VwGH Ra 2020/20/0130

VwGHRa 2020/20/013030.7.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Spruchpunkt A) II. des am 25. Oktober 2019 mündlich verkündeten und am 4. März 2020 schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts, G311 2182571‑1/11E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach dem BFA‑VG und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: B A S, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
IntG 2017 §9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200130.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) II. wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 20. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 23. November 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und III. als unbegründet ab [Spruchpunkt A) I.].

4 Hinsichtlich der Spruchpunkte IV. bis VI. wurde der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt werde [Spruchpunkt A) II.]. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig erklärt [Spruchpunkt B)].

5 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zur Person des Mitbeteiligten im Wesentlichen aus, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Araber. Der Mitbeteiligte sei in Bagdad geboren und aufgewachsen. In Bagdad habe er drei Jahre die Grundschule besucht. Den Rest seiner Schulbildung bis zur Matura habe er im Gouvernement Anbar absolviert. Von 2013 bis 2014 habe er in Ramadi Politikwissenschaften studiert. Seine Mutter und seine zwei Brüder hätten den Irak im Jahr 2018 verlassen und lebten in der Türkei. Der Mitbeteiligte halte sich seit seiner Asylantragstellung ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Er sei ledig und seit etwa März 2018 in einer Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin, in deren Familienleben er integriert sei. Von Oktober 2015 bis September 2019 habe der Mitbeteiligte durchschnittlich 22 Stunden pro Monat als Hilfsarbeiter am Bauhof gearbeitet. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beziehe er keine Grundversorgung mehr. Er sei Mitarbeiter beim Roten Kreuz gewesen und habe einen Erste‑Hilfe‑Grundkurs absolviert. Der Mitbeteiligte habe eine Zusage für Schnuppertage und „allfällig folgend“ einen Arbeitsplatz als Elektroinstallateur vorgelegt. Er habe viele österreichische Freunde und sei strafgerichtlich unbescholten. Des Weiteren habe er die Integrationsprüfung bestanden und spreche sehr gut Deutsch. Zu Spruchpunkt A) II. führte das Bundesverwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht aus, die einzelnen Umstände stellten für sich genommen keine außergewöhnlichen Integrationsschritte dar. Die Zusammenschau der dargestellten Umstände und der Aufbau sozialer, beruflicher sowie sprachlicher Bindungen im Bundesgebiet bei einem knapp fünfjährigen Aufenthalt führe dazu, dass eine Rückkehrentscheidung im Rahmen der Interessenabwägung gem. § 9 Abs. 2 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) zum Zeitpunkt der Entscheidung auf Dauer unzulässig sei. Dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit komme ein hoher Stellenwert zu, doch sei in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände das Interesse an der Fortführung des Privatlebens des Mitbeteiligten in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der bisherige Aufenthalt des Mitbeteiligten auf einem einzigen Antrag auf internationalen Schutz beruhe, er am Verfahren stets mitgewirkt und seine Identität offengelegt habe. Die verfügte Rückkehrentscheidung sei aufgrund der vorliegenden persönlichen Bindungen unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Da die maßgeblichen Umstände ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend seien, sei die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 AsylG 2005 seien gegeben. Der Mitbeteiligte habe das Modul 1 der Integrationsvereinbarung nach § 9 Integrationsgesetz durch die Zeugnisvorlage nachgewiesen.

6 Die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachte Revision richtet sich nach ihrer Erklärung über den Umfang der Anfechtung gegen den Spruchpunkt A) II. des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts.

7 Nach Vorlage der Revision sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht hat der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision erwogen:

9 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht zur Zulässigkeit der Amtsrevision unter Hinweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei von den von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätzen für die nach § 9 BFA‑VG vorzunehmende Interessenabwägung abgewichen. Es habe bei seiner Interessenabwägung dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Auch eine Beziehung zu einer österreichischen Staatsbürgerin, die nicht derart eng und dauerhaft sei, dass sie als „de facto Ehe“ im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu qualifizieren sei, begründe keine derart außergewöhnliche Konstellation. Die vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Merkmale der Integration begründeten im vorliegenden Fall keine außergewöhnliche Konstellation, der zufolge trotz des erst viereinhalbjährigen Aufenthalts des Mitbeteiligten in Österreich das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung „von der Integration überwogen“ würde. Alle vom Bundesverwaltungsgericht auf Seiten des privaten Interesses des Mitbeteiligten entstandenen Aspekte seien zudem in ihrem Gewicht gemindert, weil sie während eines unsicheren Aufenthalts entstanden seien, der sich auf einen nicht berechtigten Asylantrag gegründet habe.

10 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

11 Die in der vorliegenden Rechtssache durch das Bundesverwaltungsgericht in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003; 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, jeweils mwN).

12 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 2.9.2019, Ra 2019/20/0407 bis 0408, mwN).

13 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 6.9.2017, Ra 2017/20/0209, mwN).

14 Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine im Fall kürzerer Aufenthaltsdauer erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines kürzeren Aufenthaltes von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. zur Aufenthaltsdauer von drei Jahren etwa VwGH 28.1.2016, Ra 2015/21/0191, mwN).

15 Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 14.1.2020; Ra 2019/18/0521, und erneut 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, jeweils mwN).

16 Zu Recht macht die Amtsrevision geltend, dass unter Zugrundelegung der getroffenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis trotz des viereinhalbjährigen Aufenthalts des Mitbeteiligten die Annahme einer außergewöhnlichen Integration im oben beschriebenen Sinne nicht gedeckt erscheint. Wie das Verwaltungsgericht selbst ausführt, stellen die einzelnen Umstände für sich genommen keine außergewöhnlichen Integrationsschritte dar. Auch in der Gesamtschau ist nicht von einer solchen Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten auszugehen, dass bereits von „außergewöhnlichenUmständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt gewährt werden müsste.

17 Hinzu kommt, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Umstand, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. erneut VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN), keine ausreichende Beachtung geschenkt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit bei der durchgeführten Interessenabwägung die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten.

18 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am 30. Juli 2020

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