VwGH Ra 2016/21/0199

VwGHRa 2016/21/019923.3.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und den Hofrat Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Tanzer, über die Revision des E A O in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 6. Juni 2016, Zl. VGW- 051/078/3828/2015-35, betreffend Bestrafung nach dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §38;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §120 Abs1a;
FrPolG 2005 §31 Abs1;
MRK Art8;
VStG §6;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016210199.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: VwG) die Beschwerde des Revisionswerbers, eines nigerianischen Staatsangehörigen, gegen ein Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 5. Februar 2015 - mit hier nicht relevanten Maßgaben - als unbegründet ab. Dem Revisionswerber wurde angelastet, er habe sich am 11. September 2014 um 13:30 Uhr an einem näher genannten Ort nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, wodurch er § 120 Abs. 1a iVm § 31 Abs. 1 FPG verletzt habe. Es wurde eine Geldstrafe von EUR 500,-- (Ersatzfreiheitsstrafe: vier Tage und vier Stunden) verhängt.

2 Das VwG stellte im Wesentlichen fest, dass der Revisionswerber im Jahr 2010 in Spanien die österreichische Staatsbürgerin B.T. geheiratet habe. Auf Grund dieser Ehe sei ihm eine bis 13. April 2015 gültige spanische Aufenthaltskarte ausgestellt worden. Er sei mit seiner Ehefrau - die ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten (§ 57 NAG) nicht in Anspruch genommen habe - nach Österreich gezogen, aber nach seinen eigenen Angaben immer wieder - nach jeweils zwei oder drei Monaten Aufenthalt - ausgereist. Am 22. November 2010 sei der gemeinsame Sohn des Revisionswerbers und seiner Ehefrau geboren worden. Am 16. September 2011 sei die Ehe einvernehmlich geschieden worden. Die alleinige Obsorge über das Kind sei der Mutter zugestanden, der Revisionswerber habe ein wöchentliches Besuchsrecht gehabt. In der Folge sei das Kind auf Grund der Überforderung der Mutter zeitweise in einer heilpädagogischen Wohngemeinschaft in A untergebracht gewesen, wo es der Revisionswerber ebenfalls regelmäßig besucht habe. Er habe eine gute Beziehung zu seinem Sohn aufbauen können; das Kind habe auch wochenweise Zeit beim Revisionswerber und seiner damaligen Lebensgefährtin M.S. verbracht. Ein Antrag des Revisionswerbers, ihm die Obsorge für seinen Sohn zu übertragen, sei abgewiesen worden, es sei ihm jedoch das Recht eingeräumt worden, den (wieder bei der Mutter lebenden) Sohn alle zwei Wochen über das Wochenende und in den Wochen dazwischen jeweils einen Nachmittag und eine Nacht zu betreuen. Nachdem B.T. im Dezember 2013 mit dem Kind nach V gezogen sei, sei dem Revisionswerber mit Gerichtsbeschluss vom 30. April 2014 ein Kontaktrecht alle 14 Tage eingeräumt worden. Dieses Kontaktrecht habe er mit wenigen Ausnahmen wahrgenommen. Kurz nach der Scheidung sei er eine Lebensgemeinschaft mit der österreichischen Staatsbürgerin M.S. eingegangen, die er am 21. Februar 2014 geheiratet habe. Seither habe er sich "im Wesentlichen durchgehend" in Österreich aufgehalten.

3 Am 16. Jänner 2014 habe der Revisionswerber beim Magistrat der Stadt Wien die Ausstellung einer "Rot-Weiß-Rot-Karte (Schlüsselkräfte)" beantragt. Am 10. März 2014 habe er diesen Antrag zurückgezogen und stattdessen einen Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" beantragt. Der beantragte Titel sei ihm am 13. März 2015 erteilt worden.

4 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das VwG mit näherer Begründung aus, dass sich der Revisionswerber zum Tatzeitpunkt unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. In der Folge verneinte es, dass auf Grund seiner familiären Bindungen ein Strafausschließungsgrund nach § 6 VStG vorliege. Zu seinem Sohn habe er seit der Scheidung nur mehr Besuchskontakt, wobei es zwischen August 2013 und Juni 2014 zu keinem Besuch gekommen sei. Die Beziehung zu seinem Sohn sei daher bei der Interessenabwägung in ihrem Gewicht erheblich gemindert. Hinsichtlich der Beziehung zu seiner Ehefrau M.S. führte das VwG aus, dass das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden sei, zu dem sich beide Partner des unsicheren Aufenthaltsstatus des Revisionswerbers bewusst gewesen seien. Die sonstige berufliche und private Integration des Revisionswerbers in Österreich im September 2014 sei als gering einzustufen. Er habe nach wie vor familiäre Bindungen nach Nigeria. Obwohl der Revisionswerber strafrechtlich unbescholten sei, ergebe "somit" die Interessenabwägung, "insbesondere unter Berücksichtigung des hohen Stellenwertes, der den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden in Österreich regelnden Bestimmungen zukommt, und der in ihrem Gewicht erheblich geminderten familiären und privaten Interessen" des Revisionswerbers, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen ihn am 11. September 2014 (Tatzeitpunkt) zulässig gewesen wäre.

5 Schließlich bejahte das VwG das Verschulden des Revisionswerbers und erläuterte die Strafbemessung. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Aktenvorlage durch das VwG und Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

7 Der Revisionswerber bringt - erkennbar auch unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG - vor, dass das VwG im Hinblick auf seine familiären Verhältnisse, insbesondere das Wohl seines Sohnes, zu Unrecht keinen Strafausschließungsgrund nach § 6 VStG angenommen habe.

8 Dieses Vorbringen führt - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - zur Zulässigkeit der Revision.

9 Zwar ist das VwG zu Recht davon ausgegangen, dass sich der Revisionswerber zum Tatzeitpunkt unrechtmäßig in Österreich aufgehalten hatte; insbesondere kam ihm entgegen dem Revisionsvorbringen kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu, gab es doch keine Anhaltspunkte dafür, dass sein Sohn im Fall der Verweigerung eines Aufenthaltsrechts des Revisionswerbers im Sinn der mit dem Urteil vom 8. März 2011, Zambrano (C-34/09 ), eingeleiteten und mit dem Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C-256/11 ), fortgesetzten Rechtsprechung des EuGH "de facto gezwungen" gewesen wäre, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen.

10 Gegen den Revisionswerber war aber zum Tatzeitpunkt keine (rechtskräftige) aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen worden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist für einen solchen Fall von der Strafbehörde im Rahmen einer Vorfragenbeurteilung selbst die gebotene Interessenabwägung unter dem Gesichtspunkt der (hypothetischen) Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme vorzunehmen. Ergibt sich dabei, dass eine (hypothetische) aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen den Fremden im Tatzeitraum nicht gerechtfertigt gewesen wäre, so wirkt sich dies im Ergebnis auch auf die Strafbarkeit des inländischen Aufenthaltes gemäß § 120 Abs. 1a FPG aus. Denn wären auch Fremde, die derart intensive private (und familiäre) Bindungen in Österreich haben, dass ihr Interesse an deren Aufrechterhaltung die entgegenstehenden öffentlichen Interessen an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme überwiegt, von der Strafdrohung der genannten Norm erfasst, so läge darin ein dem Gesetzgeber nicht zusinnbarer Wertungswiderspruch. Es muss daher das Vorliegen eines gesetzlichen Strafausschließungsgrundes nach § 6 VStG angenommen werden, wenn einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme des Fremden eine zu seinen Gunsten ausfallende Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Weg steht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. Februar 2014, 2013/21/0169, mwN).

11 Das VwG hat eine solche Interessenabwägung zwar vorgenommen, dabei aber den familiären Bindungen des Revisionswerbers in Österreich nicht das ihnen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Gewicht beigemessen.

12 Zum einen war im Hinblick auf die Ehe des Revisionswerbers mit einer österreichischen Staatsbürgerin darauf Bedacht zu nehmen, dass eine Trennung von einem österreichischen oder in Österreich dauerhaft niedergelassenen Ehepartner alleine wegen eines unrechtmäßigen Aufenthaltes nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht verhältnismäßig wäre; eine solche Trennung hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner rezenten Judikatur im Ergebnis nur dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den "Familiennachzug" (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0271, Rz 13 f, mwN). Im vorliegenden Fall wäre im Übrigen auch zu berücksichtigen gewesen, dass der Revisionswerber zum Tatzeitpunkt bereits einen Antrag auf Erteilung eines von seiner Ehefrau abgeleiteten Aufenthaltstitels gestellt hatte, dem einige Monate später stattgegeben wurde.

13 Zum anderen kann dem VwG auf Basis seiner Feststellungen auch nicht darin gefolgt werden, dass die Beziehungen des Revisionswerbers zu seinem Sohn "erheblich gemindert" waren. Der Revisionswerber hat sein Besuchsrecht, soweit es ihm möglich war (was etwa zwischen Dezember 2013 und April 2014 aus nicht dem Revisionswerber zuzurechnenden Gründen nicht der Fall war), regelmäßig ausgeübt. Mag das Familienleben mit seinem Sohn auch nicht die gleiche Intensität gehabt haben wie bei einem Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt, so kann doch nicht allein wegen der zeitlichen Begrenztheit der Kontakte gesagt werden, dass die dauerhafte Trennung des Kindes vom Vater durch dessen Aufenthaltsbeendigung im vorliegenden Fall keine maßgebliche Beeinträchtigung des Familienlebens und insbesondere auch des Kindeswohls darstellen würde (vgl. zum Eingriff in das Familienleben und zur Bedeutung des regelmäßigen persönlichen Kontakts zu einem Elternteil auch bei fehlender Obsorge etwa auch das einen ähnlichen Fall betreffende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 12. Oktober 2016, E 1349/2016). Demnach hat das Verwaltungsgericht verkannt, dass es sich in der vorliegenden Konstellation eingehend mit der Frage hätte auseinandersetzen müssen, welche konkreten Auswirkungen eine Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers auf die Beziehung zu seinem Sohn und auf dessen Wohl gehabt hätte.

14 Somit war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. März 2017

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