VwGH Ra 2017/21/0191

VwGHRa 2017/21/019115.3.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des E H M M in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. August 2017, Zl. W232 2133127-1/6E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

62011CJ0529 Alarape und Tijani VORAB;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z2;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
MRK Art8;
NAG 2005 §55 Abs3;
NAG 2005 §55;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017210191.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Senegal, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 2. August 2016 gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG ausgewiesen; gemäß § 70 Abs. 3 FPG wurde ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt.

2 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet abgewiesen.

3 Das BVwG stellte fest, dass der Revisionswerber am 28. Jänner 2010 eine deutsche Staatsangehörige geheiratet habe. Er sei seit 21. September 2010 - mit einer kurzen Unterbrechung vom 21. Mai bis 22. August 2013 - in Österreich gemeldet. Als Ehemann einer EWR-Bürgerin sei ihm am 20. Dezember 2010 eine Aufenthaltskarte ausgestellt worden. Am 1. November 2011 sei die Scheidung eingeleitet worden, am 11. Februar 2013 sei die Ehe rechtskräftig geschieden worden. Die Scheidung sei der zuständigen Behörde nicht gemeldet worden.

4 Der Revisionswerber sei von 17. Juni bis 5. September 2011 geringfügig und von 7. September 2011 bis 9. Mai 2012 "übergeringfügig" beschäftigt gewesen; von 5. Februar bis 7. März 2013 habe er Arbeitslosengeld bezogen; von 8. März bis 9. Mai 2013 sei er bei einem gemeinnützigen Beschäftigungsprojekt beschäftigt gewesen, von 30. September bis 21. November 2013 habe er erneut Arbeitslosengeld bezogen; nach einer Beschäftigung von 22. November 2013 bis 23. Jänner 2014 bei dem gemeinnützigen Beschäftigungsprojekt habe er von 24. Jänner bis 15. Juli 2014 Arbeitslosengeld und von 16. Juli bis 4. Dezember 2014 sowie von 3. Februar bis 7. Juli 2015 Notstandshilfe bezogen. Von 7. April bis 31. Juli 2015 sei er geringfügig, von 8. Juli 2015 bis 7. Jänner 2016 "übergeringfügig" und von 17. August bis 16. September 2016 wieder geringfügig beschäftigt gewesen; zugleich sei er von 26. August bis 30. November 2016 abermals und dann wieder seit 3. Februar 2017 bei dem gemeinnützigen Beschäftigungsprojekt beschäftigt gewesen.

5 Er sei in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Am 7. April 2017 habe er eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet und lebe mit dieser seit 12. April 2017 im gemeinsamen Haushalt. Er spreche Deutsch auf A2-Niveau. Er habe bis zu seinem 57. Lebensjahr im Senegal gelebt und spreche die dortige Landessprache auf muttersprachlichem Niveau. Er sei gesund und arbeitsfähig.

6 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber bei seiner Niederlassung in Österreich mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet gewesen sei und mit ihr einen gemeinsamen Wohnsitz im österreichischen Bundesgebiet gehabt habe, weshalb ihm gemäß § 54 Abs. 1 NAG ein Aufenthaltsrecht zugekommen sei. Am 2. November 2011 sei aber die am 10. Februar 2013 rechtskräftig gewordene Scheidung eingeleitet worden. In Ermangelung einer mindestens drei Jahre dauernden Ehe vor Einleitung des Scheidungsverfahrens oder eines Härtefalles liege kein Ausnahmetatbestand nach § 54 Abs. 5 Z 1 und Z 4 NAG vor, weshalb dem Revisionswerber gemäß § 55 NAG kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht mehr zugekommen sei.

7 Gemäß § 54 Abs. 6 NAG habe der Angehörige die für sein Aufenthaltsrecht relevanten Umstände, insbesondere die Scheidung einer Ehe, der Behörde unverzüglich bekannt zu geben. Dieser Verpflichtung sei der Revisionswerber nicht nachgekommen. Ihm sei nach rechtskräftiger Scheidung am 11. Februar 2013 kein Aufenthaltsrecht als Angehöriger einer aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgerin mehr zugekommen. Er sei daher nur von 21. September 2010 bis 11. Februar 2013 rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig gewesen, sodass ihm entgegen dem Beschwerdevorbringen kein Daueraufenthaltsrecht nach § 54a Abs. 1 NAG zukomme.

8 Der Revisionswerber habe familiäre Bindungen in Österreich, weil er mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei. Die Eheschließung sei jedoch nach der erstinstanzlichen Ausweisungsentscheidung und somit zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem sich der Revisionswerber seines unrechtmäßigen Aufenthalts bewusst sein musste. Er habe bereits seit 2013 kein Aufenthaltsrecht mehr gehabt. Ein gemeinsamer Haushalt mit seiner Ehefrau bestehe außerdem erst seit dem 12. April 2017. Der Revisionswerber habe die Beziehung sohin im Wissen um die Unsicherheit seines weiteren Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet aufgenommen und intensiviert. In diesen Fällen könne eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten; ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor, zumal allein die Tatsache des Bestehens einer Familiengemeinschaft mit einer zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigten Person nicht ausreiche, um annehmen zu können, dass mit der angeordneten Rückkehrentscheidung jedenfalls in unzulässiger Weise in das nach Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Familienleben eingegriffen würde. Es lägen auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend vor, dass es dem Revisionswerber nicht möglich oder zumutbar wäre, bei Aufrechterhaltung des Wohnsitzes seiner Familienangehörigen in Österreich den Kontakt mit diesen über diverse Kommunikationsmittel wie Internet oder Telefon und durch regelmäßige Besuche seiner Ehefrau im Senegal aufrechtzuerhalten.

9 Der Revisionswerber sei zum Entscheidungszeitpunkt knapp sieben Jahre, davon nur zweieinhalb Jahre rechtmäßig, in Österreich aufhältig gewesen. Drei Jahre (37 Monate) sei er "übergeringfügig" beschäftigt gewesen, wobei der überwiegende Teil dieser Beschäftigung bei einem gemeinnützigen Beschäftigungsprojekt erfolgt sei. Insgesamt zweieinhalb Jahre (29 Monate) habe er Arbeitslosengeld und Notstandshilfe bezogen. Dem BFA könne daher nicht entgegen getreten werden, wenn es von einer nur geringen beruflichen und wirtschaftlichen Integration ausgegangen sei. Soziale Bindungen zu österreichischen Staatsbürgern seien abgesehen von der Ehefrau nicht nachgewiesen worden. Umgekehrt könne nicht von einer Entwurzelung des Revisionswerbers im Senegal ausgegangen werden.

10 Insgesamt habe sich bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG nicht ergeben, dass vorhandene familiäre oder nachhaltige private Bindungen des Revisionswerbers in Österreich das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts überwiegen würden.

11 Von der Durchführung einer Verhandlung sah das BVwG gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG ab.

12 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

 

13 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

14 Der Revisionswerber macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geltend, dass das BVwG zu Unrecht keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

15 Damit ist er im Recht. Von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Verhandlung hätte zwar bei Vorliegen der in § 21 Abs. 7 BFA-VG umschriebenen Voraussetzungen abgesehen werden dürfen. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung kann bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen aber im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289).

16 Von einem solchen eindeutigen Fall kann aber schon im Hinblick auf die Ehe des unbescholtenen Revisionswerbers mit einer österreichischen Staatsbürgerin keine Rede sein (vgl. zur Bedeutung der Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0130, Rn. 15, mwN; demnach ist die Trennung von einem österreichischen Ehepartner nur dann gerechtfertigt, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den Familiennachzug). Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung nicht berücksichtigte, hat es auch materiell die Rechtslage verkannt.

17 Das BVwG hat das angefochtene Erkenntnis daher mit (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, auch wenn die weitere Annahme des Revisionswerbers, er habe auf Grund seiner bis zur Ausweisung gültigen Aufenthaltskarte das unionsrechtliche Daueraufenthaltsrecht erworben, nicht zutrifft. Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar im Erkenntnis VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005, ausgesprochen, dass ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt wurde, selbst bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG rechtmäßig aufhältig bleibt. Das bedeutet aber nicht, dass auch im Aufenthaltsbeendigungsverfahren, in dem verbindlich über das Weiterbestehen der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht entschieden wird, für die Vergangenheit in Bezug auf den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts vom Vorliegen dieser Voraussetzungen auszugehen ist; vielmehr hat die Behörde in diesem Verfahren eigenständig zu beurteilen, bis zu welchem Zeitpunkt die Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht vorlagen und ob ausgehend davon bereits das Daueraufenthaltsrecht erworben wurde. Dass innerstaatliche Berechtigungen insoweit irrelevant sind, hat der EuGH etwa in seinem Urteil EuGH 8.5.2013, Alarape und Tijani, C-529/11 , Rn. 35 ff, ausgesprochen.

18 Das angefochtene Erkenntnis war aus den oben genannten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. März 2018

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