VwGH Ra 2019/20/0446

VwGHRa 2019/20/044624.9.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, in der Rechtssache der Revision des M W in G, vertreten durch Mag. Martin Sauseng, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/II, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. August 2019, W210 2193406-1/49E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt rechtlich davon abhängenden Aussprüche nach dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019200446.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der aus Afghanistan stammende Revisionswerber reiste zusammen mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen minderjährigen Tochter nach Österreich ein und stellte am 1. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen brachte der Revisionswerber vor, er werde von der Familie seiner Ehefrau verfolgt, weil er gegen den Willen ihrer Familie heimlich geheiratet habe. Zudem sei er zum Christentum konvertiert. 2 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 11. August 2017 wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs. 1 StGB und des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 11. Jänner 2018 als unzulässig zurückgewiesen. Am 27. April 2018 wurde der Revisionswerber aus der Strafhaft bedingt entlassen.

3 Mit Bescheid vom 26. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, sprach aus, dass dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt werde, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Weiters legte die Behörde die Frist für die freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 5. August 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer Verhandlung - in Bezug auf die Nichtzuerkennung von Asyl mit einer hier nicht weiter relevanten Änderung des Spruches - als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 5 Das BVwG erkannte mit Erkenntnissen vom selben Tag, Zlen. W210 2193408-1/38E und W210 2193407-1/38E, der Ehefrau und der Tochter des Revisionswerbers jeweils den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 9 Die Revision wendet sich in ihrem Vorbringen zur Begründung ihrer Zulässigkeit gegen die vom BVwG vertretene Ansicht, die Erlassung einer aufenthaltsbeendenen Maßnahme erweise sich als verhältnismäßig. Das BVwG habe eine "antizipierende Beweiswürdigung" vorgenommen, weil es sich bei der Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK und bei der Gefährdungsprognose beweiswürdigend entscheidungsrelevanter Feststellungen "bedient habe", welche von keinerlei Ermittlungsergebnissen gedeckt seien. Es bestehe weder eine aktuelle Gefährdung in der Person des Revisionswerbers, noch gefährde der Revisionswerber das Kindeswohl seiner Tochter. 10 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufhaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2019/14/0260, wmN). Die durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist im Allgemeinen, wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wird, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 29.5.2018, Ra 2018/20/0256, mwN).

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die "freie Beweiswürdigung" gemäß § 45 Abs. 2 AVG - bezogen auf das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht: iVm § 17 VwGVG - erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0302, mwN). Der Vorwurf im Zulässigkeitsvorbringen betrifft hingegen nicht die unzulässige Vorwegnahme vermuteter Ergebnisse nicht aufgenommener Beweise. Es ist nicht erkennbar, welche Beweis(anbot)e vom BVwG im Vorhinein gewürdigt worden sein sollen.

12 Soweit der Revisionswerber Ermittlungsmängel geltend macht, ist auf die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Zulässigkeit einer Revision neben einem eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufwerfenden Verfahrensmangel voraussetzt, dass die Revision von der Lösung dieser geltend gemachten Rechtsfrage auch abhängt. Davon kann im Zusammenhang mit einem Verfahrensmangel aber nur dann ausgegangen werden, wenn auch die Relevanz des Mangels für den Verfahrensausgang dargetan wird; das heißt, dass dieser abstrakt geeignet sein muss, im Falle eines mängelfreien Verfahrens zu einer anderen, für den Revisionswerber günstigeren, Sachverhaltsgrundlage zu führen (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0186, mwN).

13 Es gelingt der Revision mit ihrem Vorbringen jedoch nicht aufzuzeigen, dass die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK - selbst bei Annahme, das Kindeswohl der Tochter werde bei Aufrechterhaltung des Familienlebens nicht gefährdet - unvertretbar gewesen wäre.

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0235; VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0163, 0164 und VwGH 5.9.2018, Ra 2018/01/0179, jeweils mwN). In seiner rezenten Judikatur hat der Verwaltungsgerichtshof eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, im Ergebnis nur dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2016/21/0199, mwN (Trennung von einem österreichischen Ehepartner); 23.2.2017, Ra 2016/21/0235 (Trennung von der in Österreich asylberechtigten Ehefrau und asylberechtigten minderjährigen Kindern)). 15 Das BVwG nahm einen durch die Trennung der Familienangehörigen bewirkten Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte an. Es kam jedoch zu dem Schluss, dass die Interessenabwägung zu Lasten des Revisionswerbers ausgehe und ein Eingriff in diese Rechte somit zulässig sei. Das BVwG ging dabei davon aus, dass zwischen dem Revisionswerber und seiner Tochter kein finanzielles - oder sonstiges - Abhängigkeitsverhältnis bestehe und das Familienleben des Revisionswerbers durch die lange Haftdauer relativiert sei. Das greift die Revision nicht substantiiert an. Bei dieser Ausgangslage war es im Ergebnis aber zumindest vertretbar, dass das BVwG auch bei Berücksichtigung aller zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter Einbeziehung der Straffälligkeit des Revisionswerbers durch Begehung der Straftat des sexuellen Missbrauchs Unmündiger nach § 207 Abs. 1 StGB und unter Berücksichtigung der konkreten Tatbegehungen für dringend geboten iSd § 9 Abs. 1 BFA-VG erachtete und vom einem Überwiegen der öffentlichen Interessen gegenüber den familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers ausgegangen ist.

16 Soweit die Revision die Gefährdungsprognose angreift, verkennt sie, dass diese im Hinblick auf die Begründung des Erkenntnisses im Zusammenhang mit dem Vorliegen eines Asylausschlusstatbestandes nach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 geboten war. Eine wie hier auf § 52 Abs. 2 Z 2 FPG gestützte Rückkehrentscheidung bedarf keiner Gefährdungsprognose. 17 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Wien, am 24. September 2019

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