OGH 14Os34/00; 13Os61/00; 12Os87/04; 14Os67/04; 11Os56/04; 14Os76/05s (RS0113755)

OGH14Os34/00; 13Os61/00; 12Os87/04; 14Os67/04; 11Os56/04; 14Os76/05s11.3.2024

Rechtssatz

Beurteilt ein Gericht nicht nur die im Anklagetenor genannte Tat in rechtlicher Hinsicht abweichend von der Anklage, spricht es den Angeklagten vielmehr - wenngleich ohne Abgehen von dem der Anklage (als Gesamtheit) zugrunde liegenden Sachverhalt - statt der im Anklagetenor genannten Tat einer anderen Tat schuldig, muss mit Blick auf die Fairness des Verfahrens zugunsten des Angeklagten dem Schutzzweck des § 262 StPO zuvor entsprochen worden sein. Dabei steht die strikte Einhaltung der von § 262 StPO beschriebenen Form als solche nicht unter der Nichtigkeitssanktion des § 281 Abs 1 Z 8 StPO. So wird etwa eine abweichende Beurteilung durch den Ankläger in der Hauptverhandlung dem grundrechtlich geschützten Ziel, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu verfügen (Art 6 Abs 3 lit b MRK), durchaus gerecht, weil es dem Angeklagten solcherart offensteht, sich dazu zu äußern sowie Fragen und Anträge zu seiner Verteidigung zu stellen, deren Missachtung einen Verfahrensmangel (§ 281 Abs 1 Z 4 StPO) begründen kann. Die in einer - danach mehrfach wegen Zeitablaufes und Richterwechsels (§ 276a StPO) wiederholten - Hauptverhandlung gestellte Frage des Vorsitzenden (§ 245 Abs 1 erster Satz StPO): "Haben sie in Österreich Zigaretten erworben, bei denen die Eingangsabgaben nicht bezahlt waren?" für sich allein genügt aber nicht.

Normen

MRK Art6 Abs3 litb IV2
StPO §262 A
StPO §263
StPO §267
StPO §281 Abs1 Z8 A

14 Os 34/00OGH06.06.2000
13 Os 61/00OGH19.07.2000

Auch; Beisatz: Indem das Rechtsmittel mit dem Vorbringen, die zur Qualifizierung des Betruges nach § 147 Abs 1 Z 1 StGB führende Verwendung sogenannter Lugurkunden sei von der Anklage nicht erfasst, weder Verurteilung wegen einer weiteren als der angeklagten Taten, noch eine Verletzung des Schutzzwecks des § 262 StPO behauptet, wird der Ausspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO), wonach der Angeklagte zufolge der bei zwei der insgesamt drei Taten verwendeten, inhaltlich unrichtigen Bilanzen das Verbrechen des nach § 147 Abs 1 Z 1 StGB qualifizierten - auch sonst (Abs 3) schweren - Betruges begangen habe, aus Z 8 nicht prozessförmig kritisiert (§ 285d Abs 1 Z 1 StPO). (T1)

12 Os 87/04OGH23.09.2004

Auch; nur: Beurteilt ein Gericht nicht nur die im Anklagetenor genannte Tat in rechtlicher Hinsicht abweichend von der Anklage, spricht es den Angeklagten vielmehr - wenngleich ohne Abgehen von dem der Anklage (als Gesamtheit) zugrundeliegenden Sachverhalt - statt der im Anklagetenor genannten Tat einer anderen Tat schuldig, muss mit Blick auf die Fairness des Verfahrens zugunsten des Angeklagten dem Schutzzweck des § 262 StPO zuvor entsprochen worden sein. Dabei steht die strikte Einhaltung der von § 262 StPO beschriebenen Form als solche nicht unter der Nichtigkeitssanktion des § 281 Abs 1 Z 8 StPO. (T2)

14 Os 67/04OGH05.10.2004

nur: Beurteilt ein Gericht nicht nur die im Anklagetenor genannte Tat in rechtlicher Hinsicht abweichend von der Anklage, spricht es den Angeklagten vielmehr - wenngleich ohne Abgehen von dem der Anklage (als Gesamtheit) zugrundeliegenden Sachverhalt - statt der im Anklagetenor genannten Tat einer anderen Tat schuldig, muss mit Blick auf die Fairness des Verfahrens zugunsten des Angeklagten dem Schutzzweck des § 262 StPO zuvor entsprochen worden sein. Dabei steht die strikte Einhaltung der von § 262 StPO beschriebenen Form als solche nicht unter Nichtigkeitssanktion. (T3)<br/>Beisatz: Wurde dem Schutzzweck des § 262 StPO, dem Angeklagten ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verschaffen (Art 6 Abs 3 lit b EMRK), nicht entsprochen, so ist eine neue Hauptverhandlung nicht zu vermeiden. (T4)

11 Os 56/04OGH28.09.2004

Auch; nur T2; Beisatz: Nichtigkeit nur, wenn der von § 262 StPO intendierte Schutzzweck der Wahrung von Verteidigungsrechten konkret verletzt wurde. (T5)

14 Os 76/05sEKMR29.07.2005

Auch; Beisatz: Insbesondere dann, wenn sich die im Anklagetenor genannte Tathandlung von jener des Schuldspruchs in erheblichen Teilen unterscheidet, begründet eine Missachtung dieser Informationspflicht auch Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 8 StPO. (T6)

14 Os 108/05xOGH20.12.2005

Vgl auch

14 Os 17/06sOGH04.04.2006

Auch; nur T2; Beis wie T4

12 Os 73/06mOGH21.09.2006

Vgl auch; Beisatz: Wird lediglich der Tatzeitraum ausgedehnt, ist eine ergänzend über dessen Schlussvortrag hinausgehende Anhörung des Angeklagten zur Ausdehnung nicht erforderlich, um eine praktische und wirksame Ausübung von Verteidigungsrechten zu ermöglichen. (T7)

15 Os 85/06yOGH09.11.2006

Auch; nur T3; Beis wie T4

14 Os 84/06vOGH14.11.2006

Vgl auch; Beisatz: Erfolgte der Schuldspruch nicht wegen einer gegenüber der Anklage anderen Tat im materiellen Sinn, bedarf es zur Darstellung des Nichtigkeitsgrundes der Z 8 weitergehenden Vorbringens, das plausibel macht, weshalb dem Beschwerdeführer durch die unterlassene Anhörung die Möglichkeit genommen worden sein soll, sich dazu näher oder anders zu verantworten und entsprechende Fragen oder Anträge zu formulieren, dass also mit Blick auf den veränderten rechtlichen Gesichtspunkt die Verteidigung eine andere gewesen wäre. Ein weitergehendes Vorbringen im aufgezeigten Sinn ist für die erfolgreiche Geltendmachung der Z 8 nur dann entbehrlich, wenn das erkennende Gericht den Angeklagten - wenngleich ohne Abgehen von dem der Anklage (als Gesamtheit) zugrunde liegenden Sachverhalt, also der Tat im prozessualen Sinn - statt der im Anklagetenor genannten Tat einer anderen (im materiellen Sinne) schuldig erkennt und zuvor mit Blick auf die Fairness des Verfahrens dem Schutzzweck des § 262 StPO nicht entsprochen hat. (T8)<br/>Beisatz: Hier: Verurteilung wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, welches bei anklagekonformer Verurteilung nach § 142 StGB verdrängt worden wäre. (T9)

13 Os 87/06bOGH08.11.2006

Vgl auch; Beis wie T8; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen § 212 Abs 1 Z 1 StGB bei Anklage wegen § 211 Abs 2 StGB (selber Lebenssachverhalt). (T10)

13 Os 139/06zOGH24.01.2007

Vgl auch; Beis ähnlich wie T8

11 Os 21/07hOGH24.04.2007

Auch; nur: Beurteilt ein Gericht nicht nur die im Anklagetenor genannte Tat in rechtlicher Hinsicht abweichend von der Anklage, spricht es den Angeklagten vielmehr - wenngleich ohne Abgehen von dem der Anklage (als Gesamtheit) zugrunde liegenden Sachverhalt - statt der im Anklagetenor genannten Tat einer anderen Tat schuldig, muss mit Blick auf die Fairness des Verfahrens zugunsten des Angeklagten dem Schutzzweck des § 262 StPO zuvor entsprochen worden sein. (T11)<br/>Beisatz: Eine aufgrund der Urteilsfeststellungen prinzipiell mögliche Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in der Sache selbst kann nicht erfolgen, weil die Einräumung der Gelegenheit einer prozessualen Reaktion im Nichtigkeitsverfahren nicht möglich ist. (T12)

15 Os 46/07iOGH08.08.2007

Auch; Beis wie T8; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen § 207 Abs 1 und § 212 Abs 1 Z 1 StGB bei Anklage wegen § 206 Abs 1 und § 212 Abs 1 Z 1 StGB. (T13)<br/>Beisatz: Indem das Erstgericht für die Unterstellung der gegenständlich inkriminierten Tathandlungen unter § 206 Abs 1 StGB erforderliche Feststellungen über die Durchführung von Oralverkehr, sohin einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung, nicht zu treffen vermochte, jedoch mehrfache Küsse auf den entblößten Penis des Kindes als erwiesen ansah und damit von - mit geringerer Strafe bedrohten - geschlechtlichen Handlungen iSd § 207 Abs 1 StGB ausging, erfolgte der Schuldspruch nicht wegen einer gegenüber der Anklage anderen Tat im materiellen Sinn. (T14)

11 Os 86/07tOGH21.08.2007

Auch; Beisatz: Hier: Berufungsentscheidung in Betreff des Urteils eines Einzelrichters. (T15)

12 Os 5/07pOGH23.08.2007

Auch; nur T2; Beisatz: Spätestens mit Rechtskraft der Anklage wurde der Angeklagte über die von der darin vertretenen Rechtsansicht abweichende Möglichkeit eines Schuldspruchs wegen des Verbrechens der Untreue als Beteiligter in Kenntnis gesetzt, wenn im Einspruch gegen die Anklageschrift darauf hingewiesen wird, dass der bestehende Tatverdacht auch im Lichte einer allfälligen „Mittäterschaft zur Untreue zu prüfen" sei und in der Entscheidung über den Anklageeinspruch ausgeführt wird, der Einspruchswerber könnte gegebenenfalls „als Beitragstäter zur Untreue angesehen werden". Durch diese - auch dem Verteidiger zugestellte - Entscheidung des Gerichtshofs zweiter Instanz wurde dem Schutzzweck des § 262 StPO und des Art 6 Abs 3 lit a und b MRK, dem Angeklagten die Ausrichtung seiner Verteidigung (auch) an geänderten rechtlichen Gesichtspunkten der Fallbeurteilung zu ermöglichen, uneingeschränkt entsprochen. (T16)

Ds 5/07OGH22.10.2007

Auch

11 Os 108/07bOGH01.04.2008

Auch

12 Os 17/08dOGH13.03.2008

Vgl auch

11 Os 32/08bOGH01.04.2008

Vgl auch

11 Os 65/08fOGH27.05.2008

Vgl auch

11 Os 106/09mEGMR13.10.2009

Auch

Bsw 42780/98EGMR20.04.2006

nur T11; Veröff: NL 2006,95

12 Os 133/09iOGH29.10.2009

Vgl

14 Os 142/09bOGH26.01.2010

Vgl auch

14 Os 161/09xOGH02.03.2010

Auch; Bem: Hier: Verurteilung wegen § 83 Abs 1 und § 105 Abs 1 StGB bei Anklage wegen § 142 Abs 1 StGB. (T17)

13 Os 36/09gOGH14.01.2010

Auch; Beisatz: Hier: Erneuerungsantrag. (T18)

13 Os 54/10fOGH19.08.2010

Vgl auch; Beisatz: Hier: Z 8 zufolge Verletzung des § 263 Abs 1 zweiter Satz StPO. (T19)

15 Os 124/10iOGH13.10.2010

Auch; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen § 229 Abs 1 StGB bei Anklage wegen § 302 Abs 1 StGB. (T20)

4 Bkd 1/10OGH20.09.2010

Vgl; Beis wie T5; Beisatz: Hier: Verfahren vor der Obersten Berufungs‑ und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte. (T21)

11 Os 56/10kOGH16.11.2010

Auch; Bem: Hier: Änderung der Beteiligungsform. (T22)<br/>Beisatz: Das Rechtsmittelgericht hat den geltend gemachten Nichtigkeitsgrund nicht nur dann aufzugreifen, wenn vom Angeklagten plausibel gemacht wird, dass die Verteidigung eine andere gewesen wäre, sondern auch dann, wenn die Plausibilität einer anderen Verteidigungsstrategie ohne näheres Vorbringen dazu auf der Hand liegt. (T23)

11 Os 49/11gOGH30.06.2011

Vgl; Beisatz: Eine Verletzung des § 267 StPO kommt bei Abweichungen tatsächlicher, eine solche des § 262 StPO bei Abweichungen rechtlicher Natur in Frage. Gegenstand des Vergleichs von Anklage und Urteil ist dabei nicht die Form, sondern deren Inhalt. (T24)<br/>Beisatz: Hier: Verurteilung als Beitrags- statt als Mittäter. (T25)

13 Os 153/11sOGH05.04.2012

Vgl

11 Os 110/12dOGH09.10.2012

Auch; Beisatz: Hier: Abgrenzung zwischen § 142 Abs 1 und § 144 Abs 1 StGB. (T26)

14 Os 103/12xOGH20.11.2012

Vgl; Beis wie T16

15 Os 16/13mOGH20.03.2013

Vgl; Bem wie T22; Beis wie T23; Beis wie T25

13 Os 121/13mOGH16.05.2013

Vgl

11 Os 128/14dOGH25.11.2014

Vgl

12 Os 43/15pOGH09.07.2015

Auch; nur T2; nur T3

14 Os 108/15mOGH17.11.2015

Auch; Beisatz: Auch ein von der Verteidigung in Richtung der sodann vom Gericht angenommenen, geänderten rechtlichen Beurteilung erstattetes Vorbringen ändert nichts am Erfordernis einer § 262 StPO entsprechenden Information, weil Bezugspunkt der Verteidigung in der Hauptverhandlung immer nur der von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklagevorwurf sein kann. (T27)

14 Os 120/15aOGH15.12.2015

Auch

11 Os 63/15xOGH12.01.2016

Auch; Beis wie T16

12 Os 67/15tOGH28.01.2016

Auch

14 Os 77/15bOGH26.01.2016

Auch; Beis wie T15

15 Os 183/15yOGH17.02.2016

Auch

11 Os 20/16zOGH05.07.2016

Auch; Beis ähnlich wie T8; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen Nötigung bei Anklage auf Raub und Erpressung. (T28)<br/>Beisatz: Der Plausibilisierung einer anderen Verteidigungsstrategie bedarf es insbesondere dann, wenn der sich gänzlich leugnend verantwortende Angeklagte jede Beteiligung an der Tat abgestritten hat. (T29)

13 Os 133/17hOGH09.05.2018

Auch; Beisatz: Der Zeitpunkt in der Hauptverhandlung, zu dem die entsprechende Information erfolgte, ist unter dem Aspekt der Z 8 irrelevant, weil es stets in der Hand des Angeklagten liegt, durch eine – durch den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 4 StPO geschützte – Antragstellung eine Vertagung der Hauptverhandlung zu erwirken. (T30)

11 Os 117/17sOGH13.03.2018

Auch; Beis wie T8; Beis wie T25

12 Os 60/18tOGH23.08.2018

Auch; Beis wie T24

12 Os 116/19dOGH15.10.2019

Vgl; Beis wie T24; Beis wie T25

11 Os 125/19wOGH18.02.2020

Vgl; Beis wie T30

13 Os 32/20kOGH17.06.2020

Beis wie T5; Beis wie T8; Beisatz: Hier: Anklage wegen eines Vergehens nach §§ 15, 127, 129 Abs 1 Z 1 StGB und Schuldspruch wegen eines Vergehens nach § 125 StGB. (T31)

14 Os 110/20pOGH18.02.2021

Vgl; Beis wie T22; Beis wie T25; Beisatz: Hier: Verurteilung als Beitrags‑ statt als Bestimmungstäter. (T32)<br/>Beisatz: Die Plausibilität einer anderen Verteidigungsstrategie liegt bei bloß geänderter Beteiligungsform nur dann auf der Hand, wenn sich die Urteilsfeststellungen über die Tathandlungen und der Anklagevorwurf im Tatsächlichen nicht überdecken (so schon 14 Os 151/10b, 11 Os 56/10k). Bei Abweichungen bloß geringerer Relevanz bedarf es auch in einem solchen Fall eines entsprechenden Vorbringens. (T33)

12 Os 18/21wOGH29.07.2021

Vgl; Beis wie T16

11 Os 76/21tOGH14.09.2021

Vgl; Beis wie T12

13 Os 89/22wOGH23.11.2022

Vgl; Beis wie T8

15 Os 102/22xOGH05.12.2022

Vgl; Beis wie T22; Beis wie T25

12 Os 127/22aOGH19.01.2023

Vgl

11 Os 131/22gOGH14.03.2023

vgl; nur T11; Beisatz wie T12

11 Os 54/23kOGH13.06.2023

vgl; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen §§ 127, 129 Abs 1 Z 3 StGB bei Anklage wegen § 148a Abs 1, Abs 3, § 15 StGB in Abwesenheit des Angeklagten. (T34)

15 Os 128/23xOGH11.03.2024

vgl

Dokumentnummer

JJR_20000606_OGH0002_0140OS00034_0000000_002