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 3.6.2020, S.22). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Das Gesundheitsministerium plant, bis 2021 in weiteren 19 Provinzen noch jeweils ein AMATEM-Zentrum mit einer Gesamtkapazität von 725 Betten einzurichten. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.6.2021, S.22f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S.15).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S.38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vgl. AA 16.11.2021). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S.10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S.37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. ÖB 30.11.2021, S.38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt. Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d.h. wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S.39).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).
Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9) (ÖB 30.11.2021, S.38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art. 9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11 (1)). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, S.38).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
COVID-19 – Aktuelle Lage in der Türkei
Laut worldometers.info, Stand 05.10.2022, gibt es in der Türkei 16.873.793 Coronavirus-Fälle. Es gibt 101.139 Todesfälle. 16.769.595 Personen sind wieder genesen.
Der Normalisierungsprozess nach der Pandemie ist weitgehend abgeschlossen. Alle Ausgangsverbote wurden aufgehoben, Geschäfte und gastronomische Betriebe haben geöffnet. Das Tragen von Masken sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen sowie im öffentlichen Verkehr wurde aufgehoben. In Gesundheitseinrichtungen ist das Tragen von Masken aber noch vorgeschrieben.
Seit 1. Juni 2022 wird für die Einreise aus Österreich in die Türkei kein Nachweis über eine Impfung oder Genesung bzw. kein negativer PCR-Test oder negativer Antigen-Schnelltest mehr verlangt.
Transitflüge in Drittländer ohne Einreise in die Türkei sind ohne Beschränkungen möglich. Die Bestimmungen der Einreise im Zielland sind zu beachten.
Mit 20. August 2021 wurde die Türkei dem digitalen Covid-Zertifikat der EU angeschlossen. Somit werden in der Türkei ausgestellte COVID-Zertifikate in der EU akzeptiert und die Türkei akzeptiert wiederum das EU Digital COVID Certificate.
Um die Auswirkungen der Lockdowns aufgrund von COVID-19 auf die türkische Wirtschaft zu begrenzen, wurden von der türkischen Regierung bereits mehrere Wirtschaftspakete ins Leben gerufen. Diese Wirtschaftspakete, welche im März und September des Jahres 2020 sowie zuletzt im März 2021 bekannt gegeben wurden, beinhalten Maßnahmen wie Steuersenkungen und -stundungen, Unterstützungen für Kurzarbeit, Einsetzung von Komitees zur Koordination der Maßnahmen sowie Einführung von Weiterbildungsangeboten im berufsbildenden Bereich (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html , Abruf 15.09.2022).
2. Beweiswürdigung
Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der bP, der von ihr vorgelegten Beweismittel, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes, durch die Durchführung von mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG und die Einsichtnahme in die aktuellen und der bP im Vorfeld der mündlichen Verhandlung übermittelten länderkundlichen Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat. Vorweg wird festgehalten, dass die bP in der mündlichen Verhandlung nichts gegen die getroffenen Feststellungen einwandte.
2.1 Zur Person der beschwerdeführenden Partei
Der beschwerdeführenden Partei fehlt es an persönlicher Glaubwürdigkeit und sie hat vielfach unglaubhafte sowie widersprüchliche Angaben gemacht. Diesbezüglich sei unter anderem auf die Angaben der bP in der behördlichen Einvernahme verwiesen, wo diese bspw. keine gleichbleibenden Angaben zu den ihr in Aussicht gestellten Arbeitsplätzen oder zur Ausreise aus der Türkei machen konnte und auch die Fragen nach Empfang von Sozialleistungen sowie nach Verurteilungen durch österreichische Gerichte zuerst verneinte. Weiters gab sie in der Einvernahme an, sich 100%ig sicher zu sein über ein Deutschzertifikat zu verfügen, welches sie im Asylverfahren noch nachreichen werde. Ein solches Zertifikat legte die bP jedoch in weiterer Folge nicht vor und sind die von der bP in der mündlichen Beschwerdeverhandlung gezeigten Deutschkenntnisse jedenfalls nicht auf einem B-Niveau, was die bP jedoch vor der belangten Behörde noch behauptete. Auf weitere Widersprüche im Vorbringen der bP wird in weiterer Folge noch eingegangen. In umfassender Würdigung waren dennoch einzelne Angaben der bP den Feststellungen zugrunde zu legen.
Die Identität der bP konnte bereits vom BFA aufgrund der von ihr vorgelegten Identitätsdokumente festgestellt werden.
Die sonstigen personenbezogenen Feststellungen hinsichtlich der bP, zum Privatleben in Österreich, zu ihren Lebensumständen in der Türkei sowie den Lebensumständen ihrer Familienangehörigen ergeben sich aus ihren in diesen Punkten einheitlichen, im Wesentlichen widerspruchsfreien Angaben sowie ihren im Verfahren dargelegten Sprach- und Ortskenntnissen und den seitens der bP vorgelegten Bescheinigungsmitteln. Zudem erfolgte Einsichtnahme in das ZMR, das GVS, das IZF, den SA und das AJ-Web. Sofern es zu Widersprüchen in den Angaben der bP kam, geht das Bundesverwaltungsgericht auf einzelne Aspekte in der Folge noch näher ein:
Dass die bP ab ihrem 10. Lebensjahr auf der familieneigenen Landwirtschaft arbeitete und in der Türkei 18 Monate lang den Militärdienst ableistete, gab die bP in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich an, sie war jedoch nicht in der Lage, zeitlich einzuordnen, wie lange sie auf der familieneigenen Landwirtschaft arbeitete und in welchem Jahr sie ihren Militärdienst abgeleistet hat.
Dass die bP erstmals im März 2004 in Österreich einreiste, wo sie am 12.03.2004 ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte, mit 01.07.2006 nach unbekannt verzog und mit Aktenvermerk des UBAS vom 24.11.2006 das Asylverfahren gemäß § 30 AsylG eingestellt wurde, ergibt sich aus dem Akteninhalt. Wann die bP in die Türkei zurückkehrte bzw. wie lange sie dort verweilte konnte mangels konkreter Angaben der bP nicht festgestellt werden. In ihrer Erstbefragung am 04.06.2010 gab die bP an, nach ihrer erstmaligen Einreise in Österreich nicht mehr in die Türkei zurückgereist zu sein, sondern sich in Russland aufgehalten zu haben, ehe sie 2010 erneut nach Österreich eingereist sei. In der behördlichen Einvernahme machte die bP widersprüchliche Angaben zu ihrer Ausreise aus der Türkei und gab zuerst ebenfalls an, 2003 zuletzt die Türkei verlassen zu haben. Auf weitere Nachfrage durch den Leiter der Amtshandlung erklärte die bP jedoch schließlich, zuletzt im Jahr 2010 aus der Türkei ausgereist zu sein. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung machte die bP abermals divergierende Angaben zu ihrer Ausreise aus der Türkei und gab an, 2002 aus der Türkei ausgereist und nicht mehr zurückgekehrt zu sein. Nach Vorhalt, dass sie beim BFA vorgebracht habe, zuletzt im Jahr 2010 aus der Türkei ausgereist zu sein und befragt, ob das richtig sei, erklärte die bP, dass dies richtig sei. Aufgrund der verschiedenen Angaben der bP konnte das Bundesverwaltungsgericht keine zeitlichen Feststellungen hinsichtlich dem Aufenthalt der bP in der Türkei treffen, es ist jedoch davon auszugehen, dass die bP jedenfalls nach ihrem ersten Aufenthalt in Österreich nochmals zurück in die Türkei gereist und im Jahr 2010 von der Türkei aus nochmals nach Österreich gereist ist. Dass die bP im Mai 2010 erneut in Österreich einreiste, am 04.06.2010 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz stellte und seit 29.07.2010 als Asylberechtigter in Österreich durchgehend rechtmäßig aufhältig ist, ergibt sich aus dem Akteninhalt.
Während die bP in der behördlichen Einvernahme noch angab, in der Türkei eine Landwirtschaft zu besitzen, welche von Familienangehörigen bewirtschaftet werde, erklärte sie in der Beschwerdeverhandlung zu Beginn, dass der Staat die Landwirtschaft 1998 zerstückelt habe und niemand die Landwirtschaft übernommen habe. Später in der Verhandlung gab die bP wiederum an, dass die Landwirtschaft noch existiere und diese von ihren beiden Brüdern verpachtet werde. Dass es den Familienangehörigen der bP in der Türkei finanziell gut geht und diese zur Mittelschicht zählen, brachte die bP im Verfahren gleichbleibend vor.
In der behördlichen Einvernahme gab die bP an, zwar nicht mit allen Familienangehörigen, jedoch jedenfalls mit ihren Brüdern in Kontakt zu stehen. In der mündlichen Verhandlung brachte sie vor, längere Zeit keinen Kontakt mehr mit ihren Familienangehörigen gehabt zu haben. Dass sie sich mit ihren Familienangehörigen zerstritten habe oder es sonst einen Grund gebe, warum eine Kontaktaufnahme zu ihren Familienangehörigen nicht möglich sei, brachte die bP nicht vor. Es war daher festzustellen, dass die bP zwar in Kontakt zu ihren Familienangehörigen in der Türkei steht, dieser jedoch nicht regelmäßig stattfindet.
Der Gesundheitszustand der bP wurde auf Basis ihrer eigenen, diesbezüglich glaubhaften Angaben festgestellt. Dass die bP aktuell an einer behandlungsbedürftigen Krankheit leide, wurde von dieser weder vorgebracht, noch wurden diesbezüglich medizinische Unterlagen in Vorlage gebracht. Zwar gab die bP in der behördlichen Einvernahme an, dass sie an Bluthochdruck leide, Medikamente nehme sie jedoch nicht ein, sondern sie besuche nur hin und wieder einen Arzt. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde die bP erneut befragt, ob sie sich derzeit wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Österreich in medizinischer Behandlung befinde, was diese verneinte. Die Arbeitsfähigkeit der bP ergibt sich aus den diesbezüglichen Angaben der bP sowie dem Umstand, dass sie in Österreich wiederholt einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist.
Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit der bP in Österreich und dem kurzen Bezug von Leistungen aus der österreichischen Grundversorgung basieren auf den von der bP in Vorlage gebrachten Unterlagen sowie dem vom Gericht eingeholten Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem, Einsichtnahme in das AJ-Web und den diesbezüglichen Angaben der bP in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Die Feststellungen zum Privatleben in Österreich, insbesondere auch zu ihrer ehemaligen Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn, ergeben sich aus ihren diesbezüglich widerspruchsfreien Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht sowie den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen und den im Akt befindlichen Schriftstücken. Darüber hinaus wurden sowohl die ehemalige Lebensgefährtin als auch der gemeinsame Sohn in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 24.06.2022 als Zeugen einvernommen.
2.2. Zur strafgerichtlichen Verurteilung der beschwerdeführenden Partei
Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Verurteilung der beschwerdeführenden Partei und dem Waffenverbot ergeben sich aus der im Akt befindlichen Urteilsausfertigung sowie dem eingeholten Strafregisterauszug.
Dass die bP hinsichtlich ihrer Verurteilung nicht die volle Verantwortung übernimmt, sondern diesbezüglich angibt, dass sie das Geld ohne Drohungen zurückverlangt habe und XXXX vor Gericht gelogen habe, ergibt sich aus ihren diesbezüglichen Angaben vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht. In der Beschwerdeverhandlung am 24.06.2022 wurde die bP befragt, ob sie sich zu ihrer Aussage in der behördlichen Einvernahme, wonach sich der Vorfall gänzlich anders zugetragen habe als dies vom Gericht festgestellt wurde und sie die Beteiligten nicht mit der Waffe bedroht hätte, äußern wolle und gab hierzu an: „Das habe ich auch nicht. Ich bekam Angst. Ich bekam keine Luft. Es gibt Fotos, die Polizisten sind meine Zeugen.“. Auch nach Vorhalt der Feststellungen im rechtkräftigen Urteil des LG XXXX vom XXXX .2021 war die bP nicht vollständig geständig, sondern erklärte: „Ich sage, dass diese Sache, was sie erzählt haben, nicht so passiert ist. Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte ich auch diese Verletzungen nicht erlitten.“.
Die Feststellung zum Cannabis-Konsum der bP ergibt sich aus dem im Akt befindlichen Abschluss-Bericht vom 23.12.2020 und gestand die bP auch sowohl in der behördlichen Einvernahme, als auch in der Beschwerdeverhandlung ein, in Österreich Cannabis konsumiert zu haben.
2.3. Zum der ehemaligen Lebensgefährtin der bP zuerkannten Status der Asylberechtigten:
Die Feststellungen zu den Verfahren der ehemaligen Lebensgefährtin der bP, insbesondere der Aberkennung des Asylstatus, ergeben sich aus dem Verwaltungsakt bzw. dem im Akt befindlichen Aberkennungsbescheid.
Die ehemalige Lebensgefährtin der bP stellte sich freiwillig unter den Schutz ihres Herkunftsstaates und gab gegenüber dem BFA ausdrücklich an, in die Türkei reisen zu wollen. Sie würde sich in der Türkei nicht als verfolgt erachten.
Aufgrund der dargelegten Umstände ergibt sich, dass eine aktuelle Gefahr einer Verfolgung aus asylrelevanten Motiven nicht gegeben ist und auch darüber hinaus keine Gefährdung der ehemaligen Lebensgefährtin der bP im Falle ihrer Rückkehr zu prognostizieren ist.
2.4. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates
2.4.1. Die Feststellungen zur Verurteilung der bP durch ein türkisches Gericht sowie die Verbüßung einer dreijährigen Haftstrafe in einem türkischen Gefängnis ergeben sich aus den insofern glaubhaften Angaben der bP in Verbindung mit den von ihr in Vorlage gebrachten Dokumenten samt Übersetzung.
Die bP brachte dabei während des gesamten Verfahrens nicht vor, dass die Verurteilung zu Unrecht erfolgt sei oder sie die ihr zur Last gelegten Straftaten nicht begangen habe. Ebenso wenig bestritt sie, Anhänger bzw. Sympathisant der PKK gewesen zu sein bzw. auch aktuell noch zu sein. Dass die bP im Zusammenhang mit der Verurteilung einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen gewesen sei oder einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen der ihr zur Last gelegten Straftat unterworfen worden sei, brachte die bP im Verfahren ebenfalls nicht vor. Auch hinsichtlich dem Strafvollzug brachte die bP keinerlei Probleme vor und gab diesbezüglich lediglich an, aufgrund einer Amnesie nach drei Jahren frühzeitig aus der Haft entlassen worden zu sein. Dass während des Strafvollzuges maßgebliche Rechtsgüter der bP in relevanter Weise verletzt worden seien, brachte die bP im Übrigen mit keinem Wort vor.
2.4.2. Dass gegen den bP in der Türkei Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation erhoben sowie ein Haftbefehl erlassen wurde, ergibt sich aus den insofern glaubhaften Angaben der bP in Verbindung mit den von ihr in Vorlage gebrachten Dokumenten samt Übersetzung. Die diesbezüglichen Schriftstücke weisen ein unbedenkliches und im Hinblick auf die äußere Form ähnliches, mit den Wahrnehmungen des Bundesverwaltungsgerichts über die äußere Form und den inhaltlichen Aufbau türkischer Gerichtsdokumente übereinstimmendes Erscheinungsbild auf.
Für das Bundesverwaltungsgericht war auf der Grundlage der vorliegenden Beweismittel feststellbar, dass gegen die bP wegen Propaganda für eine terroristische Organisation, konkret für die PKK, Anklage erhoben wurde, weil sie auf der sozialen Internetplattform Facebook mehrmals Fotos von PKK-Mitgliedern bzw. deren Anführern veröffentlichte und eines dieser Bilder auch als ihr Profilbild verwendete.
Auch diesbezüglich bestritt die bP im gesamten Verfahren nicht, die ihr zur Last gelegten Tathandlungen tatsächlich begangen zu haben oder brachte vor, dass ihr hierbei von türkischen Behörden etwas unterstellt werde oder das eingeleitete Strafverfahren gegen ihre Person unbegründet sei. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher davon aus, dass die bP auch tatsächlich die ihr in der Anklageschrift vorgeworfenen Propagandahandlungen für die PKK begangen hat.
Aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die bP aufgrund in ihrer Person gelegenen Gründen, etwa wegen ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit oder aufgrund von persönlichen politischen Ansichten, in Relation zu anderen Straftätern, die denselben Anklagepunkten unterlagen, unverhältnismäßig oder diskriminierend im Ermittlungs- bzw. Strafverfahren behandelt worden wäre oder behandelt werden wird.
Zwar konnten die vorgebrachten strafgerichtlichen Anklagen festgestellt werden, aus diesem Umstand ist jedoch kein asylrelevanter Sachverhalt zu gewinnen.
Aus den vorliegenden Gerichtsunterlagen sowie den Angaben der bP geht nicht hervor, dass im türkischen Strafverfahren gegen die bP die wesentlichen Verfahrensgrundsätze nicht eingehalten wurden bzw. bei einer Fortsetzung des Strafverfahrens nicht eingehalten werden würden. Derartige Bedenken wurden von der bP im Verfahren auch nicht vorgebracht. In Anbetracht der aus den (vorgelegten) Unterlagen ersichtlichen Verfahrensgänge gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Auffassung, dass das gegen die bP bisher durchgeführte Strafverfahren unter Beachtung der wesentlichen Verfahrensgrundsätze durchgeführt wurde. Die bP selbst brachte weder in der Beschwerde noch im sonstigen Verfahren substantiiert etwas Gegenteiliges vor, insbesondere erstattete sie kein Vorbringen welches am bisher durchgeführten Strafverfahren oder am weiteren Gang des Strafverfahrens Zweifel entstehen lassen würde.
Die bP wurde bis zum Entscheidungszeitpunkt auch nicht in Abwesenheit verurteilt. Dies entspricht auch dem Inhalt der vorgelegten Anklageschrift, in der lediglich der bP vorgeworfene Tatbestände aufgeführt sind. Auch den sonst vorliegenden Unterlagen kann eine bereits erfolgte Verurteilung der bP nicht entnommen werden. Wäre es inzwischen zu einer Verurteilung der bP gekommen, so würde die bP mit Sicherheit von ihren in der Türkei lebenden Familienangehörigen darüber informiert worden sein. Es ist daher davon auszugehen, dass das Strafverfahren nach wie vor unerledigt in erster Instanz anhängig ist, ein Haftbefehl ausgestellt wurde und von einer Festnahme der bP im Falle der Rückkehr in die Türkei auszugehen ist. In den vorgelegten Ermittlungs- und Gerichtsunterlagen finden sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die türkischen Behörden die Auslieferung der bP in die Türkei beantragt oder einen internationalen Haftbefehl gegen die bP erlassen hätten. Derartiges wurden von der bP im Verfahren auch nicht vorgebracht.
Der Ausgang des offenen Strafverfahrens ist nicht absehbar und eine verlässliche Prognose hinsichtlich einer allfälligen Verurteilung kaum möglich. Hinweise darauf, dass die bP in dem in der Türkei offenen Strafverfahren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit schuldig gesprochen und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wird (zur Bedeutung des Kriteriums der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit VwGH 13.09.2016, Ra 2016/01/0054 mwN), sind nicht erkennbar. Die nicht feststellbare Erlassung eines internationalen Haftbefehls bzw. das unterbliebene Auslieferungsansuchen sind klare Indizien dafür, dass kein dringender Tatverdacht vorliegt. Angesichts der erhobenen Anklage und der unstrittigen Einstufung der PKK als terroristische Organisation wäre damit zu rechnen, dass eine rasche Verfahrensführung erfolgt, um die Schuld der bP rasch zu klären. Würde die Beweislage zur Annahme führen, dass die bP tatsächlich Propaganda für die PKK betrieben hat – die PKK wird im Übrigen nicht nur von der Türkei, sondern auch von den EU-Mitgliedstaaten als Terrororganisation eingestuften -, besteht kein nachvollziehbarer Grund, weshalb nicht die Auslieferung der bP betrieben wird. Die Türkei würde sich in einem solchen Auslieferungsverfahren keinem Vorwurf aussetzen, zumal die PKK einhellig als terroristische Organisation angesehen wird.
Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, gegen allenfalls ergehende Schuldsprüche Rechtsmittel einzulegen und so eine Überprüfung des Strafverfahrens im türkischen Instanzenzug herbeizuführen.
Aus den länderkundlichen Feststellungen zum Justizsystem in der Türkei ergibt sich zwar, dass es seit den Vorfällen rund um den versuchten Militärputsch im Juli 2016 und nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 zu Verschlechterungen der Unabhängigkeit der Justiz sowie zu Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten kam und seither vermehrt kurdischen Oppositionspolitiker, kritische Journalisten und (vermeintliche) Anhänger des Predigers Fethullah Gülen aufgrund oftmals vage gehaltener Vorwürfe strafrechtlich verfolgt werden. Die bP hielt sich zur Zeit des versuchten Militärputschs in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 nicht in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch ist demnach nicht anzunehmen. Die bP gehört auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachte sie weder vor der belangten Behörde, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung, geschweige denn eine Mitgliedschaft ebendort, zum Ausdruck. Die bP gehört somit keiner der genannten Risikogruppen an, ist lediglich Anhänger bzw. Sympathisant der PKK und liegt der Anklage deshalb auch keine Verbindung zur Gülen-Bewegung oder am versuchten Militärputsch beteiligten Sicherheitskräften zugrunde.
2.4.3. Sollte es zu einer Verurteilung der bP und in weiterer Folge zu einer Inhaftierung der bP kommen, so würde die Rückkehr der bP in die Türkei dennoch keine Verletzung von Art 3 EMRK darstellen. Diesbezüglich wird – insbesondere im Hinblick auf den Zustand des türkischen Justizsystems bzw. des türkischen Strafvollzuges – auf die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen verwiesen. Dass es immer wieder Fälle von Folter in türkischen Haftanstalten gab bzw. gibt und zweifelhafte Todesfälle auch in Medienartikeln erwähnt werden, begründet ohne anderweitige greifbare Anhaltspunkte im Hinblick auf die Person der bP noch nicht die reale Gefahr, ein solches Schicksal teilen zu müssen. Es wird im Übrigen nicht in Abrede gestellt, dass derartige Menschenrechtsverletzungen durch die türkischen Sicherheitskräfte begangen werden und sich die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen als verbesserungswürdig erweisen, hinsichtlich systematisch erfolgender Verletzungen der Rechte nach Art 2 und 3 EMRK liegen jedoch keine substantiierten Hinweise vor und liegen im Falle der bP zudem keine ernsthaften Vulnerabilitätsaspekte vor, vor deren Hintergrund ein Kontakt mit den Sicherheitskräften oder eine Inhaftierung ein möglicherweise erhöhtes Risiko einer menschenunwürdigen Behandlung mit sich brächte (vgl. die nachfolgenden Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung).
Dem Bundesverwaltungsgericht liegen ausführliche und aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat vor, in welchen auch auf die Situation der Haftbedingungen in der Türkei eingegangen wird (vgl. Länderinformation der Staatendokumentation zur Türkei, Datum der Veröffentlichung: 10.03.22, Version 5). Aus den Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat der bP ergibt sich, dass hinsichtlich systematisch erfolgender Verletzungen der Rechte nach Art 2 und 3 EMRK keine substantiierten Hinweise vorliegen und im Falle der bP zudem keine ernsthaften Vulnerabilitätsaspekte vorliegen, vor deren Hintergrund ein Kontakt mit den Sicherheitskräften oder eine Inhaftierung ein möglicherweise erhöhtes Risiko einer menschenunwürdigen Behandlung mit sich brächte. Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Wenngleich es teilweise zu Überbelegung kommt und auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene Probleme bestehen, so können in türkischen Haftanstalten grundsätzlich Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Hinsichtlich der Überbelegung ist auch darauf hinzuweisen, dass es nach den Länderinformationen aufgrund der Covid-19-Pandemie zu einer Novellierung des Strafvollzugsgesetzes gekommen sei, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah und über 65.000 Personen mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung profitierten. In jüngster Zeit gibt es auch nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Hinsichtlich der Situation der kurdischen Häftlinge in der Türkei ist den zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen zu entnehmen, dass diese teilweise von der Gefängnisverwaltung diskriminiert werden würden; so sei der Briefverkehr kurdisch verfasster Briefe unterbunden worden oder die Verwendung von Büchern verboten worden, wenn diese kurdische Texte beinhaltet hätten. Diese Diskriminierungen erreichen jedoch nicht ein Maß, dass es dadurch zu einer Verletzung der Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK kommt.
2.4.4. Die beschwerdeführende Partei verbrachte einen Großteil ihres Lebens in der Türkei und führte ihre Ausreise im Wesentlichen auf eine bereits verbüßte Haftstrafe zurück. Dass ihr zuvor auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit ein weiterer Verbleib im Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei oder im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht zumutbar sei, wurde von ihr nicht vorgebracht. Ebenso wenig brachte die bP vor, nach ihrer Rückkehr in die Türkei und bis zur erneuten Ausreise im Jahr 2010 Probleme aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit gehabt zu haben. Die zum Teil prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht in Abrede gestellt, im gegenständlichen Fall ist jedoch weder eine derart exponierte Stellung ihrer Person in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass sie aktuell von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wäre. Es ist zwar davon auszugehen, dass die bP auch die grundlegenden politischen Forderungen der PKK (Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen) möglicherweise inhaltlich teilt, in ihrem Vorbringen finden sich jedoch keine Hinweise, dass sie die terroristischen Aktivitäten der PKK nicht ablehnen würde und engagierte sie sich auch nicht aktiv bei Kämpfen der PKK. Insbesondere verneinte die bP sowohl in der behördlichen Einvernahme als auch in der Beschwerdeverhandlung, jemals für die PKK gekämpft zu haben. Eine individuelle Bedrohung der bP vor ihrer Ausreise oder im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit kann das Bundesverwaltungsgericht somit auf Grund dieser Ausführungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen.
2.4.5. Sofern die bP im Verfahren vorbrachte, nach wie vor politisch aktiv zu sein und an Protestdemonstrationen teilzunehmen bzw. diese teilweise auch zu organisieren, wird dem Vorbringen kein Glauben geschenkt. In der behördlichen Einvernahme welche im Juni 2021 stattfand, gab die bP noch auf konkrete Befragung hin an, sich in Österreich bisher nicht politisch engagiert zu haben. In der mündlichen Verhandlung am 24.06.2022, ein Jahr später, brachte die bP hingegen vor, „oft“ an Protestdemonstrationen teilzunehmen und diese auch teilweise zu organisieren. Dabei handelt es sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts um ein konstruiertes Vorbringen, welches nicht den Tatsachen entspricht und eine Steigerung des Vorbringens darstellt. Aufgefordert zu beschreiben, wie diese Demonstrationen ablaufen und was die bP dort mache, konnte die bP keine einzige Demonstration benennen an der sie bereits teilgenommen habe, geschweige denn schildern, wie diese abgelaufen seien oder was sie dort gemacht habe. Die bP gab lediglich an, dass am Tag nach der Verhandlung eine Demonstration in Düsseldorf stattfinden werde, an der 100.000 Menschen teilnehmen würden und bei welcher gegen den Einsatz chemischer Waffen der Türkei im Irak demonstriert werde. Diesbezüglich gab die bP jedoch nur an, daran teilnehmen zu werden, wenn sie Zeit habe. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um eine bloße Behauptung, müsste die bP doch einen Tag vor der Demonstration im Ausland bereits mit Sicherheit wissen, ob sie Zeit hat daran teilnehmen zu können. Beweismittel für eine Teilnahme an besagter Demonstration brachte die bP nach der mündlichen Verhandlung nicht mehr in Vorlage. Befragt, ob sie derartige Demonstrationen wie bspw. in Düsseldorf organisiere, gab die bP zuerst an, dies zu tun, verneinte in weiterer Folge jedoch die Frage, ob sie die Demonstration in Düsseldorf organisiere. Nach Vorhalt des Widerspruchs gab die bP schließlich an, derartige Demonstrationen wie in Deutschland nicht zu organisieren, jedoch kleinere Demonstrationen in Österreich zu organisieren. Die anschließende Frage, ob sie diesbezüglich Beweise vorlegen könne, verneinte die bP, was insofern verwundert, als die bP als angeblicher Organisator von mehreren Demonstrationen doch mit Sicherheit über derartige Beweismittel wie bspw. Fotos, Ausschreibungen der Demonstration oder Anmeldungen. Aufgrund der vagen und teils widersprüchlichen Angaben der bP sowie dem Umstand, dass sie keinerlei Beweismittel diesbezüglich in Vorlage bringen konnte, geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die bP sich aktuell in Österreich nicht politisch engagiert und an keinen Demonstrationen teilgenommen, geschweige denn diese organisiert hat.
2.4.6. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Die getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die Länderfeststellungen basieren auf vielgestaltigen Quellen, denen keine Voreingenommenheit unterstellt werden kann. Das BVwG hat diesbezüglich das Parteiengehör gewahrt. Die bP ist diesen Quellen nicht entgegengetreten.
Die Feststellungen zur Lage in der Türkei in Bezug auf den Coronavirus COVID-19 werden aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Quellen als notorisch bekannt angesehen.
3. Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
Zu Spruchpunkt I.
3.1. Aberkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs 1 Z 2 AsylG und Feststellung, dass der bP die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides)
3.1.1. § 75 Abs 5 AsylG: Einem Fremden, dem am oder nach dem 31. Dezember 2005 die Flüchtlingseigenschaft nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 oder früheren asylrechtlichen Vorschriften zugekommen ist oder zuerkannt wurde, gilt, soweit es zu keiner Aberkennung oder keinem Verlust der Flüchtlingseigenschaft gekommen ist, der Status des Asylberechtigten als zuerkannt.
Gemäß § 7 Abs 1 AsylG ist einem Fremden der Status des Asylberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn (1.) ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt, (2.) einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder (3.) der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat. Gemäß Abs. 3 leg.cit. kann das Bundesamt einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.
Artikel 1 Abschnitt C GFK lautet: Dieses Abkommen wird auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn sie
1. sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat; oder
2. die verlorene Staatsangehörigkeit freiwillig wieder erworben hat; oder
3. eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz ihres neuen Heimatlandes genießt; oder
4. sich freiwillig in dem Staat, den sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen oder nicht betreten hat, niedergelassen hat; oder
5. wenn die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und sie es daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen.
Die Bestimmungen der Ziffer 5 sind nicht auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels genannten Flüchtlinge anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr Heimatland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen;
6. staatenlos ist und die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, sie daher in der Lage ist, in ihr früheres Aufenthaltsland zurückzukehren.
Die Bestimmungen der Ziffer 6 sind jedoch auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels genannten Personen nicht anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr früheres Aufenthaltsland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen.
Nach dieser Bestimmung fällt eine Person nicht mehr unter dieses Abkommen, wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Diese Bestimmung verleiht dem Grundsatz Ausdruck, dass die Gewährung von internationalem Schutz lediglich der vorübergehenden Schutzgewährung, nicht aber der Begründung eines Aufenthaltstitels dienen soll. Bestehen nämlich die Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr und kann sie es daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, so stellt auch dies einen Grund dar, den gewährten Status wieder abzuerkennen (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K8.).
Laut der Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK betreffenden höchstgerichtlichen Judikatur setzt selbige Bestimmung in diesem Zusammenhang eine wesentliche nachhaltige Änderung der (für die Verfolgungsgefahr maßgeblichen) Umstände im Heimatstaat des Flüchtlings, einen Wegfall der Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK und der Notwendigkeit der Schutzgewährung voraus. In diesem Kontext erweist sich der reine Wegfall des subjektiven Furchtempfindens als nicht ausschlaggebend; Umstände im Sinne dieser Regelung müssen sich auf grundlegende, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK angeführte Fluchtgründe betreffende Veränderungen im Heimatstaat des Flüchtlings beziehen, aufgrund derer angenommen werden kann, dass der Anlass für die begründete Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht.
Die Änderungen im Herkunftsstaat müssen zudem nachhaltig und nicht bloß von vorübergehender Natur sein (vgl. VwGH 22.04.1999, 98/20/0567. VwGH 25.03.1999 98/20/0475). Nach Einhaltung eines längeren Beobachtungszeitraums wird auch der bloße „Haltungswandel“ des bisherigen Verfolgers, ohne dass ein politischer Machtwechsel stattgefunden hat, eine asylrechtlich maßgebliche Änderung der Umstände ergeben und in Folge Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK zum Tragen kommen (vgl. VwGH 21.11.2002, 99/20/0171).
Der Wegfall der Verfolgungsgefahr ist maßgeblich für die Anwendung des Artikel 1 Abschnitt C Z 5 GFK. Ob die allgemeine wirtschaftliche Lage im Heimatland schlecht ist oder familiäre respektive emotionelle Bindungen zum Aufnahmestaat bestehen, ist für den Eintritt der in Rede stehenden Bestimmung grundsätzlich irrelevant.
3.1.2. Gegenständlich ist zunächst festzuhalten, dass der bP der Status des Asylberechtigten nicht aufgrund einer individuellen Gefährdung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern im Wege der nationalen Regelungen des AsylG 2005 über die Asylerstreckung – abgeleitet vom Status seiner damaligen Lebensgefährtin – zuerkannt wurde.
Der Verwaltungsgerichtshof führte im Hinblick auf solche Konstellationen in seiner Entscheidung vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059, näher aus, dass die in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK vorgesehene „Wegfall der Umstände“-Klausel im Unterschied zu allen anderen Aberkennungstatbeständen des § 7 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gesondert für einen Familienangehörigen, der seinen Asylstatus von einer Bezugsperson abgeleitet hat, geprüft werden kann. Es ist nämlich bei einer Person, welcher die Flüchtlingseigenschaft unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zukommt, der Wegfall solcher Umstände von vornherein nicht denkbar.
Die Beendigungsklauseln des Art. 1 Abschnitt C GFK beruhen auf der Überlegung, dass internationaler Schutz nicht mehr gewährt werden sollte, wo er nicht mehr erforderlich oder nicht mehr gerechtfertigt ist. Bei der „Wegfall der Umstände“-Klausel ist dies dann der Fall, wenn die Gründe, die dazu führten, dass eine Person ein Flüchtling wurde, nicht mehr bestehen. Zweck der Regelungen über das Familienverfahren nach dem AsylG 2005 ist es, Familienangehörigen die Fortsetzung des Familienlebens mit einer Bezugsperson in Österreich zu ermöglichen. Bestehen jene Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr, und kann es die Bezugsperson daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatstaates zu stellen, besteht weder nach dem Zweck des internationalen Flüchtlingsschutzes noch nach jenem des Familienverfahrens nach dem AsylG 2005 eine Rechtfertigung dafür, den Asylstatus des Familienangehörigen, der diesen Status von der Bezugsperson nur abgeleitet hat, aufrecht zu erhalten.
Für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände kommt es also darauf an, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Diese Frage hat die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen. Gelangt die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) in so einem Fall zu der Beurteilung, dass die genannten Umstände nicht mehr vorliegen, ist der Asylstatus eines Familienangehörigen, dem dieser Status im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannt worden ist, abzuerkennen, sofern im Entscheidungszeitpunkt hinsichtlich des Familienangehörigen nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (drohende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK) vorliegen (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059, vgl. in diesem Sinn auch EuGH 02.03.2010, C-175/08 u. a., Aydin Salahadin Abdulla u. a., Rn. 81 ff).
Die Beendigungsklauseln des Art. 1 Abschnitt C GFK beruhen auf der Überlegung, dass internationaler Schutz nicht mehr gewährt werden sollte, wo er nicht mehr erforderlich oder nicht mehr gerechtfertigt ist. Bei der "Wegfall der Umstände"-Klausel ist dies dann der Fall, wenn die Gründe, die dazu führten, dass eine Person ein Flüchtling wurde, nicht mehr bestehen (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 1979, Rn. 111, 115). Zweck der Regelungen über das Familienverfahren nach dem AsylG 2005 ist es, Familienangehörigen die Fortsetzung des Familienlebens mit einer Bezugsperson in Österreich zu ermöglichen (vgl. RV 952 BlgNR XXII. GP 15). Bestehen jene Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr, und kann es die Bezugsperson daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatstaates zu stellen, besteht weder nach dem Zweck des internationalen Flüchtlingsschutzes noch nach jenem des Familienverfahrens nach dem AsylG 2005 eine Rechtfertigung dafür, den Asylstatus des Familienangehörigen, der diesen Status von der Bezugsperson nur abgeleitet hat, aufrecht zu erhalten (vgl. hiezu auch Nedwed, aaO 231 f).
„Für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände kommt es also darauf an, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Diese Frage hat die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen. Gelangt die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) in so einem Fall zu der Beurteilung, dass die in Rn. 29 genannten Umstände nicht mehr vorliegen, ist der Asylstatus eines Familienangehörigen, dem dieser Status im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannt worden ist, abzuerkennen, sofern im Entscheidungszeitpunkt hinsichtlich des Familienangehörigen nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (drohende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK) vorliegen (vgl. in diesem Sinn auch EuGH 2.3.2010, C-175/08 u.a., Aydin Salahadin Abdulla u.a., Rn. 81 ff)“ (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059, Rn 26-30).
„Demnach hat in jenem Fall, in dem der einem Fremden zuvor im Familienverfahren zuerkannte Status des Asylberechtigten nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK aberkannt wird, sowohl eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der (als Vorfrage zu beantwortenden) Frage zu erfolgen, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson - im vorliegenden Fall die Mutter des Revisionswerbers - als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, als auch die Prüfung der Frage, ob hinsichtlich des Fremden - hier also des Revisionswerbers - die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen. Zwar hat das BVwG in diesem Sinn geprüft, ob Gründe vorlägen, wonach der Revisionswerber im Fall der Rückkehr in sein Heimatland selbst einer asylrechtlich relevanten Verfolgung unterliegen könnte. In Verkennung der oben dargestellten Rechtslage hat das BVwG aber keine Ermittlungen vorgenommen und auch keine Feststellungen getroffen, die die Beurteilung erlaubt hätten, ob hinsichtlich der Bezugsperson, von der der Revisionswerber den Status als Asylberechtigter im Familienverfahren abgeleitet zuerkannt erhalten hatte, jene Umstände, die zu ihrer Anerkennung als Flüchtling geführt haben, nicht mehr bestünden und es diese daher nicht weiterhin ablehnen könne, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen“ (VwGH 22.04.2020, Ra 2019/14/0501, Rn 14, 15).
„Auch der Umstand, dass die Bezugsperson - im vorliegenden Fall der Vater des Revisionswerbers - mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt hat, steht einer Aberkennung von Asyl hinsichtlich des Familienangehörigen nicht entgegen. Dass dem Vater des Revisionswerbers wegen des Wechsels der Staatsangehörigkeit der Asylstatus nicht mehr abzuerkennen wäre, liegt daran, dass in seinem Fall die zeitlichen Einschränkungen der Asylaberkennung gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem Grunde des § 7 Abs. 3 erster Satz AsylG 2005 greifen könnten (vgl. zum Asylausschluss wegen Erwerbes einer neuen Staatsangehörigkeit aber grundsätzlich Art. 1 Abschnitt C Z 3 GFK). Für die Asylaberkennung in Bezug auf den Revisionswerber kommt es auf die mögliche Entscheidung in einem Aberkennungsverfahren der Bezugsperson aber nur insoweit an, als selbstständig zu klären ist, ob die fluchtauslösenden Umstände im Verfahren der Bezugsperson, von der Asyl abgeleitet wurde, noch vorliegen. Im Übrigen ist das Schicksal des Aberkennungsverfahrens des Revisionswerbers von seinem Vater losgelöst. Dafür spricht insbesondere auch, dass die Ausnahme vom Grundsatz nach § 7 Abs. 3 AsylG 2005, nämlich die Straffälligkeit des Asylberechtigten, für jedes Familienmitglied gesondert zu beurteilen ist. Voraussetzung einer solchen Aberkennung ist allerdings, dass sowohl eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der (als Vorfrage zu beantwortenden) Frage erfolgt, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, als auch eine Prüfung der Frage, ob hinsichtlich des Fremden - hier also des Revisionswerbers - die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen (vgl. VwGH 22.4.2020, Ra 2019/14/0501, Rn. 14).“ (vgl. VwGH 07.01.2021, Ra 2020/18/0491).
3.1.3. Wie festgestellt und beweiswürdigend erläutert, bestehen die Umstände, auf Grund derer der damaligen Lebensgefährtin der bP, von welcher diese ihren Status abgeleitet hat, als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr. Diese kann es daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Die damalige Lebensgefährtin der bP gab gegenüber dem BFA ausdrücklich an, in die Türkei reisen zu wollen und bei einer Rückkehr in keine Befürchtungen zu haben.
Es kann daher nicht angenommen werden, dass der damaligen Lebensgefährtin der bP unter diesen Umständen tatsächlich in der Türkei noch Gefahr droht. Dieser wurde der Status der Asylberechtigten auch bereits 2017 rechtskräftig aberkannt. Dies schlägt im Sinne der zitierten Rechtsprechung auch auf die beschwerdeführende Partei durch.
3.1.4. Eigene Fluchtgründe oder asylrelevante Rückkehrbefürchtungen, die zur Zuerkennung (bzw. Beibehaltung) des Status des Asylberechtigten geführt hätten, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Art 1 Abschnitt A Z 2 der GFK angeführten Grund, sind - wie sich aus den Erwägungen ergibt - nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben.
Im Falle der Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat ist eine Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung ("prosecution") einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ("persecution") andererseits geboten.
Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie zufolge kann unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs stellt die staatliche Strafverfolgung in der Regel keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn dar. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt (vgl. VwGH vom 06. Juli 2011, 2008/19/0994, mwN). Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (VwGH 20.12.2016, Ra 2016/01/0126; 27.05.2015, Ra 2014/18/0133).
Fallbezogen ist diesbezüglich von Relevanz, ob das Verhalten des türkischen Staates, etwa Sachverhalte, wie die Unterstützung der Terrororganisation PKK – einer nicht nur in der Türkei, sondern auch von den EU-Mitgliedstaaten als Terrororganisation eingestufte bewaffnete Organisation – durch deren Unterstützung, unter Strafe zu stellen, per se eine ungerechtfertigte Verfolgung darstellt, was zweifelsfrei zu verneinen sein wird, zumal sich ähnliche Bestimmungen auch im österreichischen Strafrecht befinden.
Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Vor diesem Hintergrund wird davon auszugehen sein, dass zwischen einer Vielzahl von Staaten und von Staaten gegründeten Organisationen, in denen demokratisch-rechtsstaatliche Grundsätze sowohl im nationalen Recht Anwendung finden und die sich auch durch internationales Vertragswerk zur Einhaltung dieser Grundsätze bekennen, ein Konsens (sog. "Common Sense") besteht, dass es sich bei der PKK um eine terroristische bzw. kriminelle Organisation handelt, deren Mitgliedschaft bzw. Unterstützung ein bestrafungswürdiges Verhalten darstellt. Ebenso sprechen die seitens der PKK verübten Anschläge eine klare Sprache und bedarf es vor deren Hintergrund wohl keiner weitschweifenden Ausführungen, wonach hier das kriminelle Motiv vor dem politischen bei weitem überwiegt.
Seitens des Bundesverwaltungsgerichts besteht daher kein Anlass zur Annahme, die nach dem türkischen Recht pönalisierte Mitgliedschaft bzw. Unterstützung krimineller Organisationen, namentlich der PKK, stelle "persecution" dar.
Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafdrohung wird – soweit im gegenständlichen Fall ersichtlich – im Rahmen des hier anzustellenden Vergleichs mit der im Bundesgebiet geltenden Rechtslage (exemplarisch: § 278a StGB "Kriminelle Organisation": Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren; § 278b StGB "Terroristische Vereinigung": Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren; § 299 StGB „Begünstigung“: Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren) in einer Zusammenschau mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des türkischen Staates, sowie eines besonderen generalpräventiven Bedürfnisses im Hinblick auf das Bestreben, Straftaten mit terroristischen Hintergrund zu verhindern, nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts davon auszugehen sein, dass die seitens des türkischen Staates festgesetzten Strafdrohungen nicht unverhältnismäßig sind.
Vor dem Hintergrund des Unrechtsgehalts der von der bP begangenen Straftat wird auch im Rahmen des existierenden Strafrahmens und des oben angeführten Präventivbedürfnisses nicht von einer unverhältnismäßig hohen verhängten Strafe auszugehen sein.
Bezüglich der Frage, ob im gegenständlichen Fall von einem fairen Verfahren gesprochen werden kann, wird als Richtschnur wohl Artikel 5 EMRK ("Recht auf Freiheit und Sicherheit") und Artikel 6 EMRK ("Recht auf ein faires Verfahren") heranzuziehen sein. Es geht aus der Aktenlage nicht hervor, dass die in Art. 5 und 6 EMRK genannten Rechte seitens der türkischen Gerichte der bP in dermaßen augenfälliger Weise nicht gewährt werden würden, dass von keinem fairen Verfahren mehr gesprochen werden kann. Dem Strafverfahren liegt eine Anklage der zuständigen türkischen staatsanwaltschaftlichen Behörde zugrunde, sodass auch der Grundsatz des Anklageprozesses gewahrt ist. Verstöße gegen die Geschäftsverteilung wurden im Verfahren nicht behauptet. Die Unabhängigkeit der türkischen Gerichte wird zwar in Berichten kritisiert, allerdings betreffen diese Berichte im Wesentlichen die Vorfälle nach dem versuchten Militärputsch im Jahr 2016 und den daran anschließenden Entlassungen tatsächlicher oder vermeintlicher Anhänger des Fethullah Gülen aus dem Beamtenapparat.
Eine mit unverhältnismäßigen Mittel geführte oder diskriminierende Strafverfolgung kann das Bundesverwaltungsgericht vor diesem Hintergrund nicht erkennen. In jedem Fall kann von einem Schauprozess, der nur einer willkürlichen Bestrafung der bP dienen sollte, aufgrund der vorgenannten Umstände keine Rede sein.
Angesichts dessen ist zu Recht davon auszugehen, dass das gegen die bP geführte türkische Strafverfahren einen Akt legitimer staatlicher Strafverfolgung und keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn darstellt.
Die Umstände, die zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die bP geführt haben, sind daher nachweislich und dauerhaft weggefallen und liegen bei der bP daher nicht mehr vor.
3.1.5. § 7 Abs. 3 AsylG 2005 sieht vor, dass einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3 AsylG 2005) der Status des Asylberechtigten nicht abzuerkennen ist, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach der Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat.
Gemäß § 2 Abs. 3 AsylG 2005 ist ein Fremder iSd Bundesgesetzes straffällig geworden, wenn er wegen einer vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren Handlung, die in die Zuständigkeit eines Landesgerichtes fällt (1.), oder mehr als einmal wegen einer sonstigen vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren Handlung, die von Amts wegen zu verfolgen ist rechtskräftig verurteilt worden ist. Gemäß § 2 Abs. 4 AsylG 2005 liegt eine nach diesem Bundesgesetz maßgebliche strafgerichtliche Verurteilung auch vor, wenn sie wegen einer Jugendstrafe erfolgt ist.
Die beschwerdeführende Partei wurde aufgrund der festgestellten strafgerichtlichen Verurteilungen im Bundesgebiet iSd § 2 Abs. 3 und 4 AsylG straffällig, da sie am XXXX .2021 vom Landesgericht XXXX wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 1 WaffG verurteilt wurde. Eine Aberkennung gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG ist damit gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 gegenständlich trotz des Ablaufes von fünf Jahren ab der Zuerkennung noch zulässig.
3.1.6. Da die Tatbestandsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK somit erfüllt sind, hat das BFA der bP zu Recht den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs 1 Z 2 AsylG aberkannt.
3.2. Da sich die Aberkennung des Status des Asylberechtigten insgesamt als rechtmäßig erweist, hat die belangte Behörde auch gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 zu Recht festgestellt, dass der bP die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des bekämpften Bescheids war daher als unbegründet abzuweisen.
3.3. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides)
3.3.1.§ 8 AsylG
(1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK [Recht auf Leben], Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.
(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.
(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.
Art. 2 EMRK lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“
Während entsprechend des 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Art. 3 EMRK lautet:„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.
Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Rückkehrentscheidung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle seiner Rückkehrentscheidung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat der bP zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.
Der EGMR erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 MRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Riskio iSd Art. 3 MRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).
Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).
Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).
Aus jüngster Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB. 06.11.2018, Ra 2018/01/0106 mwN) ergeben sich für die Auslegung von § 8 AsylG folgende Leitlinien:
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH hat ein Drittstaatsangehöriger "nur dann Anspruch auf subsidiären Schutz ..., wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine der drei in Art 15 der Richtlinie definierten Arten eines ernsthaften Schadens zu erleiden" (vgl. zuletzt EuGH 24.4.2018, C-353/16, MP, Rn. 28, mwN).
Artikel 15 der RICHTLINIE 2011/95/EU lautet:
VORAUSSETZUNGEN FÜR SUBSIDIÄREN SCHUTZ
Ernsthafter Schaden
Als ernsthafter Schaden gilt
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Der EuGH hat im Urteil vom 18.12.2014, C-542/13, M´Bodj, klargestellt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art 3 MRK nicht abgeschoben werden kann, nicht bedeutet, dass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Subsidiärer Schutz (nach Art 15 lit a und b der Statusrichtlinie) verlangt nach dieser Auslegung durch den EuGH dagegen, dass der ernsthafte Schaden „durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht“ werden muss und dieser „nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland“ ist.
Zur letztgenannten Voraussetzung (lit. c) des Art 15 der Statusrichtlinie (bewaffneter Konflikt) hat der EuGH bereits festgehalten, dass das "Vorliegen einer solchen Bedrohung ... ausnahmsweise als gegeben angesehen werden" kann, "wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region ‚allein durch ihre Anwesenheit‘ im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein" (vgl. EuGH 17.2.2009, C-465/07, Elgafaji, Rn. 35). Auch wenn der EuGH in dieser Rechtsprechung davon spricht, dass es sich hiebei um "eine Schadensgefahr allgemeinerer Art" handelt (Rn. 33), so betont er den "Ausnahmecharakter einer solchen Situation" (Rn. 38), "die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre" (Rn. 37). Diesen Ausnahmecharakter betonte der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung, Urteil vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakite, Rn. 30.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 18.12.2014, M'Bodj, C- 542/13) widerspricht es der Statusrichtlinie und ist es unionsrechtlich unzulässig, den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck dieses internationalen Schutzes aufweisen, etwa aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, die insbesondere auf Art 3 MRK gestützt sind.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zum Ganzen zuletzt VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153; 26.6.2019, Ra 2019/20/0050, jeweils mwN).
Überdies hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN; sowie EGMR 13.12.2016, 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff; EGMR 1.10.2019, 57467/15, Savran gegen Dänemark, Rz 44 ff ).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt und unter Bezugnahme auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgesprochen, dass es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.2.2016, Ra 2015/01/0134, mit Verweis auf EGMR 5.9.2013, 61204/09, I gegen Schweden; siehe dazu auch VwGH 18.3.2016, Ra 2015/01/0255; 19.6.2017, Ra 2017/19/0095; 5.12.2017, Ra 2017/01/0236;).
3.3.2. Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Im gegenständlichen Fall ist es der bP nicht gelungen ihre vorgebrachte individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr im dargestellten Ausmaß glaubhaft zu machen, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte. Die bP hat im Verfahren keine relevanten Erkrankungen dargelegt, weshalb sich daraus kein Rückkehrhindernis ergibt.
Dass die bP im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.
Insoweit die bP aufgrund des anhängigen Strafverfahrens in der Türkei rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt werden sollte, ist zur Vollständigkeit im Kontext der Feststellungen zu den Haftbedingungen festzuhalten, dass nicht davon auszugehen ist, dass in der Türkei solch inadäquate Haftbedingungen vorlägen, die die Behandlung eines jeden türkischen Strafgefangenen oder auch jedes wegen Straftaten gegen die verfassungsmäßige Ordnung und ihr Funktionieren (Art. 309 - 315 tStGB) Inhaftierten als Art. 3 EMRK widerstreitend erscheinen ließe. Derartiges wurde im Verfahren auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Die bP ist daher ihrer Obliegenheit, die Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darzustellen, nicht nachgekommen. Die bP ist im Übrigen im Wesentlichen gesund, so dass keine Notwendigkeit einer besonderen medizinischen Versorgung besteht und diesbezügliche Defizite daher nicht von Relevanz sind. Den Feststellungen zufolge wurde die materielle Ausstattung der Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich auch eingehalten werden. Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Problematisch ist die Überbelegung, diesbezüglich ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es nach den Länderinformationen aufgrund der Covid-19-Pandemie zu einer Novellierung des Strafvollzugsgesetzes gekommen sei, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah und über 65.000 Personen mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung profitierten. In jüngster Zeit gibt es auch nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen vor. In Anbetracht der festgestellten Zahl von Insassen kann jedoch letztlich nicht davon ausgegangen werden, dass Folter und Misshandlung in den türkischen Haftanstalten eine dermaßen verbreitete Praxis wäre, dass die reale Gefahr bestünde, als nicht wegen einer Beteiligung am versuchten Militärputsch exponierter Insasse jedenfalls derartigen Praktiken unterzogen zu werden. Es wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass die Beschwerden in ihrer Zahl über bloße Einzelfälle hinausgehen, allerdings wird damit noch keine solche Intensität an Übergriffen aufgezeigt, dass von der realen Gefahr auszugehen wäre, dass die bP von Folter und Misshandlung persönlich betroffen wäre. Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen die Überbelegung der Gefängnisse eingeleitet (vorzeitige Entlassungen, Ausbau) und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal zweifelsfrei absehbar, in welchem Gefängnistyp er die verhängte Strafe verbüßen würde. Auch wenn die Haftbedingungen in der Türkei nicht als mit europäischen Standards vergleichbar angesehen werden, so ist dennoch nicht davon auszugehen, dass die bP im Falle der Rückkehr alleine wegen der Haftbedingungen keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre. Derartige Befürchtungen wurden von der bP auch nicht (substantiiert) vorgebracht, wären jedoch wie aufgezeigt ohnedies nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen.
Ausgehend davon und in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, dass der bP die reale Gefahr einer Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte aufgrund der Haftbedingungen in der Türkei droht.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die bP somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass der bP im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), hat doch die bP selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihr im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.
Bei der bP handelt es sich um einen gesunden, arbeitswilligen und erwerbsfähigen Mann der in der Stadt XXXX aufgewachsen ist, dort sozialisiert wurde und dort auch über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt. Die bP besuchte in der Türkei die Schule und arbeitete ab ihrem 10. Lebensjahr auf der familieneigenen Landwirtschaft. Die bP war bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern.
Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr der bP in die Türkei unzulässig machen könnten.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die wirtschaftliche Situation ob der COVID-19-Pandemie angespannt ist, allerdings nicht so weit als dass dadurch die Existenz der bP mittelfristig gefährdet wäre. Von der beschwerdeführenden Partei selbst sind dahingehend keine Bedenken bezüglich der Rückkehrsituation dargelegt worden. Die Türkei unternimmt (wie nahezu alle anderen Staaten weltweit und damit beispielsweise auch Österreich) entsprechende Maßnahmen zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage einerseits und zur Absicherung der eigenen Staatsangehörigen in ihren Grundbedürfnissen andererseits. Die bP verfügt darüber hinaus über familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Zwei Brüder, ein volljähriger Sohn und eine volljährige Tochter der bP sowie mehrere Onkel und Tanten, Nichten und Neffen leben nach wie vor in der Türkei. Im Verfahren sind keine Gründe hervorgekommen, weshalb die bP bei ihrer Familie keine Aufnahme mehr finden sollte. Abschließend ist festzuhalten, dass in der Türkei eine entsprechende soziale Unterstützung, zB. Arbeitslosenunterstützung besteht.
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.
Es wäre der bP zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. Verwandte, sonstige sie schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen – erforderlichenfalls unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung – dazu beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ stattfinden, wobei hier auf kriminelle Aktivitäten nicht verwiesen wird.
Auch aufgrund der Präsenz des Coronavirus COVID-19 in der Türkei, der Zahl der Infektionen, des typischen Krankheitsverlaufes, der persönlichen Umstände der bP (insbesondere deren Alter und Gesundheitszustand) sowie des Umstandes, dass der türkische Staat auf die Situation reagierte, kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Art 2 bzw. Art 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls könnte dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, sich in Quarantäne zu begeben bzw. eine befristete Ausgangssperre einzuhalten, abgeleitet werden.
Ergänzend ist anzuführen, dass auch eine Rückkehrhilfe (über diese wird im erstinstanzlichen Verfahren schon informiert) als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens in der Türkei gewährt werden kann. Im Rahmen der Rückkehrhilfe wird dabei der Neubeginn zu Hause unterstützt, Kontakt zu Hilfsorganisationen im Heimatland vermittelt, finanzielle Unterstützung geleistet und beim Zugang zu Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten geholfen.
Auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ergibt sich somit kein „reales Risiko“, dass es derzeit durch die Rückführung der bP in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde.
Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die bP im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein.
Dieses Ergebnis entbindet die Vollzugsbehörde nicht von ihrer Verpflichtung, bei der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Art 3 EMRK (insbesondere im Hinblick auf die COVID-19-Situation im Herkunftsstaat der bP) zu beachten (VfGH v. 26.06.2020, Zl. E 1558/2020-12).
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die bP somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die bP als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, die Entscheidung des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich Spruchpunkt II. abzuweisen.
3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides)
3.4.1. Gemäß § 57 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen 1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen […] 2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen […] oder 3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl Nr 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.4.2. Fallbezogen liegen nach dem Vorbringen der bP die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels nicht vor.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides war daher abzuweisen.
3.5. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte IV des angefochtenen Bescheides)
3.5.1. Gemäß § 10 Abs 1 Z 4 AsylG ist eine Entscheidung nach dem AsylG mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
Gemäß § 52 Abs 2 Z 3 FPG hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Da der bP der Status des Asylberechtigten aberkannt wurde, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt wurde, kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG erteilt wurde und ihr auch nach anderen Bundesgesetzen als dem FPG kein Aufenthaltsrecht zukam, war mit dem angefochtenen Bescheid unter einem eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG, nicht gegen Art 8 EMRK verstößt.
3.5.2. Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:
§ 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Gem. Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Zweifellos handelt es sich beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl um eine öffentliche Behörde im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK; der Eingriff ist – wie bereits oben dargestellt – in § 9 Abs 1 BFA-VG iVm § 67 FPG gesetzlich vorgesehen.
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
Für die Beurteilung ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Art 8 EMRK vorliegt sind nach der höchstgerichtlichen Judikatur insbesondere nachfolgende Umstände beachtlich:
Privatleben
Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Rückkehrentscheidungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
Bei der Schutzwürdigkeit des Privatlebens manifestiert sich der Grad der Integration des Fremden insbesondere an intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen (vgl. EGMR 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 5.7.2005, 2004/21/0124; 11.10.2005, 2002/21/0124).
Familienleben
Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben;
das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00); etwa bei Zutreffen anderer Faktoren aus denen sich ergibt, dass eine Beziehung genügend Konstanz aufweist, um de facto familiäre Bindungen zu erzeugen: zB Natur und Dauer der Beziehung der Eltern und insbesondere, ob sie geplant haben ein gemeinsames Kind zu haben; ob der Vater das Kind als eigenes anerkannt hat; ob Unterhaltszahlungen für die Pflege und Erziehung des Kindes geleistet wurden; und die Intensität und Regelmäßigkeit des Umgangs (EGMR v. 8.1.2009, Zl 10606/07, Fall Grant gg. Vereinigtes Königreich).
Kinder werden erst vom Moment ihrer Geburt an rechtlich Teil der Familie. Zu noch ungeborenen Kindern liegt somit bis dahin (noch) kein schützenswertes Familienleben iSd Art 8 EMRK vor (vgl. zB VfGH 24.02.2003, B 1670/01; EGMR 19.02.1996, GÜL vs Switzerland).
Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere „de facto Beziehungen“ ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nur dann unter den Schutz des Art 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22. August 2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29. März 2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479).
Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 8 EMRK Rz 76).
Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die wegen des Fehlens von über die üblichen Bindungen hinausgehenden Merkmalen der Abhängigkeit nicht (mehr) unter den Begriff des Familienlebens fallen, unter den Begriff des ebenfalls von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens zu subsumieren (VwGH 21.4.2011, 2011/01/0093-7 [vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 9. Oktober 2003, Slivenko gegen Lettland, Beschwerde Nr. 48321/99, Randnr. 97, vom 15. Juni 2006, Shevanova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 58822/00, Randnr. 67, vom 22. Juni 2006, Kaftailova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 59643/00, Randnr. 63, und vom 12. Jänner 2010, A.W. Khan gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 47486/06, Randnr. 31 ff]).
Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, 97/21/0778; 26.6.2007, 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine „hinreichend starke Nahebeziehung“ besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Art 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.
Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, greift sie lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben ein; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR im Fall Cruz Varas gegen Schweden). In diesen Fällen ist nach der Judikatur des EGMR der Eingriff in das Privatleben gegebenenfalls separat zu prüfen (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 856 mwN).
Der Begriff des "Familienlebens" in Art 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
3.5.3. In Österreich lebt der minderjährige Sohn der bP, welchen diese einmal die Woche sieht und Unterhalt in der Höhe von 305,- Euro im Monat bezahlt, weshalb die Rückkehrentscheidung jedenfalls einen Eingriff in das Recht auf Familienleben bildet.
Auf Grund der langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der gegebenen persönlichen Umstände liegt hier auch ein relevantes Privatleben in Österreich vor.
Da die Rückkehrentscheidung somit einen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darstellt, bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen mit den öffentlichen Interessen, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Im vorliegenden Fall ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Art 8 Abs 2 EMRK legitime Ziele, nämlich
- die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist;
- zur Verhinderung von strafbaren Handlungen;
Öffentliche Ordnung / Verhinderung von strafbaren Handlungen (auch im Bereich des Aufenthaltsrechtes)
Der EGMR geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Der EGMR erkennt in stRsp weiters, dass die Konventionsstaaten nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt sind, Einreise, Rückkehrentscheidung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (vgl. uva. zB. Urteil Vilvarajah/GB, A/215 § 102 = NL 92/1/07 und NL 92/1/27f.). Die Schaffung eines Ordnungssystems mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt wird, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art 8 Abs 2 EMRK) daher ein hoher Stellenwert zu (VfGH 29.9.2007, B 328/07, VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251 uva.).
3.5.4. Im Einzelnen ergibt sich unter zentraler Beachtung der in § 9 Abs 1 Z 1-9 AsylG genannten Determinanten Folgendes:
- Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war:
Die beschwerdeführende Partei reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein und konnte ihren Aufenthalt lediglich durch die Stellung eines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz vorübergehend legalisieren. Nach Abweisung dieses Antrages und Verfügung einer asylrechtlichen Rückkehrentscheidung durch das BFA wurde die vorläufige Aufenthaltsberechtigung durch Einbringung der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht für die Dauer des Beschwerdeverfahrens verlängert. Die bP wartete das Ergebnis des Beschwerdeverfahrens nicht ab, sondern verließ in weiterer Folge das Bundesgebiet, weshalb mit Aktenvermerk des UBAS vom 24.11.2006 das Asylverfahren gemäß § 30 AsylG eingestellt wurde. Im Mai 2010 reiste die bP erneut unrechtmäßig in Österreich ein und stellte am 04.06.2010 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz und ist seit 29.07.2010 als Asylberechtigter in Österreich durchgehend rechtmäßig aufhältig.
- das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens
In Österreich lebt der minderjährige Sohn der bP XXXX , geb. XXXX . Dieser lebt bei seiner Mutter XXXX , geb. XXXX , der ehemaligen Lebensgefährtin der bP. Diese verfügen über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“. Das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn liegt bei der ehemaligen Lebensgefährtin der bP. Die bP bezahlt Unterhalt für ihren Sohn in der Höhe von 305,- Euro im Monat. Sie sieht ihren Sohn einmal die Woche jeden Montag zwischen einer und drei Stunden lang.
- Schutzwürdigkeit des Privatlebens
Während des bisherigen Aufenthaltes im Bundesgebiet hat die bP sicherlich auch private Anknüpfungspunkte in Österreich erlangt, insbesondere verfügt die bP über Freunde in Österreich und geht hier derzeit einer Erwerbstätigkeit nach.
- Grad der Integration
Die bP reiste im Mai 2010 in Österreich ein und befindet sich somit seit mehr als zwölf Jahren durchgehend in Österreich, was in Bezug auf ihr Lebensalter noch einen relativ kurzen Zeitraum darstellt. Die bP verfügt über derart geringe Kenntnisse der deutschen Sprache, dass ihr eine Unterhaltung auf einfachem Niveau in Deutsch kaum möglich ist. Eine Verhandlungsführung ohne Dolmetscher wäre nicht möglich. Nachweise absolvierter Deutschkurse oder positiv abgelegter Deutsch- oder Integrationsprüfungen wurden im Verfahren nicht vorgelegt. Die geringen Deutschkenntnisse der bP nach einem Aufenthalt im Bundesgebiet von über 12 Jahren, lassen keine besonders hohe Motivation am Erlernen der deutschen Sprache erkennen. Die beschwerdeführende Partei bezog lediglich von Juni bis November 2010 Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde in Österreich. Sie war bis dato bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt, bezog jedoch den Großteil der Zeit Arbeitslosengeld sowie Notstands- und Überbrückungshilfe. Insbesondere war die bP in Österreich nie durchgehend ein Jahr oder länger bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt. Zuletzt arbeitete die bP unselbstständig für XXXX , welcher als Subunternehmer für die „ XXXX “ Geräte wie Kühlschränke oder Waschmaschinen transportiert. Die bP half beim Tragen der Geräte und verdiente hierfür ca. 1.500,- Euro im Monat netto. Seit 26.09.2021 geht die bP keiner Erwerbstätigkeit in Österreich nach. Eine aktuelle Einstellungszusage brachte die bP nicht in Vorlage. Sie ist kein Mitglied eines Vereines in Österreich und auch ansonsten nicht ehrenamtlich tätig. Ihre Freizeit verbringt sie mit damit, mit ihren Freunden Essen oder spazieren zu gehen. Die bP konnte sich in Österreich einen Freundes- bzw. Bekanntenkreis aufbauen, besonders enge Freundschaften wurden im Verfahren jedoch nicht vorgebracht, ebenso wenig wie Unterstützungsschreiben. Der Vater der bP lebt in Deutschland.
Die bP zeigt durchaus Bemühungen sich hier in Österreich zu integrieren, jedoch sei in diesem Zusammenhang auch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).
- Bindungen zum Herkunftsstaat
Die bP ist in der Türkei geboren, wurde dort sozialisiert, kann sich im Herkunftsstaat verständigen, besuchte dort die Schule und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Ab ihrem 10. Lebensjahr arbeitete die bP auf der familieneigenen Landwirtschaft. Die bP leistete in der Türkei 18 Monate lang den Militärdienst ab. Die bP war bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern. Darüber hinaus verfügt sie in der Türkei auch über familiäre Anknüpfungspunkte, so leben zwei Brüder, ein volljähriger Sohn und eine volljährige Tochter der bP sowie mehrere Onkel und Tanten, Nichten und Neffen nach wie vor in der Türkei. Ein Bruder arbeitet in einer Eisenfirma, der andere verdient seinen Lebensunterhalt als Musiker, beide sind verheiratet und haben Kinder. Die Familie der bP verfügt über eine Landwirtschaft in XXXX in der Provinz XXXX , welche von den Brüdern der bP verpachtet wird. Den Familienangehörigen der bP in der Türkei geht es finanziell gut und zählen diese zur Mittelschicht. Die bP steht sowohl zu ihren Brüdern, als auch zu ihren erwachsenen Kindern in - wenn auch nicht regelmäßigem - telefonischen Kontakt. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie als von der Türkei entwurzelt zu betrachten wäre.
- strafrechtliche Unbescholtenheit
In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheint die o. a. Verurteilung auf. Die für die Integration wesentliche soziale Komponente wird durch die von der bP begangene Straftat erheblich beeinträchtigt. Die Integration eines Fremden in seinem Gastland verlangt die Bereitschaft, die Rechtsordnung dieses Gastlandes zu respektieren. Diese Bereitschaft hat die bP jedenfalls nicht gezeigt.
Hervorzuheben ist weiters die Verurteilung der bP in der Türkei aufgrund der Beihilfe sowie Unterschlupfgewährung von Mitgliedern der illegalen PKK-Organisation. Die PKK, welche die bP unterstützte, ist auch in Österreich als Terrororganisation eingestuft und wird die Unterstützung einer solchen auch in Österreich unter Strafe gestellt (vgl. bspw. § 278a StGB, § 278b StGB, § 299 StGB). Die bP setzte somit in der Türkei ein Verhalten, welches auch in der österreichischen Rechtsordnung mit Strafe bedroht ist. Darüber hinaus ist ein weiteres Verfahren gegen die bP in der Türkei anhängig wegen Propaganda für eine terroristische Organisation und bestritt die bP im Verfahren nicht, die ihr zur Last gelegten Tathandlungen auch begangen zu haben. Die bP zeigt auch keinerlei Reue hinsichtlich ihrer Taten für die PKK. Es steht völlig außer Zweifel, dass das von der bP gezeigte Verhalten ein Fehlen einer Verbundenheit zu rechtsstaatlich geschützten Werten erkennen lässt und eine schwerwiegende Beeinträchtigung öffentlicher Interessen darstellt.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung
Die beschwerdeführende Partei reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein was grundsätzlich als relevanter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht in die Interessensabwägung einzubeziehen ist (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0165; 25.02.2010, 2009/21/0070).
Gegen die beschwerdeführende Partei wurde in Österreich ein Waffenverbot erlassen, welches nach wie vor aufrecht ist.
3.5.5. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der bP im Bundesgebiet das persönliche Interesse der bP am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Die für den Verbleib der bP in Österreich sprechenden Umstände betreffend ihr Privat- und Familienleben erreichen vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen nicht ein solches Gewicht, als dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre. Den persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet steht das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegenüber, welchem auf Grund der gravierenden Straffälligkeit der bP ein sehr großes Gewicht zukommt.
Für den Verbleib der bP in Österreich sprechen ihre lange Aufenthaltsdauer in Österreich seit 2010, dass sie in der Vergangenheit bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt war, insbesondere jedoch der Umstand, dass der minderjährige Sohn der bP in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigt ist. Gegen den Verbleib und damit für die aufenthaltsbeendende Maßnahme spricht die festgestellte Verurteilung in Österreich, die Verurteilung der bP in der Türkei sowie die Unterstützung und Propaganda für eine auch in Österreich als terroristisch eingestufte Organisation, insbesondere, dass ihr Verhalten und ihre Sympathie gegenüber einer terroristischen Organisation ein Fehlen einer Verbundenheit zu rechtsstaatlich geschützten Werten erkennen lässt und eine schwerwiegende Beeinträchtigung öffentlicher Interessen darstellt.
Der Verwaltungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 23.02.2017 aus, dass das "Kindeswohl" bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 zu berücksichtigen ist (mwN, VwGH, 23.02.2017, Ra 2016/21/0235). Überdies ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Beurteilung der Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die wechselseitigen Beziehungen eines Elternteiles und seines Kindes auch auf im Entscheidungszeitpunkt konkret absehbare zukünftige Entwicklungen Bedacht zu nehmen (VwGH 31.08.2017, Ro 2017/21/0012).
Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass die bP ein erhebliches Interesse an einem Verbleib in Österreich hat, weil sich ihr minderjähriger Sohn im Bundesgebiet aufhält. Verlässliche Kontakte zu den leiblichen Eltern sind im Interesse des Kindeswohls geboten und die bP hat mit ihrem Kind eine persönliche Beziehung einschließlich persönlicher Kontakte zu pflegen. Dem Interesse an einer Fortsetzung dieses Familienlebens steht aber das große öffentliche Interesse am geordneten Vollzug fremdenrechtlicher Vorschriften gegenüber.
Festzuhalten ist, dass dem Sohn der bP der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ zuerkannt wurde. Die bP sieht ihren minderjährigen Sohn einmal die Woche jeden Montag zwischen einer und drei Stunden lang, das Sorgerecht liegt bei der ehemaligen Lebensgefährtin der bP. Es besteht kein gemeinsamer Wohnsitz. Der Sohn der bP, welcher am XXXX geboren wurde, wird jedoch in einigen Wochen 18 Jahre alt und ist ab diesem Zeitpunkt volljährig. Bedenkt man den eher geringen persönlichen Kontakt der bP mit ihrem Sohn, den Umstand, dass kein gemeinsamer Wohnsitz besteht und die Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich der Beziehung unter Erwachsenen Familienangehörigen, wird mit der anstehenden Volljährigkeit des Sohnes das Familienleben iSd Art. 8 Abs. 1 EMRK eine erhebliche Relativierung erfahren.
Dem Sohn der bP wäre es theoretisch auch möglich, nach ihrem 18. Geburtstag in die Türkei zu reisen und dort ihr Familienleben gemeinsam mit der bP weiter zu führen. Zwar wurde der Sohn der bP hier in Österreich geboren, er spricht jedoch die Landessprache und reiste bereits mehrfach in die Türkei um sich dort behandeln zu lassen. Nach seinem 18. Geburtstag wird der Sohn erneut in die Türkei reisen um sich dort operieren zu lassen. Aktuell arbeitet er am Wochenende bei der Firma XXXX und ist auf der Suche nach einer Lehrstelle, weshalb die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in der Türkei ebenfalls möglich ist. Ob der Sohn der bP schlussendlich seinen Vater in die Türkei begleitet, ist diesem überlassen. Es ist diesbezüglich auf den Unrechtsgehalt des bisherigen Lebenswandels der bP hinzuweisen. Der Beschwerdeführer hat die öffentlichen Interessen der Republik Österreich durch die Missachtung strafrechtlicher Normen stark beeinträchtigt. Aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung besteht ein so großes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung, dass die Trennung auch von seinen Kindern gerechtfertigt ist (vgl VwGH 24.09.2019, Ra 2019/20/0446; VwGH 15.03.2018, Ra 2017/21/0191). Hinzu kommt die vom Beschwerdeführer ausgehende Gemeingefährlichkeit aufgrund seiner Sympathie und Unterstützung für eine terroristische Organisation.
Weiters ist festzuhalten, dass die bP nicht gezwungen ist, nach einer Rückkehr in die Türkei den Kontakt zu ihrem Sohn zur Gänze abbrechen zu müssen, sondern können diese auf telefonische und elektronische Weise aufrechterhalten werden, wie dies die bP auch mit ihren beiden in der Türkei lebenden Kindern bisher gehandhabt hat. Es wird der bP auch möglich sein, das Familienleben mit ihrem Sohn bei wechselseitigen Besuchen in vom Einreiseverbot nicht umfassenden Staaten fortzusetzen und dabei auch den im Interesse des Kindeswohls liegenden persönlichen Kontakt zu seinem Sohn zu pflegen. Dem Sohn der bP ist es darüber hinaus auch möglich die bP in der Türkei zu besuchen, zumal sie ohnehin regelmäßig in die Türkei reist und die ehemalige Lebensgefährtin ausdrücklich angab, sich freiwillig unter den Schutz der Türkei zu stellen und jedes Jahr ca. einen Monat dort verbringen zu wollen.
Dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einer Fortsetzung seines Familien- und Privatlebens in Österreich steht nicht nur das große öffentliche Interesse am geordneten Vollzug fremdenrechtlicher Vorschriften, sondern auch jenes an der Verhinderung von Straftaten gegenüber. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen sowie der Verhinderung von Straftaten kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein hoher Stellenwert zu.
Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0359 unter Hinweis auf VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0174; 26.06.2019, Ra 2019/21/0034).
Letztlich ist auf die Judikatur des VwGH zu verweisen, wonach die allfällige Trennung von Familienangehörigen ebenso wie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung im Heimatland im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen sind (vgl. VwGH 09.07.2009, 2008/22/0932; 22.02.2011, 2010/18/0417) und selbst Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der alleinigen Rückkehr auftreten können, hinzunehmen sind (vgl. VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2015/21/0180).
Die für die Integration wesentliche soziale Komponente wird durch vom Fremden begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt. Darüber hinaus wird das Gewicht der familiären Beziehungen zu Angehörigen relativiert, wenn der Fremde bereits erwachsen ist (VwGH 19.11.2003, 2002/21/0181).
Selbst eine Selbsterhaltungsfähigkeit samt gefestigter Integration im privaten Bereich können vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen die Umstände, dass der Fremde einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat und er der deutschen Sprache mächtig ist, seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht maßgeblich verstärken (vgl. VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.6.2010, 2010/18/0226).
Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung die gegenläufigen familiären und privaten Interessen der bP. Durch die Rückkehrentscheidung wird Art 8 EMRK im Ergebnis nicht verletzt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen oder wurden in der Beschwerde behauptet, die eine Rückkehrentscheidung (vorübergehend oder auf Dauer) unzulässig erscheinen ließen.
Bei der anzustellenden Abwägung ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass die bP den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens in ihrem Herkunftsstaat verbrachte. Sie wurde dort sozialisiert und spricht die Mehrheitssprache ihrer Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Ebenso war festzustellen, dass sie in der Türkei über Bezugspersonen in Form von nahen Angehörigen – in Gestalt ihrer dort lebenden Brüder, Kinder sowie mehrere Onkel und Tanten, Nichten und Neffen – verfügt. Aufgrund des familiären Hintergrundes der bP ist nicht davon auszugehen, dass sie ihrem Herkunftsstaat und den dort herrschenden Gepflogenheiten und Lebensumständen derart entfremdet wäre, als ihr eine Rückkehr und Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unzumutbar oder unmöglich wäre. Aufgrund der Präsenz von nahen Angehörigen im Herkunftsstaat, insbesondere ihrer eigenen beiden Kinder, ist auch gegenwärtig von starken Bindungen zu diesem auszugehen, wobei eine Existenzgrundlage der bP bereits vorstehend bejaht wurde (VwGH 31.08.2017, Ra 2016/21/0296, zur Maßgeblichkeit der Bindungen zum Herkunftsstaat siehe statt aller VwGH 22.02.2011, Zl. 2010/18/0323).
Aufgrund des vom Beschwerdeführer gesetzten Verhaltens durch welches er zum einen in Österreich und zum anderen in der Türkei strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde und aktuell wird, ergibt sich hinsichtlich der Persönlichkeit des Beschwerdeführers, dass er bisher immer wieder nicht davor zurückschreckt, sich über die (österreichische) Rechtsordnung hinwegzusetzen. Wie bereits erläutert, ist die PKK auch in Österreich als terroristische Organisation eingestuft und stellen die von der bP gesetzten Handlungen für die PKK auch einen Verstoß gegen österreichische Strafbestimmungen dar (siehe 3.1.4.). Die bP zeigt auch keinerlei Reue hinsichtlich ihrer Taten für die PKK. Das von der bP gezeigte Verhalten, nämlich die Unterstützung sowie Propaganda für eine terroristische Organisation, lässt ein Fehlen einer Verbundenheit zu rechtsstaatlich geschützten Werten erkennen und stellt eine schwerwiegende Beeinträchtigung öffentlicher Interessen dar. Hinsichtlich ihrer Verurteilung in Österreich übernimmt die beschwerdeführende Partei nicht die volle Verantwortung, sondern gibt diesbezüglich an, dass sie das Geld ohne Drohungen zurückverlangt habe und XXXX vor Gericht gelogen habe. Somit leugnet die bP die Nötigung durch gefährliche Drohung mit dem Tod. Damit legt sie auch aktuell dar, dass sie die Rechtsprechung nicht akzeptiert. Der bP musste bewusst sein, dass die Begehung der festgestellten Straftat sich negativ auf ihren Aufenthaltsstatus auswirken kann und dies auch zur Aberkennung des bereits gewährten Asyls führen kann. Durch das strafrechtliche Fehlverhalten relativieren sich alle Interessen der bP, den Aufenthalt in Österreich fortsetzen zu dürfen. Als asyl- und fremdenrechtliche Konsequenz ihres Fehlverhaltens hat die bP es hinzunehmen, dass sie ihre asylrechtliche Aufenthaltsberechtigung in Österreich verloren hat.
Im gegenständlichen Fall haben somit der minderjährige Sohn und die bP selbst den Eingriff in ihr Familienleben hinzunehmen, da das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung der bP überragende Bedeutung zukommt.
Im gegenständlichen Fall überwiegen somit aufgrund der Delinquenz und der fehlenden positiven Zukunftsprognose im Rahmen einer Interessensabwägung im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK eindeutig die öffentlichen Interessen gegenüber den privaten- und familiären Interessen der bP, weshalb das BFA die Rückkehrentscheidung zu Recht erlassen hat.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides war daher abzuweisen.
3.6. Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt V des angefochtenen Bescheides)
3.6.1. Gemäß § 52 Abs 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach § 50 Abs 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach § 50 Abs 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Nach § 50 Abs 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.6.2. In Hinblick auf §§ 52 Abs 9 iVm 50 FPG und auf die dazu oben getroffenen länderkundlichen Feststellungen sind keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung der bP in die Türkei unzulässig wäre.
Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher die Entscheidung des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich Spruchpunkt V. abzuweisen.
3.7. Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI des angefochtenen Bescheides)
3.7.1. Gemäß § 55 Abs 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
3.7.2. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, wurde die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wird daher ebenso abgewiesen.
3.8. Erlassung eines Einreiseverbotes (Spruchpunkt VII des angefochtenen Bescheides)
Einreiseverbot
3.8.1. Einreiseverbot § 53 FPG
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
(Anm.: Abs. 1a aufgehoben durch BGBl. I Nr. 68/2013)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 20 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, iVm § 26 Abs. 3 des Führerscheingesetzes (FSG), BGBl. I Nr. 120/1997, gemäß § 99 Abs. 1, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß § 37 Abs. 3 oder 4 FSG, gemäß § 366 Abs. 1 Z 1 der Gewerbeordnung 1994 (GewO), BGBl. Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den §§ 81 oder 82 des SPG, gemäß den §§ 9 oder 14 iVm § 19 des Versammlungsgesetzes 1953, BGBl. Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist;2. wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde;3. wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Abs. 3 genannte Übertretung handelt;4. wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist;5. wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist;6. den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag;7. bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen;8. eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht geführt hat oder9. an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat.
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB);7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt.
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Abs. 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Abs. 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237, zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (vgl ErläutRV, 1078 BlgNR 24. GP 29 ff und Art 11 Abs 2 Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art 8 Abs 2 MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Z 1 bis 9 des § 53 Abs 2 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 anzunehmen.
In den Fällen des § 53 Abs 3 Z 1 bis 8 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinne der Z 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht. Zudem ist festzuhalten, dass - wie schon nach bisheriger Rechtslage (vgl. VwGH 20.11.2008, 2008/21/0603) - in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrunde liegende Verhalten (arg.: Einzelfallprüfung) abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
§ 53 Abs 3 FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Bundesverwaltungsgericht diese auch nach wie vor als anwendbar. Bei der Stellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 53 Abs 3 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 umschriebene Annahme gerechtfertigt ist (VwGH 2012/18/0230, 19.02.2013).
3.8.2. Das BFA verhängte gem. § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein auf 6 Jahre befristetes Einreiseverbot gegen die bP.
Begründend legte das BFA in seiner rechtlichen Beurteilung folgend dar:
„Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden (§ 53 Abs. 1 FPG).
Gemäß § 53 Abs. 3 FPG ist dieses gemäß Abs. 1 für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;
3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei verurteilt worden ist;
4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;
5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;
6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB);
7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der
Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder
8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt
9. oder der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder
auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt.
Ziffer 1 ist in Ihrem Fall erfüllt:
Sie wurden von einem österreichischen Gericht zu einer (bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt.
Die Erfüllung dieses Tatbestandes indiziert gemäß § 53 Abs. 3 das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Bei der Bemessung ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose vorzunehmen. Bei dieser Beurteilung kommt es nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder des Vorliegens der sonstigen genannten Tatbestandsvoraussetzungen an, sondern auf das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild (VwGH 19.2.2013, 2012/18/0230).
In Ihrem Fall war dabei zu berücksichtigen:
Sie weisen eine Verurteilung durch ein österreichisches Strafgericht auf. Dieses und die weiteren im Akt aufliegenden Beweismittel belegen eindrucksvoll den Ihnen inhärenten schweren Charaktermangel und lassen in Zusammenschau mit Ihrer Verantwortung und Ihrem Gesamtverhalten eine positive Zukunftsprognose nicht zu. Aus Ihrem Fehlverhalten lässt sich ableiten, dass Sie keine Skrupel haben, Ihren Willen mit schweren Nötigungen durchzusetzen und geladene Waffen in betrunkenem Zustand und ohne über die erforderlichen Dokumente zu besitzen mit sich zu führen.
Sie haben durch Ihr Verhalten gezeigt, dass Sie kein Interesse daran haben, die Gesetze
Österreichs zu respektieren. Ihr bisheriger Aufenthalt in Österreich beeinträchtigte ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich jenes an Ruhe, an Sicherheit für die Person, an sozialem Frieden sowie an der Sicherheit der Republik.
Sie haben durch Ihr persönlich vorwerfbares und strafbares Verhalten gezeigt, dass Sie gewillt sind bzw. zumindest in Kauf nehmen, durch Ihr Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darzustellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Das von Ihnen gezeigte Verhalten ist erst vor kurzem gesetzt worden und ist aufgrund Ihres erheblichen Charaktermangels sowie Ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der österreichischen Rechtsordnung und Ihren Mitmenschen mit einer Fortsetzung zu rechnen. Es muss daher von einer aktuellen, gegenwärtigen Gefahr gesprochen werden. Die begangenen Straftaten waren letztlich dafür ausgerichtet, anderen durch Gewalt Ihren Willen aufzuzwingen.
Sowohl die Verhinderung strafbarer Handlungen, als auch die Verhinderung des unrechtmäßigen Aufenthalts von Fremden im Bundesgebiet stellen jedenfalls ein Grundinteresse der Gesellschaft dar.
Die von Ihnen in Österreich verübte Straftat ist auch in Ihrem Herkunftsstaat mit entsprechender Strafe bedroht und war somit von einem zumindest bedingten Vorsatz bei der Tatbegehung und keinesfalls von einer Fahrlässigkeit oder einem Unwissen auszugehen.
Bei einer Gesamtbetrachtung aller aufgezeigten Umstände, des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes und in Ansehung der auf Grund Ihres persönlichen Fehlverhaltens getroffenen Gefährdungsprognose, kann eine Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt regelnden Vorschriften zum Schutz eines geordneten Fremdenwesens, als gegeben angenommen werden (vgl. VwGH 19.05.2004, Zl.
Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens ist unter Bedachtnahme auf Ihr Gesamtverhalten, d.h. im Hinblick darauf, wie Sie Ihr Leben in Österreich insgesamt gestalten, davon auszugehen, dass die im Gesetz umschriebene Annahme, dass Sie eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen, gerechtfertigt ist.
Bei der Bemessung des Einreiseverbotes, kann sich die Behörde nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen zurückziehen, sondern ist insbesondere auch die Intensität der privaten und familiären Bindungen zu Österreich einzubeziehen (VwgH 7.11.2012, 2012/18/0057).
Aufgrund der Schwere Ihres Fehlverhaltens sind Ihre persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet als in höchstem Ausmaß relativiert anzusehen, wobei diesbezüglich anzumerken ist, dass für Sie lediglich Ihr langjähriger Aufenthalt und das Vorhandensein eines Sohnes sprach, während Sie offenbar (abgesehen von einer fallweisen Berufstätigkeit) über keine nennenswerte soziale Integration in Österreich verfügen. Auch vermochte Ihr Aussageverhalten nicht zu Ihren Gunsten berücksichtigt zu werden, da Sie sich – statt einsichtig und reuig – weitestgehend leugnend und relativierend präsentierten, die wenigen Ausdrücke von Reue, vermochten das Bundesamt angesichts Ihres sonstigen Aussageverhaltens nicht von Ihrer Ehrlichkeit zu überzeugen. Das verhängte Einreiseverbot ist daher auch zwingend erforderlich, um die hiesige Bevölkerung vor Ihrem Verhalten zu schützen, Ihnen jedoch dennoch die Möglichkeit zu bieten, sich außerhalb des Schengenraumes den rechtlich geschützten Werten zuzuwenden, Ihr Verhalten – was Sie bislang offenbar nicht getan haben – konstruktiv zu reflektieren und danach bei Erfüllung der Voraussetzungen des NAG neuerlich nach Österreich einzureisen, um hier einen Wohnsitz zu begründen und ein straffreies und produktives Leben zu führen. Seitens der erkennenden Behörde wird davon ausgegangen, dass hiezu ein Aufenthalt außerhalb des Schengenraumes in der Dauer von sechs Jahren jedenfalls geeignet sein muss.
Die auf den ersten Blick sehr hoch angesetzte Befristung des Einreiseverbots findet ihre Begründung darin, dass Sie nicht nur Ihr unmittelbares Opfer nötigten und ihn erhebliche Gefahr für Leib und Leben brachten, sondern nicht einmal davor zurückschreckten, unbeteiligte Dritte (den Sohn und die Frau des XXXX ) mit vorgehaltener Faustfeuerwaffe zu bedrohen, was eine besondere Verrohung Ihres Charakters nahelegt. Auch musste berücksichtigt werden, dass Sie in alkoholisiertem Zustand und im Besitz einer geladenen Waffe ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt haben, wodurch eine erhebliche Gefahr für die anderen Passagiere verwirklicht wurde.
Insofern Sie in einem allfälligen Beschwerdeverfahren monieren, die Verhängung eines kürzeren Einreiseverbotes wäre ausreichend gewesen, um Ihnen das von Ihnen verwirklichte Unrecht vor Augen zu führen, so würde sich das ho. Amt dem in Anbetracht Ihrer mangelnden Einsichtsfähigkeit und der besonderen Tatumstände nicht anschließen.
Insofern Sie gegenständlich das Kindeswohl ins Treffen führen wollen, um eine Verkürzung des Einreiseverbotes zu erwirken, sei festgehalten, dass die erkennende Behörde dieses nicht unberücksichtigt ließ. Einerseits ist – wie in diesem Bescheid schon wiederholt dargelegt – ins Treffen zu führen, dass Sie Ihre familiären Interessen selbst durch Ihr Fehlverhalten erheblich trübten, andererseits ist anzumerken, dass Ihr Sohn bereits in 1 ½ Jahren volljährig sein wird und sich ihm die Möglichkeit bietet, Sie (allenfalls gemeinsam mit seiner Mutter) in Ihrem künftigen Aufenthaltsstaat oder einem anderen Land außerhalb des Schengenraums zu besuchen, bzw. über die sozialen Medien den Kontakt zu Ihnen zu halten, sodass es zu keiner vollständigen Entfremdung kommen muss. Die gegenständliche Entscheidung stellt daher einen Eingriff in Ihr Familienleben dar, dieser ist jedoch erstens bloß von minderer Natur und kann zweitens ohne erheblichen Aufwand im hinreichenden Ausmaß kompensiert werden.
Die Abstandnahme von einem Einreiseverbot oder eine kürzere Befristung kam in Ihrem Fall daher aufgrund Ihres an den Tag gelegten Fehlverhaltens und des gezeigten Charakterbildes daher nicht in Betracht.
Auch Ihre familiären Anknüpfungspunkte waren nicht geeignet, das Bundesamt zur niedrigeren Bemessung des Einreiseverbots zu bewegen, da angesichts der von Ihnen verwirklichten Taten Ihr persönliches Interesse gegenüber dem öffentlichen Interesse zu vernachlässigen ist, andererseits auch Ihre in Österreich aufhältigen Angehörigen Sie nicht von der Begehung schwerer Straftaten abhalten konnten.
Wie bereits zur Frage der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ausführlich geprüft und festgestellt, sind Ihre familiären und privaten Anknüpfungspunkte in Österreich nicht dergestalt, dass sie einen Verbleib in Österreich rechtfertigen würden. Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verletzt in Ihrem Fall Art. 8 EMRK nicht. Es muss daher nun, unter Berücksichtigung des in § 53 Abs. 3 genannten Tatbestandes ebenso davon ausgegangen werden, dass das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit Ihrem persönlichen Interesse an einem Verbleib in Österreich überwiegt.
Die Gesamtbeurteilung Ihres Verhaltens, Ihrer Lebensumstände sowie Ihrer familiären und privaten Anknüpfungspunkte hat daher im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung des Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer gerechtfertigt und notwendig ist, die von Ihnen ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern. Das ausgesprochene Einreiseverbot ist daher zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten.“
3.8.3. Dem wurde in der Beschwerde entgegengehalten, dass der Erlass des 6-jährigen Einreiseverbotes falsch sei. Der VwGH habe ausgesprochen, dass es bei der Verhängung des Einreiseverbotes nicht nur auf das Vorliegen gerichtlicher Verurteilungen ankomme, sondern stets eine Gefährlichkeitsprognose vorzunehmen sei (VwGH vom 22.03.2011, 2008/21/0246 mwN, zuletzt E vom 16.11.2012, 2012/21/0080). Die belangte Behörde habe im nunmehr angefochtenen Bescheid ein 6-jähriges Einreiseverbot verhängt, es jedoch verabsäumt, eine ordnungsgemäße und richtige Gefährlichkeitsprognose zu erstellen.
Weiters habe es die belangte Behörde unterlassen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie lange die vermeintlich von der bP ausgehende Gefährdung zu prognostizieren wäre. Von der bP gehe keine Gefahr mehr aus, da sie aus ihrem Fehler gelernt habe. Nach der stRsp des VwGH sei eine solche Prüfung jedoch vorzunehmen und diese Prognose auch nachvollziehbar zu begründen – eine derartige Begründung sei dem angefochtenen Bescheid jedoch nicht zu entnehmen. Die belangte Behörde habe die Angaben der bP nicht ausreichend gewürdigt.
Wie die belangte Behörde selbst feststellt habe, habe bei der Bemessung eines Einreiseverbotes nach der Judikatur des VwGH eine Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und dem Interesse der bP an der Aufrechterhaltung ihres Privat- und Familienlebens zu erfolgen. Zwar komme die Verhängung des Einreiseverbotes aufgrund der Bestimmung des § 53 Abs 3 Z 1 FPG hier grundsätzlich in Betracht. Im Ergebnis werde aber im hier angefochtenen Bescheid nicht nachvollziehbar begründet, warum die belangte Behörde ein Einreiseverbot gerade im Ausmaß von 6 Jahren als erforderlich erachtet und aufgrund welcher Erwägungen sie gerade dazu kommt. Auch seien die Angaben der bP zu ihrem nunmehr ordentlichen Lebenswandel und ihren Bemühungen zu einem geregelten Leben von der belangten Behörde mit keinem Wort gewürdigt worden. Die belangte Behörde beziehe sich im Gegenteil nur auf die Verwaltungsübertretungen der bP und setze sich nicht mit der aktuellen Situation der bP und tatsächlichen Leben in Österreich auseinander. Durch ihre Vorgangsweise habe die belangte Behörde die Bestimmung des § 28 Abs 5 VwGVG verletzt.
Darüber hinaus würden sich keine einzelfallbezogene Begründung seitens der belangten Behörde finden lassen, warum die Erlassung des Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer nötig wäre; die belangte Behörde habe lediglich mit Textbausteinen gearbeitet und gehe nicht auf die vermeintlich von der bP ausgehende Gefahr ein. Es würden somit qualifizierte Begründungsmängel vorliegen, was den Anforderungen eines ordnungsgemäßen Bescheides nicht gerecht werde.
Im Fall der bP sei ein sehr mildes Urteil ausgesprochen worden, da das Verbrechen beim Versuch geblieben sei. Auch sei die Strafe unter Bestimmung einer 3-jährigen Probezeit verhängt worden, was schon zeige, dass von der bP keine Gefahr ausgehe, da der Richter sie nicht als gefährlich eingestuft habe.
Zur Dauer des Einreiseverbotes wurde in der Beschwerde ausgeführt, dass die Behörde die Dauer des verhängten Einreiseverbots im Wesentlichen mit dem Gesamtverhalten der bP begründet habe. Dabei habe die Behörde allerdings nicht beachtet, dass die bP nur zu einer sehr geringen Strafe verurteilt worden sei und somit das Einreiseverbot unverhältnismäßig sei. Somit stehe die Verhängung des Einreiseverbotes in der Höhe von 6 Jahren in keinem Verhältnis zur Höhe der Strafe.
3.8.4 Mit diesen Argumenten tritt die Beschwerde der Entscheidung des BFA aber nicht substantiiert entgegen.
3.8.4.1. Dem BFA ist unter seinen näheren Begründungen beizupflichten, dass das Einreiseverbot auf § 53 Abs 3 Z 1 FPG gestützt werden kann, da die bP vom LG XXXX wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 1 WaffG verurteilt wurde.
Zutreffend verwies das BFA in seiner Entscheidungsbegründung darauf, dass es bei einer Abwägung der im gegenständlichen Fall betroffenen Interessen einer Gesamtbeurteilung des bisherigen Verhaltens der bP und ihrer privaten- und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich bedurfte.
Darüber hinaus ist auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung, in deren Rahmen neben den rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen auch das bisherige Verhalten der bP während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet sowie ihr Privat- und Familienleben zu analysieren und berücksichtigen sind, eine Gefährlichkeitsprognose zu treffen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109, mwN aus der Judikatur).
Das BFA konnte aufgrund der Verurteilung der bP zurecht von der Erfüllung des Tatbestandes des § 53 Abs 3 Z 1 FPG ausgehen, was – wie bereits oben ausgeführt wurde – das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet indizierte (vgl VwGH 30.07.2014, 2013/22/0281).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, kann auch aus einem einmaligen Fehlverhalten - entsprechende Schwere vorausgesetzt - eine maßgebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit abgeleitet werden. Im Hinblick darauf ist die Verhängung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes, auch gegen langjährig rechtmäßig in Österreich aufhältige Fremde, gegebenenfalls nicht zu beanstanden (vgl. VwGH 29.6.2017, Ra 2016/21/0338; VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0021).
Die bP wurde vom LG XXXX wegen des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 1 WaffG verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass die bP am 01.10.2020 in XXXX andere durch gefährliche Drohung mit dem Tod zu nötigen versuchte, während sie mit einer geladenen Faustfeuerwaffe der Marke Sauer und Sohn .765 abwechselnd auf XXXX , XXXX und XXXX zielte. Beabsichtigt war, XXXX zur Herausgabe von EUR 38.000,-- zu nötigen, indem die bP sagte „Gib mir sofort EUR 38.000,--, sonst erschieße ich dich, deinen Sohn und deine Frau“. Die bP nötigte sämtliche Opfer dazu, sich nicht zu bewegen, indem sie sagte „Wenn sich jemand bewegt, bringe ich euch um“. Zu XXXX sagte die bP außerdem, sie solle „die Schnauze halten“, sonst sei sie tot. Des Weiteren besaß und führte die bP in einem unbekannten Zeitraum bis zum 01.10.2020 unbefugt eine Faustfeuerwaffe der Marke Sauer und Sohn .765. Mildernd berücksichtigte das Strafgericht das Geständnis der bP, die Unbescholtenheit, die verminderte Zurechnungsfähigkeit, dass es teilweise beim Versuch blieb sowie den eigenen Nachteil aus der Tat, während erschwerend das Zusammentreffen von drei Verbrechen mit einem Vergehen zu werten war.
Die beschwerdeführende Partei übernahm für ihr Fehlverhalten keine Verantwortung. So verneinte die bP in der behördlichen Einvernahme im ersten Moment die Frage, ob sie in Österreich von Gerichten verurteilt worden sei und räumte erst nach Wahrheitserinnerung die Verurteilung ein, relativierte auf Vorhalt der Hintergründe jedoch ihr Verhalten bzw. leugnete essenzielle Tatbestandsmerkmale. Die bP unternahm vor der belangten Behörde den Versuch, die Grundlage des Urteils im Wesentlichen als Lügenkonstrukt ihrer Opfer darzustellen, womit sie jedoch der gerichtlichen Beweiswürdigung, die sich sogar auf ein Geständnis der bP zu stützen vermochte, widersprach. Auch in der Beschwerdeverhandlung gab die bP an, dass sich der Vorfall nicht so zugetragen habe, als dies vom Gericht festgestellt wurde. Dass die bP vor Gericht die Tat einräumte, sich im gegenständlichen Verfahren jedoch (hinsichtlich der Verbrechenstatbestände) grundsätzlich leugnend präsentierte, lässt erkennen, dass die bP sich verfahrenstaktischer Aussagen bediente und vor dem Strafgericht auf mildernde Umstände hoffte, während sie nunmehr versucht, durch das Abtreiten von essenziellen Tatbestandsmerkmalen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu entgehen. Die bP hat sich offenbar mit ihrer Straftat nicht hinreichend auseinandergesetzt, sondern sucht die Schuld nach wie vor bei ihren Opfern, weshalb eine neuerliche Delinquenz nicht ausgeschlossen erscheint. Das Bestreiten der essenziellen Tatbestandsmerkmale führt zu der Annahme, dass die bP trotz ihrer gerichtlichen Verurteilungen nicht bereit ist, sich von dem ihr angelasteten Verhalten zu distanzieren. Dadurch gefährdet die bP die öffentliche Ordnung und Sicherheit und widerstreitet der Aufenthalt der bP daher den öffentlichen Interessen.
Die Schwere des Fehlverhaltens der bP zeigt sich insbesondere auch darin, dass die bP nicht nur ihr unmittelbares Opfer nötigte und ihn in erhebliche Gefahr für Leib und Leben brachten, sondern nicht einmal davor zurückschreckte unbeteiligte Dritte (den Sohn und die Frau des XXXX ) mit vorgehaltener Faustfeuerwaffe zu bedrohen, was eine besondere Verrohung ihres Charakters nahelegt. Die bP ist bereit, Rechtsansprüche (seien diese real oder eingebildet) mit Waffengewalt durchzusetzen und schreckt dabei auch nicht davor zurück, in die Rechtssphäre Unbeteiligter einzugreifen, die angesichts ihres brutalen und rücksichtslosen Vorgehens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit traumatisiert und in ihrem Rechtsempfinden sowie ihrem subjektiven Sicherheitsgefühl erheblich gestört zurückgelassen wurden. Auch muss berücksichtigt werden, dass die bP in alkoholisiertem Zustand und im Besitz einer geladenen Waffe ein öffentliches Verkehrsmittel benutzte, wodurch eine erhebliche Gefahr für die anderen Passagiere verwirklicht wurde, kann es schließlich a priori nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einem Unfall mit der Waffe gekommen wäre oder die bP diese verloren hätte und sie in weiterer Folge von anderen nichtberechtigten Personen (oder gar Kindern) aufgefunden worden wäre. Auch lässt bereits die Inbesitznahme der Pistole nach Auffinden in einem Abbruchhaus eine Gefährlichkeit der bP erkennen, hätte sie doch jedenfalls die zuständigen Behörden verständigen müssen, anstatt mit der geladenen Pistole noch ihren Arbeitstag zu beenden und diese mit nach Hause zu nehmen.
3.8.4.2. Eine hohe Gefährlichkeit der bP besteht weiters aufgrund ihrer Überzeugung hinsichtlich der terrorostischen Organisation der PKK und den von ihr gesetzten Unterstützungs- und Propagandahandlungen aus. Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Bei der PKK handelt es sich um eine terroristische bzw. kriminelle Organisation, deren Mitgliedschaft bzw. Unterstützung ein bestrafungswürdiges Verhalten darstellt. Ebenso sprechen die seitens der PKK verübten Anschläge eine klare Sprache und bedarf es vor deren Hintergrund wohl keiner weitschweifenden Ausführungen, wonach hier das kriminelle Motiv vor dem politischen bei weitem überwiegt (vgl. 3.4.1.). Die Unterstützung einer derartigen Organisation, welche auch nach der österreichischen Strafordnung unter Strafe gestellt ist, lässt einmal mehr ein Fehlen einer Verbundenheit zu rechtsstaatlich geschützten Werten erkennen und stellt eine schwerwiegende Beeinträchtigung öffentlicher Interessen dar. Dass die bP derartige Propagandahandlungen während ihres Aufenthaltes in Österreich setzte, zeigt darüber hinaus auch, dass sie sich nicht an die österreichische Rechtsordnung zu halten verpflichtet fühlt und von ihr eine erhebliche kriminelle Energie ausgeht.
Die bP leugnete während des gesamten Verfahrens nicht, die ihr zur Last gelegten Tathandlungen auch begangen zu haben. Ebenso wenig zeigte die bP diesbezüglich Reue oder brachte zum Ausdruck, dass sie ihr gesetztes Verhalten mittlerweile als falsch erachte. Das Verhalten der bP gegenüber dem BFA und dem BVwG untermauert die Gemeingefährlichkeit der bP, zumal dadurch zu Tage trat, dass sie sich ihres eigenen Verhaltens nicht bewusst ist und nicht in der Lage ist, ihr gesetztes Verhalten als nicht richtig zu bewerten. Die bP konnte somit keine Distanzierung von ihren Taten glaubhaft erkennen lassen und vermittelte nicht, dass sie den Unrechtsgehalt ihres Verhaltens einzusehen vermag.
3.8.4.3. Darüber hinaus gestand die bP sowohl in der behördlichen Einvernahme am 02.06.2021, als auch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, in Österreich Cannabis konsumiert zu haben, obwohl sie wusste, dass dies in Österreich nicht erlaubt ist, was einmal mehr ihre mangelnde Bereitschaft sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten, erkennen lässt.
3.8.5. Ein Wegfall der von der beschwerdeführenden Partei ausgehenden Gefährdung kann angesichts ihres bisherigen Lebenswandels sowie des in der Beschwerdeverhandlung gewonnenen Eindrucks zum Entscheidungszeitpunkt nicht erkannt werden.
Aufgrund der hohen kriminellen Energie, die der Nötigung der bP innewohnte, ihrer offensichtlichen Rücksichtslosigkeit hinsichtlich der Rechte Dritter, der Überzeugung hinsichtlich der terrorostischen Organisation der PKK und den von ihr gesetzten Unterstützungs- und Propagandahandlungen und der fehlenden Einsicht sowie Reue der von ihr gesetzten Handlungen, kann das Bundesverwaltungsgericht keine positive Zukunftsprognose treffen. Darüber hinaus brachte die bP mehrmals ihre Gleichgültigkeit gegenüber der österreichischen Rechtsordnung klar zum Ausdruck und ließ erkennen, sich den demokratisch-rechtsstaatliche Grundsätzen nicht verbunden zu fühlen.
Insgesamt ergibt sich aus dem Persönlichkeitsprofil, dass die bP nicht bereit ist sich an Gesetze zu halten. Das dargestellte Verhalten der bP ist unbestritten den Grundinteressen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit massiv zuwidergelaufen. Die von der bP gesetzten Handlungen beeinträchtigen in gravierendem Ausmaß die öffentlichen Interessen an der Verhinderung strafbarer Handlungen.
3.8.6. Zutreffend verwies das BFA in seiner Entscheidungsbegründung darauf, dass es bei einer Abwägung der im gegenständlichen Fall betroffenen Interessen einer Gesamtbeurteilung des bisherigen Verhaltens der bP und ihrer privaten- und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich bedurfte.
Eine entsprechende Interessensabwägung im Sinne des Art 8 EMRK wurde bereits durchgeführt, ebenso wurde bereits dargelegt, welchen öffentlichen Interessen im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK der Aufenthalt der bP im Bundesgebiet widersprechen.
Unstrittig hat die bP die bereits dargelegten privaten und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich vorzuweisen, welche jedoch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände nicht sehr stark ausgeprägt sind.
Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände sowie in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergeben Persönlichkeitsbildes der bP kann eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit als gegeben angenommen werden und ist, wie oben ebenfalls schon genauer dargelegt, eine aus dem Einreiseverbot allenfalls resultierende Trennung von Freunden sowie Sohn in Kauf zu nehmen. In Gegenüberstellung zum daraus abzuleitenden persönlichen Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet kam somit der aus dem eben dargestellten Sachverhalt abzuleitenden Gefährdungsprognose zu Lasten der bP ein höheres Gewicht zu, weshalb sich das vom BFA verhängte Einreiseverbot schon dem Grunde nach als rechtskonform erwies.
Es kann daher der belangten Behörde nicht vorgeworfen werden, wenn sie im vorliegenden Fall von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausging, welche die Anordnung eines Einreiseverbotes erforderlich macht.
3.8.7. Im gegenständlichen Fall erweist sich allerdings die von der belangten Behörde verhängte Dauer des Einreiseverbots von sechs Jahren als zu hoch bemessen:
Auch bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes kommt es jedoch nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden an, sondern ist immer auf das zugrundeliegende Verhalten (arg. Einzelfallprüfung) abzustellen. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild (VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237).
Bei der Entscheidung über die Länge des Einreiseverbots ist die Dauer der vom Fremden ausgehenden Gefährdung zu prognostizieren; außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109 unter Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237).
In diesem Zusammenhang war das berechtigte Interesse an einem persönlichen Kontakt der bP mit ihrem Sohn zugunsten der bP zu würdigen und bildete daher einen Grund dafür, die im Spruch angeführte Reduzierung der Dauer des Einreiseverbotes vorzunehmen. Zum hg. Entscheidungszeitpunkt würde daher die gegenwärtig herangezogene Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten sowie einer Geldstrafe in der Höhe von insgesamt 1.200 Euro verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, in Zusammenschau mit den nunmehr bestehenden privaten und familiären Anknüpfungspunkten der bP eine Verhängung eines Einreiseverbotes im Ausmaß von sechs Jahren nicht mehr rechtfertigen.
Unter Berücksichtigung der vom Strafgericht verhängten Strafe sowie des Gesamtfehlverhaltens der bP sowie ihrer sonstigen persönlichen Umstände (Sohn im Bundesgebiet) war aufgrund der getroffenen Gefährlichkeitsprognose das von der belangten Behörde verhängte Einreiseverbot daher auf vier Jahre herabzusetzen. Allerdings erweist sich eine Herabsetzung des Einreiseverbotes auf weniger als vier Jahre nicht angemessen, zumal das persönliche Fehlverhalten der bP erheblich ist, ihrer strafrechtlichen Verurteilung ein besonders hoher Unrechtsgehalt zugrunde liegt, sie Sympathien für die terrorostische Organisation PKK hegt und für diese Unterstützungs- und Propagandahandlungen setzte, über keine Reue oder Einsicht für die von ihr gesetzten Handlungen verfügt und wiederholt ihre Gleichgültigkeit gegenüber der österreichischen Rechtsordnung zum Ausdruck brachte.
Die Dauer des Einreiseverbots war daher spruchgemäß in angemessener Weise auf vier Jahre herabzusetzen und die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt VII. insoweit abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Mangels offener Rechtsfragen - siehe die oben zitierte Judikatur des VwGH - ist die Revision nicht zulässig.
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