European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0110OS00054.23K.0613.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Im Verfahren AZ 13 Hv 86/22t des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzen
1./ der in der Hauptverhandlung am 4. Jänner 2023 erfolgte zusammenfassende Vortrag der Aktenstücke ON 2, 4 und 8 bis 15 § 252 Abs 2a StPO, in Bezug auf das Protokoll der Vernehmung der Zeugin * W* (ON 2.3) in Verbindung mit § 252 Abs 1 StPO;
2./ die Vernehmung der Zeugin * W* in der Hauptverhandlung am 4. Jänner 2023 im Wege einer Online-Konferenz § 247a StPO;
3./ die Fällung des Urteils ohne Anhörung der Beteiligten des Verfahrens zu der in Aussicht genommenen Änderung der rechtlichen Beurteilung der zu IV./ des Strafantrags angeklagten Taten § 262 erster Satz StPO;
4./ der Beschluss, mit dem die Entscheidung über den Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. Februar 2016, AZ 33 Hv 16/16m, und der mit Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 19. Juni 2020, AZ 14 U 352/19i, jeweils gewährten bedingten Strafnachsicht jenem Gericht, das in erster Instanz erkannt hat, vorbehalten wurde, § 494a Abs 1 Z 4 StPO.
Es werden das Abwesenheitsurteil vom 4. Jänner 2023, GZ 13 Hv 86/22t-16.2, im Schuldspruch, demzufolge im Straf- und im Verfallsausspruch, sowie der unter einem gefasste, oben zu 4./ genannte Beschluss aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Gründe:
[1] Im Verfahren AZ 13 Hv 86/22t des Landesgerichts für Strafsachen Wien legte die Staatsanwaltschaft Wien dem Angeklagten * J* als Vergehen des Diebstahls teils durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 3 StGB (I./), als Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241[e] Abs 1 StGB (II./), als Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB (III./) sowie als Vergehen des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs nach § 148a Abs 1, Abs 3, § 15 StGB (IV./) beurteiltes Verhalten zur Last (ON 5).
[2] Der – dem Angeklagten zugestellte (ON 7.1; Zustellnachweis lt VJ) – Strafantrag enthielt einen Antrag auf Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. Februar 2016, AZ 33 Hv 16/16m, und mit Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 19. Juni 2020, AZ 14 U 352/19i, jeweils gewährten bedingten Strafnachsicht.
[3] Der Hauptverhandlung am 4. Jänner 2023 blieb der – im Ermittlungsverfahren förmlich als Beschuldigter vernommene (ON 4.6) und ordnungsgemäß geladene (ON 1.11; Zustellnachweis lt VJ) – Angeklagte (der im Übrigen seine Zustimmung zu einer Verhandlung in Abwesenheit bloß per E‑Mail [vgl dazu allerdings RIS‑Justiz RS0127859] erklärte; ON 14: „[…] können Sie mich gerne in meiner Abwesenheit verurteilen […]“) fern.
[4] Die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien beschloss daraufhin die Durchführung der Hauptverhandlung in dessen Abwesenheit und vernahm zunächst „mit Einverständnis aller Beteiligten“ die – zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung in der Steiermark aufhältige (ON 1.16) – Zeugin * W* via Online-Konferenz (ON 16.1 S 2 ff). Weiters verlas die Einzelrichterin „gemäß § 252 Abs 2a StPO […] mit Einverständnis der Beteiligten“ zusammengefasst den Abschlussbericht der Polizeiinspektion Hohe Warte vom 23. Juni 2022 (ON 2), beinhaltend auch das Protokoll über die Vernehmung der Zeugin W* (ON 2.3), die Abschlussberichte der zuständigen Polizeiinspektion vom 30. September und 30. Dezember 2022 (ON 4 und ON 13), die Strafregisterauskunft (ON 8), die beigeschafften Vorstrafakten (ON 9 und 10) sowie mehrere E-Mails des Angeklagten (ON 11, 12, 14 und 15).
[5] Mit – einen auch in Rechtskraft erwachsenen Freispruch enthaltendem – Abwesenheitsurteil vom selben Tag, GZ 13 Hv 86/22t-16.2, wurde der Angeklagte – von der in der Anklage vorgenommenen rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts als Vergehen des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs nach § 148a Abs 1, Abs 3, § 15 StGB abweichend – des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 3, § 15 StGB (I./B./ und IV./ der Anklage) sowie des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs 1 StGB (II./ der Anklage) schuldig erkannt, über ihn eine – zum Teil bedingt nachgesehene – Freiheitsstrafe verhängt sowie ein Geldbetrag von 131 Euro für verfallen erklärt.
[6] Unter einem fasste das Gericht den (nicht ausgefertigten) Beschluss, „in analoger Anwendung des § 494a Abs 2 letzter Satz StPO“ die Entscheidung über den Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. Februar 2016, AZ 33 Hv 16/16m, und mit Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 19. Juni 2020, AZ 14 U 352/19i, jeweils (zu fünf Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafen) gewährten bedingten Strafnachsicht jenem Gericht, das in erster Instanz erkannt hat, vorzubehalten (ON 16.1 S 8).
[7] Die schriftliche Ausfertigung des Urteils wurde dem Angeklagten am 4. Februar 2023 zugestellt (ON 18 S 4). Über einen vom Angeklagten dagegen (am 9. März 2023; ON 24) erhobenen „Einspruch“ – mit welchem er der Sache nach auch seine Schuld bestreitendes Berufungsvorbringen erstattet – hat das Oberlandesgericht Wien bislang nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen nachfolgende Vorgänge mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[9] Voranzustellen ist, dass für das Hauptverfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts die Bestimmungen über das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§ 488 Abs 1 StPO).
[10] 1./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen (unter anderem) Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO geregelten Fällen verlesen werden.
[11] Gemäß § 252 Abs 2 StPO müssen Amtsvermerke über einen Augenschein und Befunde, gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse sowie Urkunden und Schriftstücke anderer Art, die für die Sache von Bedeutung sind, vorgelesen werden.
[12] Der solche Verlesungen iSd § 252 Abs 1, Abs 2 StPO substituierende Vortrag des erheblichen Inhalts von Aktenstücken durch den Vorsitzenden gemäß § 252 Abs 2a StPO setzt die Zustimmung der Beteiligten des Verfahrens, somit auch des Angeklagten voraus. Aus dem Fernbleiben eines gesetzeskonform geladenen Angeklagten von der Hauptverhandlung kann auf dessen Zustimmung zu einem solchen Vortrag nicht geschlossen werden (vgl RIS-Justiz RS0117012 [T2]; siehe auch RIS-Justiz RS0099242 [T7]; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103, 134; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 234).
[13] Da somit eine – gegebenenfalls auch ein Einverständnis zur Verlesung beinhaltende (vgl erneut RIS‑Justiz RS0127712) – Zustimmung des Angeklagten zum in der Hauptverhandlung erfolgten Vortrag der oben aufgezählten Aktenstücke, der auch ein Protokoll über die Vernehmung einer Zeugin umfasste, nicht vorlag, verletzt dieser Vorgang § 252 Abs 2a (hinsichtlich des genannten Protokolls auch iVm Abs 1) StPO.
[14] 2./ Die Vernehmung eines Zeugen unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung ist gemäß § 247a StPO (ua) zulässig, wenn dessen Aufenthaltsort außerhalb des Sprengels des zuständigen Gerichts gelegen ist, soweit der Ankläger und Verteidiger (im Verfahren vor dem Einzelrichter der [unvertretene] Angeklagte; § 488 Abs 2 StPO) einverstanden sind oder dies übereinstimmend beantragen (§ 247a Abs 1 letzter Satz iVm § 153 Abs 4 StPO). Aus dem Fernbleiben des gesetzeskonform geladenen Angeklagten kann auf die Erteilung einer solchen Zustimmung auch hier nicht geschlossen werden, sodass die Vernehmung der Zeugin W* via Online-Konferenz § 247a StPO verletzt.
[15] 3./ Das Gericht hat gemäß § 262 StPO, wenn es eine andere als die in der Anklage bezeichnete (nicht einem Gericht höherer Ordnung vorbehaltene) strafbare Handlung für verwirklicht erachtet, vor der Urteilsfällung die Beteiligten des Verfahrens über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt zu hören, um ihnen solcherart Gelegenheit zu geben, sich hiezu zu äußern und gegebenenfalls entsprechende Anträge zu stellen (vgl RIS-Justiz RS0113755). Das Gericht hätte daher die Beteiligten des Verfahrens über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt einer Tatbeurteilung (des zu IV./ angeklagten Sachverhalts) nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 3 StGB in Kenntnis zu setzen gehabt und zu diesem Zweck – mangels Anwesenheit des Angeklagten – zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Hauptverhandlung vertagen müssen (vgl Bauer, WK-StPO § 427 Rz 12). Indem die Einzelrichterin dies unterließ und sofort den Schuldspruch fällte, wurde § 262 erster Satz StPO verletzt.
[16] 4./ Wird jemand wegen einer strafbaren Handlung verurteilt, die er – hier relevant – vor Ablauf der Probezeit einer bedingten Nachsicht begangen hat, so hat das erkennende Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs 1 erster Satz StGB die bedingte Nachsicht zu widerrufen (§ 494a Abs 1 Z 4 StPO; vgl dazu Jerabek/Ropper, WK-StPO § 494a Rz 1).
[17] Nur im Fall der – hier nicht gegebenen – sachlichen Unzuständigkeit des erkennenden Gerichts (vgl § 494a Abs 2 StPO) zu einem solchen Ausspruch, ist diese Entscheidung jenem Gericht vorzubehalten, dem sonst die Entscheidung zukäme (§ 494a Abs 2 letzter Satz StPO).
[18] Ein Widerruf – durch ein sachlich zuständiges Gericht – darf dann nicht erfolgen, wenn die gemäß § 494a Abs 3 StPO vorgesehene Anhörung des Angeklagten und (hier nicht aktuell) des Bewährungshelfers sowie die Einsicht in die Akten über frühere Verurteilungen (in eine Abschrift des früheren Urteils) unterblieben ist; die Entscheidungskompetenz geht diesfalls ex lege auf das sonst zuständige Gericht über (RIS-Justiz RS0101961, RS0111829).
[19] Entgegen der rechtlichen Annahme der Einzelrichterin (vgl ON 16.2 S 11) wurde dem Angeklagten durch die Zustellung des den Widerrufsantrag beinhaltenden Strafantrags ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt (vgl RIS-Justiz RS0101961 [T8, T9, insb T11]). Dessen darüber hinausgehende Anhörung in der Hauptverhandlung war demgemäß für eine Entscheidung gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO nicht erforderlich, sodass das Gericht gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO inhaltlich über den Widerruf zu entscheiden gehabt hätte.
[20] Es ist nicht auszuschließen, dass die Gesetzesverletzungen zu 1./ bis 3./ dem Angeklagten zum Nachteil gereichen. Deren Feststellung war daher mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil ebenso wie der davon abhängige Beschluss aufzuheben (RIS‑Justiz RS0101886; Jerabek/Ropper, WK‑StPO § 494a Rz 11 und § 498 Rz 8) und die Verfahrenserneuerung anzuordnen (zum weiteren Verfahren vgl RIS-Justiz RS0115530, RS0100547).
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