OGH 13Os87/06b

OGH13Os87/06b8.11.2006

Der Oberste Gerichtshof hat am 8. November 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz, Hon. Prof. Dr. Schroll, Mag. Hetlinger und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Roland als Schriftführerin in der Strafsache gegen Walter M***** wegen der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten wegen der Aussprüche über die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Schöffengericht vom 5. Mai 2006, GZ 18 Hv 61/6p-15, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Weiss, des Angeklagten Walter M***** und seines Verteidigers Dr. Poms zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der rechtlichen Unterstellung der im Schuldspruch 1. angeführten Handlungen als Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB idgF sowie im Strafausspruch aufgehoben und es wird im Umfang der Aufhebung in der Sache selbst erkannt:

Walter M***** hat durch die bezeichneten Taten die Verbrechen der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 erster Fall StGB idF vor dem StRÄG 1998 sowie die Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB begangen und wird unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach § 207 Abs 1 StGB aF zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Gemäß § 43a Abs 3 StGB wird der Vollzug eines 18-monatigen Teils der Sanktion unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen. Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen. Mit seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe wird der Angeklagte auf die Strafneubemessung verwiesen.

Seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die privatrechtlichen Ansprüche wird Folge gegeben, der Ausspruch aufgehoben und der Privatbeteiligte mit seinen Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Walter M***** der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (zu 1.) und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 ( zu ergänzen: Z 1 erster Fall) StGB schuldig erkannt.

Danach hat er in der Zeit von etwa 1990 bis 1994 in Wolfsberg in wiederholten Angriffen

1. an seinem am 12. Februar 1984 geborenen unmündigen Sohn Peter Wolfgang den Beischlaf bzw eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen, indem er seinen Geschlechtsteil ergriff, gleichzeitig bis zum Samenerguss onanierte und zumindest seinen Finger in den After des Kindes steckte;

2. durch die zu 1. beschriebenen Handlungen an seinem am 12. Februar 1984 geborenen Sohn Peter Wolfgang M*****, der seiner Erziehung unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person eine geschlechtliche Handlung vorgenommen bzw an sich vornehmen lassen, um sich dadurch geschlechtlich zu befriedigen.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen aus Z 8 und 10 des § 281 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt teilweise Berechtigung zu.

Aus Z 8 macht der Beschwerdeführer zunächst zu Unrecht geltend, dass ihn das Schöffengericht abweichend von der Anklageschrift wegen § 211 Abs 2 StGB der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 (zu ergänzen: Z 1 erster Fall) StGB schuldig erkannt und damit die Anklage überschritten hat.

Der Kritik, es fehle damit ein entsprechender Verfolgungsantrag, zuwider, sind die vom Schuldspruch betroffenen Taten von dem im Tenor und der Begründung der Anklageschrift (ON 8) dargestellten Lebenssachverhalt (prozessualer Tatbegriff) umfasst. Eine Überschreitung der Anklage im Sinne des § 267 StPO liegt daher nicht vor. Dass das Erstgericht für die Subsumtion unter § 212 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB nicht erforderliche (vgl Schick in WK² § 212 Rz 4 und 9, Leukauf-Steininger Komm3 § 212 RN 4, 21) zusätzliche Feststellungen zur Ausnützung des Autoritätsverhältnisses gegenüber dem leiblichem Sohn des Angeklagten sowie zu einer auf geschlechtliche Erregung oder Befriedigung gerichteten Tätermotivation (US 2, 5), getroffen hat, ändert daran nichts. Unter dem Aspekt des in § 262 StPO verankerten Fairnessgebots legt die Rüge mit ihrer unsubstantiierten Behauptung, der Angeklagte hätte im Falle einer Konfrontation mit dem veränderten rechtlichen Gesichtspunkt „die betreffenden Beweisanträge stellen können" nicht dar, weshalb durch die unterlassene Information konkret (vgl 14 Os 34/00; 11 Os 56/04) der von § 262 StPO intendierte Schutzzweck der Wahrung von Verteidigungsinteressen verletzt worden sein soll, macht also nicht plausibel, dass mit Blick auf den veränderten rechtlichen Gesichtspunkt die Verteidigung eine andere gewesen wäre. Bei geringfügigeren Abweichungen aber muss der Beschwerdeführer, will er aus Z 8 infolge bloßer Missachtung des § 262 StPO erfolgreich sein, plausibel machen, dass bei Wahrung des Schutzzwecks dieser Vorschrift seine Verteidigung eine andere gewesen wäre. Auch die Entscheidungen des EGMR in den Sachen Pelissier und Sassi gegen Frankreich vom 25. März 1999, BNr 25444/94 (ÖJZ 1999/34 [MRK], 905) und zuletzt Ilhan Hulku ua gegen Österreich vom 20. April 2006, BNr 42780/98 (ÖJZ 2006/19 [MRK], 865), lassen erkennen, dass es dem EGMR gerade um den Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK zu tun ist, also darum, die Verteidigung des Angeklagten nicht zu behindern. Von eben dieser Zielsetzung geleitet und parallel zur Entscheidung Pelissier und Sassi gegen Frankreich (vgl Messner, Zur Weiterentwicklung des Nichtigkeitsgrundes des § 281 Abs 1 Z 8 StPO, ÖJZ 2006, 582) hat der Oberste Gerichtshof bereits im Jahr 2000 (14 Os 34/00) eine Weiterentwicklung des bis dahin nur auf die Identität von Anklage- und Urteilssachverhalt bezogenen Nichtigkeitsgrundes dahin eingeleitet, dass nunmehr auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts als Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 releviert werden können. Stets dann, wenn - ungeachtet der Identität von Anklage- und Urteilsfaktum im prozessualen Sinn - der Angeklagte einer gegenüber dem inkriminierten Sachverhalt anderen Tat (auch bloß) im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, liegt nach dieser grundrechtskonformen Auslegung der Z 8 des § 281 Abs 1 StPO der Nichtigkeitsgrund vor. Ist mit anderen Worten das Tatbild (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrundeliegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem des Anklagetenors (§ 207 Abs 2 Z 2 StPO) derart verschieden, dass sich die jeweils angenommenen Tatbilder nicht überdecken (vgl zum Begriff der Tateinheit Ratz in WK² Vorbem §§ 28-31 Rz 11 f), unterstellt der Oberste Gerichtshof ohne weiteres das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a oder b MRK nicht entsprochen wird.

Geht es aber um Abweichungen geringerer Relevanz, ist es Sache des Beschwerdeführers, im Rechtsmittel das Belehrungserfordernis (wenigstens einigermaßen) plausibel zu machen, um unnötige Rechtsgänge zu vermeiden. Diese ziehen nämlich in aller Regel eine Verschlechterung der zur Verfügung stehenden Beweismittel nach sich und können überdies ein Spannungsverhältnis mit dem gleichfalls beachtlichen Grundrechtsgebot auf Verfahrensbeendigung binnen angemessener Frist (Art 6 Abs 1 erster Satz MRK) bewirken. Fallbezogen haben die Tatrichter die im Tenor der Anklage beschriebene Tat des Angeklagten - mangels Verführung des Minderjährigen zum Beischlaf - nicht wie der Ankläger § 211 Abs 2 StGB unterstellt, sondern der - im Falle des Vorliegens sämtlicher Tatbestandsmerkmale beider strafbarer Handlungen dazu im Verhältnis der Scheinkonkurrenz stehenden (scheinbare Idealkonkurrenz, Konsumtion; vgl Schick in WK² § 211 Rz 11 und § 212 Rz 15 mwN; 14 Os 49/03 ua) - Strafbestimmung des § 212 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB subsumiert. Die Verurteilung (wegen „Vornahme einer geschlechtlichen Handlung am unmündigen Sohn") erfolgte demnach auch nicht wegen einer anderen, als der im Anklagetenor genannten („Verführung des unmündigen Sohnes zum Beischlaf durch die zu Punkt 1. beschriebene Handlung") Tat im materiellen Sinn. Zur prozessordnungsgemäßen Darstellung des Nichtigkeitsgrundes der Z 8 wäre es daher Sache des Beschwerdeführers gewesen, im Rechtsmittel plausibel zu machen, inwieweit - bei der im konkreten Fall das inkriminierte Geschehen im Wesentlichen eingestehenden Verantwortung des Nichtigkeitswerbers - die Verteidigung beeinträchtigt wurde, weil das Erstgericht ohne vorherige Erörterung mit den Parteien dem angeklagten und dem Urteil gleichfalls zugrunde gelegten Sachverhalt partiell eine zur Strafverfolgungsbehörde unterschiedliche rechtliche Beurteilung zuteil werden ließ.

Dass der Oberste Gerichtshof nur bei Verschiedenheit der Tatbilder Nichtigkeit aus Z 8 ohne weiteres Vorbringen bejaht, war dem Beschwerdeführer nicht unzugänglich, zumal die Leitentscheidung mehrfach repräsentativ veröffentlich und besprochen wurde

(Jus-Extra-OGH-St 2914 = ÖJZ-LSK 2000/239 = ÖJZ-LSK 2000/240 = EvBl

2000/221 S 909 = ecolex 2000, 905 [Koch], WK-StPO § 281 Rz 542 bis

545; Steininger, Handbuch der Nichtigkeitsgründe § 281 Abs 1 Z 8 Rz 11 ff; Hager/Meller/Eichenseder, Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung, 63 f; IntKommEMRK (Vogler) Art 6 Rz 472 f; zuletzt eingehend Messner,

Zur Weiterentwicklung des Nichtigkeitsgrundes des § 281 Abs 1 Z 8 StPO, ÖJZ 2006, 582), sodass ein derartiges Vorbringen auch vorliegend verlangt werden kann.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher insoweit zu verwerfen. Im Recht ist dagegen die Subsumtionsrüge (Z 10) mit dem Einwand, dass die festgestellten Taten nicht dem § 206 Abs 1 StGB idF seit dem StRÄG 1998 (BGBl I 1998/153) unterstellt werden können, weil sie der im Tatzeitraum (von etwa 1990 bis 1994) geltenden - im Sanktionenbereich günstigeren - Bestimmung des § 207 Abs 1 StGB idF vor dem StRÄG 1998 unterlagen. Demgemäß sind beischlafsähnliche geschlechtliche Handlungen an Unmündigen (wie die hier festgestellten digitalen Analpenetrationen; vgl 13 Os 162/00, 15 Os 72/01, 13 Os 96/05z), die vor dem Inkrafttreten des StRÄG 1998 mit 1. Oktober 1998 erfolgt sind, unter § 207 Abs 1 StGB idF vor dieser Novelle zu subsumieren (§§ 1, 61 StGB; vgl 13 Os 120/00; RIS-Justiz RS0116505). Die aufgezeigte materiellrechtliche Nichtigkeit (Z 10) zwingt zur Kassation der rechtlichen Unterstellung der dem Schuldspruch 1. zugrunde liegenden Taten sowie demzufolge auch zur Aufhebung des Strafausspruchs.

Bei der unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB vorzunehmenden Strafneubemessung waren erschwerend - ohne Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot (10 Os 96/86; Ebner in WK² § 33 Rz 4)- das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen und Vergehen und der lange Deliktszeitraum sowie das - im Verhältnis zur Altersgrenze der §§ 207 und 212 StGB - geringe Alter des Tatopfers (12 Os 106/89; 14 Os 15/06x), mildernd dagegen der bisher ordentliche Lebenswandel des Angeklagten sowie sein Wohlverhalten seit den etwa 12 Jahre zurückliegenden Taten, die Schadensgutmachung durch Zahlung eines Betrages von 5000 Euro an den Privatbeteiligten während des Rechtsmittelverfahrens und das teilweise Geständnis. Für eine Herabsetzung der Zurechnungsfähigkeit durch Alkoholkonsum fehlt es an der Aktengrundlage (vgl S 45 und 84; US 4). Die vom Angeklagten hervorgehobene „triste Gesamtsituation", die in einem im Deliktszeitraum gegebenen „massiven Alkoholproblem", dem Fehlen eines „normalen Geschlechtslebens" aufgrund der Erkrankung der Ehefrau und dem Wiederauftreten einer seit der Kindheit vorhandenen homosexuellen Neigung bestanden haben soll, stellt ebensowenig einen Milderungsgrund dar.

Die in einem Zeitraum von vier Jahren gesetzten massiven sexuellen Übergriffe gegen den zu Beginn des Deliktszeitraumes erst sechs Jahre alten eigenen Sohn sowie die weitreichenden Auswirkungen auf dessen Psyche (vgl ON 6, US 4 f) gebieten die Verhängung einer dem persönlichen Schuld- und dem Unrechtsgehalt der Taten angemessenen zweijährigen Sanktion und stehen aus spezial- und generalpräventiven Gründen einer günstigen Prognose im Sinne des § 43 Abs 1 StGB entgegen.

Aufgrund des ordentlichen Lebenswandels des Angeklagten vor und nach den Taten und seines zumindest eingeschränkt kritischen Zugangs zu seinem inkriminierten Verhalten genügt jedoch der Vollzug eines sechsmonatigen Strafteils, um die Voraussetzungen dieser Gesetzesstelle hinsichtlich der verbleibenden Reststrafe bejahen zu können.

Mit seiner Berufung wegen Strafe war der Angeklagte auf die Strafneubemessung zu verweisen.

Seiner Berufung gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

Zwar erfolgte der Zuspruch eines vom Angeklagten in der Hauptverhandlung ausdrücklich anerkannten (S 127) „Teilschmerzensgeldes" im Betrag von 5000 Euro an den Privatbeteiligten durch das Erstgericht an sich zu Recht, weil diese Summe - entgegen der Rechtsmittelbehauptung - nicht an den Privatbeteiligten oder seinen Vertreter, sondern - mit dem (nicht unwiderruflichen) Auftrag umgehender Überweisung an den Rechtsvertreter des Privatbeteiligten - an den Verteidiger des Angeklagten ausgefolgt wurde und die Teilentschädigung für erlittene Schmerzen dem Geschädigten zum Zeitpunkt der Urteilsfällung erster Instanz damit noch nicht zugegangen war.

Nach dem - mangels Neuerungsverbots im Berufungsverfahren beachtlichen - vom Privatbeteiligtenvertreter bestätigten Vorbringen des Rechtsmittelwerbers wurden die zuerkannten Ansprüche des Privatbeteiligten jedoch in der Zwischenzeit befriedigt. In Stattgebung der Berufung war daher der Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche aufzuheben und der Privatbeteiligte gemäß § 366 Abs 2 StPO mit seinen Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg zu verweisen (vgl dazu auch 11 Os 161/88).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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