AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §13
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:L524.2218977.2.00
Spruch:
(1.) L524 2218978-2/38E
(2.) L524 2218977-2/32E
(3.) L524 2218979-2/28E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde des (1.) XXXX , StA Türkei, der (2.) XXXX , StA Türkei und des (3.) mj. XXXX , StA Türkei, alle vertreten durch Mag. Ali POLAT, Andreasgasse 4/15, 1070 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (1.) vom 27.11.2018, Zl. XXXX , (2.) vom 27.11.2018, Zl. XXXX und (3.) vom 27.11.2018, Zl. XXXX , betreffend Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz und Erlassung von Rückkehrentscheidungen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.11.2022, zu Recht:
A) I. Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
II. Der Antrag, den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers. Sie sind türkische Staatsangehörige. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin reisten im Februar 2017 legal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 21.02.2017 jeweils Anträge auf internationalen Schutz. Am Tag der Antragstellung erfolgte jeweils eine Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts.
Am 06.06.2018 wurde für den in Österreich geborenen Drittbeschwerdeführer ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Am 12.11.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin jeweils vor dem vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen.
Mit Bescheiden des BFA (1.) vom 27.11.2018, Zl. XXXX , (2.) vom 27.11.2018, Zl. XXXX und (3.) vom 27.11.2018, Zl. XXXX , wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkte II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkte V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte VI.).
Mit Schriftsatz vom 05.04.2019 erhoben die Beschwerdeführer unter anderem Beschwerde gegen diese Bescheide.
Die Beschwerden gegen die Bescheide des BFA vom 27.11.2018 wurden mit Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.05.2020, L514 2218978-2/5E, L514 2218977-2/5E und L514 2218979-2/5E, als verspätet zurückgewiesen. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 25.02.2021, Ra 2020/19/0248 bis 0250-13, wurden die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.05.2020, L514 2218978-2/5E, L514 2218977-2/5E und L514 2218979-2/5E, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 24.11.2022 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin, die mit ihrer rechtsfreundlichen Vertretung erschienen, als Parteien teilnahmen. Die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter, beantragte jedoch die Abweisung der Beschwerde.
II. Feststellungen:
Der 34-jährige Erstbeschwerdeführer und die 29-jährige Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern des minderjährigen 4-jährigen Drittbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige und gehören der Volksgruppe der Kurden an. Der Erstbeschwerdeführer ist Alevit und die Zweitbeschwerdeführerin ist sunnitische Muslima. Den Lehren des Islam stehen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin kritisch gegenüber.
Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Stadt XXXX in der Provinz Tunceli in Ostanatolien, die Zweitbeschwerdeführerin in der Provinz Diyarbakır in Südostanatolien geboren. Der Erstbeschwerdeführer lebte in seinem ersten Lebensjahr in der Stadt XXXX und danach in der Stadt XXXX in der Provinz Tunceli. Die Zweitbeschwerdeführerin lebte von ihrer Geburt bis zum Abschluss ihrer Schulausbildung in der Provinz Diyarbakır. Im Anschluss übersiedelte die Zweitbeschwerdeführerin wegen ihres Studiums in die Provinz Tunceli, wo sie ebenfalls bis zu ihrer Ausreise verblieb. Nach der Eheschließung lebten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gemeinsam mit der Familie des Erstbeschwerdeführers in deren Wohnung.
In der Türkei leben die Eltern, ein Bruder und zwei Onkel des Erstbeschwerdeführers. Die Eltern und der Bruder leben weiterhin in der Wohnung der Familie in der Stadt XXXX . Ein Onkel wohnt ebenfalls in XXXX und der zweite Onkel hält sich in Istanbul auf. Der Vater des Erstbeschwerdeführers befindet sich im Ruhestand und die Mutter des Erstbeschwerdeführers führt den Haushalt. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers geht einer Erwerbstätigkeit in einem Transportunternehmen nach. Der Erstbeschwerdeführer steht mit seiner Familie, überwiegend mit seinem Vater und seinem Bruder, telefonisch in Kontakt. Ferner leben die Eltern, drei Brüder, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin in der Türkei. Die Eltern und Geschwister sowie ein Teil der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins wohnen in der Provinz Diyarbakır. Einige der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin leben auch in Istanbul. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin betreibt eine Landwirtschaft und die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin führt den Haushalt. Ein Bruder arbeitet als Lehrer, ein Bruder geht einer freiberuflichen Beschäftigung nach und ein Bruder ist Student. Die Zweitbeschwerdeführerin steht mit ihrer Familie wöchentlich, überwiegend mit ihrer Mutter, in Kontakt.
Der Erstbeschwerdeführer besuchte in der Provinz Tunceli die Schule (Grundschule und allgemeinbildende höhere Schule) und er erlangte einen Maturaabschluss. Im Anschluss studierte er ein Jahr im Rahmen eines Fernstudiums Betriebswirtschaft. Er arbeitete vor seiner Ausreise mehrere Jahre selbständig als Installateur. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte in der Provinz Diyarbakır die Schule (Grundschule und Gymnasium) und erlangte ebenfalls einen Maturaabschluss. Sie betrieb in der Folge in Tunceli ein vierjähriges Soziologiestudium, welches sie auch abgeschlossen hat. Die Zweitbeschwerdeführerin war bislang nicht berufstätig. Sie führte innerhalb des Familienverbandes Tätigkeiten im Haushalt aus. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sprechen Türkisch und Kurmandschi.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin reisten nach Erhalt eines von der Österreichischen Botschaft in Ankara am 09.02.2017 ausgestellten und von 16.02.2017 bis 16.03.2017 gültigen Visums C (Reise-/Touristenvisum) legal am 16.02.2017 in den Schengenraum und somit das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 21.02.2017 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts die hier gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten. Am 06.06.2018 stellte die Zweitbeschwerdeführerin für ihren minderjährigen Sohn, den Drittbeschwerdeführer, ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie halten sich somit als Asylwerber rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Sie verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Die Beschwerdeführer leiden an keiner schweren oder lebensbedrohlichen Krankheit. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind gesund. Der in Österreich geborene, bald fünfjährige Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und atypischem Autismus. Er erhielt eine Therapie für sensorische Integration und bedarf es weiterhin Logopädie, Ergotherapie und kinderpsychiatrischer Behandlung. Aktuelle ärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen, haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin diesbezüglich nicht in Vorlage gebracht, weshalb von einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behandlungsbedürftigkeit nicht auszugehen ist.
Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Österreich mehrere sprachliche Qualifizierungsmaßnahmen auf dem Niveau A1 und A2. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte in der Zeit von 20.03.2017 bis 18.05.2017 ebenfalls einen Deutschkurs Niveau A1 im Ausmaß von 90 Unterrichtseinheiten. Die Absolvierung einer Deutschprüfung haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht nachgewiesen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verfügen über grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache, die für eine Verständigung im Alltag auf einfachem Niveau ausreichen.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehen hier keiner Erwerbsarbeit nach. Der Erstbeschwerdeführer verfügt über eine allgemein gehaltene Einstellungszusage vom 09.11.2018 und eine Einstellungszusage vom 21.11.2022 für eine Tätigkeit im Transport- und Entrümpelungsbereich im vollen Beschäftigungsausmaß. Letzteres Unternehmen beantragte mit Eingabe vom 21.11.2022 auch eine Beschäftigungsbewilligung für den Erstbeschwerdeführer für eine berufliche Tätigkeit als Arbeiter im Ausmaß von 40 Stunden für ein Gehalt in der Höhe von € 1.600, brutto monatlich. Ferner beantragte ein Restaurant im Jahr 2021 eine (bereits negativ beschiedene) Saisonbewilligung für den Erstbeschwerdeführer als Saisonarbeitskraft (Küchenhilfe) im Ausmaß von 15 Stunden für ein Gehalt in der Höhe von € 585, brutto und mit Eingabe vom 21.11.2022 eine Beschäftigungsbewilligung für den Erstbeschwerdeführer für eine berufliche Tätigkeit als Koch im Ausmaß von 40 Stunden für ein Gehalt in der Höhe von € 2.500, brutto monatlich. Eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie beantragte mit Eingabe vom 21.11.2022 für die Zweitbeschwerdeführerin ebenfalls eine Beschäftigungsbewilligung für eine berufliche Tätigkeit in ihrer Ordination im Ausmaß von 20 Stunden für ein Gehalt in der Höhe von € 1.200, brutto monatlich. Die Beschwerdeführer waren bzw. sind auf Grund der im Zuge ihrer Visumsbeantragung vorgelegten Verpflichtungserklärung nicht zum Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber berechtigt. Die Beschwerdeführer bestreiten ihren Lebensunterhalt derzeit durch Zuwendungen der in Österreich lebenden Verwandten des Erstbeschwerdeführers und mit Hilfe eines alevitischen Vereins. Die Beschwerdeführer verfügen über eine geeignete eigene Unterkunft in Form einer Mietwohnung in Wien.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Österreich keine Schule, Kurse oder sonstige Ausbildungen besucht. Sie gehen hier keiner ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Arbeit nach. Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Haushalt für die Familie und übernimmt überwiegend die Kinderbetreuung. Sie setzt mit dem Drittbeschwerdeführer zu Hause die in der Therapie gelernten Übungen um und sucht mit ihm zu Erholungszwecken eine Parkanlage auf bzw. unternimmt Spaziergänge. Der Erstbeschwerdeführer ist seit 04.01.2018 Mitglied im Verein „ XXXX “, der XXXX angehört, und seit zumindest Oktober 2019 Mitglied des Vereins „ XXXX “, der XXXX angeschlossen ist. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin beteiligen sich auch am „kurdischen Leben“ in Wien und nehmen regelmäßig an Veranstaltungen des kurdischen Kulturvereins teil. Des Weiteren besucht der Erstbeschwerdeführer regelmäßig Veranstaltungen des Vereins „ XXXX “. Ansonsten sind der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin aktuell weder in Vereinen noch Organisationen aktiv oder Mitglied von Vereinen oder Organisationen in Österreich.
In Österreich leben eine Tante und zwei Onkeln des Erstbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer leben mit diesen Personen nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Sie erhalten von diesen unregelmäßig finanzielle Unterstützung. Weitere Verwandte des Erstbeschwerdeführers leben im Vereinigten Königreich, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Die Beschwerdeführer verfügen hier über einen Freundes- und Bekanntenkreis. Sie pflegen, insbesondere im Rahmen ihrer Freizeitaktivitäten, in normalem Ausmaß soziale Kontakte. Der Erstbeschwerdeführer legte im gegenständlichen Verfahren auch Unterstützungserklärungen seiner Freunde und Bekannten vor.
Der Drittbeschwerdeführer ist in Österreich geboren. Der bald fünfjährige Drittbeschwerdeführer besuchte in Österreich in der Vergangenheit bereits einen Kindergarten. Aktuell befindet er sich nicht in einer derartigen Bildungseinrichtung, sondern wird überwiegend von der Zweitbeschwerdeführerin zu Hause betreut. Innerhalb der Familie erfolgt die Kommunikation mangels besonderer Deutschkenntnisse des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vorwiegend in den Sprachen Türkisch oder Kurmandschi; der minderjährige Drittbeschwerdeführer nutzt(e) die deutsche Sprache im Rahmen des Kindergartenbesuchs und der Veranstaltungen/Therapien im Zuge der Behandlung seiner Erkrankung.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind strafrechtlich unbescholten. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer ist strafunmündig.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zeigen Interesse für die kurdischen Belange und sympathisieren mit der Halkların Demokratik Partisi (HDP). Der Erstbeschwerdeführer gehört – abgesehen von seinem (früheren) Interesse für die Emek Partisi – der HDP seit 2015 auch als (einfaches) Mitglied an und nahm regelmäßig an Aufmärschen/Demonstrationen für die kurdischen Belange, für die Frauenrechte und den Umweltschutz teil, wobei die Polizei hierbei des Öfteren gegen die Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas vorging. Im November 2015 organisierte der Erstbeschwerdeführer selbst eine Kundgebung. Die Zweitbeschwerdeführerin nahm wiederum an Presseerklärungen und drei- oder viermal an Kundgebungen eines Vereins wider die Gewalt an Frauen – etwa in Zusammenhang mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Kobane – teil und unterstützt(e) ebenfalls die HDP.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehören nicht der Gülen-Bewegung an und waren nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden im Juni 2016 im Zuge einer Straßensperre einer Kontrolle durch die türkischen Sicherheitskräfte unterzogen. Weitere Konsequenzen gab es nicht und sind auch weder gegenwärtig noch für den Fall der Rückkehr in den Heimatstaat zu erwarten.
Die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin – ehemalige XXXX der Demokratik Bölgeler Partisi (DBP), die eine „Schwesterpartei“ der HDP auf lokaler Ebene darstellt – wurde im Juni 2016 nach einer Hausdurchsuchung von den türkischen Sicherheitskräften für einige Tage angehalten. Etwa im Februar 2017 kam es zu einer weiteren Hausdurchsuchung in der Wohnung der Familie des Erstbeschwerdeführers, welche wiederum zu einer Anhaltung der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin führte. Im Anschluss verblieb die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin für einige Monate in Untersuchungshaft, aus der sie schließlich bedingt entlassen wurde. Gegen die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin wird ein Strafverfahren geführt und wird ihr im Zuge dieses Verfahrens Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation zur Last gelegt. Ein türkisches Strafgericht verurteilte sie zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe, wobei das Berufungsverfahren aktuell noch beim zuständigen Kassationsgericht anhängig ist. Bislang erging in diesem Verfahren kein rechtskräftiges Urteil und ist dieses noch offen.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren bei den vorangehend erwähnten Hausdurchsuchungen zwar persönlich anwesend, sie wurden hierbei jedoch weder bedroht und/oder verfolgt und hatten sie deshalb auch keine Übergriffe Dritter zu gewärtigen.
Verwandte der Zweitbeschwerdeführerin erlitten auf Grund deren politischen und/oder gewerkschaftlichen Engagements berufliche Nachteile. Wider einen Onkel wurde zudem ein Haftbefehl erlassen. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde deshalb in ihrem Herkunftsstaat ebenso wenig bedroht, noch hatte sie Übergriffe Dritter zu gewärtigen.
Der Erstbeschwerdeführer ist – wie vorangehend ausgeführt – Mitglied in den Vereinen „ XXXX “ und „ XXXX “. Insofern besuchen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin – wie vorangehend ausgeführt – auch Veranstaltungen und Versammlungen des kurdischen Kulturvereins. Die beiden nehmen auch gelegentlich an Demonstrationen in Wien für die kurdischen Belange teil, sie entfalten während ihres Aufenthalts in Österreich jedoch kein maßgebliches aktuelles (exil-)politisches Engagement.
Beschimpfungen, Schikanen oder mangelnde Wertschätzung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin durch Angehörige türkischer Behörden oder Teile der Zivilbevölkerung, etwa während der Schulzeit oder bei der Verwendung der kurdischen Sprache, auf Grund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit und/oder alevitischen Religionszugehörigkeit sind glaubhaft.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verließen die Türkei zwecks Verbesserung der Lebenssituation und um sich in Österreich bei den Verwandten des Erstbeschwerdeführers ein neues Leben aufzubauen. Der vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin vorgebrachte Fluchtgrund, wonach sie von Seiten des türkischen Staates in Zusammenhang mit der politischen Aktivität der Mutter bzw. der Schwiegermutter und auf Grund ihres eigenen politischen Engagements bedroht und/oder verfolgt worden seien bzw. sie bei einer Rückkehr in die Türkei befürchten, deshalb bedroht und/oder verfolgt zu werden, wird der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben nicht glaubhaft dargelegt und kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass sie vor ihrer Ausreise aus ihrer Heimat in dieser, etwa wegen einer ihnen unterstellten Mitgliedschaft bei der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) und/oder wegen politischer Aktivitäten und/oder ihrer religiösen bzw. islamkritischen Anschauungen, einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt waren oder sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wären.
Für den Drittbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:
COVID-19-Pandemie
Während der Covid-19-Pandemie wurde das staatliche Gesundheitssystem extrem belastet, konnte aber seine Aufgaben bisher weitgehend erfüllen. Es häufen sich Berichte über personelle Erschöpfung und beschränkte Behandlungsmöglichkeiten (AA 28.7.2022, S. 21).
Mit Stand Ende August 2022 verzeichnete die Türkei offiziell rund 100.400 Menschen, die an den Folgen von COVID-19 verstarben (JHU 31.8.2022). Bereits Mitte April 2022 sah die türkische Ärztekammer (TTB) die Zahl der COVID-19-Toten nach zwei Jahren Pandemie allerdings bei geschätzten 274.000 im Widerspruch zu den rund 98.000 zu jenem Zeitpunkt Verstorbenen (bei insgesamt circa 14,78 Millionen Fällen), welche die Behörden vermeldeten. Die Berechnungen der Ärztekammer erfolgten anhand der Übersterblichkeitsrate (Ahval 14.4.2022). Angesichts der erneuten Sommerwelle im Juli 2022, zurückzuführen auf das Ende fast aller Maßnahmen, erneuerte die Ärztekammer den Vorwurf falscher COVID-19-Infektionszahlen. Die tatsächliche Infektionszahl wäre mit 235.000 demnach doppelt so hoch wie die vom Gesundheitsministerium angegebene (Ahval 16.7.2022).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Beginnend mit 1.6.2022 wurde das Tragen von Masken sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen sowie im öffentlichen Verkehr aufgehoben. In Gesundheitseinrichtungen ist das Tragen von Masken aber noch vorgeschrieben. Per Dekret vom 1.6.2022 wurde bei Einreise in die Türkei die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests bzw. eines negativen Antigentests bei Nicht-Vorweis einer Impfung oder Genesung aufgehoben (WKO 21.7.2022).
Politische Lage
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, S. 5; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S. 3, 10f). Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, S. 43). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S. 2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S. 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55; vgl. EC 19.10.2021, S. 3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u. a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S. 3, 10f).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S. 18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S. 12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Ende März 2022 wurde das Wahlgesetz geändert. Die Zehn-Prozent-Hürde für den Eintritt einer Partei ins Parlament, eingeführt von den Generälen nach dem Putsch von 1980, wurde auf sieben Prozent gesenkt. Diese Änderung wurde weithin einerseits als Versuch gewertet, die Opposition zu spalten, und andererseits der schwächelnden ultranationalistischen MHP, welche die AKP-Regierung stützt, den Wiedereinzug ins Parlament zu erleichtern. Anwendung findet das Gesetz nach einer Frist von einem Jahr (AM 4.4.2022; vgl. AP 31.3.2022).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6 % der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6 % der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen "Volksbündnis" verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6 % bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10 % bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7 % und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54 %. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45 % (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S. 11; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S. 5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S. 9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S. 12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S. 11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S. 3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S. 5).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S. 15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S. 16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, S. 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister / Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Art. 45) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S. 11).
Sicherheitslage
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S. 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, S. 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, S. 4).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren vermeintlichen Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, insbesondere für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2022, S. 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S. 12; vgl. HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S. 4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 20.6.2022), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).
Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 12.4.2022, S. 2; 26). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S. 15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 20.6.2022).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S. 9, İHD 18.5.2020a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 rund 6.064 Tote (3.878 PKK-Kämpfer, 1.360 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten, aber auch 302 Polizisten und 121 sog. Dorfschützer - 600 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum Juli 2015 bis 18.7.2022. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.003 Tote), Hakkâri (782 Tote), Diyarbakır (553 Tote), Mardin (398) und die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (286), wobei 1.182 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert. Im Verlaufe des Jahres 2022 zählte die ICG (Stand 18.7.2022) 140 Tote (ICG 18.7.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S. 15). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 7.9.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2021) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 12.4.2022, S. 26).
Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vgl. ICG 5.2022). Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich zu Jahresbeginn auf die ländlichen Gebiete der türkischen Provinzen Tunceli/Dersim, Mardin und Şanlıurfa und im März 2022 in den Provinzen Diyarbakır, Mardin, Hakkâri und Hatay (ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Duhok in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet. Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). - Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, 7.2022).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vgl. Duvar 26.10.2021).
Rechtsstaatlichkeit/Justizwesen
2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. HRW 13.1.2022, BS 23.2.2022, S. 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, S. 11, Pt. 15; vgl. AI 29.3.2022), trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022). Nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch die Situation in der Justizverwaltung hat sich merkbar verschlechtert (USDOS 12.4.2022, S. 2, 14f.; vgl. EC 19.10.2021, S. 21, CoE-CommDH 19.2.2020; S. 4, 28f).
Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist somit der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung des Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, S. 36). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S. 2, 21; vgl. CoEU 14.12.2021, S. 16, Pt. 34). Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA vom Juni 2021 ergab, dass 64 % der Befragten kein Vertrauen in das Justizsystem haben. Unter den Befragten mit kurdischem Hintergrund lag der Wert gar bei 85 % (USDOS 12.4.2022, S. 15).
Sicherheitsbehörden
Die Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (USDOS 12.4.2022, S. 1, ÖB 30.11.2021, S. 16). Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 12.4.2022, S. 1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 7.2022, S. 2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, S. 16; vgl. BICC 7.2022, S. 26). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2022, S. 17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2022, S. 18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 7.2022, S. 19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, S. 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; S. 19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, S. 6; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020). Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, S. 18).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, S. 15).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).
Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S. 31).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S. 31). Immer noch kommen Folter und Misshandlung in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S. 34; vgl. EC 19.10.2021, S. 16; İHD 4.10.2021, S. 11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 12.4.2022, S. 4f.). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S. 31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S. 11; vgl. TİHV 6.2021, S. 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vgl. İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S.19, Pt.32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudsstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Allgemeine Menschenrechtslage
Das Jahr 2021 war durch eine weitere Verschlechterung der Menschenrechtslage und der Grundfreiheiten in der Türkei gekennzeichnet. Weitreichende Beschränkungen für die Tätigkeit von Journalisten, Schriftstellern, Rechtsanwälten, Akademikern, Menschenrechtsverteidigern und kritischen Stimmen wirkten sich weiterhin negativ auf die Ausübung ihrer Freiheiten aus und führten zu Selbstzensur. Die Weigerung der Türkei, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen, insbesondere in den Fällen Selahattin Demirtaş und Osman Kavala, verstärkte die Bedenken hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wurden durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen negativ beeinflusst. Es kam zu Rückschritten im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgeldern und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten (EU 30.3.2022, S. 16f.; vgl. AI 29.3.2022). Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam nebst den bereits genannten Rückschritten, überdies zu solchen in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Wahrung von Verfahrensrechten sowie der Verletzung des Rechts auf Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S. 18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S. 30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vgl. EC 19.10.2021, S. 4, 13, AI 29.3.2022). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, S. 16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S. 29f). Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S. 16, Pt.34). Zuletzt zeigte sich Anfang Mai 2022 das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie der Lage der Rechtsstaatlichkeit" und "fordert[e] die Staatsorgane der Türkei auf, der gerichtlichen Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, Wissenschaftlern, Journalisten, geistlichen Führern und Rechtsanwälten ein Ende zu setzen" (EP 5.5.2022, Pt.4).
Regierungsmitglieder haben Mitglieder sexueller Minderheiten offen mit homophoben Äußerungen angegriffen. Vor dem Hintergrund einer zunehmend flüchtlingsfeindlichen Rhetorik haben tätliche Angriffe auf Flüchtlinge und Migranten zugenommen (AI 29.3.2022). Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet aber nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 31).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S. 17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S. 30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen, befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S. 5). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S. 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S.16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S. 16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022). Schlussendlich wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vgl. DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022).
Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1 % aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S. 28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte jedoch stark beschränkt. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 16, 27). Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S. 5; vgl. EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 12). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020). Beispielsweise wurden, laut einem Bericht der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei - CHP, alleine im April 2022 bei Polizeiinterventionen gegen 45 Demonstrationen 288 Personen festgenommen. Im selben Monat wurden in den kurdisch-dominierten Städten Mardin, Van und Hakkari, im Südosten des Landes alle Demonstrationen verboten (Duvar 16.5.2022).
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, S. 34; vgl. EC 19.10.2021, S. 16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2021 in Kraft. Das ganze Jahr 2021 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 12.4.2022, S. 46). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, S. 37).
In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 28.7.2022, S. 8). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vgl. BS 23.2.2022, S. 10). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, S. 34; vgl. FH 2.2022, E1, BS 23.2.2022, S. 10). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, S. 36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, S. 37).
Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, S. 28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der "Aufstachelung zum Hass", des "Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz" und des "Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen" fest (EC 19.10.2021, S. 34).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, nicht nur gefärbtes Wasser zur späteren Identifikation von Demonstranten anzuwenden, sondern auch Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 12.4.2022, S. 43).
Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S. 12; vgl. BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022). Im Mai 2022 wies die Verwaltungskammer des Staatsrates letztendlich den Einspruch des Innenministeriums und der Generaldirektion für Sicherheit gegen die Entscheidung des Staatsrates, den Vollzug des Rundschreibens auszusetzen, zurück (MLSA 10.5.2022).
Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 28.7.2022).
Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S. 37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S. 16f; vgl. TM 8.9.2021).
Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021)
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 12.4.2022, S. 46).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S. 15). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S. 44).
Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S. 26).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurde (ICSEM 31.12.2021b, S. 9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 12.4.2022, S. 46).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 2.2022, E3; vgl. EP 7.6.2022, S. 21, Pt. 34). Das Gesetz verlangt von den Gewerkschaften zudem, dass sie ihre Versammlungen oder Kundgebungen, die in offiziell ausgewiesenen Bereichen stattfinden müssen, bei der Regierung anmelden, und erlaubt es Regierungsvertretern, Gewerkschaftsversammlungen beizuwohnen und deren Verlauf aufzuzeichnen (USDOS 12.4.2022, S. 87).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 12.4.2022, S. 46).
Opposition
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre eingeschränkt. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 12.4.2022, S. 58). Das Europäische Parlament zeigte sich wie schon im Juli 2021 (EP 8.7.2021; Pt. 1) auch in einer Entschließung vom 7.6.2022 "zutiefst besorgt über die anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien, insbesondere auf die [...] HDP und andere Parteien, einschließlich der [...] CHP, indem etwa Druck auf sie ausgeübt, ihre Auflösung erzwungen und ihre Mitglieder inhaftiert werden, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren des demokratischen Systems untergraben wird" (EP 7.6.2022, S. 16f., Pt. 22).
Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, S. 11; vgl. BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vgl. HDN 4.1.2022).
Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP). Seit 2016 wurden 88 % der gewählten HDP-Vertreter entfernt (USDOS 12.4.2022, S. 62). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, S. 13).
Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als die HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017 (ZO 23.6.2020; vgl. FH 3.3.2021). Zudem wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Am 12.5.2022 bestätigte der Kassationsgerichtshof die Verurteilung in drei Anklagepunkten - "Beleidigung eines Beamten", "Beleidigung des Präsidenten" und "Beleidigung des türkischen Staates" - die zu einer Haftstrafe von vier Jahren, elf Monaten und 20 Tagen führten. Anklagen wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung wurden jedoch fallen gelassen (Ahval 12.5.2022; vgl. BAMF 16.5.2022, S. 12f.). Als Reaktion demonstrierten in Istanbul Tausende Menschen am 21.5.2022 gegen das Urteil (ZO 22.5.2022). Kaftancıoğlu wurde am 31.5.2022 ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul gebracht, jedoch noch am selben Tage wieder freigelassen. Sie darf jedoch bei den kommenden Wahlen nicht antreten (FAZ 1.6.2022; vgl. MEE 31.5.2022). Ein anderes Beispiel ist der Oppositionspolitiker Metin Gürcan. Gürcan, Mitbegründers der oppositionellen Demokratie- und Fortschrittspartei (DEVA), ist am 13.5.2022, einen Tag nach seiner Freilassung, wegen Spionagevorwürfen erneut verhaftet worden. Ihm drohen bis zu 35 Jahre Haft. Dem Politiker und Militäranalysten wird vorgeworfen, mutmaßlich geheime Informationen an ausländische Diplomaten verkauft zu haben (BAMF 16.5.2022, S. 12f.).
Vorgehen gegen die HDP
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vgl. DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S. 69). Das Europäische Parlament "fordert[e] die türkischen Staatsorgane auf, davon Abstand zu nehmen, zur Aufwiegelung gegen die HDP weiter anzustacheln" (EP 8.7.2021, Pt. 5).
Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder wurden inhaftiert und etwa 5.000 befinden sich noch immer in Haft (MedyaNews 3.7.2022, vgl. NL-MFA 2.3.2022, S. 46, AA 28.7.2022, S. 8). Demnach sitzen rund 12 % aller HDP-Mitglieder im Gefängnis, denn laut offiziellen Zahlen des Kassationsgerichtes hatte die HDP mit Stand 4.10.2021 genau 41.022 Mitglieder (NL-MFA 2.3.2022, S. 46f.) Davon abgesehen leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021; vgl. MedyaNews 3.7.2022).
Vorgehen gegen einfache HDP-Mitglieder und deren Umfeld
Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist jedoch kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig (AA 28.7.2022, S. 8; vgl. NL-MFA 2.3.2022, S.47). Die Entscheidung, allerdings, welche HDP-Mitglieder verhaftet und inhaftiert werden und welche nicht, wird demzufolge zufällig und willkürlich getroffen. Diese Willkür diene laut Quellen wahrscheinlich dem Zweck, Angst und Unsicherheit zu verbreiten und die Menschen davon abzuhalten, aktiv für die HDP zu arbeiten. Aus vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums geht hervor, dass eine Reihe von Umständen und Aktivitäten in der Praxis eine Rolle bei Festnahmen, Inhaftierungen, strafrechtlichen Ermittlungen und Verurteilungen spielen können. Dies bedeutet nicht, dass diese Umstände und Aktivitäten bei allen HDP-Mitgliedern, Mitarbeitern, Aktivisten und/oder Sympathisanten zu persönlichen Problemen mit den türkischen Behörden führen. Faktoren, die zu negativer Aufmerksamkeit seitens der türkischen Behörden führen können (Die Liste ist keineswegs als erschöpfend anzusehen): die HDP-Mitgliedschaft an sich; die Wahlbeobachtungen; die Teilnahme an HDP-Demonstrationen, an HDP-Pressekonferenzen, an HDP-Wahlkampagnen, an HDP-Versammlungen; das Posten und Teilen von Pro-HDP-Posts in sozialen Medien (z. B. das Posten von Bildern des inhaftierten HDP-Vorsitzenden Demirtaş); der Besitz und die Verteilung von HDP-Pamphleten; der Besitz bestimmter Arten von Literatur (z. B. Bücher über "Konföderalismus", d. h., das Streben nach Selbstverwaltung und Autonomie für die Kurden). Zum Vorgehen seitens der türkischen Behörden gehören auch nächtliche, mit unter gewaltsame Razzien am Wohnort (NL-MFA 2.3.2022, S. 447).
Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, ein Bankkonto, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren bzw. keinen bekommen, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 2.3.2022, S. 49). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S. 20).
Behördliches Vorgehen gegen gewählte HDP-Mandatare auf lokaler Ebene
Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 28.7.2022, S.7f.). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in Mardin, Van, Diyarbakır und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020). Fälle polizeilicher Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern und Funktionären der HDP kommen weiterhin vor. So griff die Polizei in die von der HDP und dem Demokratischen Volkskongress (HDK) organisierte Presseerklärung am 18.4.2022 im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu zum bevorstehenden 1. Mai ein und nahm 26 Personen, darunter die Ko-Vorsitzende der HDP und die Ko-Sprecher des HDK, unter Anwendung körperlicher Gewalt fest (Die festgenommenen Personen wurden noch am selben Tag wieder freigelassen). Zudem wandte die Polizei körperliche Gewalt gegenüber Journalisten an, um diese Vorort zu vertreiben (TİHV 19.4.2022).
In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020).
Der Kobanê-Massenprozess
Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobanê einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobanê zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022). Am 12.4.2022 ordneten die Behörden die Verhaftung von weiteren 91 Personen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten an, darunter auch Mitglieder der HDP. Sie wurden beschuldigt an der finanziellen Organisierung der Vorfälle beteiligt gewesen zu sein und den Familien von toten oder verletzten PKK-Mitgliedern finanzielle Unterstützung zukommen gelassen zu haben (BI 12.4.2022).
Aktuelle Beispiele für Verhaftungen und Verurteilungen von HDP-Funktionären und einfachen HDP-Mitgliedern
Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vgl. Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vgl. KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022). Am 19.5.2022 wurden 13 Personen, darunter HDP-Führungskräfte und Mitglieder der HDP-Jugendorganisation, bei Hausdurchsuchungen in Diyarbakır festgenommen. Zehn von ihnen wurden per Gerichtsentscheid inhaftiert, die restlichen bedingt freigelassen (TİHV 23.5.2022). Anfang Juni erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 42 Personen im Umfeld der HDP, darunter befanden sich u.a. die HDP-Provinzchefs von Istanbul, Bingöl und Edirne (Duvar 3.6.2022). Mitte desselben Monats wurden im Zuge einer Polizeirazzia zehn Mitglieder der HDP in Istanbul festgenommen (Ahval 16.6.2022).
Aktuelle Beispiele für Entscheidungen des Europäische Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vgl. Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Nach 2021 forderte auch das Europäische Parlament (EP) im Juni 2022 neuerlich auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23, EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S. 13, Pt. 33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).
Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Art. 5 EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vgl. BAMF 20.9.2021, S. 14f).
Am 22.3.2022 wies das Verfassungsgericht den Antrag der HDP-Abgeordneten Semra Güzel ab, die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität wegen Terrorvorwürfen rückgängig zu machen. Güzel wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen angeklagt, nachdem Fotos in den Medien erschienen waren, auf denen sie mit einem PKK-Mitglied mutmaßlich in einem Lager der Gruppe posierte (BAMF 28.3.2022, S. 9; vgl. Ahval 24.3.2022). Der 75-jährige, ehemalige Abgeordnete der HDP, Halil Aksoy, wurde in einem Fall, in dem er vor 13 Jahren freigesprochen worden war, am 26.4.2022 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Entgegen dem damaligen Freispruch verurteilte dasselbe 11. Hohe Strafgericht Gericht in Istanbul Aksoy wegen Propaganda für eine terroristische Organisation. Das Gericht lehnte auch einen Aufschub seiner Strafe ab (Mezopotamya 27.4.2022). Entlassen hingegen wurde nach fünf Jahren Anfang Jänner 2022 der ehemalige HDP-Abgeordnete Abdullah Zeydan, nachdem das Oberste Berufungsgericht die Haftstrafe von acht Jahren und 45 Tagen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda aufgehoben hatte (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. Ahval 6.1.2022).
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichtes, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S. 3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u. a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vgl. Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vgl. AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift namentlich aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022). Wie bereits im Juli 2021 (EP 8.7.2021, Pt. 2) verurteilte das Europäische Parlament "aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationshofs der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politischen Tätigkeit nachzugehen" (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vgl. 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S. 4).
Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure gegen die HDP und ihre Vertreter
In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni 2021 ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende Mithat Sancar sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP (AM 17.6.2021, vgl. ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vgl. AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vgl. Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotowcocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Am 27.3.2022 gab es einen bewaffneten Angriff auf das Büro der HDP im Bezirk Erdemli in Mersin von einer oder mehreren unbekannten Personen, der Sachschaden im Büro verursachte (TİHV 28.3.2022). Am 17.4.2022 wurde von Unbekannten ein Anschlag auf das HDP-Büro im Bezirk Çukurova in Adana verübt, bei dem Sachschaden entstand (TİHV 18.4.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).
Die türkische Regierung nutzte die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung verbietet weiterhin selektiv, auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie, regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen. So wurden mehr als 200 Demonstranten, vor allem in Istanbul, unter Verweis auf die Verletzung der Ausgangsbeschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie, am 1.5.2021 festgenommen (USDOS 12.4.2022, S. 45).
Todesstrafe
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 12).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vgl. FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (Reuters 25.6.2022).
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 2.6.2022), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, S. 23; vgl. BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, S. 23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 2.6.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, S. 23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, S. 23f; vgl. DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 28.7.2022, S. 11).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 2.6.2022). Formal seit den Zwanziger-Jahren verboten, als etwa 1925 alle Derwischhäuser geschlossen wurden, organisieren sich die Anhänger des Sufismus in Vereinen und geben ihr Wissen legal, beispielsweise an Universitäten, weiter. An der staatlichen Universität Istanbul etwa besteht ein eigener Lehrstuhl samt Master-Studienlehrgang für Sufismus (DF 19.2.2018).
In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S. 10). Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37).
Blasphemie ist nach dem Strafgesetzbuch verboten, das die "Erregung von Hass und Feindseligkeit" unter Strafe stellt, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 2.6.2022). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter von Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 2.6.2022). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 78 % davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2 % der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 6 % der Bevölkerung ausmachen. 4 % der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 2.6.2022; vgl. BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 2.6.2022).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). 3 % bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1 % - und 2 % als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vgl. USDOS 2.6.2022). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55 % auf 51 %, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99 % steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60 % als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u. a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39).
Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, S. 24). Hierzu stellte das Europäische Parlament im Juni 2022 "mit Besorgnis fest, dass noch immer Hetze und Hassverbrechen gegen religiöse Minderheiten, hauptsächlich Aleviten, Christen und Juden, gemeldet werden und dass die einschlägigen Ermittlungen ergebnislos bleiben" (EP 7.6.2022, S. 13, Pt. 19).
Im Jahr 2021 waren die Bedingungen für die Religionsfreiheit in der Türkei nach wie vor schlecht, ohne dass sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verbessert hätte. Viele Religionsgemeinschaften sahen sich weiterhin mit bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die die Ausübung ihrer Religion verhinderten oder ernsthaft einschränkten. Insbesondere weigerte sich die Regierung weiterhin, religiösen Gruppen die Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Ebenso unternahm die Regierung keine Schritte zur Wiedereröffnung der Theologischen Schule von Halki (Chalki-Seminar), einem Seminar des Ökumenischen Patriarchats der Ostorthodoxen Kirche. Durch die Nachlässigkeit der Regierung gegenüber Vandalismus und sogenannte "Schatzsucher" wurden religiöse Stätten ernsthaft beschädigt oder zerstört (USCIRF 4.2021, S. 62f.).
Es kommt immer wieder zu Hassverbrechen, inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (BMZ 10.2020), die sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder richten, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37; vgl. EC 19.10.2021, S. 40).
Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an (USDOS 12.4.2022, S. 79), wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USCIRF 12.2021, S. 1, 4). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S. 68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch mit Ende 2021 weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 2.6.2022). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 2.6.2022).
Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte. Zwar hatte das türkische Erstgericht unter Berufung auf innerstaatliches und internationales Recht bereits vor 13 Jahren zugunsten der klagenden, alevitischen Eltern entschieden, doch hob der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] das Urteil aufgrund der Berufung des Bildungsministeriums wieder auf. Schließlich landete der Fall 2014 auf dem Schreibtisch des Verfassungsgerichts (AM 12.4.2022; vgl. Bianet 11.4.2022).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vgl. AA 28.7.2022, S. 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden (ÖB 30.11.2021, S. 26; vgl. BS 23.2.2022, S. 27). Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, S. 26).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 28.7.2022, S. 11; vgl. BMZ 10.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 28.7.2022, S. 11).
Aleviten
Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen Mehrheit (MRGI 6.2018a). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 10.9.2020, S. 24).
Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa 10 % bis zu 40 % der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018a; vgl. USCIRF 4.2022, S. 63). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (Gatestone 18.1.2018; vgl. DFAT 10.9.2020, S. 24). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 10.9.2020, S. 24). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95 %) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 10.9.2020, S. 24).
Das Alevitentum wird offiziell weiterhin als heterodoxe muslimische "Sekte" behandelt, nicht jedoch als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anderslautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsgericht) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 2.6.2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 27, FH 2.2022, D2). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 30.11.2021, S. 27). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Die Regierung erklärte weiterhin, dass die vom Diyanet finanzierten sunnitischen Moscheen den Aleviten und allen Muslimen zur Verfügung stünden, unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung (USDOS 2.6.2022). Abweichend von der Regierungslinie, wurden den Aleviten vereinzelt auf lokaler Ebene Rechte und Unterstützung eingeräumt. In Izmir erhielten sieben Cemevis den Status einer Kultstätte. In Istanbul wurden kostenlose kommunale Dienstleistungen wie den anderen Religionsgemeinschaften auch den Gebetshäusern der Aleviten zugestanden (USDOS 12.5.2021).
Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des EGMR über Cemevi und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt (ÖB 30.11.2021, S. 27). Alevitische Eltern sind nach wie vor mit Problemen konfrontiert, wenn sie ihre Kinder vom sunnitischen Religionsunterricht abmelden wollen, da die Behörden die Aleviten nicht als religiöse Minderheit anerkennen (USCIRF 12.2021, S. 3). Andererseits dürften inzwischen erste Schritte zur Umsetzung eines EGMR-Urteils aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gesetzt worden sein (ÖB 30.11.2021, S. 27). Allerdings sah Ende September 2021 das Ministerkomitee des Europarates laut eigenen Angaben in der ungerechtfertigten und diskriminierenden Weigerung, den Glauben der alevitischen Gemeinschaft als Religion anzuerkennen, einen Grund, das Monitoring der Türkei fortzusetzen (CoE 27.9.2021, S. 3).
Als zweitgrößte religiöse Gruppe des Landes werden die Aleviten von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als fremd und unzuverlässig angesehen (BMZ 10.2020). Die Aleviten sehen sich weiterhin mit Hassverbrechen konfrontiert, jedoch haben sich die Ermittlungen bisher als ineffektiv erwiesen (EC 19.10.2021, S. 32). Wenn auch nicht in verbreitetem Ausmaß, so werden Aleviten auch das Ziel von Bedrohungen und Gewalt.
Atheisten, Agnostiker und andere nicht-religiöse Personengruppen
Atheisten, Agnostiker und Deisten werden am Arbeitsplatz, in der Familie und im Bildungssystem in ihrem Recht auf Gedanken- und Glaubensfreiheit diskriminiert. Angehörige dieser Personengruppen haben kein Recht auf Befreiung vom obligatorischen Religionsunterricht im Fach "Religiöse Kultur und Ethik". Wer sich kritisch über Religion oder Glauben im Allgemeinen oder über bestimmte Auslegungen, insbesondere des Islams, äußert, muss mit einer Anzeige rechnen und läuft Gefahr, nach dem türkischen Strafgesetzbuch verfolgt zu werden. Dies geschieht insbesondere nach Artikel 216 (3): "öffentliche Herabsetzung der religiösen Werte eines Teils der Bevölkerung". Umgekehrt wird Artikel 216 (3) nicht angewandt, um diese Minderheiten vor hasserfüllten oder verleumderischen Äußerungen zu schützen (NHC-FBI 19.4.2022, S. 6). Im Jahr 2020, beispielsweise, wurde der regimekritische Journalist Enver Aysever wegen Verstoßes gegen Artikel 216/3 des Strafgesetzbuchs verhaftet, nachdem er auf seiner persönlichen Twitter-Seite eine Karikatur veröffentlicht hatte, in der er sich über das Verhalten des muslimischen Klerus während der COVID-19-Pandemie lustig machte. Er wurde später wieder freigelassen, muss sich aber noch wegen Beleidigung religiöser Gefühle vor Gericht verantworten (HI 5.1.2021). Im Mai 2020 ertönte, als Resultat einer technischen Manipulation, das Lied "Bella Ciao" aus den Lautsprechern einiger Moscheen in Izmir. Der Generalstaatsanwalt von Izmir kündigte nicht nur eine Untersuchung des Sabotageakts an, sondern auch derjenigen, die das Video geteilt haben, wegen des Strafdeliktes der "öffentlichen Verunglimpfung religiöser Werte" (Bianet 21.5.2020).
Am 23.10.2020 hielt der Leiter der staatlichen Religionsbehörde (DIYNET), Ali Erbaş, eine Rede anlässlich der Eröffnung einer Moschee in Patnos/Ağrı durch Staatspräsident Erdoğan. Darin richtete Erbaş sich gegen die Ungläubigen und sagte: "Von Menschen, die nicht an das Leben nach dem Tod glauben, wird alles Böse erwartet". Die Vereinigung der Atheisten in der Türkei reagierte mit einer Strafanzeige bei der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul wegen offener Beleidigung nicht-gläubiger Bürger (AD 6.12.2020). Unbeeindruckt von der Klage verkündigte Erbaş Ende März 2021: "Schützen wir unsere Kinder vor anderen Ideologien als dem Islam und verschiedenen Organisationen und Strukturen, die Unglauben, Atheismus, Deismus und Zoroastrismus fördern. Wir würden eine Sünde begehen, wenn wir sie nicht schützen würden" (Duvar 29.3.2021).
Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019; vgl. HI 5.1.2021) und die Zahl der Nichtgläubigen verdoppelt, sodass der Anteil der beiden Kategorien insgesamt 5 % beträgt. Dieser Prozentsatz steigt insbesondere bei den jungen Menschen unter 30 Jahren an (HI 5.1.2021).
Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 12.4.2022, S. 73).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, S. 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 12.4.2022, S. 73f.).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, S. 40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vgl. USCIRF 12.2021, S. 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten (USDOS 12.4.2022, S. 75).
Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, S. 41). Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; S. 28).
Kurden
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, S. 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres 2021 "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 12.4.2022, S. 26, 73). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, S. 4).
Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, S. 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, S. 17, Pt. 44).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 12.4.2022, S. 73) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, S. 16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, S. 16; vgl. CCRT 8.4.2021)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, S. 16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, S. 11; vgl. VOA 11.6.2022). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, S. 10).
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, S. 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21).
Übergriffe
Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, S. 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, S. 27; vgl. Bianet 22.7.2021).
Verwendung der kurdischen Sprache
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, S. 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; S. 41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2021, S. 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, S. 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, S. 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, S. 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8.), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. Und der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, S. 10). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S. 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, S. 27).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Frauen
Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB 30.11.2021, S. 35), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 12.4.2022, S. 67). Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (USDOS 12.4.2022, S. 67; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 35). Ursache hierfür ist, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft verankerte Stereotype ebenso ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen bleiben (ÖB 30.11.2021, S. 35) wie der mangelnde politische Wille und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik (MEI 18.12.2019). Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im türkischen Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert, Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022, S. 4).
Im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter gab es erhebliche Rückschritte bei den Rechten der Frauen. Der Austritt der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sogenannten Istanbul-Konvention, gefolgt von der Verabschiedung eines Präsidentendekretes im März 2021, stellt laut Europäischer Kommission einen klaren Rückschritt bei den Rechten von Frauen und Mädchen dar. Dieser Beschluss gefährdet laut Europäischer Kommission die Rechte von Frauen und Mädchen und die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in der Türkei und schafft einen gefährlichen Präzedenzfall. Nach dem Austritt kam es in den Medien vermehrt zu Hassreden gegen Frauenorganisationen (EC 19.10.2021, 38). Trotz Forderung des Europäischen Parlaments "diese nicht nachvollziehbare Entscheidung zurückzunehmen, die eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden europäischen Werte darstellt und im Rahmen des Beitrittsprozesses der Türkei Eingang in die Bewertung finden wird" (EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 11), entschied der Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht, dass die Entscheidung von Staatspräsident Erdoğan hinsichtlich des Austrittes aus der Konvention rechtmäßig war (AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5).
Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). So erklärte der Kommunikationschef des Präsidenten, die Konvention sei missbraucht worden, um "Homosexualität zu normalisieren", was mit den gesellschaftlichen Werten der Türkei unvereinbar sei. Die Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Zehra Zumrut, argumentierte den Austritt damit, dass die Garantie von Frauenrechten in den türkischen Gesetzen und in der Verfassung ausreiche (DW 20.3.2021).
Kinder-, Früh- und Zwangsehen geben nach wie vor Anlass zur Besorgnis, ebenso wie die willkürliche Strafminderung bei Gewalt gegen Frauen in Gerichtsverfahren, die möglicherweise Ausdruck sexistischer Vorurteile und Schuldzuweisungen an die Opfer sind. Insgesamt mangelt es an politischem Engagement, sich mit Fragen der Geschlechtergleichstellung zu befassen, und es herrscht eine wachsende Abneigung, den Begriff "Geschlechtergleichstellung" in offiziellen Dokumenten zu verwenden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung von Politiken und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen, während regierungsnahe, konservativere Organisationen konsultiert werden (EC 6.10.2020, S. 39).
Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei bzw. die Regierung der AKP eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so Präsident Erdoğan (NYRB 20.2.2019), weil sie ansonsten "unvollständig" seien. Das Frau-Sein wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt. Laut Erdoğan können Frauen und Männer nicht gleichbehandelt werden, da dies gegen die Natur sei. Kurz nachdem Präsident Erdoğan im Jahr 2012 Abtreibung mit Mord gleichgesetzt hatte, sank die Zahl der staatlichen Krankenhäuser, die Abtreibungsdienste anbieten, dramatisch ab, sodass einige Frauen wie auch Mediziner im Zweifel sind, ob die Abtreibung, die 1983 legalisiert wurde, immer noch legal ist oder nicht (MEI 18.12.2019).
Das Gesetz Nr. 6284 aus dem Jahr 2012 verpflichtet sowohl die Polizei als auch die lokalen Behörden, Opfer von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht sind, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Das Gesetz schreibt die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und Gewaltüberwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anbieten (USDOS 12.4.2022, S. 68). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten aus. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRRW 5.2022, S. 2).
Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Experten begrüßen, dass der Anwendungsbereich auf frühere Ehepartner erstreckt wurde, sehen die Änderung jedoch als nicht weitreichend genug an und kritisieren die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB 30.11.2021, S. 35). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ihre Ursachen und Folgen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt (OHCHR 27.7.2022, S. 6).
Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotypen und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022, S. 6).
Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u. a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u. a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der StPO vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).
Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen, deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen. Die Gerichte stellen häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, und die Behörden versäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Einige Täter verstoßen straflos gegen die Bedingungen der präventiven Verwarnungsanordnungen. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3). Laut Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung vor vier Jahren die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, von 3,5 Millionen Frauen heruntergeladen. Seit 2018 haben mehr als 355.000 Frauen über diese App Fälle von Gewalt gemeldet (Duvar 28.7.2022).
Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 28.7.2022, S.14). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 24.8.2020, S.18). Im Jahr 2020 wurden offiziell rund 300 Frauen umgebracht, wobei die Dunkelziffer viel höher liegt, denn viele Opfer werden laut Frauenorganisationen zu Selbstmörderinnen erklärt. Frauenvereine, wie Kadın Kültür Evi Dernegi, sehen darin ein strukturelles Problem im Justizsystem. Misstrauen sei angesagt, wenn Frauenmord als Suizid klassifiziert wird. Es handele sich immer häufiger um einen Deckmantel für einen Femizid [Anm.: Tötung von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts] (DW 4.3.2021). Nach Angaben der Frauenplattform "Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu" (Plattform Wir werden den Femizid stoppen) wurden im Jahr 2021 280 Frauen ermordet. Von ihnen wurden 124 von ihren Ehegatten, 37 von ihrem Freund und 21 von ihren Ex-Ehemännern getötet. Nur elf der Frauen wurden nicht von einem ihnen nahestehenden Mann getötet. Auch die Zahl der zweifelhaften Todesfälle von Frauen hat während der COVID-19-Pandemie zugenommen (SCF 21.1.2022). Das regierungskritische Nachrichtenportal Bianet zählte 2021 auf der Basis von Medienberichten sogar 339 Frauenmorde, wobei 20 Frauen trotz einer Schutzanordnung getötet wurden (Bianet 14.2.2022). Die NGO Plattform "Wir werden den Femizid stoppen" zählte nebst den auch offiziellen 280 Femiziden weitere 217 verdächtige Fälle von verstorbenen Frauen. 2022 wurden im ersten Halbjahr 163 ermordet (Duvar 28.7.2022).
Die unzureichende Umsetzung der Rechtsvorschriften und die geringe Qualität der verfügbaren Unterstützungsdienste, die auch durch eine negative Rhetorik hochrangiger Beamter und einiger Teile der Gesellschaft gegen die Gleichstellung der Geschlechter verschärft wird, geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu ernster Sorge. Dies gilt auch für die mangelnde Abschreckung von Straftätern, die Verbrechen gegen Frauen begehen, durch Justiz und Verwaltung. Eine parlamentarische Kommission wurde eingesetzt, um die Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu untersuchen und die zu ergreifenden Maßnahmen festzulegen. In Gerichtsfällen von Gewalt gegen Frauen wurde weiterhin eine Strafmilderung angewandt (EC 19.10.2021, 38). Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes, was zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beiträgt (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 19.10.2021, 38).
Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (EC 6.10.2020, S. 38; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 36, USDOS 12.4.2022, S. 68). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Die Kapazitäten wurden infolge der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter. Die Regierung unterhielt eine landesweite Hotline für häusliche Gewalt und eine Webanwendung namens Women Emergency Assistance Notification System (KADES) (USDOS 12.4.2022, S. 68).
2021 existierten im ganzen Land lediglich 149 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.624 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder (ÖB 30.11.2021, S. 36). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge sind es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Jungen, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist recht begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022, S. 7).
Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten Diyanet) gesetzt. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB 30.11.2021, S. 36). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB 30.11.2021, S. 36; vgl. EC 6.10.2020, S.38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden. Hingewiesen wurde auch auf den fehlenden Zugang zu Frauenhäusern für Frauen mit körperlichen Einschränkungen (ÖB 30.11.2021, S. 36).
Laut Frauenorganisationen gibt es eine Zunahme an Scheidungen infolge der ebenfalls wachsenden häuslichen Gewalt. Umgekehrt behauptet die Regierung, dass die häusliche Gewalt zugenommen hat, weil sich Frauen scheiden lassen wollen. Wahr ist, dass die Zahl der Frauenmorde in der Türkei in den letzten zehn Jahren stetig zugenommen hat. Das Problem im türkischen Recht besteht darin, dass die Beweislast in Fällen häuslicher Gewalt auf die Opfer fällt, die, wie Frauenrechtlerinnen argumentieren, durch die Justiz wie Paria behandelt werden. Wenn ein Mann behauptet, dass seine Partnerin ihn in einer Auseinandersetzung verflucht oder "provoziert" hat, entscheidet der Richter im Zweifel für den Angeklagten. Es gibt oft auch kulturelle Barrieren aus dem familiären Umfeld. Trotz offensichtlicher Gewalt sehen sich einige der Frauen mit Missbilligung ihrer Familien konfrontiert, die der Meinung sind, dass die Frauen für die Gewalt verantwortlich sind, die sie erlebt haben (NYRB 20.2.2019).
Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt, darunter auch über diejenigen, die wegen der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen verurteilt wurden, und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt (DFAT 10.9.2020, S.35). Laut einem Bericht aus den Reihen der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), jedoch unter Verwendung offizieller Daten des Justizministeriums, entschied die Justiz in den letzten acht Jahren in 73 % von fast 26.000 Fällen von Gewalt gegen Frauen, von einer Verfolgung der Täter abzusehen. Die Staatsanwälte ließen zwischen 2012 und 2020 18.551 Verdächtige häuslicher Gewalt frei, was einer Straffreiheit für sieben von zehn Gewalttätern gleichkommt, wobei es 2012 noch in über der Hälfte der Fälle zu einer Strafverfolgung kam, währenddessen 2019 in 82% der Fälle von einer solchen abgesehen wurde (TM 25.11.2020). In Teilen der Bevölkerung findet allerdings eine wachsende Sensibilisierung zum Thema Gewalt an Frauen statt. Medien begannen Mitte der 2000er Jahre über Vorfälle zu berichten und stärkten so das gesellschaftliche Bewusstsein für das bis dahin als Familienangelegenheit gehandhabte Thema. Projekte von NGOs zielen ebenso auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB 10.2020, S. 30f).
Am 29.9.2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass mehrere Beamte, die vor dem Mord an einer Frau keine angemessenen Präventions- und Schutzmaßnahmen ergriffen hatten, um die Tat zu verhindern, strafrechtlich verfolgt werden sollen. S. Erfındık war 2013, einen Tag nachdem eine einstweilige Verfügung gegen ihren geschiedenen Ehemann ausgelaufen war, ermordet worden. Vor der Tat hatte sie nach Morddrohungen mehrfach eine Verlängerung der einstweiligen Verfügung sowie Schutzmaßnahmen beantragt, die jedoch von den Behörden abgelehnt wurden. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass der Mord auf Fahrlässigkeit der Amtsträger und deren Versäumnis, geeignete Maßnahmen durchzuführen, zurückzuführen sei (BAMF 4.10.2021, S. 13f).
Am 16. und 17.3.2022 wurden in der mehrheitlich kurdischen Provinz Diyarbakır bei Einsätzen der Polizei 25 Aktivistinnen festgenommen, die an Demonstrationen am Weltfrauentag 2022 sowie weiteren Demonstrationen zu Frauenrechten in der Türkei beteiligt waren. Unter den festgenommenen Frauen befanden sich Vertreterinnen mehrerer Frauenrechtsorganisiationen, Arbeitergewerkschaften sowie HDP-Politikerinnen (BAMF 21.3.2022, S. 11). In Istanbul errichtete die Bereitschaftspolizei Barrikaden und setzte Pfeffergas ein, um Demonstrantinnen daran zu hindern, sich im Zentrum der Stadt an einer Demonstration zum Internationalen Frauentag (8. März) zu beteiligen. Mindestens 38 Frauen festgenommen (AP 8.3.2022).
Am 5.4.2021 wurden während einer Razzia in der Provinz Diyarbakır im Frauenrechtsverein Rosa, der sich für Opfer von Gewalt einsetzt, 22 Frauen verhaftet, denen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, Mitglieder für die PKK zu rekrutieren und politische Propaganda für diese zu verbreiten (BAMF 12.4.2021, S. 16; vgl. SCF 9.4.2021). Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen werden weiterhin weitgehend vom Prozess der Ausarbeitung einschlägiger Gesetze und der Entwicklung politischer Strategien und Vorschriften zu Frauenfragen ausgeschlossen (EC 19.10.2021, S. 38).
Auch die Gewalt gegen Journalistinnen hat in der Türkei zugenommen. Nach Angaben der Koalition für Frauen im Journalismus (CFWIJ) wurden allein in der ersten Hälfte des Jahres 2021 44 Journalistinnen Opfer von Polizeigewalt und 13 verhaftet, während sie über Ereignisse vor Ort berichteten. Nach Angaben der CFWIJ hat die Gewalt gegen Journalistinnen im Jahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 um fast 160 % zugenommen (SCF 21.1.2022).
Frauen haben überdurchschnittliche Schwierigkeiten beim Zugang zu höherer Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen (15,1 %) blieb auch 2020 nachhaltig höher als jene der Männer (12,6 %). Nicht einmal ein Drittel der Frauen (32 %) ist in Beschäftigung im Vergleich zu mehr als 70 % der Männer (EC 19.10.2021; S. 53, 92).
Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) liegt die Türkei auf Platz 133 von 156 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2021. In den Sub-Indices lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe und Chancen" nur auf Platz 140. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" (Rang 101), bei der "Politischen Ermächtigung" (Platz 114) und bei der "Gesundheit" (Position 105) besser aus (WEF 3.2021).
Kinder und Minderjährige
Die Türkei ist Vertragsstaat der folgenden internationalen Menschenrechtsinstrumente in Bezug auf die Rechte des Kindes: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) und seine Fakultativprotokolle über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (DFAT 10.9.2020, S. 16).
Bei den Kinderrechten gibt es insgesamt nur begrenzte Fortschritte. Im Oktober 2020 wurde im Justizministerium eine eigene Abteilung eingerichtet, die sich für die Rechte und Dienstleistungen für gefährdete Gruppen im Justizsystem einsetzen soll. Probleme im Jugendstrafsystem bestehen weiterhin. Nach wie vor werden Jugendliche wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet und inhaftiert, oft über lange Zeiträume und nicht immer in speziellen Einrichtungen für Kinder. Die Qualität des Rechtsbeistands für Jugendliche und der Rehabilitationsmaßnahmen gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge. Trotz der Maßnahmen, die zur Verbesserung der Bedingungen in den Haftanstalten ergriffen wurden, wurde weiterhin über Misshandlungen berichtet. Der Entwurf einer nationalen Strategie und eines Aktionsplans zur Verhinderung von Früh- und Zwangsverheiratung muss noch angenommen werden. Mechanismen und Dienste zum Schutz von Kindern sind nach wie vor begrenzt. Flüchtlingskinder und ihre Familien waren einem erhöhten Risiko ausgesetzt und hatten besondere Probleme beim Zugang zum nationalen Kinderschutzsystem (EC 19.10.2021, S. 39).
Kinderarbeit
Die Regierung erklärte 2018 zum Jahr der Abschaffung von Kinderarbeit. Darüber hinaus wurden 355 Arbeitsinspektoren, 81 Provinzdirektoren und 320 Lehrer zum Thema Kinderarbeit geschult. Dennoch sind Kinder in der Türkei den schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Rekrutierung durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen. Auch in der saisonalen Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben verrichten Kinder gefährliche Arbeiten. Die uneinheitliche Durchsetzung der Gesetze führt zu einem unzureichenden Schutz von Kindern, die Kinderarbeit verrichten. Darüber hinaus entspricht das Verbot der Zwangsrekrutierung von Kindern durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen nicht den internationalen Standards (USDOL 29.9.2021).
Die Türkei hat die Umsetzung des nationalen Programms zur Beseitigung der Kinderarbeit fortgesetzt, die nach wie vor ein ernstes Problem darstellt. Es liegen keine offiziellen Daten über die Beteiligung von Flüchtlingskindern an Kinderarbeit vor (EC 19.10.2021, S. 92). Bis zu zwei Millionen leisten in der Türkei Kinderarbeit. Gesetzlich zwar verboten, zwingt aber die Not Familien oft dazu, ihre Kinder zum Geldverdienen anstatt in die Schule zu schicken, z. B. während der Baumwollernte (ARD 25.10.2020, Min 1). Obwohl die Kinderarbeit in der Türkei erheblich zurückgegangen ist, stellt sie in der saisonalen landwirtschaftlichen Produktion immer noch ein Problem dar. In der Agrarwirtschaft, mit Ausnahme von Familienbetrieben, wird mobile und saisonale Landarbeit im Nationalen Programm zur Beseitigung von Kinderarbeit (2017-2023) als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit eingestuft, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen, damit verbundenen Risiken. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit beschäftigt sind, stellen eine der am meisten benachteiligten Gruppen dar, was die Arbeits- und Lebensbedingungen in Verbindung mit Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsproblemen betrifft (ILO 5.3.2021, S. 3). Offiziellen Zahlen zufolge sind 720.000 Kinder gezwungen, zum Haushaltseinkommen ihrer Familien beizutragen. Rund 31 % dieser Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, fast 24 % in der Industrie und 45,5 % im Dienstleistungssektor. 20 % der Kinder sind Saisonarbeiter (Duvar 7.6.2021; vgl. ILO 5.3.2021, S. 2). Der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe 5-17 Jahre wird von der türkischen Statistikbehörde auf 4,4 % geschätzt. 79,7 % der erwerbstätigen Kinder sind in der Altersgruppe 15-17 Jahre, 15,9 % in der Altersgruppe 12-14 Jahre und 4,4 % in der Altersgruppe 5-11 Jahre. Eine Untersuchung nach Geschlecht zeigt, dass 70,6 % der arbeitenden Kinder männlich und 29,4 % weiblich sind (ILO 5.3.2021, S. 2). 2020 starben 22 Minderjährige unter 14 Jahren und 46 im Alter von 15 bis 17 Jahren bei Arbeitsunfällen (Duvar 11.6.2021).
Grundversorgung/Wirtschaft
Das starke Wachstum von 11 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021 dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 2,7 % abschwächen (GTAI 1.6.2022). Die Weltbank geht sogar, nicht zuletzt infolge des Ukraine-Krieges, nur noch von 1,4 % Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 aus (WB 19.4.2022). Die türkische Regierung strebt mit einer Niedrigzinspolitik ein starkes, kurzfristiges Wachstum an, das mit hohen Finanz- und Wirtschaftsrisiken einhergeht. Die Teuerung ist horrend und die Landeswährung hat stark an Wert verloren (GTAI 1.6.2022). Seit einem Jahr hat sich in der Türkei eine Inflation von rund 80 % festgesetzt. Unabhängige Experten gehen sogar von mehr als 120 % aus. Vor allem Lebensmittelpreise steigen fast täglich. Die türkische Lira verliert stetig an Wert. Bekam man 2021 im Sommer noch für neun Lira einen Euro, muss man schon (Stand Sommer 2022) 18 Lira für einen Euro zahlen (Standard 25.7.2022). Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 1.6.2022).
Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 1.6.2022). Die Gesamtbeschäftigung und die Erwerbsquote haben im Jahr 2021 das Niveau von vor der Pandemie übertroffen. Die Erholung verlief jedoch ungleichmäßig, wobei die informellen Arbeitsverhältnisse noch immer zurückliegen. Andererseits war die diesbezügliche Erholung bei Frauen schneller als bei Männern. Zwischen Dezember 2020 und Dezember 2021 stieg die Erwerbsbeteiligung der Frauen um 14 % gegenüber 6 % bei den Männern - obwohl die Frauenerwerbsquote der Türkei immer noch die niedrigste unter den OECD-Ländern ist. Auch die Jugendbeschäftigung hat sich erholt, aber 20,1 % der Jugendlichen sind immer noch arbeitslos (WB 19.4.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme- WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vgl. Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Nachdem im Februar 2022 die Mehrwertsteuer für Güter des täglichen Bedarfs von 8 % auf 1 % gesenkt wurde, erfolgte Ende März die Reduktion der Mehrwertsteuer auf zahlreiche weitere Konsumprodukte von 18 % auf 8 %, um die Auswirkungen der Inflation, die offiziell im Februar 2022 54,4 % betrug, zu bekämpfen (DS 28.3.2022). Selbige Reduktion erfolgte Anfang März bereits auf die Stromrechnungen für Privathaushalte sowie bei den Kosten für Bewässerung in der Landwirtschaft (Duvar 1.3.2022).
Einer der größten Gewerkschaftsverbände, Türk-İş, veröffentlichte im März 2022 seine periodische Umfrage zur Hunger- und Armutsgrenze. Demnach sind die monatlichen Mindestausgaben einer vierköpfigen Familie für eine angemessene Ernährung (Hungergrenze) auf 4.928 Türkische Lira (ca. 300 Euro) gestiegen und lagen damit 675 Lira (ca. 41 Euro) über dem Mindestlohn. Die Ausgaben einer vierköpfigen Familie für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Transport, Bildung, Gesundheitsversorgung usw. (Armutsgrenze) beliefen sich auf 16.052 Lira (ca. 980 Euro), was fast dem Vierfachen des Mindestlohns entsprach, der mit Stand März 2022 bei 4.253 Lira (260 Euro) lag. Die Lebenshaltungskosten eines alleinstehenden Arbeitnehmers sind auf 6.473 Türkische Lira (ca. 395 Euro) gestiegen, was den Mindestlohn um 2.200 Lira (ca. 135 Euro) überschritt (Bianet 28.3.2022). Mit Wirkung vom 1.7.2022 wurde der Mindestlohn auf 5.500 Lira [rund 300 Euro] pro Monat festgelegt. Allerdings erhalten nach Angaben der Sozialversicherungsanstalt (SGK) mehr als 40 % aller Arbeitnehmer nur den Mindestlohn (DS 1.7.2022).
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP (ÖB 30.11.2021, S. 39). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022).
Sozialbeihilfen/-versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, S. 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S. 40).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).
Arbeitslosenunterstützung
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR 2022; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 39). - Anfang Juli 2022 kündigte Präsident Erdoğan die Erhöhung des Mindestlohns um 30 % auf 5.550 Türkische Lira [rund 300 Euro] an (HDN 1.7.2022). - Auf das Arbeitslosengeld werden keine Steuern oder Abzüge erhoben, mit Ausnahme der Stempelsteuer (İŞKUR 2022). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 39, İŞKUR 2022).
Pension
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.
Berechtigung:
Staatsbürger über 18 Jahre
Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)
Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.
Voraussetzungen:
Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden
Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).
Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40 %, die von unabhängigen Instituten auf über 80 % im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vgl. Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30 % erhöht (Bianet 4.1.2022). Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S. 56f).
Medizinische Versorgung
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc.. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2021, S. 40).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2021, S. 40). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, S. 21). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).
Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022a). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während diese Zahl 2022 voraussichtlich auf 2.500 steigen wird. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinischem Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022a).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, S. 15).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S. 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S. 38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, S. 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen "Präsidentenbeleidigung" oder der "Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation" riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S. 10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S. 37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. ÖB 30.11.2021, S. 38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S. 42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S. 50; vgl. NL-MFA 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 22). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem: Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com ; Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/ ; TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S. 39).
III. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich aus ihren Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde sowie dem Bundesverwaltungsgericht in Zusammenschau mit (der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Original) vorgelegten türkischen Reisepässen (Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978, Kopie als Beilage zur Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978; Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977, Kopie als Beilage zur Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978) und mit (der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Original) vorgelegten türkischen Personalausweisen (Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978; Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977). Bereits die belangte Behörde kam zu dem Ergebnis, dass die Identität und Staatsangehörigkeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin feststehen (Seite 14 des angefochtenen Bescheides im Akt 2218978; Seite 13 des angefochtenen Bescheides im Akt 2218977). Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des minderjährigen Drittbeschwerdeführers ergeben sich ebenfalls aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im Verfahren vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer verfügt zwar über keine türkischen Ausweisdokumente, er ist allerdings auf Grund der türkischen Staatsangehörigkeit seiner Eltern jedenfalls und unstrittig türkischer Staatsbürger.
Dass es sich beim Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin um die Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers handelt, ergibt sich aus den eigenen Angaben der Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers (Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 3ff des Verhandlungsprotokolls) in Zusammenschau mit der österreichischen Geburtsurkunde des Drittbeschwerdeführers (Beilage zum Antrag auf internationalen Schutz im Akt 2218979).
Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin – und damit der minderjährige Drittbeschwerdeführer – der kurdischen Volksgruppe angehören, haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durchgehend angegeben und erscheint dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft (Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978, Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 2 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977, Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 6f des Verhandlungsprotokolls).
Hinsichtlich des Religionsbekenntnisses brachte der Erstbeschwerdeführer im Asylverfahren zum Ausdruck, als Alevit geboren worden zu sein und bezeichnete er sich auch als Alevit (Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978, Seite 3 der Niederschrift vor der belangten Behörde im Akt 2218978). In dieses Bild passt es auch, dass der Erstbeschwerdeführer einen im April 2015 ausgestellten Ausweis für Aleviten (Kopie als Beilage zur Niederschrift über die Einvernahme vor dem BFA im Akt 2218978) vorlegte und erklärte, seinen Lebensunterhalt im Bundesgebiet mit Hilfe eines alevitischen Vereins zu bestreiten (Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978). Die Zweitbeschwerdeführerin legte wiederum im Asylverfahren dar, als sunnitische Muslima geboren worden zu sein und bezeichnete sie sich als Muslima der sunnitischen Glaubensrichtung (Seite 2 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977), wobei zur Vollständigkeit anzumerken ist, dass in der Beschwerde auch die Rede davon ist, dass sämtliche Beschwerdeführer der alevitischen Glaubensgemeinschaft angehören würden (Seite 5 der Beschwerde vom 05.04.2019). Dass sich der Erstbeschwerdeführer gleichzeitig als Atheist sehe (Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978) und sich die Zweitbeschwerdeführerin als konfessionslos betrachte (Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977), trat im Zuge der jeweiligen Einvernahme vor dem BFA zu Tage. Die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin eine islamkritische Haltung besitzen, basiert auf deren Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde (Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 3 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977) sowie dem Bundesverwaltungsgericht (Seite 6f des Verhandlungsprotokolls). Da die Frage der Religionszugehörigkeit bzw. weltanschaulichen Ausrichtung im gegenständlichen Verfahren indes ohnehin nicht entscheidungswesentlich ist, konnte von weitergehenden Ermittlungen im Hinblick auf die Religionszugehörigkeit Abstand genommen werden.
Die weiteren Feststellungen zur jeweiligen Person der Beschwerdeführer, zur Herkunft des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, zu ihrer Schul- und Universitätsausbildung, zu ihrer (fehlenden) Berufserfahrung, zu ihren Sprachkenntnissen sowie zu deren persönlichen und familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat waren auf der Grundlage von im Wesentlichen gleichbleibenden und insoweit glaubhaften Angaben im behördlichen und gerichtlichen Verfahren (Seite 1ff der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978, Seite 3f der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 1ff der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977, Seite 3ff der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 5ff des Verhandlungsprotokolls) und den Verwaltungs- sowie Gerichtsakten, insbesondere in Zusammenschau mit den unbedenklichen in den Akten enthaltenen Urkunden (etwa dem Maturazeugnis des Erstbeschwerdeführers, der Betriebseröffnungs- und Gewerbegenehmigung des Erstbeschwerdeführers samt Übersetzung, einer Bekanntmachung bezüglich des vom Erstbeschwerdeführer ausgeübten Gewerbes samt deutscher Übersetzung oder einer Abschlussbescheinigung bezüglich des von der Zweitbeschwerdeführerin absolvierten Studiums samt Übersetzung, zu treffen.
Zum Erhalt eines österreichischen Visums C und zu ihrer Einreise in den Schengenraum bzw. in das Bundesgebiet haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Verfahren gleichbleibende Angaben gemacht (Seite 3 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978, Seite 4f der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977, Seite 4 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977), die in Zusammenschau mit (der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Original) vorgelegten türkischen Reisepässen (Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978, Kopie als Beilage zur Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978; Seite 1 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977, Kopie als Beilage zur Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977) anhand der amtswegig eingeholten Auszüge aus dem Zentralen Fremdenregister nachvollzogen werden und dementsprechend den Feststellungen zugrunde gelegt werden konnten. Das Datum der Asylantragstellung geht sowohl aus dem jeweiligen Erstbefragungsprotokoll des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sowie dem Antrag auf internationalen Schutz des Drittbeschwerdeführers als auch aus dem jeweiligen Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister hervor. Gestützt auf die Angaben der Beschwerdeführer und die Eintragungen im Zentralen Fremdenregister konnte das Bundesverwaltungsgericht die Feststellungen zum Aufenthaltsstatus treffen.
Zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer ist festzuhalten: Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gesund sind und beim Drittbeschwerdeführer eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und atypischer Autismus diagnostiziert wurde, weshalb Letzterer eine Therapie für sensorische Integration erhielt und es weiterhin Logopädie, Ergotherapie und kinderpsychiatrischer Behandlung für den Drittbeschwerdeführer bedarf, ergibt sich aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde (Seite 2 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 2 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 3f des Verhandlungsprotokolls) in Zusammenschau mit den im Beschwerdeverfahren vorgelegten medizinischen Unterlagen bezüglich des Drittbeschwerdeführers (Beilagen zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218977). Die Feststellungen, dass von keiner schwerwiegenden Erkrankung oder Behandlungsbedürftigkeit auszugehen ist, ergibt sich somit in einer Zusammenschau der vorgelegten Befunde bezüglich des Drittbeschwerdeführers und den eigenen Angaben der Beschwerdeführer.
Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin die vorangehend festgestellten Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache besuchten und sie die deutsche Sprache in einfacher alltagstauglicher Weise beherrschen, wurde auf Grund der diesbezüglichen Ausführungen der beiden Beschwerdeführer in den Einvernahmen vor der belangten Behörde (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 4f des Verhandlungsprotokolls) in Zusammenschau mit den unbedenklichen im Akt enthaltenen Urkunden festgestellt (Beilagen zur Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde, zur Beschwerde vom 05.04.2019 und zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978). Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bislang keine Deutschprüfung positiv abgelegt haben, wurde auf Grund der nicht erfolgten Vorlage von Zertifikaten oder anderen Nachweisen hinsichtlich der Ablegung einer Deutschprüfung festgestellt.
Die Feststellungen zu den Einstellungszusagen, dem Antrag auf Saisonbewilligung und den Anträgen auf Beschäftigungsbewilligung bezüglich des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sind urkundlich hinreichend nachgewiesen (Beilagen zur Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde und zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978; Beilagen zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218977).
Die Feststellung, dass die erwachsenen Beschwerdeführer keiner legalen Erwerbsarbeit nachgehen, ergeben sich aus ihren Angaben vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 3ff des Verhandlungsprotokolls).
Dass die Beschwerdeführer auf Grund der im Zuge ihrer Visumsbeantragung vorgelegten Verpflichtungserklärung nicht zum Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber berechtigt sind bzw. waren, ergibt sich aus den im Gerichtsakt des Erstbeschwerdeführers aufliegenden Schreiben der Caritas vom 17.06.2019, 12.02.2020 und 15.07.2022 (Beilagen zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978). Dass die Beschwerdeführer ihren Lebensunterhalt derzeit durch Zuwendungen der in Österreich lebenden Verwandten des Erstbeschwerdeführers und mit Hilfe eines alevitischen Vereins bestreiten, sagten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin glaubhaft aus (Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977).
Was die gemeinsame Unterkunft der Beschwerdeführer betrifft, so basieren die Feststellungen auf den Angaben des Erstbeschwerdeführers im Verfahren (Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978), dem in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Mietvertrag vom 15.01.2020 (Beilage zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978) und der Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht beigeschafften Auszüge aus dem Zentralen Melderegister betreffend die Personen der Beschwerdeführer.
Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin keiner ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Arbeit nachgehen und keine Schule, Kurse oder sonstige Ausbildungen besuchten, ist im Lichte der Aussagen dieser beiden Beschwerdeführer (bisweilen im Umkehrschluss) und der vorgelegten Bescheinigungsmittel nicht zweifelhaft (Seite 3ff des Verhandlungsprotokolls).
Die Feststellungen zur Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers im Verein „ XXXX “ und im Verein „ XXXX “ ergeben sich aus den vorgelegten Bestätigungen (Beilagen zum Verhandlungsprotokoll und OZ 36 im Akt 2218978). Selbiges gilt für die Teilnahme des Erstbeschwerdeführers an Veranstaltungen des Vereins „ XXXX “ (Beilage zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978). Die Feststellung, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin auch am „kurdischen Leben“ in Wien beteiligen und an Veranstaltungen des kurdischen Kulturvereins teilnehmen, ergibt sich bereits aus dem Vorbringen in der Beschwerde (Seite 6 der Beschwerde vom 05.04.2019 im Akt 2218978). Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin legten keine sonstigen Nachweise über weitere Mitgliedschaften oder Aktivitäten in Vereinen oder Organisationen in Österreich vor, weshalb die dementsprechenden Feststellungen getroffen wurden.
Die Unterstützungserklärungen (Beilagen zur Beschwerde und zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978) sind urkundlich hinreichend nachgewiesen. Die Feststellungen zum Freundes- und Bekanntenkreis der Beschwerdeführer in Österreich waren auf Grundlage ihrer insofern glaubhaften Aussagen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, etwa zu den genannten Freizeitaktivitäten, und von Bescheinigungsmitteln, insbesondere mehrerer Empfehlungsschreiben ihrer Bekannten/Unterstützer, die einen persönlichen Bezug der Verfasser zu den Beschwerdeführern erkennen lassen, zu treffen. Hinweise auf eine einem Familienleben entsprechende Beziehung gibt es angesichts der Darstellung der Kontakte nicht. Dass die Zweitbeschwerdeführerin den Haushalt der Familie führt und überwiegend die Kinderbetreuung übernimmt, ist im Lichte der Aussagen der Zweitbeschwerdeführerin nicht zweifelhaft (Seite 4 des Verhandlungsprotokolls). Selbiges gilt für die festgestellten von der Zweitbeschwerdeführerin gemeinsam mit dem Drittbeschwerdeführer gesetzten Freizeitaktivitäten.
Die Feststellungen zu den in Österreich, im Vereinigten Königreich, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich lebenden Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers ergeben sich aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung (Seite 5f der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 4 des Verhandlungsprotokolls). Die Feststellungen zum fehlenden gemeinsamen Haushalt mit den und zu der unregelmäßigen finanziellen Unterstützung durch die in Österreich lebenden Verwandten des Erstbeschwerdeführers im österreichischen Bundesgebiet ergeben sich ebenfalls aus den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977).
Aus der österreichischen Geburtsurkunde ergibt sich die Geburt des minderjährigen Drittbeschwerdeführers in Österreich (Beilage zum Antrag auf internationalen Schutz im Akt 2218979). Die Feststellungen zum in der Vergangenheit erfolgten Kindergartenbesuch und zu den Deutschkenntnissen des Drittbeschwerdeführers, sowie zu dessen Freizeitaktivitäten in Österreich waren auf Grundlage im Wesentlichen gleichbleibender und insoweit glaubhafter Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (Seite 3 bis 5 des Verhandlungsprotokolls) und den Verwaltungs- sowie Gerichtsakten, insbesondere in Zusammenschau mit den unbedenklichen in den Akten enthaltenen Urkunden, zu treffen. Die entsprechenden Aussagen der Eltern des minderjährigen Beschwerdeführers konnten auch deshalb den Feststellungen zugrunde gelegt werden, weil keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen sind, dass die Eltern des minderjährigen Beschwerdeführers einen Grund haben könnten insofern unzutreffende bzw. wahrheitswidrige Angaben zu machen. Anzumerken ist, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin lediglich über grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache, die für eine Verständigung im Alltag auf einfachem Niveau ausreichen, verfügen. Somit ist davon auszugehen, dass innerhalb der Familie nur am Rande in deutscher Sprache und stattdessen vorwiegend in Türkisch oder Kurmandschi kommuniziert wird.
Die Feststellung, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin strafrechtlich unbescholten sind, ergibt sich jeweils aus einem Strafregisterauszug. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer ist auf Grund seines Alters strafunmündig.
Die Feststellungen zu den vorgebrachten Fluchtgründen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sowie einer fehlenden Rückkehrgefährdung stützen sich auf folgende Erwägungen:
Die (einfache) Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers bei der Halkların Demokratik Partisi ist urkundlich hinreichend nachgewiesen (Beilage zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978 [Übersetzung: OZ 36 im Akt 2218978]). Die Feststellungen betreffend die Sympathie des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin für die Halkların Demokratik Partisi, deren politisches Interesse für die kurdischen Belange und die politische Betätigung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin – einmalige Organisation einer Kundgebung im November 2015 durch den Erstbeschwerdeführer, Teilnahme an von der Polizei des Öfteren mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelösten Aufmärschen/Demonstrationen für die kurdischen Belange, für die Frauenrechte und den Umweltschutz durch den Erstbeschwerdeführer und Teilnahme an Presseerklärungen sowie zumindest drei- oder viermal an Kundgebungen eines Vereins wider die Gewalt an Frauen durch die Zweitbeschwerdeführerin – beruhen unter Berücksichtigung des Bildungshintergrundes und des persönlichen Auftretens des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin auf den diesbezüglichen nachvollziehbaren Angaben in der jeweiligen Einvernahme vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (Seite 7 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 7 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 6f, 8f, 11ff, 14f des Verhandlungsprotokolls), zumal dies auch in Anbetracht der Volksgruppenzugehörigkeit der beiden erwachsenen Beschwerdeführer plausibel erscheint. Mögen die Ausführungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im Übrigen von einem vorhandenen Interesse an der türkischen Innenpolitik zeugen, so war hierin jedoch keinerlei außergewöhnliche politische Exponiertheit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zu erkennen, die ein Verfolgungsinteresse türkischer Behörden nahelegen könnte, wie dies an bekannten Beispielen von Vertretern der HDP, wie etwa deren Parteivorsitzenden, Inhabern von Bürgermeistersitzen, Parlamentsmitgliedern und anderen ranghohen Parteimitgliedern, ersichtlich wurde, wobei abschließend darauf hinzuweisen ist, dass der Erstbeschwerdeführer vor der belangten Behörde nicht einmal in der Lage war, zweifelsfrei anzugeben, ob er nun seit zwei oder vier Jahren Mitglied der HDP sei (Seite 7 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978), was ebenfalls indiziert, dass die Verbundenheit des Erstbeschwerdeführers zur HDP eine eher oberflächliche darstellt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Erstbeschwerdeführer einen relativ hohen Bildungsstand hat und sowohl die Niederschrift der behördlichen Einvernahme als auch sein Auftreten und seine Aussagen in der mündlichen Verhandlung davon zeugen, dass er über die geistigen und sprachlichen Fähigkeiten verfügt, seine persönliche Anschauung zum Ausdruck zu bringen und ein (Sach-)Vorbringen vorzutragen. Dass der Erstbeschwerdeführer – trotz konkreter und eingehender Befragung durch seine rechtsfreundliche Vertretung – in nur eher mäßiger Weise inhaltlich fundiert darlegen konnte, dass und weshalb er von der HDP und deren Positionen überzeugt sei und was seine Position zum Umweltschutz sowie zu Frauenrechten sei, ist somit nur damit zu erklären, dass er sich in Wahrheit auch nur wenig mit der HDP und deren Zielen befasst und sich nur wenig damit identifiziert hat.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin hielten sich zur Zeit des versuchten Militärputsches in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 zwar in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch kann den Aussagen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin aber in keiner Weise entnommen werden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehören auch keiner gefährdeten Berufsgruppe an und brachten sie weder vor der belangten Behörde, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht Kontakte mit der Gülen-Bewegung, geschweige denn eine Mitgliedschaft ebendort, zum Ausdruck.
Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die im Verfahren geschilderte Kontrolle durch die türkischen Sicherheitskräfte im Zuge einer Straßensperre im Juni 2016 (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 7f, 11 des Verhandlungsprotokolls) auch vor dem Hintergrund der aktuellen Länderinformationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für die Türkei (Version 6)) durchaus möglich zu sein scheint. Dass diese Kontrolle für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zu einem unmittelbaren Bedrohungsszenario geführt oder diese massiv beeinträchtigt hätte, lässt sich aus dem Vorbringen der beiden erwachsenen Beschwerdeführer jedoch nicht ableiten. Diese offenbar ohne Gewalt ablaufende Anhaltung hat den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in ihrem täglichen Leben nicht beeinträchtigt – der Erstbeschwerdeführer konnte weiterhin seiner selbständigen Erwerbsarbeit nachgehen und schilderten sie auch keine weiteren diesbezüglichen Probleme. Dass dieses Ereignis gegenwärtig oder für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat nachteilige Folgen für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben könnte, ist nicht ersichtlich. Dass es sich dabei um eine gezielte Kontrolle in Zusammenhang mit den Ermittlungen wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin gehandelt haben soll, bleibt allenfalls bloße Spekulation.
Das Bundesverwaltungsgericht sieht es auf Grund der Schilderungen der Zweitbeschwerdeführerin (Seite 7 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 7 der Beschwerde vom 05.04.2019 im Akt 2218978) in Zusammenschau mit den von ihr vorgelegten Unterlagen (Beilagen zur Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977) ebenso als glaubhaft an, dass Verwandte der Zweitbeschwerdeführerin auf Grund deren politischen und/oder gewerkschaftlichen Engagements berufliche Nachteile, etwa in Form einer Suspendierung, erlitten und zudem wider einen Onkel ein Haftbefehl erlassen wurde, zumal diese Ereignisse ebenfalls im Einklang mit den in das Verfahren eingeführten länderkundlichen Informationen stehen. Im Ergebnis kann diesbezüglich jedoch ebenso auf die Ausführungen im vorangehenden Absatz verwiesen werden, wonach diese Verwandte der Zweitbeschwerdeführerin betreffenden Vorfälle nicht zu einem unmittelbaren Bedrohungsszenario für die Zweitbeschwerdeführerin oder ihren Ehegatten – den Erstbeschwerdeführer – geführt oder diese massiv beeinträchtigt hätten. Dass diese Ereignisse gegenwärtig oder für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat nachteilige Folgen für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben könnten, ist ebenso wenig ersichtlich, wofür im Übrigen auch spricht, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Zuge der mündlichen Verhandlung diese Thematik unerwähnt ließ. Nicht völlig unbeachtet bleiben darf in diesem Zusammenhang auch, dass die übrigen Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin – Eltern und Geschwister – und somit gleichfalls Verwandte dieser Personen ebenfalls weiterhin unbehelligt in der Türkei leben können.
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet es des Weiteren als glaubhaft, dass es im Juni 2016 nach einer Hausdurchsuchung durch die türkischen Sicherheitskräfte in der Wohnung der Familie des Erstbeschwerdeführers zu einer mehrtägigen Anhaltung der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin – einer ehemaligen XXXX – kam. Ebenso wenig wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts in Abrede gestellt, dass es im Februar 2017 zu einer weiteren Hausdurchsuchung in der Wohnung der Familie des Erstbeschwerdeführers kam, welche wiederum zu einer Anhaltung der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin führte, wobei die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin im Anschluss für einige Monate in Untersuchungshaft blieb, aus der sie schließlich bedingt entlassen wurde. Gleichfalls als glaubhaft zu qualifizieren ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts vor dem Hintergrund der im gegenständlichen Fall herangezogenen Länderinformationsquellen das Vorbringen, dass wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin ein Strafverfahren geführt und dieser im Zuge des Verfahrens Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation zur Last gelegt. Schließlich wird es nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts als glaubhaft erachtet, dass ein türkisches Strafgericht die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilte, wobei das Berufungsverfahren aktuell beim zuständigen Kassationsgericht anhängig ist. Das vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht von den beiden erwachsenen Beschwerdeführern erstattete Vorbringen folgt demselben Handlungsablauf. Diesbezüglich konnten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zum Beleg ihrer plausiblen Schilderungen auch Bescheinigungsmittel in Vorlage bringen (Beilagen zur Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde, zur Beschwerde und zum Verhandlungsprotokoll sowie OZ 22f im Akt 2218978 [wesentliche Übersetzungen: OZ 25, 36 im Akt 2218978]), womit das Strafverfahren wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin, die vorangehenden Hausdurchsuchungen in der gemeinsamen Wohnung und das mittlerweile wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin ergangene – noch nicht rechtskräftige – Strafurteil nachvollziehbar dokumentiert werden. Diese Vorgehensweise der türkischen Behörden steht auch im Einklang mit den in das Verfahren eingeführten länderkundlichen Berichten, welche eine derartige Vorgehensweise bezüglich der Person der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin nahelegen.
Es wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts zwar nicht in Abrede gestellt, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bei diesen Hausdurchsuchungen wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin persönlich anwesend waren, einen tatsächlichen sie persönlich betreffenden Vorfall, welcher den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zur Ausreise im Februar 2017 unmittelbar veranlassten, konnten diese letztlich nicht glaubhaft anführen. Das Bundesverwaltungsgericht kann aus dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin insgesamt keine maßgebliche Bedrohung ihrer jeweiligen Person ableiten. Dies auch in Anbetracht des Umstandes, dass diese im Zuge dieser Ermittlungsmaßnahmen wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin niemals direkte Konfrontationen asylrelevanter Natur zu gewärtigen hatten und aus den vorgebrachten Ereignissen in Bezug auf die Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. die Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin jedenfalls keine unmittelbare Bedrohung der beiden erwachsenen Beschwerdeführer zu erkennen ist.
Das Vorbringen einer individuellen Bedrohung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin erweist sich als ein gedankliches Konstrukt und wirkte einstudiert. Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer auf die Aufforderung, ihre Ausreisegründe frei zu schildern, und auf konkrete Fragen zu ihrem Vorbringen mit – gerade gemessen am Inhalt der von ihnen selbst vorgelegten Bescheinigungsmittel – ausgesprochen oberflächlichen Aussagen reagierten, unmissverständliche Fragestellungen mitunter ignorierten und phrasenhaft Auszüge aus seinem offenbar auswendig gelernten und bereits geäußerten Vorbringen neuerlich wiedergaben, wurde sowohl in den behördlichen Einvernahmen als auch in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht deutlich. Zu Beginn der Einvernahme vor der belangten Behörde am 12.11.2018 aufgefordert, seine konkreten und individuellen Fluchtgründe zu nennen, erwiderte der Erstbeschwerdeführer lediglich: „Ich habe mich über Österreich informiert. Dass in Österreich, der Lebensstandard besser ist. Wegen meiner Weltanschauung werde ich in Österreich nicht verurteilt und diskriminiert, da ich Atheist bin. Das Ausbildungsniveau in Österreich ist sehr hoch. Wir haben Österreich geliebt. Unsere Stadt ist genauso Grün wie Österreich. In Österreich herrscht Gerechtigkeit. Dann haben wir erfahren, dass wir im Bundesgebiet unsere Fingerabdrücke abgegeben haben, somit dürfen wir in keinem weiteren EU-Land um Asyl ansuchen." (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Schreibfehler im Original). Noch kürzer fiel die Antwort des Erstbeschwerdeführers auf die Frage aus, ob er noch weitere Fluchtgründe geltend machen und noch etwas hinzufügen wolle: „wegen politische Unterdrückung, wegen meine ethnische Zugehörigkeit. Da ich frisch verheiratet war, hatte ich Angst gehabt verhaftet zu werden. Wenn jemand in der Familie verhaftet wird, das beeinflusst andere Mitglieder der Familie auch.“ (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Schreibfehler im Original). Ähnlich kurz und oberflächlich bzw. die Aufforderung, ihre konkreten und individuellen Fluchtgründe zu nennen, ignorierend gestalteten sich die Schilderungen der Zweitbeschwerdeführerin zu Beginn der Einvernahme vor der belangten Behörde am 12.11.2018: „Unser Reisezweck war nicht, als Tourist nach Österreich einzureisen. Bevor wir ausreisten. Gab es bei uns eine Hausdurchsuchung. Die Hausdurchsuchung war in der Früh. Die Polizei sagte uns wir sollen uns am Boden legen. Meine Schwiegermutter wurde festgenommen. Da haben wir Angst bekommen und haben beschlossen aus der Türkei auszureisen.“ (Seite 5f der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Schreibfehler im Original). Auf die Frage, ob sie noch weitere Fluchtgründe geltend machen und noch etwas hinzufügen wolle, legte die Zweitbeschwerdeführerin dar: „Der Grund ist die Unterdrückung. Es gibt in der Türkei nur eine Nation, eine Amtssprache eine Flagge. Ich bin Kurdin ich werde vom Staat isoliert. Die Regierung hat uns ins Visier genommen, weil wir nicht auf der Seite des Staates stehen.“ (Seite 6f der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Schreibfehler im Original). In Anbetracht der vorangehenden Aufforderung des einvernehmenden Organwalters, die konkreten und individuellen Fluchtgründe darzulegen und sich hierbei Zeit zu lassen, spricht bereits das Unvermögen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zu einer chronologischen und von entsprechendem Detailreichtum gekennzeichneten eigenen Darlegung der Ausreisegründe gegen eine tatsächliche individuelle Bedrohung ihrer Personen. Eine vor der Ausreise vorhandene individuelle Gefährdung wird mit solchen Ausführungen nicht nachvollziehbar dargetan. Stattdessen beschränkten sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin – teilweise die Fragestellung überhaupt ignorierend – im Zuge der freien Schilderung der angeblichen ausreisekausalen Geschehnisse im Ergebnis auf die Verhaftung der Schwiegermutter und eine vorangehend deshalb in der gemeinsamen Wohnung erfolgte Hausdurchsuchung. Selbst nach mehrfachem und konkretem Nachfragen durch den Leiter der Einvernahme erreichten die Antworten keine inhaltliche Tiefe, blieben oberflächlich und vermittelten nicht den Eindruck, der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer würden eine ihnen widerfahrene individuelle Verfolgung schildern. Die Antworten des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin waren durchwegs unsubstantiiert und detailarm. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin konnten lediglich einige Eckdaten zum Strafverfahren wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers und zu den vorangehenden Hausdurchsuchungen nennen, aber nichts Näheres zu einer ihnen hierbei widerfahrenen individuellen Verfolgung ausführen. Konkrete wider sie gesetzte asylrelevante Handlungen brachten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin somit vor dem BFA nicht vor.
Gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht schilderte der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer eine ihnen selbst widerfahrene individuelle Verfolgung in Zusammenhang mit dem Strafverfahren und den vorangehenden Ermittlungen wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers, etwa in Form der Hausdurchsuchungen, keineswegs realistischer oder detailreicher (Seite 6ff, 11ff des Verhandlungsprotokolls). In Anbetracht dessen, dass diese angebliche individuelle Bedrohung und/oder Verfolgung durch die türkischen Sicherheitskräfte wegen der politischen Aktivitäten der Mutter des Erstbeschwerdeführers und des eigenen politischen Engagements des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin durchaus ein wesentliches bzw. das zentrale Element des Vorbringens darstellen, ist es bemerkenswert, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin keine nachvollziehbaren und detaillierten Angaben diesbezüglich tätigten und zahlreiche Gelegenheiten im verwaltungsbehördlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht verstreichen ließen, sich zu den von ihnen kryptisch vorgebrachten und angeblich politisch motivierten Verfolgungshandlungen ihrer staatlichen Widersacher näher zu äußern. Entspräche das Vorbringen einer individuellen Bedrohung und/oder Verfolgung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin den Tatsachen, hätten sie sich mit den – angeblichen – ihnen widerfahrenen bzw. drohenden Verfolgungshandlungen in einem Maße und einer Weise auseinandergesetzt, dass sie dazu in der Lage gewesen wären, diesbezüglich konkrete Fragen inhaltlich aufschlussreich und aussagekräftig sowie nachvollziehbar und stringent zu beantworten.
Ein zentrales Element des Vorbringens bezüglich einer individuellen Bedrohung und/oder Verfolgung sind etwa die möglichen Konsequenzen auf Grund angeblich dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin zuordenbaren und beschlagnahmten Gegenständen. Die diesbezüglichen Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin weisen jedoch gravierende Widersprüche auf. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren nicht in der Lage, in den Einvernahmen vor der belangten Behörde, der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung gleichbleibend zu schildern, ob bzw. welche bzw. wie viele – ihnen zuordenbare – Gegenstände angeblich beschlagnahmt worden sein sollen. Die beiden erwachsenen Beschwerdeführer änderten ihr diesbezügliches Vorbringen im Zuge des Verfahrens mehrfach ab. So gab die Zweitbeschwerdeführerin zunächst in der Einvernahme vor dem BFA lediglich an, dass ein Buch – eine Biografie eines Guerilla-Kämpfers – und ein Bild beschlagnahmt worden seien (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977). Der Erstbeschwerdeführer hingegen erwähnte vor dem BFA die Beschlagnahme von Gegenständen überhaupt nicht. Ebenso wenig wurde die Beschlagnahme von Gegenständen (des Erstbeschwerdeführers und/oder der Zweitbeschwerdeführerin) in der Beschwerde ins Treffen geführt. Erst in der mündlichen Verhandlung schilderte die Zweitbeschwerdeführerin nunmehr – abweichend von ihrem ursprünglichen Vorbringen –, dass ein Buch und elektronische Geräte von ihr bei der Durchsuchung sichergestellt worden seien (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Auf Nachfrage durch ihre rechtsfreundliche Vertretung, was sie mit den sichergestellten elektronischen Geräten meine, modifizierte die Zweitbeschwerdeführerin ihr Vorbringen dann abermals und führte aus, dass damit Computer gemeint gewesen seien, die sie gemeinsam verwendet hätten. Auf diesem Computer seien Bilder, die sie mit Guerillas gemacht hätten, und Bilder von Veranstaltungen von ihr und ihrem Ehegatten gewesen (Seite 9f des Verhandlungsprotokolls). Der Erstbeschwerdeführer wiederum schilderte in der mündlichen Verhandlung divergierend zu seinen (unterbliebenen) Angaben vor dem BFA und in der Beschwerde bzw. zu den Angaben der Zweitbeschwerdeführerin erstmals, dass ihr Computer und ihre Eintragungen in ihrem Computer vom Staat sichergestellt worden seien (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls). Kurz darauf erläuterte der Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung dann nochmals ähnlich, dass sein Schriftverkehr und seine Bilder auf seinem Computer sichergestellt worden seien (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls). In den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zu den Fragen, ob bzw. welche bzw. wie viele – ihnen zuordenbare – Gegenstände beschlagnahmt worden seien, bestehen daher gravierende und unauflösbare Widersprüche. Insofern im Übrigen seitens der Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung behauptet wird, dass die Sicherstellung des Buches über das Leben eines Guerillas in den Unterlagen bezüglich ihrer Schwiegermutter erwähnt werde (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls), so ist dem – nach Einsichtnahme in die vorgelegten Unterlagen – zu entgegnen, dass zwar in diesen Dokumenten von der Beschlagnahmung eines Buches die Rede ist, eine Verbindung zur Person der Zweitbeschwerdeführerin (oder des Erstbeschwerdeführers) lässt sich jedoch nicht erkennen (OZ 22f im Akt 2218978 [Übersetzung: OZ 25 im Akt 2218978]).
Gegen eine individuelle Bedrohung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Verlassen der Türkei spricht auch, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bei der Begründung, weshalb sie von einer ständigen Beobachtung durch die türkischen Sicherheitskräfte vor ihrer Ausreise ausgehen, auf bloß spekulative Äußerungen beschränken, die ebenfalls indizieren, dass aus Sicht des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin von diesen keine individuelle Gefährdung für sie ausging, andernfalls sie sich mit dieser potentiellen Gefährdung jedenfalls näher auseinandergesetzt hätten. Das Bundesverwaltungsgericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung einzig angab, dass sie glauben würde, dass die Wohnung von der Geheimpolizei beobachtet worden sei, da vor dieser dauernd ein weißes Fahrzeug gestanden sei (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Der Erstbeschwerdeführer schilderte in der mündlichen Verhandlung wiederum, dass ihre Wohnung von Zivilpolizisten beobachtet worden sei. Insofern XXXX eine kleine Stadt sei, in der sie, insbesondere er als Geschäftsmann, jeden kennen würden, denken sie, dass es sich um zivile Polizisten handle. Genau würden sie dies auch nicht wissen (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls). Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts verdeutlichen die oberflächlichen und spekulativen Angaben zu den sie beobachtenden Sicherheitskräften augenscheinlich, wie beliebig der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin ihr Vorbringen gestalteten. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung wurde jedenfalls offenbar, dass deren Ausführungen zu einer ständigen Beobachtung ihrer Wohnung durch türkische Sicherheitskräfte eine bloße Vermutung darstellen, die ebenso wenig eine individuelle Gefährdung zu begründen vermag.
Dass der Erstbeschwerdeführer sein Vorbringen im Beschwerdeverfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, bezüglich der Straßenkontrolle im Juni 2016 und seiner Teilnahme an Demonstrationen maßgeblich steigerte und erstmals in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung im Verfahren vorbrachte, dass die Demonstrationen nicht nur mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst worden seien, sondern etwa im November 2015 auch Plastikmunition eingesetzt und er hierbei verletzt worden sei (Seite 5 der Beschwerde vom 05.04.2019 im Akt 2218978; Seite 14 des Verhandlungsprotokolls), rundet das gewonnene Bild ab. Selbiges gilt für den Umstand, wonach der Erstbeschwerdeführer in Zusammenhang mit der Kontrolle im Zuge der Straßensperre erstmals von einem physischen Angriff spricht (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls). Es ist kein Grund erkennbar, weshalb dem Erstbeschwerdeführer diese Ereignisse nicht bereits bei der Einvernahme vor dem BFA geläufig sein mussten, so dass sich das gesteigerte Vorbringen als Versuch darstellt, in Anbetracht der verwaltungsbehördlichen negativen Entscheidung seinen Asylgründen im Beschwerdeverfahren mehr Nachdruck zu verleihen und weshalb diese Umstände als nicht glaubhaft zu qualifizieren sind. Es belegt, dass die beiden erwachsenen Beschwerdeführer versuchen, die Ereignisse in der Türkei vor ihrer Ausreise übersteigert darzustellen, um eine angebliche individuelle Verfolgung ihrer jeweiligen Person zu konstruieren.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zur Vorbereitung ihrer Ausreise noch mehrere Monate nach den angeblichen ersten ausreisekausalen Ereignissen im Juni 2016 an ihrer Wohnadresse in XXXX aufgehalten haben und damit an jenem Ort, an dem ihre staatlichen – und somit bestens informierten – Widersacher jederzeit Zugriff auf sie gehabt hätten. Personen, welche vorbringen, in einem Zustand der Todesangst zu sein, verhalten sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls nicht so wie der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin, die nach diesen Ereignissen noch rund ein halbes Jahr bei ihrer Mutter bzw. Schwiegermutter in XXXX zugebracht haben wollen, mussten sie doch jederzeit mit dem Erscheinen ihrer angeblichen Verfolger rechnen. Dennoch sind die beiden an diesem Ort verblieben, heirateten sogar etwa einen Monat nach der ersten Hausdurchsuchung und ging der Erstbeschwerdeführer bis zuletzt seiner beruflichen Tätigkeit als Installateur nach. Auch wenn die Verrichtungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin einige Zeit in Anspruch genommen haben sollten, wäre doch eine raschere Ausreise zur Steigerung der persönlichen Sicherheit erforderlich gewesen. Dieses Verhalten des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin spricht somit entschieden gegen eine aktuelle Gefährdung vor der Ausreise.
Hinzu tritt, dass die Familie des Erstbeschwerdeführers – insbesondere Vater und Bruder, die ebenfalls in der gemeinsamen Wohnung mit der Mutter des Erstbeschwerdeführers lebten, der kurdischen Volksgruppe angehören, politisch interessiert und Sympathisanten der Halkların Demokratik Partisi sind – immer noch in der Türkei, konkret an der Wohnadresse des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, lebt. Insbesondere war der Erstbeschwerdeführer in diesem Zusammenhang auch nicht in der Lage, eine plausible Erklärung dafür zu erbringen, weshalb ausgerechnet er, nicht aber etwa die anderen Familienangehörigen die Türkei verließen, obwohl etwa seine Ehegattin – die Zweitbeschwerdeführerin – in der mündlichen Verhandlung behauptete, dass alle Personen, mit denen ihre Schwiegermutter in Kontakt gestanden sei, festgenommen worden seien (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Weshalb diese beiden Männer, die ähnliche Handlungen setzen wie der Erstbeschwerdeführer (und die Zweitbeschwerdeführerin) und mit der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin weiterhin in einer gemeinsamen Unterkunft wohnen, unbehelligt in der Heimatstadt des Erstbeschwerdeführers (und der Zweitbeschwerdeführerin) leben können sollen, diese hingegen nicht, ist nicht nachvollziehbar. Es ist damit nicht nachvollziehbar, dass der Erstbeschwerdeführer (und die Zweitbeschwerdeführerin) verfolgt werden sollen, obwohl sie – laut ihren Behauptungen – im Wesentlichen dasselbe machten wie sein Vater bzw. ihr Schwiegervater und sein Bruder bzw. ihr Schwager, die deswegen aber keine Verfolgung zu befürchten hätten. Der Erstbeschwerdeführer konnte keinen nachvollziehbaren konkreten Grund nennen, der ihn und seine Ehegattin – die Zweitbeschwerdeführerin – für die Verfolger interessanter erscheinen lasse als seinen Vater und seinen Bruder. Insofern der Erstbeschwerdeführer nämlich diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung behauptet, dass er sich mehr mit Politik beschäftigen würde und sein Vater bzw. sein Bruder lediglich an Veranstaltungen betreffend Umwelt und Menschenrechte teilnehmen, aber auf die Teilnahme an politischen Veranstaltungen verzichten würden (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls), so vermag diese Erklärung nicht zu überzeugen, zumal sich der Erstbeschwerdeführer vor seiner Ausreise ebenso vor allem im Bereich Umwelt und Menschenrechte engagierte (Seite 11, 14f des Verhandlungsprotokolls). Zudem liefern diese Schilderungen keine Erklärung dafür, weshalb die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zwar behauptete, dass alle Personen, mit denen ihre Schwiegermutter in Kontakt stand, festgenommen worden seien (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls), dies jedoch offenbar auf ihren Schwiegervater und ihren Schwager – trotz des Zusammenlebens in einer gemeinsamen Wohnung mit der Schwiegermutter – nicht zutraf bzw. zutrifft.
In diesem Zusammenhang gilt es auch zu bedenken, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehen kann, weshalb der Erstbeschwerdeführer seinen Vater und Bruder allen angeblichen Bedrohungen zum Trotz in der Stadt XXXX zurückließ, zumal nach den Schilderungen keinesfalls auszuschließen war, dass auch diese Familienangehörigen von den türkischen Behörden festgenommen werden könnten, zumal dies nach den Schilderungen der Zweitbeschwerdeführerin mit allen mit der Schwiegermutter in Kontakt gestandenen Personen erfolgt sein soll. Sollte eine solche Bedrohung tatsächlich stattgefunden haben, wäre von einem sorgenden Sohn bzw. Bruder – als solchen hat sich der Erstbeschwerdeführer auch dargestellt – zu erwarten, dass dieser seine – angeblich ebenfalls betroffenen – Familienangehörigen zumindest über die Landesgrenze in Sicherheit bringt. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts wäre im Fall einer tatsächlichen Gefährdung seiner Familienangehörigen davon auszugehen, dass sich diese der Bedrohung ebenfalls durch Ausreise entzogen hätten und spricht der Verbleib in der Türkei vielmehr dafür, dass keine akute Gefährdung besteht.
Gegen die behauptete staatliche Verfolgung spricht ferner, dass dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin im Februar 2017 ohne Schwierigkeiten die legale Ausreise auf dem Luftweg mit einem Flugzeug nach Österreich gelang sowie dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bereits zuvor bei der Ausstellung/Verlängerung eines türkischen Reisedokuments durch die zuständige Passbehörde im Dezember 2016 (Beilage zur Niederschrift über die Erstbefragung in den Akten 2218978 und 2218977) keine Probleme hatten. Wäre die seitens des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in den Raum gestellte Bedrohung und/oder Verfolgung durch den türkischen Staat indes tatsächlich gegeben, hätten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin damit rechnen müssen, dass die Reisepassausstellung verweigert wird oder sie auf die Fahndungsliste gesetzt und bei der Ausreisekontrolle festgenommen werden. Dass derartiges nicht erfolgte, spricht gegen eine Verfolgung durch staatliche Organe. Gerade derartige Reisevorbereitungen lassen auf eine geplante, vorbereitete Ausreise schließen, und kontraindizieren die Annahme einer auf gegründeter Furcht basierenden Flucht. Weder in der Beschwerde noch in der mündlichen Verhandlung war der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in der Lage, diesbezüglich eine plausible Erklärung zu erbringen. Aus diesem geschilderten Verhalten lässt sich nun der Schluss ziehen, dass die beiden erwachsenen Beschwerdeführer ihre Ausreise aus dem Herkunftsstaat bereits längere Zeit geplant haben müssen. Insofern bestätigten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin auch in der jeweiligen Erstbefragung, den Entschluss zur Ausreise bereits im August 2016 gefasst zu haben (Seite 3 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978; Seite 4 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977). Hätte es eine tatsächliche Bedrohungssituation gegeben, hätten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin ihren Herkunftsstaat unverzüglich verlassen und vor ihrer Ausreise nicht umfangreiche Vorbereitungen vorgenommen.
Die Verwendung des eigenen Reisepasses bei der Ausreise deutet jedenfalls darauf hin, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin keine Bedenken hatten, sich der Passkontrolle zu unterziehen bzw. ergeben sich daraus keine Hinweise, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Verfolgungshandlungen seitens der Behörden in ihrem Herkunftsstaat selbst befürchteten oder zu befürchten hatten. Unter der Prämisse, dass sie ständig überwacht worden seien und man sie bei einem Verbleib festgenommen hätte (Seite 6f des Verhandlungsprotokolls), ist weder objektiv plausibel noch hätten sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin subjektiv zum Zeitpunkt der Ausreise völlig sicher sein können, dass diese auf legale Weise möglich sein konnte. Unter besagter Prämisse würde es auch den sonstigen Schilderungen widerstreiten, dass die (vermeintliche) Flucht des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in einem derart von mangelnder Vorsicht gekennzeichneten Kontext erfolgt sein sollte.
Beachtung verdient des Weiteren, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zwar legal in das österreichische Bundesgebiet einreisen konnten und sich zunächst auf Grund eines Aufenthaltstitels „Visum C (Reise-/Touristenvisum)“ im Bundesgebiet aufhalten durften, dem Zweck des Aufenthaltstitels jedoch im Ergebnis nicht entsprochen haben. Tatsächlich erklärte die Zweitbeschwerdeführerin vor dem BFA bereits von sich aus auf die Frage “Was war der Zweck Ihrer Reise nach Österreich, Sie sind mit einem Touristenvisum ausgereist?“, dass sie zwar ein Touristenvisum erhalten hätte, was aber nicht heiße, dass sie als Tourist reisen müsse (Seite 4 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977). Wenig später erläuterte die Zweitbeschwerdeführerin dann nochmals selbst zu Beginn der freien Schilderung der Ausreisegründe, dass ihr Reisezweck nicht gewesen sei, nach Österreich als Tourist einzureisen (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977). Die genannten Umstände indizieren, dass die beiden erwachsenen Beschwerdeführer, insbesondere nach Nichterhalt eines Visums für Kanada, im Jahr 2017 selbst erkannt hatten, dass sie auf andere Weise als mit Hilfe eines Touristenvisums nicht legal nach Europa gelangen können. Sie reisten daher mit diesem Visum C Mitte Februar 2017 legal in das Bundesgebiet ein und stellten wenige Tage später – noch vor Ablauf ihres Aufenthaltstitels – die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz mit dem Ziel, eine rechtliche Grundlage für den weiteren Verbleib in Österreich zu schaffen und damit ihren Aufenthalt im Bundesgebiet zu prolongieren und die Rückkehr in ihren Herkunftsstaat zu verzögern.
Was das im Zuge der mündlichen Verhandlung seitens des Erstbeschwerdeführers vorgelegte Schreiben eines ehemaligen XXXX , ehemaligen Mitglieds des XXXX und ehemaligen Stadtrats von XXXX sowie ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisters von XXXX (Beilage zum Verhandlungsprotokoll im Akt 2218978 [Übersetzung: OZ 36 im Akt 2218978]) betrifft, bleibt festzuhalten, dass dieses bemerkenswerterweise erst am 17.11.2022, also erst mehrere Jahre nach der Einreise des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in das Bundesgebiet und somit unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung ausgestellt wurde. Die behauptete Verfolgung durch angebliche staatliche Widersacher auf Grund der politischen Gesinnung und/oder kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit zu untermauern, ist dieses Schreiben freilich schon deshalb nicht geeignet, weil darin Derartiges – abgesehen von der bloß oberflächlichen Behauptung des Ausstellers dieses Schreibens, persönlich miterlebt zu haben, dass der Erstbeschwerdeführer und seines Familie wegen des aktiven Kampfes für Demokratie viele Male von staatlichen Kräften bedroht worden sei – mit keinem Wort erwähnt wird. Der Aussteller dieses Schreibens verweist zwar darauf, dass der Erstbeschwerdeführer in der Stadt XXXX ein Aktivist im Bereich Jugend, Umwelt und Demokratie gewesen sei, ansonsten wird im Schreiben jedoch vorwiegend das Schicksal des Ausstellers des Schreibens und der Mutter des Erstbeschwerdeführers thematisiert. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es eine gängige Praxis darstellt, dass Asylwerber oftmals nicht amtlich ausgestellte Bestätigungen zum Beweis ihres Vorbringens vorlegen. Ferner ist noch festzuhalten, dass dem Bundesverwaltungsgericht ebenso bekannt ist, dass Schreiben verschiedenster Art auf „freundschaftlicher Basis“ bzw. aus Gefälligkeit zu erhalten sind. Im Ergebnis erblickt das Bundesverwaltungsgericht in diesem Schriftstück daher ein Gefälligkeitsschreiben, welches nicht geeignet ist, einen Beitrag für die Glaubhaftmachung der vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin dargelegten Gefährdung zu liefern, zumal dieses Schreiben erst mehrere Jahre nach Kenntnis des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin von den in ihren jeweiligen Verfahren ergangenen Entscheidungen des BFA verfasst wurde, weshalb davon auszugehen ist, dass diese Gefälligkeitsbescheinigung dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin bezüglich einer individuellen Bedrohung und/oder Verfolgung in Zusammenhang mit dem Strafverfahren wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers vor allem mehr Gewicht verleihen soll.
Bezüglich dieses Vorbringens hinsichtlich der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin, bleibt insoweit festzuhalten, dass damit keine die individuelle Situation des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin betreffender Sachverhalt aufgezeigt wird. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin mögen zwar bei diesen Hausdurchsuchungen persönlich anwesend gewesen sein, ihnen gegenüber gab es jedoch nie eine Bedrohung. Insoweit jeder Asylantrag im Einzelnen einer speziellen, konkreten und individuellen Prüfung zu unterziehen ist, ist nun den Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin diesbezüglich eine individuelle sie betreffende Bedrohung nicht glaubhaft zu entnehmen.
Vor dem Hintergrund, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bereits im August 2016 den Entschluss zur Ausreise gefasst haben wollen (Seite 3 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978 und Seite 4 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218977) und im September oder Oktober 2016 die Erlangung eines Visums für eine Einreise nach Kanada für die beiden erwachsenen Beschwerdeführer offensichtlich nicht glückte (Seite 6 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977), im Zusammenhalt mit dem Umstand, dass sich Verwandte des Erstbeschwerdeführers bereits längere Zeit im Bundesgebiet aufhalten und sie daher auf Grund der hier lebenden Onkel des Erstbeschwerdeführers Österreich, als ihr Zielland bezeichneten (Seite 3 der Niederschrift über die Erstbefragung im Akt 2218978; Seite 4 der Niederschrift über die Erstbefragung und Seite 5 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977) sowie ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin für Österreich nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war, ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts daher zum Ergebnis zu gelangen, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin die Türkei primär rein aus wirtschaftlichen/privaten Interessen verlassen haben, um sich hier in Österreich bei den Verwandten des Erstbeschwerdeführers ein neues Leben aufzubauen, und die Antragstellung auf internationalen Schutz im Jahr 2017 lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz unter Umgehung der strengeren Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes eingebracht wurden.
Vor dem Hintergrund der Länderinformationsquellen erscheint es angesichts der Sicherheitslage in der Türkei aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts plausibel, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gelegentlich Befragungen durch die türkischen Sicherheitskräfte unterziehen mussten und sie sich hierbei schikanös behandelt erachteten. Allfällige Beschimpfungen/Beleidigungen und mangelnde Akzeptanz des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, etwa während der Schulzeit und/oder bei der Verwendung der kurdischen Sprache, auf Grund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit und/oder alevitischen Religionszugehörigkeit, sind glaubhaft, wobei das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass diese Vorkommnisse von den beiden erwachsenen Beschwerdeführern – mit Ausnahme der Tötung eines Hasen des Erstbeschwerdeführers und der Schikanen während des Schulbesuchs der Zweitbeschwerdeführerin – eher sehr allgemein geschildert wurden und kaum Konkretisierungen aufwiesen (Seite 6ff der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978; Seite 7 der Niederschrift über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218977; Seite 6 der Beschwerde vom 05.04.2019 im Akt 2218978; Seite 6f, 9 des Verhandlungsprotokolls). Hinsichtlich dieser vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin geschilderten negativen Erfahrungen, insbesondere auf Grund ihrer Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit, ist jedenfalls festzuhalten, dass es sich dabei bloß um einfache Alltagsdiskriminierungen handelte, die nicht das Ausmaß asylrelevanter Verfolgung erreichten, was sich auch daran zeigt, dass die ebenfalls von diesen Umständen betroffenen Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin weiterhin problemlos in der Türkei leben können. Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung auf Grund ihrer Volksgruppen- und oder Religionszugehörigkeit sind somit daraus zu Recht nicht abzuleiten (siehe dazu unten in der rechtlichen Beurteilung).
Der Erstbeschwerdeführer verblieb jedenfalls bis etwa zu seinem 28. Geburtstag und die Zweitbeschwerdeführerin bis zu ihrem 23. Geburtstag in der Türkei und führten sie ihre Ausreise im Wesentlichen auf ein konkretes zwar glaubhaftes, aber für ihre Personen nicht asylrelevantes strafgerichtliches Verfahren und diesem vorangehende Ermittlungen bezüglich der Mutter des Erstbeschwerdeführers zurück. Dass ihnen bereits zuvor auf Grund ihrer Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit ein weiterer Verbleib im Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei, wurde von ihnen nicht substantiiert vorgebracht. Die zum Teil prekäre Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird weder von der belangten Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht in Abrede gestellt, im gegenständlichen Fall ist jedoch weder eine derart exponierte Stellung ihrer jeweiligen Person in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass sie aktuell von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wären. Es ist zwar davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin auch die grundlegenden politischen Forderungen der PKK (Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen) möglicherweise inhaltlich teilen, in ihrem Vorbringen finden sich jedoch keine Hinweise, dass sie die terroristischen Aktivitäten der PKK nicht ablehnen würden und engagierten sie sich auch nicht aktiv bei der PKK. Eine individuelle Bedrohung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor ihrer Ausreise oder im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei kann das Bundesverwaltungsgericht somit auf Grund dieser Ausführungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen.
Als weiteres Vorbringen (im Sinne eines sogenannten Nachfluchtgrundes) legte der Erstbeschwerdeführer schließlich dar, Mitglied in den Vereinen „ XXXX “ und „ XXXX “ zu sein und besuchen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin insofern auch Veranstaltungen und Versammlungen des kurdischen Kulturvereins, etwa zum Weltfrauentag oder Newroz-Fest, um sich am „kurdischen Leben“ in Wien zu beteiligen (Seite 6 der Beschwerde vom 05.04.2019 im Akt 2218978; Seite 3f des Verhandlungsprotokolls, Beilagen zum Verhandlungsprotokoll, OZ 36 im Akt 2218978). Zudem nehmen die beiden auch an Demonstrationen in Wien für die kurdischen Belange teil, der Erstbeschwerdeführer außerdem an Veranstaltungen und Festen des Vereins „ XXXX “. Unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Feststellungen (vgl. vor allem den Punkt "Behandlung nach Rückkehr") zeigt sich, dass schon aus Kapazitätsgründen und solchen der dafür notwendigen organisatorischen Erfordernisse eine weitreichende nachrichtendienstliche Erfassung der zahllosen Mitglieder exilkurdischer Vereine und deren einzelner Aktivitäten etwa bei Großveranstaltungen weder realistisch noch zielführend wäre. Plausibel ist in dieser Hinsicht vielmehr, dass jene Personen unter besonderer Beobachtung stehen, die sich als maßgeblich für die Entwicklung und Umsetzung der politischen Strategien im Hintergrund erweisen und als Meinungsbildner und Redner im Vordergrund oppositioneller Vereinigungen auftreten, zumal alleine diesen auch ein möglicher indirekter Einfluss auf die politische Landschaft innerhalb der Türkei und damit ein mögliches Gefahrenpotential aus Sicht der türkischen Behörden zuzuschreiben wäre. Gerade dies ist aber den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin betreffend wie oben dargestellt nicht erkennbar. In diesem Zusammenhang war wohl in Betracht zu ziehen, dass die der exilkurdischen Szene in Österreich zuzuzählenden Vereine zwar in gewissem Umfang, neben ihren sonstigen sozialen und kulturellen Anliegen im Aufnahmeland, auch die politischen Anliegen der kurdischen Volksgruppe in ihren Herkunftsgebieten an die Öffentlichkeit tragen, dies aber offenkundig nicht in einer Form tun, die als Aufforderung zu gewaltsamen oppositionellen oder gar terroristischen Aktivitäten zu verstehen wäre, was im Übrigen längerfristig auch ein Einschreiten der Vereinsbehörde wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz oder gar der Strafverfolgungsbehörden etwa wegen des Vorwurfs der "Kriminellen Vereinigung" im Sinne des österreichischen Strafgesetzbuchs nach sich ziehen müsste. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich solche Vereine in einem gewissen Graubereich bewegen, sofern sie bei öffentlichen Kundgebungen in verschiedener Weise für die politischen Rechte der kurdischen Volksgruppe auch in der Türkei eintreten und Fahnen und Abbildungen mit Bezug zur kurdischen Sache oder der Leitfigur des kurdischen Widerstands, Abdullah Öcalan, mitführen. Als maßgeblich erachtet das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich aber, inwieweit bestimmte Aktivitäten Betroffener überhaupt potentiell geeignet sind in den Augen der Behörden des Herkunftsstaates ein Bedrohungsbild zu erfüllen, das es zu bekämpfen gilt (vgl. in diesem Sinne auch die Leitsätze der Judikatur des VwGH zu diesem Thema). Ein nicht unwesentliches Kriterium für diese Erwägungen würde im Übrigen auch eine allfällige "Vergangenheit" des Betroffenen im Sinne eines früheren – wesentlichen – politischen Engagements, eventuell sogar einer früheren Strafverfolgung im Herkunftsstaat darstellen, was sich im gegenständlichen Fall des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin aber nicht feststellen ließ. Würde man demgegenüber jedwede Beteiligung von niedrigem Profil an öffentlichen Veranstaltungen exilkurdischer Vereinigungen unmittelbar mit einer daraus resultierenden besonderen Aufmerksamkeit der türkischen Behörden sowie einer weiter daraus folgenden Ermittlungstätigkeit mit dem Ziel der Individualisierung des Beitrags einzelner Teilnehmer bis hin zur daraus resultierenden Verfolgung im Anschluss an eine Rückkehr in den Herkunftsstaat verknüpfen, so würde eine solche Absicht der betreffenden Behörden nicht nur die Ressourcen eines Nachrichtendienstes im Ausland gänzlich überstrapazieren, sondern auch die Sinnhaftigkeit eines solchen Bestrebens mit Blick auf das geringe Bedrohungspotential exilpolitischer Betätigung niedrigen Profils in Frage stellen. Legt man diese grundsätzlichen Erwägungen zur gegenständlichen Thematik auf das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin um, so lässt sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts aus diesem Vorbringen in Verbindung mit den länderkundlichen Feststellungen weder schlüssig ableiten, dass sie persönlich mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Blickfeld des türkischen Nachrichtendiensts geraten sind, noch dass ihr Tun weiteren individualisierten Ermittlungen unterworfen und deren Ergebnisse gesammelt und an die türkischen Behörden zum Zweck der Verfolgung für den Fall der Rückkehr übermittelt wurden. Ihre während des Aufenthalts in Österreich/Europa entfaltete Betätigung kann im besten Fall als ein (exil-)politisches Engagement auf niedrigem Niveau qualifiziert werden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehören auch nicht der Gülen-Bewegung an. Die Feststellungen bieten jedenfalls – wie bereits ausgeführt – keinen Anlass, eine Verfolgung sämtlicher (einfacher) Mitglieder kurdischer Kulturvereine besorgen zu müssen. Jedenfalls lässt sich eine gezielte Verfolgung von Einzelpersonen, wie etwa den beiden erwachsenen Beschwerdeführern, die etwa einen kurdischen Kulturverein aus dem Grund der Unterhaltung mit „Landsleuten“ und zur Teilnahme am „kurdischen Leben“ in Wien besuchen, im allgemeinen Kontext der Sicherheitslage und der Situation von Rückkehrern in die Türkei nicht ableiten. Dafür, dass von staatlicher Seite oder von privaten Dritten in der Türkei auch einfache Mitglieder in einem kurdischen Verein systematisch bedroht und/oder verfolgt würden, fehlt jeglicher Anhaltspunkt in den Feststellungen zur Lage in der Türkei. Aus den getroffenen Feststellungen zur Lage von Rückkehrern in die Türkei und in Anbetracht der vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, die Türkei betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen ergibt sich kein den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin individuell betreffendes asylrelevantes Bedrohungsszenario.
Hinsichtlich des minderjährigen Drittbeschwerdeführers brachte die Zweitbeschwerdeführerin bereits im Zuge der Antragstellung keine eigenen Fluchtgründe vor. Stattdessen führte die Zweitbeschwerdeführerin wörtlich aus: „Das Kind hat keine eigenen Fluchtgründe, bzw. Rückkehrbefürchtungen, der Antrag bezieht sich ausschließlich auf die Gründe des Vaters bzw. der Mutter.“ (Antrag auf internationalen Schutz im Akt 2218979). In der Einvernahme vor dem BFA, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wird hinsichtlich des Kindes ebenso wenig ein individuelles, den Drittbeschwerdeführer betreffendes Vorbringen erstattet. Eigene Fluchtgründe für das Kind nannten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin somit nicht. Mit diesen Ausführungen wurden in keiner Weise und schon gar nicht mit geeigneten Beweisen (gewichtige) Gründe für die Annahme eines Risikos einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Bedrohung oder Gefährdung glaubhaft gemacht. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer wurde im Übrigen in Österreich geboren und hielt sich bislang nie im Herkunftsstaat seiner Eltern auf, so dass er schon deshalb dort auch keiner Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt gewesen sein kann.
Die getroffenen Feststellungen zur Türkei beruhen auf der Länderinformation der Staatendokumentation für die Türkei (Version 6). Diese Berichte wurden dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelt (OZ 30 im Akt 2218978; OZ 27 im Akt 2218977). Es handelt sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Türkei ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Die Beschwerdeführer hatten die Möglichkeit, zu den Länderinformationen Stellung zu nehmen. Die Beschwerdeführer traten diesen Feststellungen nicht substantiiert entgegen. Während die rechtsfreundliche Vertretung der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung um eine Frist zum Verfassen der in der Folge zu behandelnden schriftlichen Stellungnahme vom 09.12.2022 zu den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen (OZ 34 im Akt 2218978) ersuchte, bezeichneten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin diese von ihrer rechtsfreundlichen Vertretung einzubringende Stellungnahme als ausreichend (Seite 15 des Verhandlungsprotokolls).
Wenn in der Eingabe vom 09.12.2022 (OZ 34 im Akt 2218978) seitens des rechtsfreundlichen Vertreters der Beschwerdeführer auszugsweise auf die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen bezüglich der politischen Lage, welche dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.10.2022 im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung zur Erstattung einer Stellungnahme übermittelt wurden, zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunktes verwiesen wird, zeigt die Stellungnahme somit diesbezüglich weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der den Beschwerdeführern vorgehaltenen Quellen zur gegenwärtigen Lage auf und kann im Hinblick auf die thematisierten Bereiche jedenfalls auf die vorangehenden und nachstehenden Ausführungen verwiesen werden, zumal es eine Frage der Beweiswürdigung und insbesondere der rechtlichen Beurteilung ist, inwieweit den Beschwerdeführern unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen eine Rückkehr möglich und zumutbar ist.
Die rechtsfreundliche Vertretung verwies in der Stellungnahme zudem auf den Umstand, dass die Türkei neben der PKK auch die Kurden in Nordsyrien und die kurdische Hauptorganisation YPG in Nordsyrien als eine Terrororganisation betrachte und jede Gelegenheit nütze, um oppositionelle kurdische Organisationen weltweit zu verhindern und diese am besten als Terrororganisationen zu verunglimpfen. Vor diesem Hintergrund sei aktuell erneut eine militärische Operation gegen die Kurden in Syrien erfolgt und habe die Zusammenarbeit der von den USA geführten internationalen Koalition sowie alleinige Zusammenarbeit der USA mit den Kurden und YPG in Nordsyrien während des Bürgerkriegs sowie aktuell im Ukrainekrieg zum Veto der Türkei gegen die Beitrittsverhandlungen der Länder Schweden und Finnland zur NATO geführt. Die Beschwerdeführer und deren rechtsfreundliche Vertretung traten mit diesen Erläuterungen den Feststellungen damit nicht konkret und substantiiert entgegen.
Insofern die beiden erwachsenen Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde vom 05.04.2019 und in der Stellungnahme (OZ 34 im Akt 2218978) abermals auf das Strafverfahren wider die Mutter des Erstbeschwerdeführers und die angeblich sichergestellten elektronischen Gegenstände des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin mit Bildern, wobei auf Grund dieser Bilder ein Zusammenhang mit der Unterstützung des Terrorismus nach einem pauschalen Straftatbestand hergestellt werden könne, verweisen, traten sie damit den vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen ebenso wenig im Geringsten entgegen.
Wenn im Übrigen in der Beschwerde vom 05.04.2019 moniert wird, dass die in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Länderfeststellungen unvollständig und teilweise unrichtig seien, wobei auf die dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin im Verfahren vor der belangten Behörde zur Kenntnis gebrachten (und von der belangten Behörde anschließend herangezogenen) Länderinformationen zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunkts verwiesen und bezüglich (der Mitgliedschaft bei der) HDP, der Situation der Kurden, der Lage der Aleviten, der Menschenrechtslage und der politischen Opposition, auszugsweise Passagen aus Berichten aus den Jahren 2016 bis 2018 zitiert werden, bleibt zur Vollständigkeit festzuhalten, dass diese Länderinformationen bereits als veraltet anzusehen sind und wird insoweit auf die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen verwiesen. Das Bundesverwaltungsgericht trifft die vorliegende Entscheidung daher jedenfalls auf Grundlage wesentlich aktuellerer Informationen.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin brachten darüber hinaus bereits vor dem BFA ein Konvolut an Presseartikeln und allgemeine Informationen zur Menschenrechtssituation (Beilagen zu den Niederschriften über die Einvernahme vor der belangten Behörde im Akt 2218978 und 2218977) in Vorlage. Ein greifbarer sachverhaltsbezogener Bezug dieser Medienberichte zum Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ist nicht erkennbar. Soweit der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin mit den Medienberichten bzw. Unterlagen auf die Menschenrechtssituation bzw. den Zustand des türkischen Justizsystems bzw. des türkischen Strafvollzugs hinweisen möchten, wird insoweit ebenso auf die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen verwiesen, die – wie bereits dargelegt – auf aktuelleren Quellen basieren.
Insofern in der Stellungnahme vom 09.12.2022 (OZ 34 im Akt 2218978) behauptet wird, dass die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen nicht ausreichend seien, zumal sich auf Grund der anstehenden Wahlen im Jahr 2023 und des bereits gestarteten Wahlkamps fast täglich entscheidungswesentliche Entwicklungen und Änderungen ergeben würden, ist abschließend darauf hinzuweisen, dass die Behörde beziehungsweise das Verwaltungsgericht verpflichtet ist, sich auf Grund aktuellen Berichtsmaterials ein Bild über die Lage in den Herkunftsstaaten der Asylwerber zu verschaffen (vgl. VwGH 30.10.2020, Ra 2020/19/0298). In Ländern mit besonders hoher Berichtsdichte, wozu die Türkei zweifelsfrei zu zählen ist, liegt es in der Natur der Sache, dass die Behörde nicht sämtliches existierendes Quellenmaterial verwenden kann, da dies ins Uferlose ausarten würde und den Fortgang der Verfahren zum Erliegen bringen würde. Vielmehr wird den vorangehend angeführten Anforderungen schon dann entsprochen, wenn es einen repräsentativen Querschnitt des vorhandenen Quellenmaterials zur Entscheidungsfindung heranzieht (vgl. VwGH 11.11.2008, 2007/19/0279). Die der Entscheidung zu Grunde gelegten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer können somit zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, jedoch als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation der Beschwerdeführer in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann. Wesentlich ist es, ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zu zeichnen, was aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts gegeben ist. Die vom Bundesverwaltungsgericht getroffene Auswahl des Quellenmaterials ist aus diesem Grunde daher ebenso wenig zu beanstanden. Sämtliche der in der Stellungnahme angesprochenen Themenkomplexe sind hinreichend dokumentiert.
Eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen ist nur dann erforderlich, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da die Beschwerdeführer jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hatten, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit im Herkunftsstaat nicht geboten.
Da das Bundesverwaltungsgericht eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht zieht, erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerde.
IV. Rechtliche Beurteilung:
A) I. Abweisung der Beschwerden:
Familienverfahren gemäß § 34 AsylG:
Stellt ein Familienangehöriger von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist (Z 1); einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist (Z 2) oder einem Asylwerber (Z 3) einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt gemäß § 34 Abs. 1 AsylG dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG gelten die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern des (zum Zeitpunkt der Antragstellung) minderjährigen und ledigen Drittbeschwerdeführers. Hinsichtlich der Beschwerdeführer liegt daher ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG vor.
Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350; 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, jeweils mwN; vgl. zum hinsichtlich der Glaubhaftmachung einer Verfolgungsgefahr anzulegenden Prüfungsmaßstab näher jüngst VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472). Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an (vgl. VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192 unter Hinweis auf VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. etwa VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 27, unter Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie 2011/95/EU ).
Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN).
Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089 unter Hinweis auf VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151, mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 24.03.2011, 2008/23/1101 unter Hinweis auf VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; mwN).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119 unter Hinweis auf VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793, mwN).
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin konnten ihren vorgebrachten Fluchtgrund, dass sie wegen des Engagements der Mutter des Erstbeschwerdeführers bzw. der Schwiegermutter der Zweitbeschwerdeführerin als XXXX der DBP beziehungsweise wegen ihres eigenen Engagements für die HDP und die kurdischen Belange (vor allem in Form der Teilnahme an Versammlungen und Aufmärschen) sowie der politischen/gewerkschaftlichen Aktivitäten von Verwandten der Zweitbeschwerdeführerin auf Grund ihrer politischen Gesinnung und Volksgruppenzugehörigkeit bedroht und/oder verfolgt worden seien und sie bei einer Rückkehr von türkischen Sicherheitskräften jedenfalls festgenommen und inhaftiert werden würden, nicht glaubhaft machen, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, nicht vorliegt.
Die von den erwachsenen Beschwerdeführern vorgebrachten Hausdurchsuchungen samt den vermuteten polizeilichen Überwachungsmaßnahmen der Wohnung der Familie des Erstbeschwerdeführers wegen der politischen Aktivitäten der Mutter des Erstbeschwerdeführers erreichen nicht die Intensität einer asylrelevanten Verfolgungshandlung (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes werden auch kurzfristige Inhaftierungen und Hausdurchsuchungen, die folgenlos bleiben, mangels Intensität nicht als asylrechtlich relevante Verfolgung angesehen (Feßl/Holzschuster: AsylG 2005, Kommentar, E.63 zu § 3 unter Hinweis auf VwGH 14.10.1998, 98/01/0262; 12.05.1999, 98/01/0365 und E.71 zu § 3 AsylG unter Hinweis VwGH 21.04.1993, 92/01/1059 mwN; 21.02.1995, 94/20/0720, 19.12.1995, 95/20/0104; 10.10.1996, 95/20/0487). Aus dem Vorbringen kann im gesamten Zusammenhang der Darlegungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die anderen Mitglieder der Familie des Erstbeschwerdeführers, die ebenfalls in der gemeinsamen Wohnung leb(t)en, keinerlei weiteren polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt waren, keine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" im Sinne des dem § 3 AsylG zu Grunde liegenden Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention abgeleitet werden. Die einen Asylgrund nicht erreichende Intensität der von den erwachsenen Beschwerdeführern behaupteten Verfolgung kommt insbesondere in der Dauer der lediglich zweimaligen Hausdurchsuchungen im Abstand von etwa einem halben Jahr, dem Zweck dieser Hausdurchsuchungen (Ausforschung eines Mitglieds einer terroristischen Organisation, der anzugehören dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin nicht vorgeworfen wurde) sowie durch die Tatsache zum Ausdruck, dass seit der Ausreise der erwachsenen Beschwerdeführer keine weiteren Ermittlungsschritte oder gar eine Verhaftung der ebenfalls in der gemeinsamen Wohnung lebenden Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers (Vater und Bruder) vorgenommen wurden. Wenngleich sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durch diese Ermittlungen "schikaniert" gefühlt haben mögen, so stellen diese doch auch in ihrer Gesamtheit keine asylrelevanten Verfolgungshandlungen dar. Dass diese überschießend, diskriminierend oder sonst gegen die beiden erwachsenen Beschwerdeführer gerichtet gewesen wären, haben diese nicht vorgebracht. Von einer tatsächlichen Bedrohung der Beschwerdeführer kann demnach bei einer objektiven Betrachtung der Umstände keine Rede sein, zumal seitens der beiden Beschwerdeführer auch nicht glaubhaft vorgebracht wurde, dass damit ein maßgeblicher Eingriff in ihre körperliche oder psychische Unversehrtheit verbunden gewesen wäre oder ihnen diese Ereignisse jegliche Lebensgrundlage entzogen hätten. Aus dem von den Beschwerdeführern vorgebrachten Sachverhalt ergeben sich daher keinerlei konkrete, stichhaltige Hinweise darauf, dass eine asylrelevante Gefährdung der Beschwerdeführer maßgeblich wahrscheinlich zu erwarten wäre; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN). Selbiges gilt im Übrigen für die bereits im Juni 2016 im Zuge einer Straßensperre erfolgte Kontrolle durch die türkischen Sicherheitskräfte, welche der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin unterzogen wurden.
Die einfache Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers bei der und seine Sympathie für die HDP, seine einmalige Organisation einer Kundgebung im November 2015, seine sonstige Teilnahme an Veranstaltungen und Meetings für die kurdischen Belange, für die Frauenrechte und den Umweltschutz, die Sympathie der Zweitbeschwerdeführerin für die HDP, ihre Teilnahme an Presseerklärungen und Kundgebungen eines Vereins wider die Gewalt an Frauen – etwa in Zusammenhang mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Kobane – und ihr jeweiliges Interesse für die kurdischen Belange, vermögen auf Basis der im Verfahren herangezogenen Erkenntnisquellen zur Lage in der Türkei keine maßgeblich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr darzutun. Die HDP ist ungeachtet der Repressalien gegen ihre leitenden Repräsentanten, Parlamentarier und Kommunalpolitiker – ebenso wie die DBP, deren „Schwesterpartei“ auf lokaler Ebene – eine in der Türkei erlaubte politische Partei, die im türkischen Parlament und auch auf kommunaler Ebene vertreten ist. Die Mitgliedschaft bei der HDP oder die bloße Sympathie für diese Partei stellt demgemäß keine Straftat dar und ergibt sich aus den herangezogenen Quellen auch keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende individuelle Gefährdung oder drohende strafrechtliche Verfolgung alleine auf Grund der einfachen Mitgliedschaft bei der HDP und der einmaligen Übernahme der Organisation einer Kundgebung oder des Besuchs von Veranstaltungen und Meetings der HDP oder eines Vereins wider die Gewalt an Frauen. Die zitierten Quellen erwähnen weitgehend nur Festnahmen und Inhaftierungen von Parlamentsabgeordneten oder Lokalpolitikern und sind damit nicht geeignet, eine gegenwärtige individuelle und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgung einfacher Mitglieder/Unterstützer der HDP und der kurdischen Belange in der Türkei darzutun. Die beiden erwachsenen Beschwerdeführer waren weder in leitender Stellung bei dieser Partei tätig, noch deren Abgeordnete, Bürgermeister oder anderweitige Funktionsträger. Vielmehr kann nicht erkannt werden, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin politisch besonders exponierten. Dass andere Personen als leitende Funktionäre, Abgeordnete, Kommunalpolitiker der HDP oder Funktionsträger von Strafverfolgung betroffen wären, lässt sich aus den vorliegenden Berichten nicht ableiten. Die behauptete Verfolgung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin alleine auf Grund ihrer Unterstützung der HDP ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar.
Zur Vollständigkeit ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass insoweit es laut dem Erstbeschwerdeführer bei Demonstrationen und Aufmärschen, an denen er teilgenommen hat, durch die türkischen Sicherheitskräfte zum Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern kam, dies grundsätzlich nicht als individuell gegen die Person des Erstbeschwerdeführers gerichtete Verfolgung zu qualifizieren wäre, zumal es den Sicherheitskräften in diesem Zusammenhang ausweislich dem gewöhnlichen Verlauf solcher Geschehnisse folgend regelmäßig darum geht, die Protestierenden in ihrer Gesamtheit zurückzudrängen bzw. zu zerstreuen oder aufzuhalten und nicht darum, Einzelpersonen gezielt zu attackieren. Wie bereits angesprochen verfügen weder der Erstbeschwerdeführer, noch die Zweitbeschwerdeführerin über ein exponiertes persönliches Profil und haben nicht die Absicht, an gewalttätigen Ausschreitungen teilzunehmen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wären damit allenfalls – mit einer nur äußerst geringen Wahrscheinlichkeit – auch im Fall der Rückkehr allenfalls zufälliges Opfer von Gewalt, die von Sicherheitskräften ausgeht, was jedoch keine zur Gewährung von internationalem Schutz führende individuelle Verfolgung darstellt. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung sämtlicher friedlicher Demonstranten in der Türkei fehlt in Anbetracht fehlender – in den Länderinformationen auch festgehaltenen – größerer Opferzahlen, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte.
Die Zweitbeschwerdeführerin gehört dem Islam sunnitischer Prägung und damit dem in der Türkei mehrheitlich praktizierten Glauben an und ist in dieser Hinsicht nicht exponiert. Schwierigkeiten auf Grund der formalen Zugehörigkeit zum Islam sunnitischer Prägung vor der Ausreise oder im Fall einer Rückkehr kamen im Verfahren nicht hervor.
Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung der Beschwerdeführer bzw. der Zugehörigkeit zur alevitischen Glaubensgemeinschaft (des Erstbeschwerdeführers) ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für alevitische Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche aktuelle Anhängerschaft hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin nicht im Raum steht – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit oder alevitischer Glaubenszugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein auf Grund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person der Beschwerdeführer haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Darüber hinaus leben Familienangehörige des Erstbeschwerdeführers mit ebenfalls kurdisch-alevitischer Abstammung bzw. der Zweitbeschwerdeführerin mit kurdischer Abstammung nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in Tunceli, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb den Beschwerdeführern auf Grund ihrer kurdischen Abstammung und dem Erstbeschwerdeführer auf Grund seines zumindest formal alevitischen Glaubens ein weiterer Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen beispielsweise die Eltern und Geschwister sowie weitere Verwandte der erwachsenen Beschwerdeführer nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Begegnung in der Türkei, sind der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin darüber hinaus nicht betroffen.
Sofern darauf hingewiesen wird, dass (alevitische) Kurden diskriminiert und erniedrigt würden, ist festzuhalten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Was nun ihre Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft eben nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die vor allem von der Zweitbeschwerdeführerin erwähnten allgemeinen Schwierigkeiten (Schikanen bei Verwendung der kurdischen Sprache in der Schulzeit oder (gefühlt) schikanöse Behandlung durch türkische Sicherheitskräfte bei Verkehrskontrollen oder Tötung eines im Eigentum des Erstbeschwerdeführers befindlichen Hasen mit einem Fahrzeug) erfüllen dieses Kriterium nicht.
Sofern der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem BFA angaben, nicht religiös zu sein, ist festzuhalten, dass daraus erwachsende Schwierigkeiten vor der Ausreise nicht vorgebracht wurden. Es kam auch zu keinen vom Erstbeschwerdeführer oder der Zweitbeschwerdeführerin konkret in den Raum gestellten Vorfällen vor der Ausreise in diesem Zusammenhang, so dass das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass die beiden Beschwerdeführer bereits vor der Ausreise mit ihren nicht-religiösen bzw. säkularen Anschauungen weder Aufsehen, noch Widerspruch provozierten, sondern vielmehr vollkommen unbehelligt blieben. Schon deshalb kann das Bundesverwaltungsgericht keine sich aus den (nicht-)religiösen Anschauungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin glaubhaft ergebende Rückkehrgefährdung erkennen. Wenn die beiden erwachsenen Beschwerdeführer bereits vor der Ausreise dem Islam fernstanden und die religiösen Gebote des Islam nicht beachteten, ist kein Grund ersichtlich, weshalb sie nunmehr im Fall einer Rückkehr bei der Fortsetzung dieses Verhaltens plötzlich einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung ausgesetzt sein sollten. In dieses Bild passt es auch, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung befragt, was geschehen würde, wenn sie in ihr Heimatland zurückkehren müssen, eine Gefährdung wegen dieser Weltanschauung nicht erwähnten, sondern wieder eine Bedrohung und Verfolgung wegen ihres politischen Engagements bzw. wegen der Aktivitäten der Mutter des Erstbeschwerdeführers ins Treffen führten (Seite 8, 13 des Verhandlungsprotokolls). Selbst wenn die Zweitbeschwerdeführerin ihr Kind im Rückkehrfall nicht als Moslem erziehen möchte, kann das Bundesverwaltungsgericht keinen Grund erkennen, weshalb der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin deshalb nun mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit verfolgt werden sollten, wo doch vergleichbare Aktivitäten vor der Ausreise nicht zu Verfolgungshandlungen wider die beiden Beschwerdeführer führten.
Aus den Feststellungen in Zusammenschau mit der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts folgt des Weiteren, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durch ihre aktuell unmaßgebliche Beteiligung an den Vereinsaktivitäten und der gelegentlichen Teilnahme an Kundgebungen für die kurdischen Belange mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine Position brachten, in der sie für türkische Behörden als auffällig regimekritisch oder gar im Sinne der innerstaatlichen Gesetzgebung als des Separatismus oder Terrorismus Verdächtige anzusehen wären und daher mit entsprechender Verfolgung zu rechnen hätten. Den erwachsenen Beschwerdeführern droht daher auch wegen ihres Aufsuchens kurdischer Kulturvereine in Österreich und der gelegentlichen Teilnahmen an Veranstaltungen für die kurdischen Belange in ihrem Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Verfolgung iSd § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach den Länderfeststellungen sind Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland nicht bekannt. Die Türkei besitzt keine gesetzlichen Bestimmungen, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der Beschwerdeführer wegen ihres in Österreich gestellten Antrags auf internationalen Schutz liegt daher nicht vor.
Hinsichtlich des minderjährigen Drittbeschwerdeführers wurden keine Fluchtgründe behauptet, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, ebenso wenig vorliegt.
Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass den Beschwerdeführern keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).
Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens der Beschwerdeführer keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würden, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide):
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 08.11.2021, Ra 2021/19/0226 unter Hinweis auf VwGH 16.03.2021, Ra 2020/19/0324, mwN).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 08.09.2021, Ra 2021/20/1251).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).
Im gegenständlichen Fall konnten die Beschwerdeführer eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft machen und sie gehören auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat (in die Provinz Tunceli) Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), haben doch der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären. Wie der Erstbeschwerdeführer selbst vorbrachte, wohnen seine Eltern und sein Bruder weiterhin in der Stadt XXXX . Ein Onkel lebt ebenfalls noch in XXXX und ein zweiter Onkel in Istanbul. Des Weiteren leben die Eltern und Geschwister sowie ein Teil der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin in der Provinz Diyarbakır. Einige der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin wohnen zudem in Istanbul. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass den Beschwerdeführern bei ihrer Rückkehr auch im Rahmen ihres Familienverbandes eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung zuteil wird. Diese werden von ihren Verwandten mit Lebensmitteln versorgt werden und sie werden von diesen eine Unterkunft erhalten. Die Zweitbeschwerdeführerin wird zwar im Rückkehrfall weiterhin vorranging mit der Betreuung des minderjährigen Drittbeschwerdeführers ausgelastet sein, dennoch erachtet es das Bundesverwaltungsgericht als grundsätzlich möglich, dass nicht nur der Erstbeschwerdeführer, sondern auch die Zweitbeschwerdeführerin fallweise durch Ausübung einer beruflichen Tätigkeit oder zumindest durch die Verrichtung von Gelegenheitsarbeiten einen Beitrag zum Familieneinkommen wird leisten können. Ferner ist nicht ersichtlich, dass die in Europa lebenden Verwandten die Beschwerdeführer bei der Reintegration nicht unterstützen könnten. So ist zu beachten, dass von Seiten der in Österreich lebenden Onkel und der Tante des Erstbeschwerdeführers sowie der im Vereinigten Königreich, in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich aufhältigen Verwandten des Erstbeschwerdeführers finanzielle Transaktionen oder die Übermittlung von Warensendungen (z.B. Lebensmittel) von Europa, insbesondere von Österreich, aus in die Türkei möglich sind.
Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr der Beschwerdeführer in die Türkei unzulässig machen könnten.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stammen aus der Stadt XXXX in der gleichnamigen Provinz in Ostanatolien. Betreffend die Sicherheitslage in der Provinz Tunceli ist mit Blick auf die individuelle Situation der Beschwerdeführer zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen. Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 in der Türkei verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei auf Grund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, ihren vermeintlichen Ableger [TAK], des sog. Islamischen Staates und im geringen Ausmaß der DHKP-C. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak können den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den angrenzenden türkischen Gebieten haben, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2021) „besondere Sicherheitszonen“. Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen. Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April die sog. Operation „Claw Lock“). Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich zu Jahresbeginn auf die ländlichen Gebiete der türkischen Provinzen Tunceli/Dersim, Mardin und Şanlıurfa und im März 2022 in den Provinzen Diyarbakır, Mardin,
Hakkâri und Hatay. Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten. Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 rund 6.064 Tote (3.878 PKK-Kämpfer, 1.360 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten, aber auch 302 Polizisten und 121 sog. Dorfschützer - 600 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum Juli 2015 bis 18.07.2022. Betroffen waren insbesondere die Provinzen Şırnak (1.003 Tote), Hakkâri (782 Tote), Diyarbakır (553 Tote), Mardin (398) und die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (286), wobei 1.182 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert. Im Verlaufe des Jahres 2022 zählte die ICG (Stand 18.7.2022) 140 Tote. Allerdings ist festzuhalten, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht aus einem ländlichen Gebiet, sondern der Stadt Tunceli stammen und nicht vorbrachten, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten, zumal die Eltern, ein Bruder und ein Onkel des Erstbeschwerdeführers auch weiterhin problemlos in der Heimatstadt des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in der Provinz Tunceli leben und der Bruder des Erstbeschwerdeführers dort einer Erwerbstätigkeit in einem Transportunternehmen nachgeht, was insgesamt – wie im Vorabsatz aufgezeigt – belegt, dass die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen hat. Darüber hinaus haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass sie schon auf Grund ihrer bloßen Präsenz in der Provinz Tunceli mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wären.
Im Hinblick auf die in der Türkei regelmäßig stattfindenden Proteste ist zudem festzuhalten, dass am Rande dieser Proteste auch Ausschreitungen und gewalttätige Übergriffe stattfinden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin brachten in dieser Hinsicht nicht vor, an gewalttätigen Ausschreitungen teilnehmen zu wollen. Ausgehend davon und unter Bedachtnahme auf fehlende – in den Länderinformationen auch festgehaltene – größere Opferzahlen, gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Anschauung, dass eine allfällige Teilnahme oder zufällige Verwicklung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Bezug auf friedliche regierungskritische Proteste nicht mit einer dermaßen hohen Wahrscheinlichkeit zu einer zufälligen Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der Beschwerdeführer infolge von willkürlicher, nicht zielgerichteter Polizeigewalt oder Gewaltausübung durch andere Protestierende oder unbekannte Dritte führen würde, dass von der realen Gefahr einer drohenden Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin auszugehen wäre.
Die allgemeine Sicherheitslage ist daher nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre. Besondere Gefährdungsmomente, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass die Beschwerdeführer in besonderem Maße von etwaigen dort stattfindenden Gewaltakten bedroht wären, wurden weder in den Einvernahmen vor der belangten Behörde, noch in der mündlichen Verhandlung oder in der Beschwerde glaubhaft vorgebracht (vgl. dazu VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).
Es erscheint daher eine Rückkehr der Beschwerdeführer in die Türkei (Heimatstadt XXXX in der Provinz Tunceli) nicht grundsätzlich ausgeschlossen und auf Grund der individuellen Situation der Beschwerdeführer insgesamt auch zumutbar. Für die hier zu erstellende Gefahrenprognose ist zunächst zu berücksichtigen, dass es dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin bis zu ihrer Ausreise aus der Türkei jahrelang möglich war, offenbar ohne größere Probleme in der Stadt XXXX zu leben. Ihrem Vorbringen vor dem BFA und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ist keine gravierende Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit aus Sicherheitsgründen zu entnehmen. Die Eltern, ein Bruder und ein Onkel des Erstbeschwerdeführers leben auch nach wie vor in der Heimatstadt des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und geht der Bruder des Erstbeschwerdeführers dort einer Erwerbstätigkeit in einem Transportunternehmen nach.
Beim 34-jährigen Erstbeschwerdeführer und der 29-jährigen Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um zwei arbeitsfähige Menschen, bei welchen die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Die beiden erwachsenen Beschwerdeführer verfügen darüber hinaus über eine mehrjährige Schulbildung mit Maturaabschluss, die Zweitbeschwerdeführerin zudem über ein abgeschlossenes Studium der Soziologie und der Erstbeschwerdeführer über in der Türkei gesammelte Berufserfahrung durch seine mehrjährige selbständige Tätigkeit als Installateur. Sie sprechen Türkisch und Kurmandschi. Die Eltern, der Bruder und ein Onkel des Erstbeschwerdeführers leben weiterhin in der Stadt XXXX . Ein Onkel des Erstbeschwerdeführers wohnt zudem in Istanbul. Ferner leben die Eltern, drei Brüder, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin in der Türkei. Die Eltern und Geschwister sowie ein Teil der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins leben in der Provinz Diyarbakır. Einige der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin sind zudem in Istanbul aufhältig. Aus welchen Gründen dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin als erwachsene und gesunde Menschen bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollten, für den Lebensunterhalt ihrer Personen und des minderjährigen Drittbeschwerdeführers zu sorgen, ist – auch unter Berücksichtigung der Betreuungspflichten bezüglich des minderjährigen Beschwerdeführers – nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht substantiiert vorgebracht, zumal der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin auch über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügen und dort einen Verwandten- und Bekanntenkreis vorfinden. In Anbetracht der festgestellten wirtschaftlichen Lage geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die erwachsenen Beschwerdeführer ungeachtet der wirtschaftlichen Schwierigkeiten rasch eine adäquate Tätigkeit erlangen werden. Es kann des Weiteren davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer von ihren in der Türkei lebenden Familienangehörigen unterstützt werden. Selbiges gilt im Übrigen für eine – finanzielle – Unterstützung durch die in Europa aufhältigen Verwandten des Erstbeschwerdeführers. Es kann sohin nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern, die in der Türkei über ein familiäres bzw. soziales Netz verfügen, im Falle einer Rückkehr in die Stadt XXXX dort die notwendigste Lebensgrundlage entzogen und dadurch die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein werden, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor, zumal den Beschwerdeführern darüber hinaus die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, als Anspruchsberechtigte offen stehen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Nach den Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demgemäß nicht vor.
Der Verwaltungsgerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, dass ein Fremder im Allgemeinen zwar kein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und der Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedoch jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 08.11.2021, Ra 2021/19/0226 unter Hinweis auf VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006, mwN und unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41.738/10).
Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Artikel 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. VfSlg. 18.407/2008 und 19.086/2010).
Bei der Frage, ob im Fall der Rückführung eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK besteht, kommt es somit nicht darauf an, ob infolge von zur Verhinderung der Verbreitung von SARS-CoV-2 gesetzten Maßnahmen sich die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, solange die Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse weiterhin als gegeben anzunehmen ist (vgl. – zum Irak – VwGH 14.04.2021, Ra 2021/19/0099, mwN).
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer sind gesund. Der bald 5-jährige Drittbeschwerdeführer leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und atypischem Autismus. Er bedarf weiterhin einer Logopädie, Ergotherapie und kinderpsychiatrischer Behandlung. Aus den festgestellten Länderberichten geht hervor, dass in der Türkei ein staatliches Gesundheitswesen existiert. Die medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt, ist durch die staatliche türkische Sozialversicherung gewährleistet. Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Auch wenn Versorgungsdefizite – vor allem in ländlichen Provinzen – bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei psychiatrischen Erkrankungen. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Dass die beim Drittbeschwerdeführer diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Türkei nicht behandelbar wären, ist anhand der Länderberichte nicht ersichtlich. Die Beschwerdeführer gehören auch keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an. Laut der World Health Organization beläuft sich in der Türkei, die ca. 83 Millionen Einwohner hat, die Zahl der bestätigten COVID-19-Erkrankungen auf 17.004.677 und die Zahl der Todesfälle auf 101.419. Im Vergleich dazu weist die Bundesrepublik Deutschland mit ebenfalls ca. 83 Millionen Einwohnern 37.779.833 bestätigte COVID-19-Erkrankungen und 165.711 Todesfälle auf (vgl. das im Internet abrufbare World Health Organization (WHO) Dashboard zu COVID-19, Einsichtnahme am 02.02.2023). Was die Finanzierung der Maßnahmen zur COVID-19-Bekämpfung bzw. des türkischen Gesundheitssystems betrifft, ist festzuhalten, dass die Türkei eine Industrienation ist, die der OECD angehört und vom IWF unter die zwanzig Staaten mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt weltweit gereiht wird. Vor diesem Hintergrund ergeben sich somit keine Hinweise auf das Vorliegen von akut existenzbedrohenden Krankheitszuständen oder Hinweise auf eine unzumutbare Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Rückverbringung der Beschwerdeführer in die Türkei.
Beim Drittbeschwerdeführer handelt es sich um ein minderjähriges Kind, bei welchem es sich um eine besonders vulnerable Person handelt (vgl. dazu etwa die Begriffsdefinition in Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU ), so dass sich das Bundesverwaltungsgericht im Besonderen mit der Lage des minderjährigen Beschwerdeführers im Rückkehrfall auseinanderzusetzen hat (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0089). In diesem Zusammenhang ist zunächst wesentlich, dass von einer gesicherten Existenzgrundlage des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin – den Eltern des Drittbeschwerdeführers – auszugehen ist, zumal davon auszugehen ist, dass die erwachsenen Beschwerdeführer von ihren in der Türkei und in Europa lebenden Familienangehörigen – finanziell – unterstützt werden. Des Weiteren kann nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen werden, dass die Eltern des Drittbeschwerdeführers unter Berücksichtigung der Betreuungspflichten hinsichtlich des minderjährigen Kindes einen Arbeitsplatz erlangen werden, der den Aufbau einer bescheidenen Existenz ebenso ermöglicht, wie eine hinreichende Absicherung des minderjährigen Beschwerdeführers in seinen Grundbedürfnissen. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen (Obst, Milch oder medizinische Produkte), konnten den herangezogenen Länderinformationsquellen nicht entnommen werden, sodass keine dahingehenden Schwierigkeiten im Herkunftsstaat feststellbar sind. Ferner verfügen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin beispielsweise – wie bereits vor der Ausreise – über eine Wohnmöglichkeit bei den Verwandten des Erstbeschwerdeführers in der Stadt XXXX .
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin brachten ferner keine Schwierigkeiten bei der Betreuung des minderjährigen Beschwerdeführers in der Türkei glaubhaft vor. Bezüglich der Betreuung des minderjährigen Kindes werden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nach der Rückkehr auf die in der Stadt XXXX aufhältigen Verwandten des Erstbeschwerdeführers, insbesondere die Großeltern väterlicherseits des minderjährigen Beschwerdeführers, zurückgreifen können. Schließlich wurden im Hinblick auf die Bedürfnisse des minderjährigen Beschwerdeführers auch keine Rückkehrbefürchtungen substantiiert vorgebracht.
Dem minderjährigen Beschwerdeführer steht auch der Zugang zum türkischen Schulsystem offen. Gegenteiliges wurde weder seitens des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vorgebracht, noch kann dies den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen entnommen werden.
Schließlich leidet der minderjährige Drittbeschwerdeführer nicht an einer schweren oder gar lebensbedrohlichen Erkrankung; er ist abgesehen von einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und atypischem Autismus gesund und hat er – wie bereits vorangehend dargelegt – Zugang zu medizinischer Grundversorgung im Herkunftsstaat seiner Eltern.
Dem Drittbeschwerdeführer steht im Falle der Ausreise in den Herkunftsstaat ein leistungsfähiges familiäres Netz sowie eine Wohnmöglichkeit durch die im Herkunftsstaat aufhältigen Familienmitglieder zur Verfügung. Der Eintritt einer existenziellen Notlage im Ausreisefall, die Zwangsarbeit bzw. Kinderarbeit des minderjährigen Drittbeschwerdeführers erfordern würde, ist demnach nicht zu befürchten.
Der minderjährige Drittbeschwerdeführer verfügt zusammenfassend in der Region seiner Rückkehr (Stadt XXXX ) über eine gesicherte Existenzgrundlage, es besteht eine hinreichende Betreuung im Familienverband und eine hinreichende Absicherung in altersentsprechenden Grundbedürfnissen. Dem minderjährigen Drittbeschwerdeführer steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer auf Grund des Nichtvorhandenseins schwerer Erkrankungen adäquaten medizinischen Versorgung zur Verfügung.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkte III. bis V. der angefochtenen Bescheide):
Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt der Beschwerdeführer weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch die Beschwerdeführer Opfer von Gewalt wurden.
Die Entscheidung ist daher gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden.
Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige und somit keine begünstigten Drittstaatsangehörigen. Es kommt ihnen auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gemäß § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.
Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Vom Prüfungsumfang des Begriffes des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 25.06.2019, Ra 2019/14/0260 unter Hinweis auf VwGH 02.08.2016, Ra 2016/18/0049).
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Fallbezogen stellten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Februar 2017 und ihr Sohn – der Drittbeschwerdeführer – im Juni 2018 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihre Beschwerden wurden in allen Spruchpunkten abgewiesen, so dass diese Familienmitglieder in gleichem Maße von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffen sind.
Da die Beschwerdeführer gleichermaßen von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, liegt daher kein Eingriff in das schützenswerte Familienleben vor (vgl. VwGH 19.12.2012, 2012/22/0221 mwN).
Insoweit – nicht näher bezeichnete – Verwandte des Erstbeschwerdeführers im Vereinigten Königreich, in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich leben, ist schon deshalb mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme keine Trennung von einer im Bundesgebiet zurückbleibenden Person verbunden, was eine Berücksichtigung der Beziehungen in der Interessenabwägung freilich nicht obsolet macht (vgl. VwGH 26.03.2015, 2013/22/0284). Zum Verhältnis zu diesen Personen wurden keine näheren Ausführungen getätigt. Der Erstbeschwerdeführer legte nicht einmal dar, dass es mit den im Vereinigten Königreich, in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich lebenden Verwandten beispielsweise zu Telefonaten oder Begegnungen bei gelegentlichen Besuchen kommt. Folglich liegt in Ansehung dieser Personen kein schützenswertes Familienleben im Sinn der zitieren Rechtsprechung vor.
Was die in Österreich lebenden Onkel und die in Österreich lebende Tante betrifft, so war in Anbetracht des diesbezüglichen Vorbringens des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin von einer besonderen Beziehungsintensität nicht auszugehen, zumal die Beschwerdeführer – mögen sie bei der Bestreitung des Lebensunterhalts auch von diesen Verwandten unregelmäßig finanziell unterstützt werden – aktuell in einer eigenen Wohnung leben und kein gemeinsamer Haushalt mit diesen Verwandten vorliegt. Hervorzuheben ist des Weiteren, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin mit diesen Verwandten auch vormals in der Türkei nicht in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. Vielmehr lebten diese Verwandten bereits vor der Einreise des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin rechtmäßig in Österreich und haben der Erstbeschwerdeführer und seine Ehegattin die Beziehungen zu diesen Verwandten erst in Österreich begründet bzw. intensiviert. Die dargelegte Unterstützung der Beschwerdeführer durch die Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers stellt in Anbetracht der besonderen Situation des einkommenslosen Erstbeschwerdeführers auch keinen Ausdruck einer besonderen Verbundenheit dar, sondern ist vielmehr auf den Umstand zurückzuführen, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden kann, dass in einer derartigen Situation Verwandte einander hilfreich zur Seite stehen.
Es ist daher nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer in Österreich ein schützenswertes Familienleben führen, wobei die Klärung dieser Frage aber ohnehin dahingestellt bleiben kann, da bereits auf Grund der im Bundesgebiet lebenden österreichischen Onkel und der im Bundesgebiet lebenden Tante des Erstbeschwerdeführers vom Vorliegen eines Privatlebens der Beschwerdeführer in Österreich auszugehen ist und die sodann vorzunehmende Interessenabwägung zwischen den Interessen der Beschwerdeführer an einem Verbleib in Österreich und den öffentlichen Interessen an einer Außerlandesschaffung beim Recht auf Privat- und beim Recht auf Familienleben gleich verläuft.
Es ist somit zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens der Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.
Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031).
Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine im Fall kürzerer Aufenthaltsdauer erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines kürzeren Aufenthaltes von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 30.07.2020, Ra 2020/20/0130; zur Aufenthaltsdauer von drei Jahren etwa VwGH 28.01.2016, Ra 2015/21/0191, mwN).
Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 30.07.2020, Ra 2020/20/0130 unter Hinweis auf VwGH 14.01.2020; Ra 2019/18/0521, und erneut 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, jeweils mwN).
Der Aufenthalt des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin seit Februar 2017 sowie des Drittbeschwerdeführers seit Juni 2018 in Österreich, somit seit etwa sechs Jahren hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und seit bald fünf Jahren hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers, beruhte – nach Ablauf des von 16.02.2017 bis 16.03.2017 gültigen Visum C (Touristenvisum) des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin – jeweils auf einem Antrag auf internationalen Schutz, der sich als nicht berechtigt erwiesen hat und ist auch noch zu kurz, um ihrem Interesse an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet ein relevantes Gewicht zu verleihen. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Im gegenständlichen Verfahren ist zudem insgesamt keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, die den zuständigen Behörden zur Last zu legen wäre (vgl. hierzu auch VwGH 24.05.2016, Ro 2016/01/0001).
Die Beschwerdeführer verfügen in Österreich – abgesehen von den beiden Onkeln und einer Tante des Erstbeschwerdeführers – über soziale Kontakte. Vor allem der Erstbeschwerdeführer erweist sich in seinem persönlichen Bekannten- und Freundeskreis als hilfsbereit und engagiert. Umgekehrt erfährt der Erstbeschwerdeführer offenbar auch Hilfe von seinen Freunden. Den vorgelegten Unterstützungserklärungen bezüglich des Erstbeschwerdeführers und den Aussagen der erwachsenen Beschwerdeführer lässt sich wiederum nicht entnehmen, dass zu diesen Personen gegenwärtig über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindungen bestünden. Die Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sowie die Unterstützungserklärungen lassen nicht auf eine über ein herkömmliches Freundschaftsverhältnis hinausgehende Bindung und auch nicht auf ein Abhängigkeitsverhältnis schließen. Die dem Erstbeschwerdeführer zugeschriebenen Werte wie etwa Hilfsbereitschaft, Fleiß, Höflichkeit, Zuverlässigkeit und Offenheit etc. sind im Übrigen nicht als Zeichen besonderer Integration anzusehen und werden gerade für Personen, die sich in Österreich auf Dauer niederlassen wollen, vom Bundesverwaltungsgericht als selbstverständlich vorausgesetzt.
Bezüglich dieser privaten Bindungen (zwei Onkel und Tante des Erstbeschwerdeführers, Freunde und Bekannte) in Österreich ist darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin hierdurch gezwungen wären, den Kontakt zu den betreffenden in Österreich lebenden Personen gänzlich abzubrechen. Ebenso wäre den Beschwerdeführern im Falle der Aufenthaltsbeendigung auf diese Weise die Wiederaufnahme und/oder Aufrechterhaltung des Kontakts zu den im Vereinigten Königreich, in der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich lebenden Verwandten des Erstbeschwerdeführers möglich. Es steht den Beschwerdeführern zudem frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen, zumal gegen sie kein Einreiseverbot besteht (vgl. die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs: VwGH 22.01.2013, 2012/18/0201, 29.06.2017 Ro 2016/21/0007, 17.03.2016, Ro 2016/21/0007, und insbesondere 30.07.2015, Ra 2014/22/0131, sowie § 11 Abs 1 Z 3 NAG und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa nach der Verordnung (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) und nach dem FPG).
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren bzw. sind nicht legal erwerbstätig; somit haben sie auch keine maßgeblichen wirtschaftlichen Interessen in Österreich. Für ihren Lebensunterhalt bedurften die Beschwerdeführer seit ihrer Einreise bzw. Geburt durchgehend der Leistungen der im Bundesgebiet lebenden Verwandten des Erstbeschwerdeführers und eines alevitischen Vereins. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind weder wirtschaftlich unabhängig noch selbsterhaltungsfähig, weshalb von einer verfestigten und gelungenen Eingliederung der Beschwerdeführer in die österreichische Gesellschaft auch aus diesem Grund nicht ausgegangen werden kann. Zwar wurden dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin Arbeitsmöglichkeiten zugesagt, jedoch stellen diese keinen Beleg für ihre Selbsterhaltungsfähigkeit, sondern allenfalls einen Hinweis darauf dar, dass sie, sofern sie sich auf dem entsprechenden Arbeitsplatz tatsächlich bewährten, in die Situation kommen könnten, ihren Lebensunterhalt aus Eigenem zu bestreiten. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer Einstellungszusage/einem Arbeitsvertrag gegenüber einem Asylwerber, der nur über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach asylrechtlichen Vorschriften und nicht über eine Arbeitserlaubnis verfügt, keine wesentliche Bedeutung zu (vgl. VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mwN). Fallbezogen ist nach den getroffenen Feststellungen die wirtschaftliche Integration des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich als im Entscheidungszeitpunkt (noch) nicht gelungen anzusehen. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass die erwachsenen Beschwerdeführer während ihres bisherigen Aufenthalts in Österreich keine ernsthafte und dauerhafte Bereitschaft zeigten, sich um legale Arbeit zu bemühen, zumal es ihnen etwa während des Verfahrens auf Erlangung internationalen Schutzes auch möglich gewesen wäre, ein Gewerbe anzumelden und als Selbständige tätig zu werden. Ebenso wäre den beiden erwachsenen Beschwerdeführern die Möglichkeit offen gestanden, haushaltstypische Leistungen in Privathaushalten (z.B. Gartenarbeit, Hilfe beim Weihnachtsputz) zu übernehmen („Dienstleistungsscheck“). Unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK muss nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2018/01/0003 mwN).
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben durch den Besuch von sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen und den mehrjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet alltagstaugliche Kenntnisse der deutschen Sprache, die für eine Verständigung auf einfachem Niveau ausreichen, erworben. Eine Deutschprüfung legten sie hingegen nicht ab. Der Spracherwerb und der tatsächliche Wille, die deutsche Sprache zu erlernen, stellen zweifellos ein wesentliches Kriterium bei der Beurteilung der Integration in Österreich dar. Die gesamte Stufe "A" (A1 und A2) bezieht sich nach dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts allerdings auf den Standard der elementaren Sprachverwendung und reichen die derartigen Ausbaustufen aber bis zum Stand „C2“, welcher einer nahezu muttersprachlichen Verwendung der jeweiligen Sprache – hier Deutsch – gleichkommt. Ausgehend davon wird mit dem Besuch von Deutschkursen auf dem Niveau A2 (Erstbeschwerdeführer) bzw. Niveau A1 (Zweitbeschwerdeführerin) im Rahmen eines etwa sechsjährigen Aufenthalts kein hervorhebenswertes Engagement beim Spracherwerb dargetan.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verrichten keine gemeinnützigen Arbeiten und leisten auch keine offizielle ehrenamtliche Tätigkeit; sie sind – abgesehen von der Mitgliedschaft des Erstbeschwerdeführers im Verein „ XXXX “, der XXXX und im Verein „ XXXX “, der der XXXX angeschlossen ist – in Österreich nicht Mitglied von Vereinen oder Organisationen. Der Erstbeschwerdeführer besucht zudem Veranstaltungen und Feste des Vereins „ XXXX “ und nehmen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin an Veranstaltungen bzw. Versammlungen des kurdischen Kulturvereins, etwa zum Weltfrauentag oder Newroz-Fest, sowie an Demonstrationen für die kurdischen Belange teil. Eine besondere Integrationsleistung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ist freilich im Besuch dieser kurdischen Vereine, die primär dem Kontakt mit den „Landsleuten“ der Beschwerdeführer dienen, nicht zu erblicken. Auffallend erscheint zudem, dass die Zweitbeschwerdeführerin – im Vergleich mit den sozialen Aktivitäten des Erstbeschwerdeführers – ihr zu Hause – abgesehen von Spaziergängen, gemeinsamen Essen und dem Aufsuchen einer Parkanlage zu Erholungszwecken mit dem minderjährigen Drittbeschwerdeführer – nur wenig verlässt. Anderweitige Integrationsschritte (wie etwa die Teilnahme an diesbezüglichen Schulungen, Wertkursen und dergleichen) haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin ebenfalls nicht ergriffen.
Es liegen daher keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale vor.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).
Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101). Ein diesbezügliches konkretes Vorbringen wurde vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin nicht glaubhaft erstattet, zumal ein Großteil der Familie des Erstbeschwerdeführers, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe und der alevitischen Religionsgemeinschaft angehört, und die Familie der Zweitbeschwerdeführerin, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehört, in der Türkei leben und diese Personen dort problemlos für ihren Lebensunterhalt sorgen können, was ebenfalls gegen das Vorliegen derartiger „Schwierigkeiten“ spricht.
Bei der Interessenabwägung ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101) auch ein Vorbringen zu berücksichtigen, es werde eine durch die Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Fremden, insbesondere die deutliche Verschlimmerung psychischer Probleme, eintreten (vgl. VwGH 11.10.2005, 2002/21/0132; 28.03.2006, 2004/21/0191; zur gebotenen Bedachtnahme auf die durch eine Trennung von Familienangehörigen bewirkten gesundheitlichen Folgen VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). Bei dieser Interessenabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr dorthin Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 31.01.2013, 2012/23/0006).
Die Bindungen zum Heimatstaat des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sind deutlich stärker ausgeprägt. Der Erstbeschwerdeführer verbrachte die ersten 28 Jahre seines Lebens und die Zweitbeschwerdeführerin die ersten 23 Jahre ihres Lebens und damit sehr prägende Jahre in seinem/ihrem Heimatland (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058), sind dort aufgewachsen und haben dort ihre Sozialisation erfahren. Sie sprechen Türkisch und Kurmandschi. Zudem leben in der Türkei noch die Eltern, ein Bruder und zwei Onkel des Erstbeschwerdeführers und die Eltern, drei Brüder, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnten. Daher ist im Vergleich von einer deutlich stärkeren Bindung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zur Türkei auszugehen.
Soweit, wie im vorliegenden Fall, ein Kind von der Rückkehrentscheidung betroffen ist, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieses Kindes, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen es im Heimatstaat begegnet, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 18.10.2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Rz 58, und vom 6.07.2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Rz 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei den Fragen beigemessen, wo Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter („adaptable age“; vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 31.07.2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Rz 66, vom 17.02.2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Rz 60, und vom 24.11.2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Rz 46) befinden (vgl. VwGH 21.04.2011, 2011/01/0132).
Eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit wird in der Rechtsprechung für Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren angenommen (vgl. 18.10.2017, Ra 2017/19/0422). In seinem Beschluss vom 30.06.2015, Ra 2015/21/0059, sprach der Verwaltungsgerichtshof auch bei einem vierjährigen Kind vom anpassungsfähigen Alter. Jedenfalls ist bei einem Alter unter sieben Jahren davon auszugehen, dass die Sozialisation des Kindes erst begonnen und jedenfalls noch kein derart fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, dass sie nicht auch im Herkunftsstaat fortgesetzt werden könnte. Im Alter von ca. vier bis fünf Jahren steht ein Kind – wenn überhaupt – erst ganz am Beginn der Phase der ersten Verselbständigung und der damit verbundenen Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises (vgl. etwa Gachowetz/Schmidt/Simma/Urban, Asyl- und Fremdenrecht im Rahmen der Zuständigkeit des BFA (2017), 290 und jeweils mwN VwGH 25.02.2010, 2006/18/0363, sowie VwGH 05.04.2002, 2001/18/0176).
Der Drittbeschwerdeführer ist in Österreich geboren und hat keinen persönlichen Bezug zur Türkei. Der Drittbeschwerdeführer befindet sich jedoch in einem anpassungsfähigen Alter (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0059), wobei die Sozialisation außerhalb des engen Familienkreises zudem noch kaum begonnen hat, so dass kein Wiedereingliederungshindernis vorliegt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162). Der minderjährige Drittbeschwerdeführer ist im Familienverband mit den Eltern aufgewachsen, weshalb davon auszugehen ist, dass er mit den kulturellen Gegebenheiten des Heimatlandes und zumindest ihrer Muttersprache vertraut gemacht wurde. Auch angesichts der fehlenden Deutschkenntnisse des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin kann davon ausgegangen werden, dass der minderjährige Beschwerdeführer Kurmandschi und/oder Türkisch spricht.
Der bald fünfjährige Drittbeschwerdeführer besuchte in der Vergangenheit in Österreich bereits einen Kindergarten, wobei dieser Besuch nicht lange währte, was die im Wege des Kindergartenbetriebs erfahrene Verankerung relativiert. Ansonsten kann, abgesehen von alterstypischen Freundschaften und Freizeitaktivitäten, keine außergewöhnliche Integration des minderjährigen Beschwerdeführers festgestellt werden – wie dies auf Grund seines Alters auch nicht zu erwarten war. Dem Drittbeschwerdeführer ist ein weiterer/zukünftiger Kindergartenbesuch bzw. ein zukünftiger Schulbesuch in der Herkunftsregion möglich.
Wiewohl von einer Phase der Eingewöhnung in die neue Umgebung auszugehen sein wird, so steht dem minderjährigen Drittbeschwerdeführer jedenfalls ein Zugang zum türkischen Schulsystem offen und können in einem allenfalls verzögerten Schuleintritt bzw. einem verzögerten Fortschritt seiner Schullaufbahn auch keine gravierenden Schäden im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes erwartet werden. Vor diesem Hintergrund vermag das Bundesverwaltungsgericht auch nicht zu erkennen, dass durch eine Rückkehrentscheidung in die etwa in der UN-Kinderrechtskonvention oder der Grundrechtscharta verbrieften Rechte auf unzulässige Weise eingegriffen würde.
Überdies wird der minderjährige Drittbeschwerdeführer in Begleitung der Eltern in den Herkunftsstaat zurückkehren, wodurch die soziale Eingliederung in den Herkunftsstaat erleichtert wird und steht selbst der Umstand, dass das gesamte bisherige Leben seit der Geburt in Österreich verbracht wurde, einer erfolgreichen Eingliederung im Herkunftsstaat nicht entgegen. Im Übrigen wird der Drittbeschwerdeführer Sprache, Kultur, gesellschaftliche Werte, Sitten, Normen und soziale Rollen ohnehin erst weitgehend erlernen müssen. Maßgeblich prägend für seine Sozialisierung sind die Eltern. Die Anpassung an jene Lebensverhältnisse, in denen die erwachsenen Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise gelebt haben, ist daher bei einer Rückkehr im Verbund mit den Eltern auch angesichts der in der Türkei noch lebenden weiteren Verwandten zumutbar.
In Anbetracht der gemeinsamen Rückkehr im Familienverband kann auch davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Anwesenheit sämtlicher Bezugspersonen keine das Kindeswohl beeinträchtigende Entwurzelung eintritt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162). Die gebotene Berücksichtigung des Kindeswohls führt somit nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Rückkehrentscheidung, zumal sich der Drittbeschwerdeführer in einem anpassungsfähigen Alter befindet bzw. die Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises gerade erst begonnen hat. Der Drittbeschwerdeführer verbrachte bzw. verbringt den Großteil seines Aufenthalts in der Betreuung seiner Mutter. Er musste sich nicht in einem Maße von bereits vertrauten gesellschaftlichen Werten, Sitten, Normen und sozialen Rollen lösen und sich auch nicht auf neue einstellen, was seine Rückkehr bzw. Ausreise in die Türkei unmöglich oder unzumutbar erscheinen ließe. Er müsste auch keine anderen als die bisher im Umgang mit seinen Eltern (vorwiegend) gebräuchliche Sprachen lernen. Insgesamt hat die Sozialisation des Drittbeschwerdeführers demnach noch kein (derart) vorangeschrittenes Stadium erreicht, dass es unmöglich oder unzumutbar wäre, diese Sozialisation in der Türkei in der Obsorge der Eltern fortzusetzen.
Es ist auch davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage im Falle einer Rückkehr haben. Bei den beiden erwachsenen Beschwerdeführern handelt es sich um arbeitsfähige und gesunde Menschen. Es kann daher – unter Berücksichtigung der Betreuungspflichten bezüglich des minderjährigen Beschwerdeführers – die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sprechen Türkisch und Kurmandschi. Die Eltern, der Bruder und ein Onkel des Erstbeschwerdeführers leben weiterhin in der Stadt XXXX . Ein Onkel des Erstbeschwerdeführers wohnt zudem in Istanbul. Ferner leben die Eltern, drei Brüder, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin in der Türkei. Die Eltern und Geschwister sowie ein Teil der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins leben in der Provinz Diyarbakır. Einige der Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins der Zweitbeschwerdeführerin sind in Istanbul aufhältig. Aus welchen Gründen dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin als erwachsene und gesunde Menschen bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollten, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht vorgebracht, zumal die beiden erwachsenen Beschwerdeführer über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügen. Den Beschwerdeführern stehen auch die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, als Anspruchsberechtigte offen. Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Eltern des Drittbeschwerdeführers in der Lage sein werden, in ihrem Heimatland, dessen National- und Amtssprache sie – neben Kurmandschi – sprechen, in dem zahlreiche Verwandte leben, zu denen sie in Kontakt stehen, eine Existenzgrundlage für sich und ihre Familie aufzubauen.
Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland – letztlich Folge des seinerzeitigen, ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens des Heimatlandes – sind im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 17.04.2020, Ra 2020/21/0083).
Die strafrechtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführer vermag weder das persönliche Interesse der Beschwerdeführer an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (vgl. VwGH 19.04.2012, 2011/18/0253 unter Hinweis auf VwGH 25.02.2010, 2009/21/0070, mwN).
Die Beschwerdeführer vermochten zum Entscheidungszeitpunkt daher, auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass zwei Onkel und eine Tante des Erstbeschwerdeführers in Österreich und mehrere Verwandte des Erstbeschwerdeführers im Vereinigten Königreich, in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich leben, keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet darzutun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen der Beschwerdeführer an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin führen könnten.
Auf Grund der genannten Umstände überwiegen in einer Gesamtabwägung derzeit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der Beschwerdeführer am Verbleib im Bundesgebiet. Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht den Aufenthalt der beiden Onkel und der Tante des Erstbeschwerdeführers, die weiteren sozialen Kontakte, die Absolvierung von sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen und den Erwerb von einfachen alltagstauglichen Deutschkenntnissen durch den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht verkennt, wiegt im gegenständlichen Fall das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne eines geordneten Fremdenwesens schwerer als die privaten Interessen der Beschwerdeführer an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet, zumal die Beschwerdeführer jeweils einen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stellten. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist in einer Gesamtwürdigung der Umstände des gegenständlichen Falles – vor allem vorangehende Ausstellung eines von 16.02.2017 bis 16.03.2017 gültigen Visum C (Touristenvisum) zur Einreise in das Bundesgebiet – davon auszugehen, dass sowohl die Einreise als auch die gegenständliche Asylantragstellung vornehmlich der Umgehung der Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes dienten und im Wege der gegenständlichen Antragstellung eine faktische Präsenz der (erwachsenen) Beschwerdeführer im Bundesgebiet zum Zweck der Erlangung eines Aufenthaltstitels auf diesem Weg ermöglicht werden soll. Dazu tritt der noch vergleichsweise kurze faktische Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich von etwa sechs Jahren hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und von ca. fünf Jahren hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers, währenddessen sich die Beschwerdeführer – insbesondere nach Erhalt der Bescheide vom 27.11.2018 – der Ungewissheit ihres weiteren Verbleibs im Bundesgebiet bewusst gewesen sein mussten. Außerdem sind die erwachsenen Beschwerdeführer nicht wirtschaftlich unabhängig oder selbsterhaltungsfähig, sondern seit ihrer Einreise durchgehend auf Leistungen der Verwandten des Erstbeschwerdeführers und eines alevitischen Kulturvereins angewiesen. Ferner zeigten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin kein besonderes Engagement beim Spracherwerb und ist auch der sonstige Grad der Integration in keiner Weise als ausgeprägt einzuordnen. Bezeichnend ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin weder in institutioneller Form nachhaltig dem Spracherwerb widmeten, noch gemeinnützige Arbeit verrichteten. Darüber hinaus steht der festgestellte Gesundheitszustand des minderjährigen Drittbeschwerdeführers einer Außerlandesbringung der Beschwerdeführer aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen, zumal eine akute Behandlungsbedürftigkeit des minderjährigen Drittbeschwerdeführers nicht anzunehmen ist. Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liegt eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vor. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung der Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar.
Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 iVm § 50 FPG folgt aus der Nichtgewährung von Asyl und subsidiärem Schutz (vgl. VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/0044 bis 0046 mwN).
Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkte VI. der angefochtenen Bescheide):
Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch kein Vorbringen erstattet.
II. Zurückweisung des Antrags auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung:
Die Beschwerdeführer stellen in ihren Beschwerden den Antrag, diesen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, da andernfalls ein effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet wäre. Sie begründen diesen Antrag nicht näher.
Eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde an das Verwaltungsgericht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat gemäß § 13 Abs. 1 VwGVG kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung.
Die in diesem Verfahren angefochtenen Bescheide des BFA (1.) vom 27.11.2018, Zl. 569400902-170229565, (2.) vom 27.11.2018, Zl. 1142656908-170229595 und (3.) vom 27.11.2018, Zl. 1193700010-180521811, enthalten keinen Abspruch über eine Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG. Den gegenständlichen Beschwerden kam somit bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zu. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt keine gesetzliche Grundlage für einen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung, wenn den Beschwerden ohnehin kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukommt, so dass der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung jeweils als unzulässig zurückzuweisen war.
B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung mit der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes übereinstimmt.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
