B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:L504.2239369.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. TÜRKEI, vertreten durch RA Dr. Benno WAGENEDER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.03.2021 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird in allen Spruchpunkten mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes von 4 auf 2 Jahre herabgesetzt wird.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
I.1. Die beschwerdeführende Partei (in weiterer Folge kurz als bP bezeichnet), ist Staatsangehöriger der Republik Türkei.
Sie scheint erstmalig am 22.06.2009 im Zentralen Melderegister in Österreich auf und verfügt über einen gültigen Aufenthaltstitel.
I.2. Die bP wurde bisher insgesamt 4 Mal strafrechtlich in Österreich verurteilt. Nach der zweiten Verurteilung wurde ihr mit Schreiben vom 12.02.2019 mitgeteilt, dass aufgrund der Urteile die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme für den Fall einer weiteren Verurteilung droht.
I.3. Nach der dritten Verurteilung wurde sie vor der belangten Behörde (idF bB) am 17.07.2019 zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einvernommen. Dieser Einvernahme wohnte die Mutter der Tochter der bP als Vertrauensperson bei.
„LA: Welche Sprachen sprechen Sie?
VP: Türkisch, Deutsch und Albanisch
LA: Sind Sie damit einverstanden, dass die Einvernahme in deutscher Sprache durchgeführt wird?
VP: Ja
LA: Können Sie Dokumente bzw. Beweismittel vorlegen, welche Ihre Identität bescheinigt?
VP: Reisepass und Aufenthaltstitel
Anm.: Die Identität der VP wird überprüft, als Nachweis der Identität wurde folgendes Dokument vorgelegt: Reisepass
LA: Fühlen Sie sich heute psychisch und physisch in der Lage die gestellten Fragen bzgl. des gegenständlichen Verfahrens zu beantworten?
VP: Ja
LA: Leiden Sie an einer Krankheit bzw. befinden Sie sich zurzeit in ärztlicher Behandlung?
VP: Nein, bin ich nicht
LA: Seit wann halten Sie sich im österreichischen Bundesgebiet auf?
VP: 21.06.2009 bin ich zum ersten Mal nach Österreich gekommen. Ich wollte da in die Schule gehen. Da aber die Schule gerade aufgehört hat, bin ich wieder in die Türkei zurück und Anfang September bin ich dann wieder mit meiner Mutter und ihrer Schwester nach Österreich gekommen. Meine Mutter hat dann hier auch geheiratet.
LA: Welche Aufenthaltsberechtigung erhielten Sie bei der Einreise?
VP: die Rot-Weiß-Rot-Karte
LA: Mit welchem Aufenthaltstitel halten Sie sich zurzeit im österreichischen Bundesgebiet auf?
VP: Auch Rot-Weiß-Rot-Karte
LA: Sind Sie verheiratet, leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder in einer Lebensgemeinschaft? Bitte nennen Sie den vollständigen Namen, das Geburtsdatum und die Staatsangehörigkeit der Person.
VP: Nein nicht verheiratet. Ich habe eine Lebensgefährtin. Nachgefragt leben wir nicht zusammen, aber bald. Wir suchen gerade eine Wohnung.
LA: Wie heißt Ihre Lebensgefährtin?
VP: XXXX , Serbische Staatsangehörige.
LA: Wo wohnt sie derzeit?
VP: XXXX
LA: Haben Sie Kinder? Bitte nennen Sie den vollständigen Namen, das Geburtsdatum und die Staatsangehörigkeit der Person.
VP: Ja eines mit meiner Lebensgefährtin. Nachgefragt sie heißt XXXX .
Anm: Wird aufgefordert innerhalb von 1 Woche eine Kopie der Geburtsurkunde an die Behörde zu senden.
LA: Mit welchen Personen leben Sie in einem gemeinsamen Haushalt?
VP: Mit meiner Mutter und mit meiner Schwester.
LA: Seit wann haben Sie eine Beziehung?
VP Wir sind seit 2 ½ Jahre zusammen.
LA: Wieso wohnen sie bis jetzt noch nicht zusammen?
VP: Es ging uns finanzielle nicht gut, deswegen haben wir uns Zeit gelassen. Ich habe kurz auch bei ihr gewohnt, aber das ging dann auch nicht.
LA: Besteht es ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu in Österreich lebende Personen?
VP: Nein bin ich nicht. Ich verdiene mein eigenes Geld.
LA: Welche Familienangehörige bzw. Verwandte haben Sie im österreichischen Bundesgebiet?
VP: Mein Onkel und seine Frau. Mein Großvater ist auch ab und zu da. Meine Mutter und meine Schwester auch noch.
LA: Welche Bindung haben Sie zu diesen?
VP: Mit meiner Mutter und mit meiner Schwester lebe ich noch zusammen und meinen Onkel und Großvater sehe ich auch öfters. Eine ganz normale Familie.
LA: Welche Ausbildung haben Sie in Österreich genossen?
VP: Ich habe HS, Polytechnische Schule, Lehre habe ich als Metalltechniker die Schule positiv 2017 abgeschlossen und jetzt mache ich noch die Lehrabschlussprüfung.
LA: Warum haben Sie die Lehrabschlussprüfung bis jetzt nicht gemacht?
VP: Ich habe es probiert. Beim Praktischen bin ich eh durch nur das Fachgespräch muss ich noch mal machen.
LA: Gehen Sie derzeit einer Beschäftigung nach?
VP: Bei der Firma XXXX . Dann werde ich nach 6 Monaten übernommen. Nachgefragt seit 01.Juli arbeite ich da, davor habe ich als Schweißer gearbeitet.
Anm: Wird aufgefordert innerhalb von 1 Woche eine Kopie der Arbeitsbestätigung an die Behörde zu senden.
LA: Pflegen Sie in Österreich Freundschaften? Wenn ja, mit wem und wie gestaltet sich der Kontakt?
VP: Ja, Fußballfreunde und durchs Training. Am meisten sehe ich die Fußballfreunde
LA: Sind Sie ehrenamtlich aktiv oder engagieren Sie sich in einem Verein?
VP: Ja ich bin beim Fußballverein ASKÖ XXXX
Anm: Wird aufgefordert innerhalb von 1 Woche eine Kopie an die Behörde zu senden.
LA: Gemäß Strafregisterauszug wurden Sie im österreichischen Bundesgebiet vom Landesgericht XXXX wegen § 89 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten, ebenso vom LG XXXX wegen § 288/1 StGB, § 297/1 2. Fall StGB, § 15 StGB § 299/1 StGB 89 zu einer Freiheitsstrafe von XXXX WELS 015 HV 124/2018f vom 07.05.2019 RK 10.05.2019 wegen § 12 3. Fall StGB § 288/1,4 StGB, § 15 StGB § 299/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, rechtskräftig verurteilt. Was sagen Sie dazu?
VP: Zu die vor 2019 waren, hab ich auch zum Gericht gesagt, dass ich es nicht wusste. Ich war noch unreif. Jetzt denke ich an meine Tochter und Freundin und an Fußball. Ich war Jung und dumm. Beim letzten habe ich vor der Polizei für einen Türken gedolmetscht. Ich habe nur das übersetzt, was er damals gesagt hat, aber ich bin dennoch verurteilt worden.
LA: Welche Bindungen besitzen Sie zu Ihrem Heimatstaat? Haben Sie Verwandte oder Familienangehörige, die in Ihrem Heimatland leben?
VP: Nur mein Vater ist dort. Mit ihm habe ich aber keinen Kontakt. Nachgefragt leben auch noch von meinem Vater die Brüder und mein Opa. Wir ich mit meiner Freundin in der Türkei war, haben wir sie auch nicht besucht. Mein Vater und ich wir telefonieren vielleicht einmal im Jahr. Mehr nicht.
LA: Sprechen Sie die Sprache Ihres Herkunftslandes? Haben Sie in Ihrem Herkunftsland eine Schule besucht oder waren Sie in Ihrem Herkunftsland erwerbstätig?
VP: Ja türkisch und albanisch. Ich war 5 Jahre in der VS. Dann kam ich nach Österreich.
LA: Wie oft waren Sie in den letzten Jahren in Ihrem Herkunftsstaat? Wann haben Sie diesen zuletzt besucht?
VP: 2018 zweimal. 2019 Jahresbeginn. Ich glaube 2017 und 2016 war ich nicht in der Türkei. Davor war ich jedes Jahr mit meiner Mutter.
LA: Das Länderinformationsblatt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zeigt eine einzelfallunabhängige Darstellung über die Lage betreffend relevanter Tatsachen Ihres Herkunftsstaates. Sie haben das Recht das Länderinformationsblatt einzusehen, Stellung zu nehmen, oder eine schriftliche Ausfertigung dieses Länderinformationsblattes zwecks Stellungnahme (Frist von 2 Wochen), zu verlangen.
VP: Ich nehme es mit.
LA: Ferner werden Sie darauf hingewiesen, dass Sie gemäß § 8 Zustellgesetz jede Änderung Ihrer Zustelladresse der Behörde unverzüglich mitzuteilen haben, dies auch, sollten Sie Österreich verlassen, in diesem Fall sind Sie verpflichtet eine zustellfähige Adresse bekannt zu geben. Sollten Sie diese Mitteilung unterlassen, so ist die Zustellung weiterer Schriftstücke durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch vorzunehmen, falls eine Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden kann (§ 8 Abs. 2 Zustellgesetz). Haben Sie die Belehrung verstanden?
VP: Ja verstanden
LA: Ich beende jetzt die Befragung. Hatten Sie Gelegenheit alles vorzubringen, was Ihnen wichtig erscheint oder wollen Sie noch etwas hinzufügen?
VP: Nein Danke. Ich habe alles versucht zu sagen, was sie wissen wollten.
Anm. Es wird nun die Niederschrift nochmals gemeinsam durchgegangen und vorgelesen. Die Partei wird aufgefordert genau aufzupassen und sofort bekannt zu geben, wenn etwas nicht korrekt protokolliert sein sollte bzw. noch etwas zu ergänzen sein sollte.
LA: Gibt es Einwände gegen die Niederschrift? Wurde alles korrekt und vollständig protokolliert?
VP: Nein, sonst passt alles
LA: Wollen Sie ansonsten noch etwas angeben?
VP: Nein“
Im Zuge der Einvernahme legte die bP die folgenden Beweismittel vor:
- Jahres- und Abschlusszeugnis vom XXXX zur Lehrausbildung als Metalltechniker
- Jahreszeugnis der dritten Berufsschulklasse vom 29.01.2016
- Jahreszeugnis der ersten Fachklasse vom 27.06.2014
- Jahreszeugnis der zweiten Fachklasse vom 17.04.2015
- Reisepass
Die während der Einvernahme geforderten Beweismittel, nämlich Geburtsurkunde der Tochter und Bestätigung des Fußballvereins legte die bP in Folge nicht vor. Es langte eine Bestätigung des Arbeitgebers über die Tätigkeit der bP ein.
I.4. Mit Schreiben der BH XXXX vom 23.07.2019 wurden die Verwaltungsvormerkungen der bP bekannt gegeben.
I.5. Mit Schreiben vom 08.10.2019 wurde die bP davon in Kenntnis gesetzt, dass das Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme trotz Verurteilungen unter Einbeziehung von § 9 BFA-VG eingestellt wurde.
I.6. Mit Schreiben vom 10.11.2020 wurde der bP nach weiterer Anzeige gegen sie mitgeteilt, dass beabsichtigt ist, gegen sie eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen. Es wurde eine Stellungnahefrist eingeräumt und wurden ein Fragenkatalog sowie aktuelle Länderinformationen übermittelt.
In der Stellungnahme gab die bP insbesondere an, dass sie gesund sei. Sie traf Ausführungen zur Schul- Berufsausbildung und führte Familienangehörige an. Sie habe kein Barvermögen, zahle aber Alimente für die Tochter. Sie wolle hier bleiben und weiter an der Karriere bzw. für die Tochter arbeiten. Sie wolle seriös leben.
Vorgelegt wurde ein Schreiben der Mutter, dass die bP wieder bei ihr Leben kann sowie eine Einstellungszusage für eine Pizzeria.
I.7. Zuletzt wurde über die bP mit Urteil im Dezember 2020 eine teilbedingte Freiheitsstrafe verhängt und finden sich sowohl dieses Urteil als auch die vorangegangenen 3 Urteile im Akt der bB.
I.8. Mit dem im Spruch genannten Bescheid wurde gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde in Bezug auf die bP ein Einreiseverbot für die Dauer von 4 Jahren erlassen. Gem. § 55 FPG wurde eine 14 tägige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt.
Von der belangten Behörde (bB) wurden die Verurteilungen der verschiedenen Gerichte, Auszüge aus der BM.I Anfrage-Plattform (KPA, IZR, SA, ZMR, AJ-WEB), die Anfragebeantwortungen hinsichtlich der Verwaltungsstrafen bzw. dem Waffenverbot und die von der bP vorgelegten Unterlagen bzw. Stellungnahme und Einvernahme zugrunde gelegt.
Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die belangte Behörde das Verhalten der bP als schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und sei aus diesem Grund die Erlassung von Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbotes geboten. Die bP würde zwar familiäre und sonstige Bindungen zu Österreich aufweisen, die schwere Straffälligkeit würde im Rahmen der Interessensabwägung jedoch eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen.
Zur abschieberelevanten Lage in der Republik Türkei traf die belangte Behörde Feststellungen und ging die Behörde davon aus, dass nichts gegen eine Rückkehr in die Heimat spricht.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass die Rückkehrentscheidung keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle und aufgrund der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein Einreiseverbot zu erlassen sei.
I.9. Gegen den Bescheid der bB wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
Ergänzend zum bisherigen Vorbringen führte die bP aus, dass ihre Familie zu Zeiten des Urgroßvaters in die Türkei übersiedelt worden sei. Die Eltern der bP hätten sich früh scheiden lassen, weshalb die bP kaum Kontakt zum Vater in XXXX habe. Nach der Trennung sei die bP mit Mutter und Schwester nach Österreich gegangen, wo sie 2011 einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger erhalten habe.
Zur in Österreich lebenden Tochter bestünde regelmäßiger, herzlicher Kontakt. Die bP sei 2020 überfallsartig festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden. Am Tag der Hauptverhandlung sei sie aus der U-Haft entlassen worden und sei diese als unbedingte Freiheitsstrafe bestimmt worden. Da sie sofort entlassen worden sei, habe sie das Urteil angenommen. Hierzu wurde ein Mail des damaligen Verteidigers vorgelegt, in welcher bestätigt wurde, dass entscheidend für die Annahme des Urteils gewesen sei, dass die bP am selben Tag aus der U Haft entlassen wurde, welche der Anwalt für unverhältnismäßig erachtete. Eine Haftprüfung sei nicht erfolgt, da vor Fristablauf die Hauptverhandlung ausgeschrieben wurde. Eifersucht sei gemäß der bP das Motiv für die Anzeige gewesen.
Es sei ohne Durchführung einer weiteren Einvernahme zu gegenständlich bekämpfter Entscheidung gekommen. Bei der ersten Einvernahme sie die Mutter seiner Tochter anwesend gewesen. Es scheine Verwaltungspraxis zu sein, im Fall von häuslicher Gewalt des Mannes gegenüber der Frau oder Partnerin kurzen Prozess zu machen. Es wurde auf einen ähnlichen Fall verwiesen. Das Urteil gegen die bP spreche von etwa 100 Angriffen, ob die Mutter des Kindes der bP dabei verletzt wurde, ergäbe sich aus dem Urteil nicht. Klar sei, dass auch Misshandlungen in geringer Zahl verwerflich sind. In einer anderen Beziehung würde die bP Differenzen ausreden und sich nicht zu Handgreiflichkeiten hinreißen lassen. Bei einer persönlichen Befragung der Mutter der Tochter hätte sich herausgestellt, dass auch diese ihren Anteil an Konflikteskalationen trägt. Dies würde zwar weder Gewalt noch Misshandlungen rechtfertigen, zeige jedoch, dass ein sonst rechtstreuer Bürger falsch reagieren kann.
Die Tochter würde alle 14 Tage das gesamte Wochenende bei der bP verbringen. Die bP lebe mit Mutter und Schwester in einem Haushalt und würde die Tochter auch unter der Woche abholen, wenn sie Zeit hat. Die räumliche Trennung unter der Woche würde nichts am Familienleben ändern. Die Tochter habe die bP nicht misshandelt oder gefährdet.
Die Mutter der Tochter sei krankhaft eifersüchtig. Die bP sei kein gewalttätiger Mensch. Neben Fußball pflege sie den Boxsport und werde sogar privat für spätere Wettkämpfe trainiert. Von der Einholung eines psychologischen Gutachtens zur Beurteilung der Auswirkungen auf das Wohl der Tochter sei abgesehen worden. Ein Verweis auf Kontakte über Telefon sei betreffend der Tochter, die körperliche Nähe benötige, nicht zulässig.
I.10. Die vom BVwG angeforderten Auskünfte aus der verwaltungsstrafrechtlichen Evidenz bzw. die angeforderten Bescheide und die Fremdenrechtliche Statusabfrage langten in der Folge ein.
I.11. Am 30.03.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der bP sowie im Beisein ihres bevollmächtigten Vertreters eine Verhandlung durch. Das Bundesamt blieb entschuldigt fern. Die Mutter der bP und die Mutter der Tochter der bP wurden als Zeuginnen einvernommen.
Auszug aus der Verhandlungsschrift:
„Haben Sie in Österreich die Lehrabschlussprüfung positiv absolviert?
Ich habe es versucht. Beim ersten Mal habe ich es nicht geschafft.
Die BF legt: Bestätigung der WKO vor
Sind Sie derzeit berufstätig?
Ja, ich habe gestern meinen ersten Arbeitstag gehabt. Jetzt habe ich eine neue Arbeit. Ich arbeite bei System7. Bestätigungen lege ich vor. Nachgefragt: Ich verdiene ca. 2100 Euro brutto, 1600 netto.
Leben Sie derzeit noch mit Ihrer Mutter und der Schwester im gemeinsamen Haushalt?
Ja. Meine Mutter hat mich alleine erzogen. Ich habe zuvor mit meiner ehemaligen Freundin und unserem gemeinsamen Kind in einer Wohnung gelebt.
Wann waren Sie zuletzt in der Türkei?
Zuletzt mit meiner Ex-Freundin und Tochter, im Jahr 2018 auf 2019 zu Silvester. Nachgefragt: Ich habe in der Türkei gewohnt bei Tanten, es war ein Familienbesuch.
Sie gaben beim Bundesamt an, dass Sie 2018 2 Mal, und auch Anfang 2019 mit Ihrer Mutter in der Türkei waren (AS 63). Was war der jeweilige Zweck der Reise? Wohin reisten Sie und wo wohnten Sie?
Nein, das war mit XXXX .
Verfügt Ihre Mutter in der Türkei noch über Eigentum, zB Wohnung, Haus, Grundstück?
Nein, was ich weiß nicht.
Wo haben Sie von 1998 bis 2009 in der Türkei gelebt?
Zuerst bei meinem Vater in XXXX (phonetisch), ca. 75 Minuten von Istanbul entfernt.
Im österr. Fremdenregister scheint sowohl Ihre Mutter als auch Sie erst ab 2011 mit einem Aufenthaltstitel gem. NAG auf. Gemeldet waren Sie beide jedoch schon ab 2009 in Österreich. Über welches Aufenthaltsrecht verfügten Sie zw. 2009 und 2011?
Das weiß ich nicht.
Warum ist Ihre Mutter mit Ihnen 2009 nach Österreich gezogen?
Meine Mutter hat geheiratet in der Türkei, mit ihrem ehemaligen Mann der hier lebt. Er ist österreichischer Staatsbürger.
Verhältnis zur Ex-Lgf. u. Tochter:
Wie ist Ihr aktuelles persönliches Verhältnis zur Fr. XXXX .1996 geb., StA Serbien?
Ich habe momentan gar keinen Kontakt, außer sie fragt mich wegen Alimente. Zuletzt gab es eine Korrespondenz, weil wegen eines Bankwechsels von mir die Alimente nicht ankamen. Meine Tochter holen entweder meine Schwester oder meine Mutter von ihr ab. Ich möchte nämlich nicht, dass wieder etwas bei einem persönlichen Kontakt herauskommt, dass sie mich anzeigt oder sowas.
Wer hat aktuell die Obsorge für die gemeinsame Tochter XXXX geb., StA Türkei? Gibt es eine gerichtliche Regelung dafür?
Eigentlich haben wir beide die Obsorge. Gerichtliche Regelung haben wir keine. Einmal war ich beim Jugendamt. Aktuell habe ich mit der Mutter ausgemacht, dass ich jede Woche meine Tochter sehe. Von Freitag 18:00 Uhr bis Sonntag bis 18: 00 Uhr.
Geht die Tochter in den Kindergarten?
Nein, aber ich habe etwas unterschrieben bei ihrer Mutter, dass sie im September gehen kann.
Zahlen Sie Unterhalt für die Tochter? Wenn ja, wie viel? Sind Sie mit Zahlungen im Rückstand?
Ich zahle regelmäßig Unterhalt 300 Euro, aber jetzt wird es gerichtlich geregelt, weil ich arbeiten gehe.
Vorstrafen
Gerichtliche Strafen:
Sie wurden in Österreich mehrmals von Gerichten bestraft. Wollen Sie dazu, insbesondere zu Ihrer letzten Verurteilung etwas sagen?
Zur letzten Verurteilung ich habe es genommen, weil ich dachte ich werde freigelassen. Ich habe es akzeptiert und habe gedacht ich bekomme Freispruch.
Verwaltungsstrafen:
Nach Auskunft der BH XXXX wurden Sie neben anderen Verkehrsdelikten seit 2017 auch wegen Lenken eines KFZ in einem beeinträchtigten Zustand bestraft. Weiters wurde Ihnen die Lenkberechtigung entzogen. Wollen Sie dazu etwas sagen?
Das war alles bevor ich Vater geworden bin. Ich weiß, dass es ein Fehler war. Ich habe derzeit keinen Führerschein. Ich will arbeiten gehen und ich erreiche mein Arbeitsplatz zu Fuß.
Aktueller Gesundheitsstatus.:
Sind Sie derzeit wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Österreich in medizinischer Behandlung?
Nein.
Rückkehrsituation
Angenommen Sie müssten, so wie das Bundesamt entschieden hat, zumindest für einige Jahre in die Türkei zurückkehren. Erwarten Sie irgendwelche Probleme in der Türkei. Wenn ja, geben Sie bitte alle an die Sie erwarten würden.
Das einzige ist, ich werde sehr viele Probleme bekommen, weil ich mit meinem Vater nicht in Kontakt bin. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte. Ich habe hier eine Schule gemacht und möchte das fertig machen.
Was meinen Sie damit, dass Sie nicht wüssten was Sie tun sollten?
Erstens wegen dem Arbeiten und wegen der Tochter. Das ist mein größtes Problem. Ich möchte meine Tochter beim Aufwachsen zusehen. Ich möchte hier eine gemeinsame Zukunft mit meiner Tochter. Ich weiß auch, dass es für die Mutter schwer ist, allein zu erziehen. Ich habe es bei meiner eigenen Mutter gesehen.
Äußerungsmöglichkeit d. Vertreter:
RV: Wer lebt von Ihrer Familie in Österreich?
Mein Opa, meine Verwandten, meine Tante, der Großvater lebt in XXXX .
RV: Wie oft sehen Sie den Großvater?
Sehr oft. Ich sehe ihn unter der Woche, nach der Arbeit, wann ich Zeit finde. Er war für mich wie ein Vater.
RV: Sind Sie in Vereinen aktiv?
Fußballverein, da möchte ich mich weiterentwickeln als Trainer. Ich spiele Bezirksliga, in der U16 hatte ich auch Einsätze.
RV: Haben Sie eine neue Beziehung?
Ich hatte ein Date mit einer Frau. Sie hat auch eine Tochter und ich möchte schauen, dass ich mit ihr eine Zukunft habe.
RV: Warum ist die Beziehung mit XXXX gescheitert?
Eifersucht war das Problem in der Beziehung. Sie war sehr eifersüchtig. Mit der jetzigen Frau die ich heute habe, die XXXX hat ihr eine Facebookanfrage geschickt. Ich weiß nicht warum sie das macht.
RV: Im Bescheid ist von einer langjährigen gewalttätigen Beziehung die Rede?
Sie hat gesagt, dass ich sie über 100 Mal geschlagen habe. Ich verstehe nicht warum sie das sagt, das war erfunden.
RV: Waren Sie bei der Geburt dabei?
XXXX hat sich sehr bedankt bei mir. Die ganzen 12 Stunden waren wir gemeinsam. Sie hat gesagt, ohne dich hätte ich es nicht geschafft.
RV: Trägt Ihre Tochter ihren Familiennamen oder heißt Sie XXXX ?
Wir haben uns damals ausgemacht, dass wir heiraten und dass sie meinen Namen annimmt.
RV: Aus dem Bescheid geht hervor, dass Sie zwischen 17 Oktober und 27 April 2020 nicht mit XXXX zusammengelebt haben.
Das kann nicht sein, es war eine On Off Beziehung, aber der Zeitraum ist zu lange. Ich habe mich für sieben Monate nach der Geburt meiner Tochter getrennt. Nachgefragt: Es gab immer ein Konflikt zwischen uns, es war immer dasselbe. Ich möchte nicht sagen, dass ich nicht auch eifersüchtig war.
RV: Wie war das Zusammenleben?
Es war eine On Off Beziehung. Ich kann nicht genau sagen, wann wir exakt zusammengewohnt haben.
RV: Keine Fragen.
…
Fragen an XXXX (Zeugin „Z2“)
Persönliche Verhältnisse: Ich bin türkische Staatsangehörige. Ich bin geschieden. Ich lebe mit meinem Sohn und meiner Tochter in einer gemeinsamen Wohnung. Am Wochenende kommt den Enkelin zu Besuch. Ich arbeite in einer Papierfabrik. Ich lebe in einer gemieteten Wohnung.
Warum haben Sie den Familiennamen XXXX ?
Das ist der Familienname, meines Ex-Mannes. Er war österreichischer Staatsbürger.
Warum kamen Sie 2009 mit Ihrem Sohn von der Türkei nach Österreich?
Da ich geheiratet habe und ein besseres Leben in Österreich habe.
Kamen Sie 2009 mit Ihrem Sohn legal nach Österreich?
Ja, ich hatte einen Aufenthaltstitel.
Reisen Sie ab und zu in die Türkei? Wann zum letzten Mal?
Ja, einmal im Jahr. Ich habe dort Geschwister, ich besuche sie. Nachgefragt: Ich wohne auch bei meinen Geschwistern. Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Geschwistern. Mein Sohn hat auch bei meinen Geschwistern gewohnt. Die Geschwister haben eine Eigentumswohnung.
Leben Ihre Eltern in der Türkei?
Nein.
Verfügen Sie in der Türkei über Eigentum, zB Wohnung, Haus, Grundstück?
Nein.
Wo haben Sie vor der Übersiedlung nach Österreich in der Türkei gewohnt?
Bei meiner Schwester und bei meinem Cousin, in XXXX .
RI merkt an, dass BF mit der Mutter kurz auf Türkisch spricht.
Würden Sie Ihren Sohn auch finanziell unterstützen wenn er in einer Notlage wäre?
Ja, ich würde ihn unterstützen, er ist mein Sohn.
Was sagen Sie zu den Straftaten Ihres Sohnes in Österreich?
Was soll ich sagen? Hoffentlich macht er es nicht erneut.
Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zum Sohn?
Wir verstehen uns gut, als Mutter und Sohn, aber ich weiß nicht wie er sich in der Öffentlichkeit benimmt. Ich kann ihm nicht nachgehen, wenn er unter Freunden ist.
Würden Sie Ihren Sohn in der Türkei besuchen, wenn er Österreich verlassen müsste?
Wenn ich finanziell in der Lage bin, würde ich ihn besuchen.
Verständigung mit Dolmetscher:
Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Ja.
Fragemöglichkeit des BF bzw. d. Vertreter an die Zeugin:
RV: In Bescheid ist auf Seite 3 oben von Arian P, und oben Albert P. P steht für XXXX . Können Sie was zur Familie XXXX sagen?
Nein, ich kann nichts dazu sagen, was die Jugend gemacht hat.
RV: Sind Sie nicht mit der Mutter befreundet?
Ja, ich bin mit der Mutter befreundet.
RV: Reden Sie nicht von Frau zu Frau über die Söhne?
Wir reden untereinander schon, aber wir wissen nicht was die Söhne machen.
RV: Sind Sie nicht beide Sie und Frau XXXX Alleinerzieherin?
Ja, wir sind beide Alleinerzieherinnen.
RV: Sind Ihre Söhne noch immer befreundet?
Ich weiß nicht, ob sie noch immer befreundet sind.
RV: Beschäftigen Sie sich mehr mit der Enkeltochter oder mehr der Sohn?
Der Vater kümmert sich mehr um sie. Sie mag meinen Sohn mehr als mich. Sie mag ihren Vater mehr, dass er ihr was zu essen gibt.
RV: Ihr Sohn hat offenbar 2017, 2018 einen Führerscheinentzug, weil er offenbar alkoholisiert gefahren ist.
Ich habe ihm nicht alkoholisiert gesehen. Ich wusste nicht, dass es wegen dem Alkohol war ich dachte es war eine Geschwindigkeitsübergrenzung.
RV: Zahlt der Sohn für den Haushalt mit?
Ja, er geht einkaufen, er zahlt. Er gibt mir das Geld in die Hand, aber das Geld wird von meinem Konto abgebucht.
RV: Welche Hausarbeiten erledigt er?
Er hängt die Wäsche auf, er räumt den Geschirrspüler leer. Er wäscht die Wäsche, und meine Tochter hängt sie auf. Er kocht sehr gut aber nicht oft, wenn dann für seine eigene Tochter.
RV: Macht der BF etwas für seinen Großvater?
Er geht mit seinem Opa spazieren. Manchmal macht er Hausarztbesuche mit ihm. Wir wollen ihn nicht alleine lassen.
RV: Lebt Ihr Vater ganz alleine?
Nein, er lebt mit seinem Sohn, der auch berufstätig ist. Wer Zeit hat, verbringt Zeit mit ihm.
RV: Wie ist Ihr Verhältnis zu XXXX ?
Ich verstehe mich gut mit ihr, ich mache mir aus wann ich meine Enkelin abhole. Sie sagt mir wann sie zuhause ist, damit ich meine Enkelin abholen kann.
RV: Keine Fragen.
Zeugin wird um 15:15 Uhr entlassen.
15:16 Uhr: Aufruf Zeugin XXXX (Z1)
…
Persönliche Verhältnisse: Ich bin serbische Staatsangehörige. Ich verfüge über einen Aufenthaltstitel. Ich bin in Österreich geboren. Ich bin ledig. Ich habe eine Tochter. Der BF ist der leibliche Vater. Wir leben nicht zusammen. Ich bin nicht berufstätig. Meine Tochter geht noch nicht in den Kindergarten.
Warum heißt Ihre Tochter XXXX mit dem Familiennamen?
So haben wir das ausgemacht.
Wie ist aktuell Ihr persönliches Verhältnis zu XXXX ?
Wir haben gar kein Verhältnis zueinander.
Gibt es auf Grund der letzten Verurteilung von Hrn. XXXX wo Sie dem rk. Urteil nach Opfer von Gewalt waren zu Ihnen oder der Tochter ein polizeiliches oder gerichtliches Kontaktverbot?
Es gab ein Kontaktverbot, bis ca. Dezember 2020. Auslöser war die letzte Anzeige, die zur Verurteilung führte.
Gibt es einen Gerichtsbeschluss über das Sorgerecht für die Tochter XXXX ? Gibt es eine Anordnung seitens der Jugendwohlfahrtsbehörde betreffend der Tochter?
Nein. Seitens der Jugendwohlfahrtsbehörde gibt es auch keine Anordnung. Nachgefragt: Es ist ausgemacht, dass die Tochter von Freitag bis Sonntag bei dem Vater ist. Es ist auch der Wunsch der Tochter. Es besteht zwischen diesen ein sehr gutes Verhältnis.
Zahlt XXXX regelmäßig Unterhalt für die Tochter XXXX ?
Ja.
Waren Sie, als Sie noch mit dem BF zusammen waren, auch in der Türkei? Was war der Zweck dieser Reisen?
Ja. Der Zweck war Urlaub, Familienbesuch, das heißt sein Vater, Oma, Opa.
Für den Fall, dass Hr. XXXX für mehrere Jahre Österreich verlassen müsste, würden Sie Ihrer Tochter ermöglichen auch zeitweilig Ihren Vater in der Türkei zu besuchen?
Ja z.B. im Rahmen der Urlaubsaufenthalte in der Türkei. Ich würde auch meine Tochter ohne weiteres der Mutter der BF mitgeben. Ich habe zu seiner Mutter ein normales Verhältnis.
Fragemöglichkeit des BF bzw. d. Vertreter an die Zeugin:
RV: Ist es richtig, dass Sie bei einer Einvernahme beim BFA gemeinsam mit XXXX dabei waren?
Ja, ich glaube schon.
RV: Sie waren einmal zusammen, dann getrennt, dann wieder zusammen, wieso sind Sie dann wieder zusammen gezogen?
Wir wollten es nochmal probieren.
RV: Woran ist das dann gescheitert?
Es scheitert schon lang, aber wir wollten es immer wieder probieren.
RV: Nach Bescheid waren Sie vom 27.April 2020 bis 14.07.2020 zusammen in einer Wohnung. War das nicht schon 2019?
Nein, das war 2020.
RV: Der BF sagt er zahlt mehr oder extra was?
Er zahlt weniger 200 Euro während der Zeit wo er arbeitslos war. Jetzt wird das dann gerichtlich geklärt.
RV: Hat Ihre Tochter irgendwelche Umstellungsschwierigkeiten, wenn Sie zu Ihnen am Sonntag zurückkommt?
Ja, sie hat Schwierigkeiten. Sie weint, wenn sie zurückkommt, das ist fast jedes Mal.
RV: Keine Fragen.
…
Abschließende Stellungnahme des RV:
Ich kenne einige alleinerziehende Mütter aus diesem Kulturkreis und habe die Erfahrung gemacht, dass deren Söhne im jugendlichen Alter häufig mit dem Strafrecht in Konflikt geraten, mit zunehmendem Alter und Eintritt ins Berufsleben beruhigen sich diese junge Männer allerdings wieder. Nachdem andere Mütter die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben konnten, stellt sich für deren Söhne mit Vorstrafen die Frage der Einreisesperre nicht. Offenbar fehlt solchen Söhnen die Grenzsetzung durch einen Vater. Der BF selbst trägt nun Verantwortung für eine fast dreijährige Tochter, er nimmt seine Rolle als Vater ernst, und wird demnächst die Lehrabschlussprüfung schaffen. Aus Sicht des Kindeswohles wäre eine längere Unterbrechung der Beziehung eher nachtteilig. Bei einer Abwägung der Interessen wiegen seine familiären und privaten Interessen schwerer als die öffentlichen.“
Am Ende der Verhandlung wurde das Ermittlungsverfahren durch Beschluss gem. § 39 Abs 3 AVG für geschlossen erklärt.
Seither erfolgte seitens der Verfahrensparteien zum Ermittlungsverfahren keine Äußerung mehr.
Vorgelegt wurde:
Bestätigung über die Beschäftigung der bP als Metallfachhelfer vom 24.03.2021 über die Beschäftigung ab 29.03.2021
Rechnung über die Prüfungstaxe für die Lehrabschlussprüfung vom 18.03.2021
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde sowie durch die Ergebnisse des ergänzenden Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben.
II.1. Feststellungen
II.1.1. Identität und Herkunftsstaat:
Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen (lt. Bundesamt) fest.
Bei der bP handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen.
Die bP verfügt über einen bis 2023 gültigen türkischen Reisepass, in welchem Einreisestempel aus der Türkei aufscheinen.
1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:
Die bP ist in der Türkei geboren und absolvierte dort die Volksschule. Sie ist im Alter von 11 Jahren nach Österreich gereist.
Sie wohnte vor ihrer Ausreise in XXXX .
1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:
Im Herkunftsstaat leben die Geschwister der Mutter der bP, bei welchen sie schon Urlaube verbrachte. Die Geschwister leben in einer Eigentumswohnung. Zudem leben der Vater und die Großeltern väterlicherseits sowie weitere Verwandte väterlicherseits in der Türkei. Die bP hat mit der Mutter ihrer Tochter den Vater und dessen Familie in der Türkei besucht. Sie verbrachte regelmäßig jährliche Urlaube in der Türkei, unter anderem auch bei den Verwandten der Mutter. Es besteht Kontakt der bP zu den Verwandten in der Türkei.
1.4. Ausreisemodalitäten:
Die bP reiste mit ihrer Mutter aus der Türkei aus und erhielt in weiterer Folge in Österreich einen Aufenthaltstitel.
1.5. Aktueller Gesundheitszustand:
Die bP hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt.
1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich oder in Schengen Staaten:
Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes
Die bP kam 2009 nach Österreich, dauerhaft hier gelebt hat sie seit September 2009.
Sie ist erstmals mit XXXX 2009 in Österreich polizeilich gemeldet. Am 17.10.2011 wurde ihr von der BH XXXX erstmals unter der Zahl XXXX der Aufenthaltstitel „FAMILIENANGEHÖRIGER“ ausgestellt.
Am 08.08.2012 erfolgte die Ausstellung des Aufenthaltstitel Rot-Weiß-Rot Karte plus, wobei diese zuletzt am 21.07.2019 bis zum 21.07.2022 verlängert wurde.
Sie hat in Österreich die Hauptschule besucht und eine Berufsschule für Metalltechniker absolviert. Sie hat keinen Lehrabschluss, da ihr der mündliche Teil der Prüfung fehlt.
Neben Deutsch spricht die bP Türkisch und Albanisch.
Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich und Schengen Staaten
Derzeit ist die bP seit 28.09.2020 in der Wohnung ihrer Mutter, Frau XXXX , (türkische Staatsangehörige mit gültiger Rot-Weiß-Rot Karte), mit Hauptwohnsitz gemeldet, wo auch die Schwester der bP, eine inzwischen österreichische Staatsangehörige lebt. Zudem leben weitere Verwandte der bP in Österreich (Onkel und Großvater). Über das normale Verhältnis zw. Erwachsenen hinausgehende Bindungen wurden diesbezüglich nicht vorgebracht.
Zudem lebt die Tochter XXXX , XXXX der bP in Österreich. Mit der Mutter der Tochter, Frau XXXX (serbische Staatsangehörige mit gültigem Daueraufenthalt EU Titel), geb. XXXX lebte die bP in den Zeiträumen von 15.05.2018 – 17.10.2018 und von 27.04.2020 bis 14.07.2020 in einem gemeinsamen Haushalt. Die in Österreich geborene Tochter, welche die türkische Staatsangehörigkeit innehat, lebte damit während dieser Zeit auch mit der bP in einem Haushalt. Aktuell lebt die Tochter mit der Mutter bei deren Eltern. Sie soll im Herbst mit dem Kindergarten beginnen.
Die Schwester oder Mutter der bP holen die Tochter der bP jedes Wochenende Fr. abends ab und bringen sie So. abends zu ihrer Mutter zurück. Die bP verbringt das Wochenende mit der Tochter. Sie kocht auch für die Tochter und beteiligt sich im Haushalt der Mutter, in welchem sie lebt. Die bP hat zu der Tochter ein gutes Verhältnis und finden gemeinsame Unternehmungen statt. Für den Fall, dass die bP Österreich verlassen muss, kann die Tochter den Vater ua. mit der Mutter der bP auch in der Türkei besuchen.
Von 01.11.2020 bis 02.12.2020 befand sich die bP in Haft. Die Untersuchungshaft wurde auf die Haftstrafe angerechnet und wurde die bP daher am Tag des Urteilsspruches freigelassen.
Soziale Integration
Die bP spielt in einem Verein Fußball.
Die bP beherrscht die deutsche Sprache. Sie lebt seit 12 Jahren in Österreich und nimmt am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teil.
Berufliche Integration
Im Zeitraum von 22.06.2015 bis 28.03.2017 stand die bP in einer Lehrausbildung. Neben dieser Lehrzeit in der Dauer von nicht ganz zwei Jahren dauerten die beiden längsten anderweitigen Beschäftigungsverhältnisse jeweils 1 ½ Jahre.
Zudem scheinen diverse Arbeitslosengeldbezugszeiten, Überbrückungshilfe und Notstandshilfe im AJ – Web der Sozialversicherung auf.
Im AJ-WEB (Datenbank der Sozialversicherung ) scheinen folgende Versicherungszeiten als Arbeiter verschiedener Arbeitgeber auf:
XXXX
29.03.2021 - laufend
Arbeiter
XXXX
17.02.2020 - 30.03.2020
Arbeiter
XXXX 21.09.2019 - 06.10.2019
Krankengeldbezug (DGKTONR-bezogen)
01.07.2019 - 17.09.2019
Arbeiter
XXXX
03.06.2019 - 16.06.2019
Krankengeldbezug (DGKTONR-bezogen)
31.05.2019 - 31.05.2019
Krankengeldbezug (DGKTONR-bezogen)
29.04.2019 - 29.05.2019
Arbeiter
XXXX
27.03.2019 - 05.04.2019
Arbeiter
Jobmeister
Personaldienstleistungen GmbH
Ringstraße 2 und 4
4600 Wels
HVB-Beitragskontonummer:
14/68016710
07.05.2018 - 09.11.2018
Arbeiter
XXXX
08.01.2018 - 09.02.2018
Arbeiter
XXXX
08.06.2020 - 13.11.2020
Arbeiter
19.06.2017 - 19.06.2017
Arbeiter
XXXX
02.05.2017 - 15.05.2017
Arbeiter
XXXX
22.06.2015 - 28.03.2017
Arbeiterlehrling
XXXX
13.04.2015 - 14.05.2015
geringfügig beschäftigter Arbeiter
Keine Beitragsgrundlagen vorhanden.
XXXX
02.09.2013 - 28.05.2015
Arbeiterlehrling
Aktuell steht die bP damit seit 29.03.2021 und damit einem Zeitpunkt unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung wieder in einem Beschäftigungsverhältnis.
Die bP besitzt kein Vermögen.
Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienleben; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren
Die bP hat diese Anknüpfungspunkte in Österreich während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets rechtmäßig war. Ihr musste als Fremder jedoch zumindest latent bewusst sein, dass bei Straffälligkeit aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet werden können. Sie verfügt aktuell über eine gültige Rot-Weiß-Rot Karte.
Bindungen zum Herkunftsstaat
Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort einen Teil ihrer Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat problemlos verständigen und hat in diesem Staat ihr Leben bis zum 11 Lebensjahr verbracht. Seit dem Verlassen der Türkei hat sich die bP regelmäßig zu Besuchszwecken in der Türkei aufgehalten, zuletzt 2019. Sie kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens.
Es leben dort auch noch die bereits aufgezählten Familienangehörige / Verwandte.
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.
Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen
Im Strafregister scheinen folgende Eintragungen auf (Ergänzungen aus den Inhalten der Urteile):
01) LG XXXX
Datum der (letzten) Tat 01.11.2017
Freiheitsstrafe 2 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Junge(r) Erwachsene(r)
zu LG XXXX
Probezeit verlängert bis 10.05.2022
LG XXXX
Dem Urteil liegt folgender Schuldspruch zu Grunde:
Die bP ist schuldig im Sinne des wider ihn erhobenen Strafantrages der Staatsanwaltschaft XXXX vom 2. Jänner 2018
sie hat am 1. November 2017 in XXXX dadurch, dass sie im Zuge einer Verfolgungsjagd und eines Überholmanövers nach links lenkte und es so zu einer Streifkollision mit dem von RI XXXX gelenkten, im Überholvorgang befindlichen Streifenfahrzeug kam, grob fahrlässig eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit eines anderen, nämlich der im Polizeifahrzeug „ XXXX “ befindlichen XXXX sowie der im PKW der bP mitfahrenden 3 Personen herbeigeführt.
Sie hat die Vergehen der Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 StGB begangen.
Es konnten weder Milderungs- noch Erschwernisgründe angeführt werden.
02) LG XXXX 2018
§ 288 (1) StGB
§ 297 (1) 2. Fall StGB
§ 15 StGB § 299 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 26.04.2018
Freiheitsstrafe 4 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Junge(r) Erwachsene(r)
Dem Urteil liegt folgender Schuldspruch zu Grunde:
Die bP hat am 26. April 2018 in XXXX
1.) vor dem Landesgericht XXXX in der Hauptverhandlung gegen Albert P. wegen § 28a Abs 1 SMG u.a. zu 12 Hv 28/ 18s als Zeuge bei der förmlichen Vernehmung zur Sache durch die Aussage:„... Ich gebe an, dass ich mit dem Angeklagten nichts zu tun gehabt habe... Über Vorhalt seiner Angaben (Vorhalt von „Zu den P. bis zu … im Bus Drogen kommen."):Das stimmt nicht. Ich weiß nicht, was die hineingeschrieben haben.
…
Auf Vorhalt, ob das dann die Polizei erfunden habe:
Nein, das will ich nicht sagen.
Auf Vorhalt, dass das aber nichts anderes heißen kann:
Es steht viel drinnen, was ich nicht gesagt habe.",
falsch ausgesagt;
2.) durch die unter Faktum 1. angeführte Äußerung Albert P., der einen Suchtgifthandel betrieben, mithin eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen habe, der Verfolgung absichtlich ganz oder zum Teil zu entziehen versucht;
3.) die Polizeibeamten RI R. und Kl P. durch die unter Faktum 1. angeführte Äußerung der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt und sie mithin einer von Amts wegen zu verfolgenden, mit ein Jahr übersteigender Freiheitsstrafe bedrohten Handlung, nämlich des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 StGB, falsch verdächtigt, wobei er gewusst hat (§ 5 Abs 3), dass die Verdächtigung falsch gewesen ist.
Die bP hat hierdurch
zu 1. das Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 StGB,
zu 2. das Vergehen der Begünstigung nach §§ 15 Abs 1, 299 Abs 1 StGB und
zu 3. die Verbrechen der Verleumdung nach § 297 Abs 1 2. Fall StGB
begangen.
Bei den Strafbemessungsgründen wurden das Alter unter 21 Jahren und der Umstand, dass die Taten teilweise beim Versuch blieben mildernd und erschwerend das Zusammentreffen von Vergehen und Verbrechen berücksichtigt.
Einer diversionellen Erledigung standen spezialpräventive Bedenken entgegen.
03) LG XXXX 2019
§ 12 3. Fall StGB § 288 (1,4) StGB
§ 15 StGB § 299 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 14.11.2017
Freiheitsstrafe 3 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX
Junge(r) Erwachsene(r)
Dem Urteil liegt folgender Schuldspruch zu Grunde:
Die bP hat am 13. und 14. November 2017 in XXXX
I.) zur Tathandlung des abgesondert verfolgten P., welcher den A. durch die Aufforderung, er solle seine Aussage, dass beim Vorfall am 9. November 2017 ein Messer im Spiel gewesen sei, zurückziehen bzw. widerrufen, dazu bestimmt, am 14. November 2017 bei dessen formlicher Vernehmung zur Sache als Zeuge in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung, nämlich jenem gegen K. und F. vor der Kriminalpolizei falsch auszusagen, beigetragen, indem sie Übersetzungsdienste für P. leistete und so dessen Tatausführung erst ermöglichte und
II.) durch die unter Punkt I.) beschriebene Tathandlung einen anderen, nämlich K., der eine mit Strafe bedrohte Handlung, nämlich das Verbrechen der absichtlich schweren Körperverletzung nach den §§ 15 Abs 1, 87 Abs 1 StGB begangen habe, der Verfolgung ganz oder zum Teil zu entziehen versucht.
Dadurch hat die bP
zu I.) das Vergehen der falschen Beweisaussage als Beitragstäter nach den §§ 12 3. Alternative, 288 Abs 1 und 4 StGB und
zu II.) das Vergehen der versuchten Begünstigung nach den §§ 15 Abs 1, 299 Abs 1 StGB
begangen.
Bei den Strafbemessungsgründen wurden das Alter unter 21 Jahren; der Umstand, dass die Taten teilweise beim Versuch blieben, der untergeordnete Tatbeitrag mildernd und hingegen erschwerend das Zusammentreffen von Vergehen berücksichtigt.
Die bP wurde vom Vorwurf, am 16.1.2018 die Geburtsurkunde der Mutter seiner Tochter zerrissen zu haben, mangels Schuldbeweis freigesprochen.
04) LG XXXX
§ 50 (1) Z 2 WaffG
§ 107b (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 01.11.2020
Freiheitsstrafe 10 Monate, davon Freiheitsstrafe 9 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
zu LG XXXX
Unbedingter Teil der Freiheitsstrafe vollzogen am 02.12.2020
LG XXXX
Dem Urteil liegt folgender Schuldspruch zu Grunde:
Die bP hat in XXXX und anderen Orten,
I.) im Zeitraum September 2017 bis 1.11.2020 gegen ihre Ex- Lebensgefährtin XXXX fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem sie
A) sie am 1.11.2020 am Hals packte und ihr gegenüber äußerte, sie werde sie vor den Augen der gemeinsamen Tochter umbringen und ihr die Zähne ausschlagen, gefährlich mit einer Verletzung am Körper und mit dem Tod bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen;
B) sie am 1.11.2020 vorsätzlich am Körper verletzte, indem er sie würgte, wodurch diese eine Rötung am Hals erlitt;
C) sie am 10.7.2020 zu Boden warf und an ihren Haaren riss;
D) sie in zahlreichen Angriffen (insgesamt etwa 100) an den Haaren zog, sie ins Gesicht schlug oder am Hals packte;
E) ihr gegenüber in zahlreichen Angriffen äußerte, dass sie sie umbringen werde, und dafür schon Mittel und Wege finden werde;
F) sie zu einem noch festzustellenden Zeitpunkt im Juli/August 2020 mit zumindest einer Verletzung am Körper gefährlich bedrohte, indem er ihr ins Ohr flüsterte, dass sie nie mit einem anderen glücklich werde, und er sie umbringen werde;
II.) seit einem noch festzustellenden Zeitpunkt im Jahr 2014 bis zum 1.11.2020 unbefugt eine verbotene Waffe, nämlich einen Schlagring, besessen.
Sie hat hierdurch
zu I.) das Vergehen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB und
zu II.) das Vergehen nach § 50 Abs 1 Z 2 WaffG
begangen.
Bei den Strafbemessungsgründen wurden das teilweise Alter unter 21 Jahren bei der Tatbegehung, der sichergestellte Schlagring und die teilweise geständige Verantwortung mildernd und hingegen erschwerend das Zusammentreffen von Vergehen, eine einschlägige Vorverurteilung und der lange Tatzeitraum berücksichtigt.
Die bP erklärte in der Verhandlung Rechtsmittelverzicht.
Im kriminalpolizeilichen Aktenindex scheinen zwischen 2017 und 2020 sechs Eintragungen auf. Zwei Eintragungen stehen in Zusammenhang mit dem Suchtmittelgesetz (SMG). Die bP zeigte sich geständig, zwischen Juni 2017 und Dezember 2017 30 g Cannabiskraut verkauft und ca. 50 g konsumiert zu haben, war jedoch wie sich aus dem Abschlussbericht der StA XXXX vom 12.02.2018 ergibt mit Personen in Kontakt, welche mit Suchtgiften handelten und deshalb bereits überwacht wurden. Auch die bP hat spezifische Angaben zu Drogen getätigt, was im Rahmen der Überwachung festgestellt wurde und war letztlich beim Vorfall, welcher zur Verwaltungsstrafe vom 05.01.2018 führte von Drogen beeinträchtigt. Das Verfahren gegen die bP wegen § 27 Abs. 1 Z 1 SMG wurde gemäß § 192 Abs. 1 Z 1 StPO eingestellt, weil dem Beschuldigten mehrere Straftaten zur Last lagen und die Einstellung voraussichtlich weder auf die Strafen oder vorbeugenden Maßnahmen, auf die mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen noch auf diversionelle Maßnahmen wesentlichen Einfluss hatte.
In der Verwaltungsstrafevidenz der Bezirkshauptmannschaft XXXX scheinen folgende rechtskräftige Vormerkungen bzw. Bestrafungen (Stand 11.03.2021) auf:
Übertretung nach § 20 Abs. 2 StVO (Geschwindigkeitsüberschreitung) / Datum 6.9.2017 / Betrag 50 Euro
Übertretung nach § 5 Abs. 1 StVO (Fahrzeuglenkung im durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand) / Datum 14.08.2017 / Betrag € 800
Übertretung nach § 5 Abs. 1 (Fahrzeuglenkung im durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand) iVm § 99 Abs. 1b StVO (Verweigerung Alkoholmessung) / Datum 05.01.2018 / Betrag € 1000
Übertretung nach § 28 Abs. 2 FSG (Lenken eines Fahrzeuges vor der Widerausfolgung des Führerscheins) / Datum 5.1.2018 / Betrag € 363
Übertretung § 4 Abs. 1 lit. a StVO (Anhalten nach Verkehrsunfall) / Datum 5.1.2018 / Betrag € 100
Übertretung § 4 Abs. 5 StVO (Verständigung über Verkehrsunfall) / Datum 5.1.2018 / Betrag € 100
Übertretung § 52 a Z 10a StVO / Datum 5.1 2018 / Betrag € 30
Übertretung § 97 Abs. 5 StVO (Anhaltung durch Organe der Straßenaufsicht) / Datum 5.1.2018 / Betrag € 100
(bP widersetzte sich im suchtmittelbeeinträchtigen und alkoholisiertem Zustand einer Anhaltung, indem sie mit dem Auto einem ihr nachfahrenden Polizeiauto trotz Blaulicht, Folgetonhorn, Lichthupe und Megafon davonfuhr. Als der Streifenwagen den PKW der bP überholen konnte und sich querstellte, um die bP anzuhalten, fuhr die bP absichtlich in die linke Seite des mit Beamten besetzen Streifenwagens. Nach der Kollision flüchtete die bP, verlor jedoch die Stoßstange samt Kennzeichen. Ein Alkohol sowie Drogentest auf THC sowie Kokain verliefen positiv. Die bP war damals nicht im Besitz einer gültigen Lenkerberechtigung. Im Auto der bP befanden sich Personen aus dem Suchtmittelmilieu, welche zu dem Zeitpunkt bereits überwacht wurden)
Übertretung § 1 Abs. 3 iVm. § 37 Abs. 1 und 4 FSG (Fahren ohne Lenkerberechtigung) / Datum 30.7.2019 / Betrag € 726
Übertretung § 3 Abs. 1 Oö. PolStG (Lärmbelästigung) / Datum 11.11.2020 / € 50
Entziehung der Lenkerberechtigung § 26 Abs. 1 FSG / Datum 5.7.2017 bis 5.8.2017
Entziehung der Lenkerberechtigung § 24 Abs. 1 Z. 1 FSG / Datum 22.11.2017 bis 22.5.2018
Waffenverbot § 12 Abs. 1 WaffG / Datum 19.12.2017 bis laufend
Entziehung der Lenkerberechtigung § 24 Abs. 1 Z. 1 FSG / Datum 23.5.2018 bis laufend
Im Bescheid der BH vom 17.11.2017 ist insbesondere zum Führerscheinentzug der bP festgehalten, dass die bP bereits zum zweiten Mal ein KFZ in einem durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand lenkte und einen Verkehrsunfall mit Sachschaden und anschließender Fahrerflucht beging. Neben einer Nachschulung wurde die Vorlage einer verkehrspsychologischen Stellungnahme, einer fachärztlichen psychiatrischen Stellungnahme und eines vom Amtsarzt erstellten Gutachten für die Wiedererteilung der Lenkerberechtigung verlangt.
Seit 19.12.2017 besteht für die bP ein noch immer aufrechtes Waffenverbot gem. Waffengesetz. Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörde gilt die bP somit als Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die bP durch missbräuchliches Verwenden von Waffen Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder fremdes Eigentum gefährden könnte und ihr daher der Besitz von Waffen und Munition zu verbieten ist.
Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts
Abgesehen von den oa. Straftaten ergeben sich aus dem Akteninhalt und dem ergänzenden Ermittlungsergebnis keine weiteren Verstöße, abgesehen vom Verstoß gegen das Meldegesetz. Von 14.07.2020 bis zum 28.09.2020 war die bP im Bundesgebiet polizeilich nicht gemeldet.
Verfahrensdauer
Gegenständlicher Bescheid wurde am 18.12.2020 erlassen. Mit heutigem Tag wurde nach Durchführung der Verhandlung das Erkenntnis erlassen.
1.7. Rückkehrsituation
a) Betreffend ihrer aktuellen persönlichen Sicherheit im Herkunftsstaat:
Die bP gab weder im behördlichen Verfahren noch in der Verhandlung an, dass sie im Falle der Rückkehr in die Türkei dort konkrete sicherheitsrelevante Probleme erwarten würde.
Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht.
b) Betreffend der aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft, med. Versorgung) im Herkunftsstaat:
Die bP hat hinsichtlich ihrer persönlichen Versorgungssituation im Falle der Rückkehr zuletzt in der Verhandlung persönlich keine konkrete Problemlage vorgebracht.
Die bP hat diesbezüglich weder im behördlichen Verfahren noch in der Beschwerdeverhandlung Probleme im Falle der Rückkehr geäußert. Die bP ist im Wesentlichen gesund und erwerbsfähig. Sie verfügt in der Türkei auch noch über Familienangehörige, zu denen sie ein gutes Verhältnis bzw. Kontakt hat.
1.8. Zur abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat
Aus nachfolgend genannten Quellen ergeben sich folgende Feststellungen bzw. Einschätzungen/Schlussfolgerungen über die relevante Lage, wobei zur Beurteilung der aktuellen und entscheidungsrelevanten Situation jeweils den jüngsten Erkenntnisquellen besondere Bedeutung zugemessen werden und ältere im Wesentlichen der Übersicht über die Lageentwicklung dienen.
Aus den von der bB herangezogenen Länderfeststellungen ergibt sich zusammengefasst, dass die Sicherheit und Versorgung der Bevölkerung mit Unterkunft, Lebensmittel und medizinischen Leistungen grds. gewährleistet ist. Aus der derzeitigen Covid-19 Pandemie ergibt sich auch keine derart exzeptionelle Lage für die Bevölkerung und konkret für die bP, die eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende, reale Gefahr im Hinblick auf Art 3 EMRK bilden würde.
Aus der derzeitigen Berichtslage ergibt sich im Herkunftsstaat, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestünde.
Die Verfahrensparteien haben im Rahmen des Parteiengehörs zur Lage in der Türkei keine Stellungnahme abgegeben und auch nicht dargelegt, dass sie im Falle der Rückkehr dort durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure Verfolgung oder sonstige Repressalien gegen Leib und/oder Leben erwarten würde.
1. Politische Lage
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).
Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). İmamoğlu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).
Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).
[siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 4.10.2019
Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613 , Zugriff 4.10.2019
AM – Al Monitor (4.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowded-prisons-face-serious-problems.html , Zugriff 4.10.2019
bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (9.7.2018): Das "neue" politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/das-neue-politische-system-der-tuerkei , Zugriff 3.10.2019
CoE-VC – council of europe - european commission for democracy through law (venice commission) (13.7.2017): Turkey - Opinion - The Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a National Referendumon 16 April 2017 [Opinion No. 875/2017], S.29, Abs.130, https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=cdl-ad(2017)005-e , Zugriff 3.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 3.10.2019
FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html , Zugriff 4.10.2019
HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338 , Zugriff 4.10.2019
HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018 , Zugriff 4.10.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273 , Zugriff 4.10.2019
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981 , Zugriff 4.10.2019
OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true , Zugriff 4.10.2019
OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true , Zugriff 4.10.2019
OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/397046?download=true , 3.10.2019
Der Standard (1.4.2019): Erdoğans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte , Zugriff 4.10.2019
Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul , Zugriff 4.10.2019
ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 4.10.2019
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung am 29.11.2019
Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen Ağrı, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakır, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, Şanlıurfa, Siirt, Şırnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 8.10.2019
AA – Auswärtiges Amt (8.11.2019a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1 , Zugriff 8.10.2019
BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.11.2019): Türkei – Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/ , Zugriff 8.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 3.10.2019
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.10.2019): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html , Zugriff 4.10.2019ICG – Internal Crisis Group (4.10.2019): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 7.10.2019
IHD – Human Rights Association - İnsan Hakları Derneği (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/ , Zugriff 4.10.2019
IHD – Human Rights Association - İnsan Hakları Derneği (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf , Zugriff 4.10.2019
IHD – Human Rights Association - İnsan Hakları Derneği (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf , Zugriff 4.10.2019
2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Letzte Änderung am 8.4.2020
Fethullah Gülen, ist ein muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung bezeichnet (bpb 1.9.2014). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen von Anhängern geben, oft in einflussreichen Positionen. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Zahlreiche Gülen-Schulen wurden, teilweise auf Druck hin, auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern geschlossen, anderen Eigentümern oder der türkischen staatlichen Stiftung Maarif, die eigens hierfür gegründet wurde, übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Mit Februar 2019 waren laut Direktor von Maarif rund 70% aller Gülen-Schulen in 21 Ländern, ausgenommen in westlichen Staaten, der Kontrolle der Gülen-Bewegung entzogen. Hiervon wurden inzwischen 191 ehemalige Gülen-Schulen der türkischen Maarif-Stiftung übergeben (SCF 5.2.2019).
Erdoğan stand Gülen jahrzehntelang nahe. Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den sekulären, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die AKP bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 21.7.2016). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdoğan und Gülen begann sich aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdoğan für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren und zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 21.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Im Juni 2017 definierte das Oberste Appelationsgericht die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als „Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)“, „Fetullahistische Terror Organisation“, tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Parallel Devlet Yapılanması (PDY)", die „Parallele Staatsstruktur“ bedeutet (UK Home Office 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Laut Angaben des Vize-Vorsitzenden der Regierungspartei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) vom Dezember 2019 wurde seit dem Putschversuch vom Juli 2016 insgesamt gegen 562.581 Personen wegen tatsächlicher und angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung ermittelt. Von diesen wurden 263.553 festgenommen und 91.610 inhaftiert (TP 17.12.2019). Nach einer Mitteilung des Innenministeriums an den türkischsprachigen Dienst der BBC waren mit Stand Mitte Februar 2020 noch 26.862 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert, fast 5.000 von ihnen waren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, während sich die Übrigen in Untersuchungshaft befanden. Inzwischen führen die Staatsanwälte 69.701 Untersuchungen durch, bei denen 135.708 Verdächtige der Mitgliedschaft in der Bewegung beschuldigt werden. Darüber hinaus sind 42.717 Verfahren anhängig, in denen 60.167 Angeklagte, die der Verbindungen zu Gülen beschuldigt werden, angeklagt sind (TM 21.2.2020).
Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der „FETÖ“ befreit (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an (AA 14.6.2019). Mitte Jänner 2020 erließen die Behörden Haftbefehle gegen 237 Personen. Im Zuge von Polizeioperationen in 49 Provinzen wurden mindestens 203 Verdächtige festgenommen (DS 14.1.2020). Anfang März 2020 wurden Haftbefehle gegen 115 Verdächtige in mehreren Städten erlassen. Betroffen waren Lehrer, Geschäftsleute, Anwälte sowie ehemalige Polizisten (TM 4.3.2020).
Mit Stand 1.1.2020 waren insgesamt 3.879 Angeklagte wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Putschversuch verurteilt, darunter 2.335 zu lebenslanger Haft und 1.544 zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren. 18 von 289 Fällen im Zusammenhang mit einem Putschversuch im Jahr 2016 in der Türkei warten noch auf die Urteile der Gerichte (Ahval 2.1.2020). Anfang Jänner 2020 verurteilte ein Gericht in Istanbul 70 ehemalige Kadetten der Luftstreitkräfte zu lebenslanger Haft (Ahval 3.1.2020).
Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z. B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten: Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock; Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen; Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive abhängige Beschäftigung (AA 14.6.2019). Allerdings entschied der Oberste Berufungsgerichtshof im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch seine Einschreibung eines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).
ByLock
Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 urteilte dasselbe Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, unter dem Vorwurf, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018). Im September 2019 wurden bei Operationen in sechs Städten über 40 Verdächtige als ehemalige ByLock-Nutzer verhaftet (DS 11.9.2019). Anfang Oktober 2019 ordnete die Staatsanwaltschaft der Provinz Izmir die Festnahme von 51 Verdächtigen an, von denen 33 beschuldigt wurden, ByLock verwendet zu haben (Anadolu 8.10.2019). Laut Innenministerium wurden bislang mehr als 95.000 Nutzer identifiziert und zudem 4.676 neue ByLock Nutzer entdeckt (DS 11.9.2019).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).
Asya Bank
Das Oberste Berufungsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vgl. TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt werden, die Messenger-App Bylock verwendet und Geld in der Asya Katılım Bank deponiert zu haben. 14 Personen wurden in Ankara und sieben weiteren Städten festgenommen (DS 18.9.2019). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].
Entführungen aus dem Ausland
Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019).
Als Teil einer weltweiten Razzia gegen Gülen-Anhänger hat die Türkei die Auslieferung von 750 Personen aus 101 Ländern beantragt, allerdings lehnten einige Länder bereits die Auslieferung von 74 betroffenen Personen ab. Außerdem beantragte das türkische Innenministerium bei Interpol die Ausstellung eines sog. „Red Notice“ für 555 Verdächtige (TM 21.2.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 8.10.2019
Ahval (10.4.2019): Turkey’s state institutions not fully purged of Gülenists, says Erdoğan, https://ahvalnews.com/gulen-movement/turkeys-state-institutions-not-fully-purged-gulenists-says-erdogan , Zugriff 8.10.2019
Ahval (2.1.2020): Eighteen Turkish coup trials rumble on into 2020, https://ahvalnews.com/gulen-movement/eighteen-turkish-coup-trials-rumble-2020 , Zugriff 7.4.2020
Ahval (3.1.2020): Turkey hands life sentences to 70 former air force cadets, https://ahvalnews.com/coup-attempt/turkey-hands-life-sentences-70-former-air-force-cadets , 13.2.2020
Anadolu Agency (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-in-istanbul/126289 , Zugriff 8.10.2019
Anadolu Agency (8.10.2019): Turkey: Warrants out for 51 FETO suspects, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-warrants-out-for-51-feto-suspects/1605390 , Zugriff 9.10.2019
BBC News (21.7.2016): Turkey coup: What is Gulen movement and what does it want? http://www.bbc.com/news/world-europe-36855846 , Zugriff 8.10.2019
bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (1.9.2014): Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung , Zugriff 8.10.2019
DW – Deutsche Welle (13.7.2018): Die Gülen-Bewegung: Neues Zentrum "Almanya", https://www.dw.com/de/die-g%C3%Bclen-bewegung-neues-zentrum-almanya/a-44645120 , Zugriff 8.10.2019
DS – Daily Sabah (11.2.2018): Depositing money in Bank Asya on Gülen’s order proof of FETÖ membership, https://www.dailysabah.com/investigations/2018/02/12/depositing-money-in-bank-asya-on-gulens-order-proof-of-feto-membership-1518386092 , Zugriff 8.10.2019
DS – Daily Sabah (31.7.2018): Maarif Foundation President Birol Akgün: Turkey now controls 60 percent of non-Western FETÖ schools, https://www.dailysabah.com/politics/2018/07/30/maarif-foundation-president-birol-akgun-turkey-now-controls-60-percent-of-non-western-feto-schools , Zugriff 27.11.2019
DS – Daily Sabah (11.9.2019): Nationwide operations net suspects tied to FETÖ terror group, https://www.dailysabah.com/investigations/2019/09/11/nationwide-operations-net-suspects-tied-to-feto-terror-group , Zugriff 8.10.2019
DS – Daily Sabah (18.9.2019): 53 arrested in operations against FETÖ, https://www.dailysabah.com/investigations/2019/09/18/53-arrested-in-operations-against-feto , Zugriff 8.10.2019
Daily Sabah (14.1.2020): Turkey arrests 203 suspects in operations against FETÖ, https://www.dailysabah.com/investigations/2020/01/14/turkey-arrests-203-suspects-in-operations-against-feto , Zugriff 8.4.2020
EC – European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 8.10.2019
HDN – Hürriyet Daily News (27.5.2016): Turkey to add Gülen movement to list of terror groups: President, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-to-add-gulen-movement-to-list-of-terror-groups-president-.aspx?pageID=238&nID=99762&NewsCatID=338 , Zugriff 8.10.2019
MEE – Middle East Eye (21.7.2016): ANALYSIS: Dissecting Turkey's Gulen-Erdogan relationship, https://www.middleeasteye.net/news/analysis-dissecting-turkeys-gulen-erdogan-relationship , Zugriff 8.10.2019
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Die Presse (30.11.2017): EU sieht in türkischer Gülen-Bewegung keine Terrororganisation, https://www.diepresse.com/5330148/eu-sieht-in-turkischer-gulen-bewegung-keine-terrororganisation , Zugriff 8.10.2019
Der Standard (20.12.2014): Haftbefehl gegen Erdogan-Feind Gülen, https://derstandard.at/2000009628933/hTuerkischer-Zaman-Chefredakteur-unter-Auflagen-frei# , Zugriff 8.10.2019
Der Standard (30.11.2017): EU sieht in Gülen-Bewegung keine Terrororganisation, https://derstandard.at/2000068784722/EU-sieht-in-Guelen-Bewegung-keine-Terrororganisation , Zugriff 8.10.2019
SCF – Stockholm Center for Freedom (16.7.2018): Turkish FM says over 100 members of Gülen movement abducted abroad and brought to Turkey, https://stockholmcf.org/turkish-fm-says-over-100-members-of-gulen-movement-abducted-abroad-and-brought-to-turkey/ , Zugriff 9.10.2019
SCF – Stockholm Center for Freedom (6.8.2019): Newspaper subscription, school enrollment not terrorist activity, says Turkey’s top appeals court, https://stockholmcf.org/newspaper-subscription-school-enrollment-not-terrorist-activity-says-turkeys-top-appeals-court/ , Zugriff 8.10.2019
SCF – Stockholm Center for Freedom (5.2.2019): Erdoğan’s Maarif Foundation has taken over 191 Gülen-linked schools in 21 countries, says chair, https://stockholmcf.org/erdogans-maarif-foundation-has-taken-over-191-gulen-linked-schools-in-21-countries-says-chair/ , Zugriff 27.11.2019
TM - Turkish Minute (2.6.2016): United States: We do not consider Gülen movement “terrorist organization", https://www.turkishminute.com/2016/06/02/united-states-not-consider-gulen-movement-terrorist-organization/ , Zugriff 8.10.2019
TM – Turkish Minute (30.5.2018): Detention warrants issued for 59 Bank Asya customers over alleged Gülen links, https://www.turkishminute.com/2018/05/30/detention-warrants-issued-for-59-bank-asya-customers-over-alleged-gulen-links/ , Zugriff 8.10.2019
TM -Turkish Minute 15.10.2019): UN working group on arbitrary detention says use of ByLock is freedom of expression, https://www.turkishminute.com/2019/10/15/un-working-group-on-arbitrary-detention-says-use-of-bylock-is-freedom-of-expression/ , Zugriff 15.10.2019
Turkish Minute (21.2.2020): Latest figures show 26,862 people in jail over Gülen links: ministry, https://www.turkishminute.com/2020/02/21/latest-figures-show-26862-people-in-jail-over-gulen-links-ministry/ , Zugriff 8.4.2020
Turkish Minute (4.3.2020): Turkey orders detention of 115 suspects as part of post-coup Gülen crackdown, https://www.turkishminute.com/2020/03/04/turkey-orders-detention-of-115-suspects-as-part-of-post-coup-gulen-crackdown/ , Zugriff 8.4.2020
TP – Turkey Purge (16.2.2019): Turkey’s top appeal court says Bank Asya depositors ‘terrorist’, https://turkeypurge.com/turkeys-top-appeal-court-says-bank-asya-depositors-terrorist , Zugriff 27.11.2019
TP – Turkey Purge (17.12.2019): 562,581 people in Turkey investigated on coup, terror related charges to date, https://turkeypurge.com/562581-people-in-turkey-investigated-on-coup-terror-related-charges-to-date , Zugriff 13.2.2020
UK-Home Office (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist Movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf , Zugriff 8.10.2019
Welt (15.9.2019): Die Erdogan-Regierung soll im Ausland 31 Menschen entführt haben, https://www.welt.de/politik/ausland/article200235236/Erdogan-Regierung-soll-im-Ausland-31-Menschen-entfuehrt-haben.html , Zugriff 9.10.2019
2.2. Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung am 29.11.2019
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).
Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019)
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).
Quellen:
BMIBH-D - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (6.2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2018.pdf , Zugriff 9.10.2019
BMI-D - Bundesministerium des Innern [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2015.pdf , Zugriff 25.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 25.10.2019
3. Rechtsschutz/Justizwesen
Letzte Änderung am 6.4.2020
Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 29.5.2019, USDOS 11.3.2020). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme wie der Missbrauch der Untersuchungshaft verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Neben der Aushöhlung der verfassungsrechtlichen und strukturellen Garantien zur Wahrung der Unabhängigkeit der Richter und Maßnahmen, die sich direkt auf diese Unabhängigkeit ausgewirkt haben, wie z.B. fristlose Entlassungen und Einstellungen, gibt es Hinweise auf eine zunehmende Parteilichkeit der Justiz gegenüber politischen Interessen, was durch die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt wurde (CoE-CommDH 19.2.2020). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019). Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen im Jahr 2019 manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020).
Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimliği), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019).
Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen, betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).
Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).
Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.4.2020). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).
Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).
Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).
Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).
Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018; vgl. ÖB 10.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 4.11.2019
AI – Amnesty International (25.10.2018): Purged beyond return? No remedy for Turkey's dismissed public sector workers [EUR 44/9210/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1448005/1226_1540802893_eur4492102018english.PDF , Zugriff 4.11.2019
AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkish court defies higher ruling to uphold verdict in Cumhuriyet retrial, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-court-uphold-convictions-newspaper-cumhuriyet.html , Zugriff 22.11.2019
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ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 6.11.2019
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4. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 14.6.2019; vgl. USDOS 11.4.2020). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 14.6.2019; vgl. USDOS 11.4.2020, ÖB 10.2019), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 11.4.2020). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2019). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.4.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sog. "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die PKK (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Geheimdienst MİT haben unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (über 33.000 Bedienstete betroffen von massenhaften Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst, Entlassungen und Strafverfahren). Die Jandarma rekrutiert sich teils aus Wehrpflichtigen (AA 14.6.2019).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei („Emniyet Genel Müdürlüğü“ - TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı“ - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der nationale Nachrichtendienst („Millî İstihbarat Teşkilâtı“- MİT), der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Es existiert nach wie vor der militärische Nachrichtendienst, der dem Generalstabschef untersteht. Dieser musste nach dem Putsch einige Aufgaben an den MİT abgeben. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MİT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle aus 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten (ÖB 10.2019).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Den Militär-, Polizei- und Nachrichtendiensten fehlt es an ausreichender Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament. Das Sicherheitspersonal verfügt über einen umfassenden Rechtsschutz. Trotz glaubhafter Berichterstattung über schwerwiegende Anschuldigungen wegen Menschenrechtsverletzungen und den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte im Südosten ist die Erfolgsbilanz der gerichtlichen und administrativen Prüfung solcher Anschuldigungen nach wie vor schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung blieb wirkungslos (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 31.10.2019
Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package , Zugriff 31.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 31.10.2019
FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 31.10.2019
HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 31.10.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 , Zugriff 31.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 31.10.2019
USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 31.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
5. Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung am 13.2.2020
Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert (ÖB 10.2019).
Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten vier Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen. Zu den Zielpersonen gehören Kurden, Linke und angebliche Anhänger von Fethullah Gülen. Die Staatsanwaltschaft führt keine adäquaten Untersuchungen zu solchen Anschuldigungen durch. Zudem herrscht eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit für Mitglieder der Sicherheitskräfte und betroffene Beamte (HRW 14.1.2020). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UN-Sonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur PKK zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018; vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).
Laut Menschenrechtsinstitutionen seien Fälle von Folterungen und rechtswidrigen Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden. Zudem mehrten sich Berichte über Entführungen von Personen und die Existenz informeller Anhaltezentren, in denen es auch zu Fällen von Folter komme. Vertreter des Europarates in Ankara konnten die Existenz solcher Anhaltezentren jedoch nicht bestätigen. Folter bleibt, insbesondere wegen der Abschaffung von Garantien im Zuge des Ausnahmezustands sowie wegen der Nichtdurchführung von effektiven Untersuchungen, in vielen Fällen straflos, wenngleich es vereinzelt Anklagen und Verurteilungen gibt. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach Wissensstand der Österreichischen Botschaft Ankara dennoch nicht die Rede sein (ÖB 10.2019).
Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm, bei dem der Geheimdienst MİT nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha’aretz 11.12.2018). Laut einem Bericht der Tageszeitung Cumhuriyet soll eine Frau wegen Terrorismus inhaftiert worden sein. Die Frau behauptete bei einer Anhörung am 5.2.2019, dass sie sechs Monate lang in einem geheimen Zentrum in Ankara gefoltert wurde, welches vom türkischen Geheimdienst MİT betrieben wird (IPA 14.6.2019). Der Vorfall führte im März 2019 zu einer diesbezüglichen parlamentarischen Anfrage im Europaparlament an die Europäische Kommission (EP 11.3.2019).
Während nach Angaben des türkischen Menschenrechtsverbandes (İHD) 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlungen laut Meldungen ausgesetzt waren (İHD 6.4.2018), stieg diese Zahl 2018 auf insgesamt 2.719 Personen. Hiervon gaben 1.149 Personen an, dass sie in Gefängnissen gefoltert und misshandelt wurden (İHD 16.4.2019).
Berichte über Folter und Misshandlungen hielten auch 2019 an. So wurden infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa beispielsweise 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Rechtsbeistände und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der erwachsenen Inhaftierten in der Gendarmerie-Wache von Bozova Yaylak in der Provinz Urfa von Angehörigen der Polizei gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen im Zuge einer Razzia verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete auf der Basis von Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden. Statt auf Beschwerden gegen das Wachpersonal Untersuchungen vorzunehmen, wurden gegen 40 Häftlinge Untersuchungen wegen Disziplinarverstöße eingeleitet (SCF 19.8.2019).
Quellen:
ABA - Ankara Bar Association Center For Attorney Rights, Penal Institution Board And Center For Human Rights (26.5.2019): Report Regarding Claims Of Torture In Ankara Provincial Police Headquarters Investigation Department Of Financial Crimes, in: HRD – Human Rights Defenders (29.5.2019): Bar Association Report: Former diplomats sexually abused with batons and tortured, https://humanrights-ev.com/bar-association-report-former-diplomats-sexually-abused-with-batons-and-tortured/ , Zugriff 30.10.2019
AI – Amnesty International (13.6.2019): Nicht mehr in Foltergefahr; UA-Nr: UA-074/2019-1 [EUR 44/0525/2019], https://www.amnesty.de/sites/default/files/2019-06/074-1_2019_DE_T%C3%Bcrkei.pdf , Zugriff 30.10.2019
Corrective – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/ , Zugriff 31.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 30.10.2019
EP – European Parliament (11.3.2019): Parliamentary questions - Question for written answer E-001287-19 to the Commission Rule 130 Costas Mavrides (S&D), http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-8-2019-001287_EN.html , Zugriff 31.10.2019
Ha’aretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331 , Zugriff 31.10.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
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İHD - İnsan Hakları Derneği/ Human Rights Association (19.4.2019): 2018 REPORT ON HUMAN RIGHTS VIOLATIONS IN TURKEY, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-IHD-Violations-Report.pdf , Zugriff 30.10.2019
IPA News (14.6.2019): Detained Turkish woman alleges horrific torture by state agents, https://ipa.news/2019/06/14/detained-turkish-woman-alleges-horrific-torture-by-state-agents/ , Zugriff 31.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 30.10.2019
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SCF – Stockholm Center for Freedom (19.8.2019): Tortured inmates investigated instead of prison guards: bar association, https://stockholmcf.org/tortured-inmates-investigated-instead-of-officers-bar-association/ , Zugriff 30.10.2019
WE – Washington Examiner (3.6.2019): A new phase in Turkey's crackdown: Torturing diplomats, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/op-eds/a-new-phase-in-turkeys-crackdown-as-recep-tayyip-erdogan-tortures-diplomats , Zugriff 30.10.2019
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6. Korruption
Letzte Änderung am 6.4.2020
Korruption ist im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet. Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2018; vgl. DFAT 9.10.2018, FH 4.3.2020). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).
Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 4.3.2020; vgl. BACP 6.2018, USDOS 11.3.2020). Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 11.3.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfinden Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko. Unternehmen geben an, dass sie die Polizei als nicht ausreichend zuverlässig empfinden (BACP 6.2018).
Es kam zu einem Rückfall in der Korruptionsbekämpfung, da die aufgelösten Präventionseinrichtungen nicht durch ein unabhängiges Organ ersetzt wurden, wie es dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption entspricht, dem die Türkei beigetreten ist. Bei der Schließung einer Reihe von Gesetzeslücken wurden keine Fortschritte erzielt. Sowohl der Rechtsrahmen als auch das institutionelle Gefüge erlauben weiterhin einen unangemessenen Einfluss der Exekutive auf die Ermittlung und Verfolgung hochkarätiger Korruptionsfälle. Die eingeschränkte Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Einrichtungen geben nach wie vor Anlass zur Sorge. Das Fehlen einer soliden Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans ist ein Zeichen für den fehlenden politischen Willen, die Korruption entschlossen zu bekämpfen. Die Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt. Die Erfolgsbilanz der Türkei bei der Ermittlung, Verfolgung und Verurteilung von Korruptionsfällen ist nach wie vor schlecht, insbesondere in Bezug auf Korruptionsfälle auf hoher Ebene, an denen Politiker und Beamte beteiligt sind. Urteile haben keine abschreckende Wirkung. Die Erfolgsbilanz der Zusammenarbeit von Audit- und Inspektions-Organen bei der Strafverfolgung blieb weiterhin schlecht. Gemeindeverwaltungen, Raumplanung, öffentliche Beschaffungsprozesse sowie die Bau- und Verkehrsindustrie, auch wenn sie im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften umgesetzt werden, sind nach wie vor besonders anfällig für Korruption (EC 29.5.2019)
Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten für Korruption angesichts der massiven Enteignung von betroffenen Unternehmen und NGOs stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter stärkt (FH 4.3.2020).
Die Regierung sanktioniert Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass die Angeklagten dies auf Veranlassung von der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Im März 2019 verurteilte ein Gericht 15 Personen, die 2013 an einer Korruptionsuntersuchung gegen hochrangige Regierungsfunktionäre beteiligt waren, zu lebenslanger Haft. Es gab keine Berichte darüber, wonach hohe Regierungsbeamte mit offiziellen Untersuchungen wegen angeblicher Korruption konfrontiert waren (USDOS 11.3.2020).
Transparency International reiht die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 20198 mit einem Punktewert von 39 von 100 (bester Wert) auf Platz 91 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 23.1.2020). 2018 belegte die Türkei noch mit 41 von 100 Punkten Rang 78 von 180 untersuchten Ländern und Territorien (TI 29.1.2019).
Quellen:
BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2018): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/ , Zugriff 28.10.2019
DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (9.10.2018): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 6.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
TI – Transparency International (23.1.2020): Corruption Perceptions Index 2019, https://www.transparency.org/country/TUR , Zugriff 14.2.2020
USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 28.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
7. Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung am 6.4.2020
Zivil-gesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Juli 2019 gab es rund 117.290 Vereine und 4.915 neue Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen. Schon vor dem Putschversuch und den späteren Folgen des Ausnahmezustands im Jahr 2016 war der schrumpfende zivil-gesellschaftliche Raum ein Thema. Trotz verbesserter Rechtsvorschriften für Vereine und Stiftungen, die während des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union entstanden, bestehen weiterhin Herausforderungen, insbesondere hinsichtlich des Sekundärrechts und seiner Umsetzung. Seit den großen Reformpaketen von 2004 und 2008 wurden keine umfassenden Reformen durchgeführt. Seit 2018 ist das rechtlich-politische Umfeld für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Türkei nicht förderlich. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Redefreiheit werden weiterhin beschränkt. Es gibt noch keine konkrete Definition der Zivilgesellschaft und der zivil-gesellschaftlichen Organisationen in den entsprechenden Rechtsvorschriften und politischen Dokumenten. Es fehlt ein eigener, übergreifender und verbindlicher Rechtsrahmen für die Beziehungen zwischen NGOs und öffentlichen Institutionen. Die Verordnung über die Organisation und die Aufgaben der neu errichteten Generaldirektion für Beziehungen zur Zivilgesellschaft trat am 10.10.2018 in Kraft. In der Verordnung werden Ziele zur Verbesserung des zivil-gesellschaftlichen Umfelds vorgeschlagen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Festlegung und Entwicklung von Strategien für die Beziehungen zur Zivilgesellschaft, die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und nicht-staatlichen Organisationen, die Verbesserung der Wirksamkeit von zivil-gesellschaftlichen Organisationen und die Verbesserung der Servicequalität. Das Mandat und die Prioritäten dieser Institution bleiben unklar (ICNL 12.7.2019).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-) Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 14.6.2019). Eine Verordnung vom Oktober 2018 verpflichtet alle Vereine, alle ihre Mitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese Anforderung ist insbesondere für NGOs mit vielen Mitgliedern mühsam (ICNL 12.7.2019). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivil-gesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Regierung ist seit dem Putschversuch gegen NGOs vorgegangen und hat mindestens 1.500 Stiftungen und Vereine geschlossen und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 4.3.2020).
Es herrscht zunehmend ein negativer politischer Diskurs, der Menschenrechtsverteidiger als Terroristen bezeichnet, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt. Insbesondere im Hinblick auf letztere besteht ein weit verbreitetes Muster von gerichtlichen Maßnahmen, die sich gegen Menschenrechtsverteidiger richten und auf einen Missbrauch von Strafverfahren hinauslaufen, um sie zum Schweigen zu bringen und die Zivilgesellschaft zu entmutigen (CoE-CommDH 19.2.2020). In Bezug auf die Zivilgesellschaft gab es ernsthafte Rückschläge, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten, die zu einer raschen Einengung des Raums für Grundrechte und -freiheiten führten. Jenen Vereinen, die infolge des Ausnahmezustands geschlossen wurden, wurde kein Rechtsmittel gegen die durchgeführten Beschlagnahmungen gewährt. Trotzdem blieb die Zivilgesellschaft so weit es ging aktiv und am öffentlichen Leben beteiligt. Das Spektrum der NGOs hat sich erheblich verändert; regierungsfreundlichen Organisationen kommt eine deutlichere Rolle zu. Verwaltungsaufwand, auch für internationale NGOs, behindert weiterhin die Aktivitäten der Zivilgesellschaft (EC 17.4.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 28.10.2019
CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf , Zugriff 27.2.2020
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (12.7.2019): Civic Freedom Monitor: Turkey, http://www.icnl.org/research/monitor/turkey.html , Zugriff 28.10.2019
8. Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung am 11.3.2019
Seit 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt einer Ombudsperson mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden (AA 14.6.2019). Die Institution arbeitet unter dem Parlament, aber als unabhängiger Beschwerdemechanismus für Bürger, um Untersuchungen zu Regierungspraktiken und -maßnahmen, insbesondere in Bezug auf Menschenrechtsprobleme und Personalfragen, zu beantragen, obwohl Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 11.3.2020). Dem Büro der Ombudsperson fehlen die Befugnisse von Amts wegen, Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen einzugreifen, was dessen Wirksamkeit einschränkt (EC 29.5.2019).
Die 2012 gegründete Menschenrechts-Institution der Türkei (MRI, Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch das Institut für Menschenrechte und Gleichstellung (IMRI, Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Ministerrat (8) und Staatspräsidenten (3) bestimmt werden. Dem IMRI-Institut kommt die Rolle des „Nationalen Präventionsmechanismus“ gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 14.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 28.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
9. Wehrdienst
Letzte Änderung am 6.4.2020
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Januar des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird weiter durch das Los bestimmt (ÖB 10.2019).
Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von Lira 31.000 (ca. € 4.755) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind, sich frei zu kaufen. Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von Lira 2.000 verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, Şırnak und Hakkâri ab, erhalten sie zusätzlich monatlich Lira 1.000. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019; vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019). Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteure sind von der neuen Regelung ausgeschlossen (Connection e.V. 11.7.2019).
Die Freikaufsregelung bzw. Ableistung eines stark verkürzten Militärdienstes gegen die Zahlung eines Geldbetrages wird im neuen Rekrutierungsgesetz (Kanun 7179) für zwei Gruppen neu gefasst: Artikel 9 definiert unter der Bezeichnung "Bezahlter Militärdienst" die Regelungen für türkische wehrpflichtige Staatsbürger, die in der Türkei leben; Artikel 39 definiert unter der Bezeichnung „Militärdienst mit Devisenzahlung“ (Dövizle Askerlik) Regelungen für türkische wehrpflichtige Staatsbürger, die auf Dauer im Ausland leben bzw. die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben (Connection e.V. 11.07.2019). Für Doppelstaatsbürger bedeutet die neue Gesetzeslage sogar eine Verschärfung zur vorhergehenden Rechtslage (NZZ 23.1.2020). Mit dem neuen Gesetz ist die Freikaufsumme nach dem jeweiligen Devisenkurs vom 1.1. des Jahres zu zahlen, und zwar auf einmal (Connection e.V. 11.07.2019). Die periodisch festgelegte Freikaufsumme betrug für das erste Halbjahr 2020 Lira 35.054, rund € 5.335 (NZZ 23.1.2020). Es gibt keine Altersbegrenzung für die Zahlung. Es ist auch kein Militärdienst in der Türkei abzuleisten. (Connection e.V. 11.7.2019; vgl. MFA-NL 11.7.2019). Jedoch müssen im Ausland lebende Wehrpflichtige einen Online-Kurs beim türkischen Verteidigungsministerium absolvieren, bevor sie sich freikaufen können (MFA-NL 11.7.2019; vgl. ÖB 10.2019).
Es wurden keine Änderungen am militärischen Disziplinarsystem oder an den medizinischen Vorschriften vorgenommen, die Homosexualität als "psychosexuelle Störung / Krankheit" definieren. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (EC 29.5.2019). Transsexuelle, Transvestiten und Homosexuelle konnten unter der Bezeichnung „psycho-sexuelle Störungen“ nach Vorsprache bei der Wehrdienstbehörde und Untersuchungen vom Militärdienst befreit werden. Im Gesundheitsgesetz der türkischen Streitkräfte vom 12.11.2015 wird Homosexualität wie folgt beschrieben: „Sexuelle Verhaltensweisen und Einstellungen, die im militärischen Umfeld die Harmonie und Funktionalität beeinträchtigen könnten.“ Homosexualität führte daher im Grundsatz zur Wehrdienstuntauglichkeit, die jedoch bis zum gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 durch ärztliches Gutachten in Militärkrankenhäusern festgestellt werden musste. In Folge des gescheiterten Putschversuchs wurden alle militärischen Krankenhäuser geschlossen; das Personal wurde entweder verhaftet, entlassen oder in zivile Einrichtungen überführt. Die medizinische Versorgung der türkischen Streitkräfte obliegt seitdem dem türkischen Gesundheitsministerium, sodass die Untersuchungen seither durch den Familienarzt am Wohnort oder durch die nächstgelegene Gesundheitseinrichtung durchgeführt werden (AA 3.8.2018).
Neu hinzugekommen ist die Regelung, dass für türkische Doppelstaatsangehörige die Ableistung eines Grundwehrdienstes oder Wehrersatzdienstes außerhalb der Türkei nicht mehr anerkannt wird und damit die Dienstpflicht durch die Türkei als nicht erfüllt angesehen wird (ÖB 10.2019).
Medienberichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Türkische Menschenrechtsorganisationen berichteten von mindestens 17 fragwürdigen Todesfällen im Jahr 2019 (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 17.10.2019
Connection e.V. (27.7.2018): Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl, https://de.connection-ev.org/article-1609 , Zugriff 17.10.2019
DS – Daily Sabah (25.6.2019): New military service law approved, https://www.dailysabah.com/turkey/2019/06/25/parliament-adopts-bill-reducing-conscription-making-paid-military-service-exemption-permanent , Zugriff 17.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
HDN - Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475 , Zugriff 17.10.2019
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 17.10.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.1.2020): Schweizerisch-türkische Doppelbürger werden in den Türkei-Ferien wegen der Wehrpflicht gebüsst – der Bund verschärft die Reisehinweise, https://www.nzz.ch/schweiz/tuerkei-buesst-doppelbuerger-aus-der-schweiz-wegen-wehrpflicht-ld.1535515 , Zugriff 13.2.2020
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
9.1. Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Letzte Änderung am 29.11.2019
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen. Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder die kurdische, noch die alevitische Minderheit betreffend. Es existieren aber Einzelfälle (ÖB 10.2019). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer missbraucht, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. In einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto auf seinem Smartphone von Selahattin Demirtaş hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen HDP (MFA-NL 11.7.2019). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019, K24 10.5.2018).
Quellen:
K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army 'lynched' for singing in Kurdish, MPs say, https://www.kurdistan24.net/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4-20f41eea9bb5 , Zugriff 17.10.2019
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 17.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.10.2019
VB des BM.I für die Türkei (4.6.2019): Auskunft des VB per Mail
9.2. Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung am 29.11.2019
Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor. Eine Person, die sich nicht zur Wehrpflicht meldet, gilt als Wehrdienstverweigerer und kann auf dieser Grundlage bestraft werden. Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019).
Wehrdienstverweigerung bleibt strafbar und Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nach wie vor nicht möglich. Derzeit besteht für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nur die Möglichkeit, eine Haftstrafe abzusitzen; danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden. Im März 2012 wurde erstmals ein Urteil des Militärgerichts von dem Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom Europäischen Gericht für Menschenrechte beeinflusst. Der angeklagte Wehrdienstleistende war nach fünf Monaten im Militärdienst geflohen und teilte seine Dienstverweigerung aus Gewissensgründen mit. Dieser wurde vom Militärgericht angeklagt, aber nicht wegen Wehrdienstverweigerung, sondern wegen Desertion zu zehn Monaten Haft verurteilt. Das Militärgericht nahm in seinem Urteil das erste Mal auf die Entscheidung des EGMR Bezug, welches die Rechte von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen schützt (Art. 9 EMRK). Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Verweigerung der Anerkennung von Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt (ÖB 10.2019).
Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (AA 14.6.2019).
Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert; wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (im Falle eines Krieges) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Das im Rahmen des Ausnahmezustands erlassene Dekret 691 vom 2.6.2017 hält unter anderem fest, dass Soldaten, die sich mehr als drei Tage ohne offizielle Erlaubnis im Ausland aufhalten, als Deserteure betrachtet und entsprechend bestraft werden. Ein ins Ausland geflohener Deserteur muss mit einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren rechnen. Eine Strafe von zehn Jahren ist jedoch auch möglich (SFH 22.3.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 17.10.2019
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf , Zugriff 17.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 17.10.2019
SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (22.3.2018): Türkei: Desertion und Sicherheits-operationen im Südosten (August 2015 bis Mai 2016); Auskunft der SFH-Länderanalyse, https://www.ecoi.net/en/file/local/1438152/1226_1531473548_180322-tur-desertion-anonym.pdf , Zugriff am 23.10.2019
10. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung am 13.2.2020
Nach zwei Jahren der rapiden Verschlechterung der Menschenrechtslage endete der Ausnahmezustand am 18.7.2018. Dies ging jedoch nicht mit konkreten Schritten zur Verbesserung der Menschenrechte im Land einher. Stattdessen bleiben viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen bis heute in Kraft. Diese haben nach wie vor tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die türkischen Bürger (EC 29.5.2019). Die Behörden haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf der Grundlage unterschiedlicher rechtlicher Bestimmungen im Visier, um gegen abweichende Meinungen vorzugehen und ein Klima der Angst aufrechtzuerhalten. So wurde gegen Menschenrechtsanwälte und Gewerkschaftsvertreter in aufeinander folgenden Verhaftungswellen vorgegangen (AI 1.2.2019).
Zwar umfasst der Rechtsrahmen allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, dieser muss aber noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bzgl. Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte in Einklang gebracht werden. In den Bereichen Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit sowie Verfahrens- und Eigentumsrechten gab es weiterhin schwere Rückschritte (EC 29.5.2019; vgl. EP 13.3.2019). Einschränkungen der Tätigkeit von Journalisten, Akademikern, Menschenrechtsverteidigern und kritischen Stimmen auf breiter Ebene wirken sich negativ auf die Ausübung dieser Freiheiten aus und führen zu Selbstzensur. Die Durchsetzung der Rechte wird durch die Zersplitterung und eingeschränkte Unabhängigkeit der öffentlichen Einrichtungen, die für den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zuständig sind, und das Fehlen einer unabhängigen Justiz behindert (EC 29.5.2019).
Gemäß der Verfassung besitzt jede Person mit seiner Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können gemäß Art. 13 der Verfassung nur durch Gesetz und mit der Maßgabe eingeschränkt werden, dass ihr Wesenskern unberührt bleibt. Die Beschränkungen dürfen nicht gegen Wortlaut und Geist der Verfassung, die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung und der laizistischen Republik sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Diesen Grundsätzen steht der Kampf gegen den Terrorismus als zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte gegenüber (ÖB 10.2019).
Die Türkei hat eine weit gefasste Definition von Terrorismus, die auch Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und die innere und äußere Sicherheit des Staates umfasst, die die Regierung regelmäßig einsetzt, um die legitime Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu kriminalisieren (USDOS 1.11.2019; vgl. ÖB 10.2019). Dieser Terrorismusbegriff ist mit dem Grundrechtsschutz unvereinbar (ÖB 10.2019). Das Europaparlament sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019).
Die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen in großem Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen (siehe Kapitel 2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung) befinden sich schätzungsweise 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK/KCK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft. Gegen viele weitere läuft der Prozess. Sie befinden sich jedoch auf freiem Fuß (HRW 14.1.2020).
Der EGMR spielt im Land eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Im Zuge des massenhaften strafrechtlichen Vorgehens gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung kam es zu einer deutlichen Zunahme der Individualbeschwerden beim EGMR, die jedoch in der Regel am Erfordernis der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung scheitern (AA 14.6.2019). Im Jahr 2018 stellte der EGMR Verstöße gegen die EMRK in 142 Fällen (von 146) fest, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren (41), die Meinungsfreiheit (40), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (29), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (11), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (11) und das Verbot von Folter (10) bezogen (EC 29.5.2019; vgl. ECHR 1.2019a). Im Berichtszeitraum 2018 wurden vom EGMR 6.717 neue Anträge registriert (ECHR 1.2019b; vgl. EC 29.5.2019). Auf dem Höhepunkt 2017 waren es 25.978 (ECHR 1.2019b). Im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens gibt es derzeit 410 Verfahren gegen die Türkei (EC 29.5.2019). Mit Stand 31.10.2019 waren 8.700 Verfahren aus der Türkei, das waren 14,5% aller Fälle, am EGMR anhängig (ECHR 12.11.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 6.11.2019
AI – Amnesty International: Turkey (1.2.2019): Amnesty International’s brief on the human rights situation: Turkey’s state of emergency ended but the crackdown on human rights continues [EUR 44/9747/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/1457405/1226_1549275543_eur4497472019english.PDF , Zugriff 7.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 6.11.2019
ECHR - European Court of Human Rights (1.2019a): Statistics by year 2018: Violations by Article and by State, https://echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2018_ENG.pdf , Zugriff 6.11.2019
ECHR - European Court of Human Rights (1.2019b): Analysis of statistics 2018, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2018_ENG.pdf , Zugriff 15.11.2019
ECHR - European Court of Human Rights (12.11.2019): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 31/10/2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2019_BIL.pdf , Zugriff 15.11.2019
EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN , Zugriff 7.11.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
USDOS – US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2019168.html , Zugriff 7.11.2019
11. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung am 7.4.2020
Schwere Rückschritte hinsichtlich der Meinungsfreiheit setzten sich fort. Die restriktiven Maßnahmen, die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffen wurden, waren in ihrer Umsetzung unverhältnismäßig und haben viele Stimmen der Opposition in den Medien, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft negativ beeinflusst. Die Ausübung der Meinungsfreiheit wird erheblich behindert (EC 29.5.2019). Die türkische Rechtsordnung schränkt die Presse- und Meinungsfreiheit durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Anti-Terrorgesetze ein. Die Situation hinsichtlich der Pressefreiheit ist geprägt von einer systematischen, organisierten Kampagne zur Schikanierung von Journalisten und Medien unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus (PACE 3.1.2020).
Kritisch bleiben nach wie vor die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte (AA 14.6.2019). Die Rechtsvorschriften, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und dem Kampf gegen den Terrorismus sowie deren Umsetzung, weichen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ab. Das Land ist hierbei bei weitem der häufigste Täter bei Urteilen des EGMR gegen den türkischen Staat in Fällen von Vergehen gegen die Meinungsfreiheit (PACE 3.1.2020).
Strafverfahren gegen Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Anwälte, Schriftsteller und Social-Media-Nutzer halten an. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Schaden zu beheben, der durch die Schließung zahlreicher Medien oder die Ernennung von Treuhändern durch die Regierung zu deren Verwaltung entstanden ist. Über 160 Journalisten befinden sich weiterhin im Gefängnis (EC 29.5.2019; vgl. Article 19 et al. 2.2019).
Trotz Aufhebung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 wurde ein Großteil der Bestimmungen der Notstandsverordnungen in den später verabschiedeten neuen Gesetzen beibehalten. Durch diese Gesetzesänderungen erhielt die türkische Exekutive einen nahezu unbegrenzten Ermessensspielraum, der es ihr ermöglichte, radikale Maßnahmen, insbesondere gegen die Medien, zu ergreifen (PACE 3.1.2020).
Die Sperrung und Löschung von Online-Inhalten ohne Gerichtsbeschluss aus unterschiedlichen Gründen, basierend auf dem Internetgesetz und den allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen, halten an. Die gerichtliche Kontrolle von Anträgen im Zusammenhang mit Content-Verweigerungen oder der Blockierung von Inhalten aufgrund von Einzelentscheidungen von Friedensrichtern ist aufgrund der Struktur dieser Gerichte bedenklich. Schätzungsweise 170.000 Webseiten sind angeblich verboten (EC 29.5.2019).
Beträchtliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind sowohl im Verfassungsrecht als auch in gesetzlichen Bestimmungen zu finden und betreffen u.a. das Andenken an den Staatsgründer Atatürk, das Ansehen der staatlichen Institutionen, einschließlich des Militärs, und die Einheit des Staates. Der im umstrittenen Art. 301 des türkischen Strafgesetzbuchs (Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik sowie der Institutionen und Organe des Staates) normierte Tatbestand führt zu zahlreichen Verurteilungen vor allem von Personen, die in friedlicher Weise ihre Meinung insbesondere zur armenischen und zur kurdischen Frage oder zur Rolle des Militärs äußern. Nach der Novellierung dieser Bestimmung im Frühjahr 2008 waren Verfahren wegen „Beleidigung des Türkentums“ seltener geworden, erleben aber seit dem Putschversuch von 2016 eine Renaissance, als in verstärktem Maße ein breites Spektrum an Meinungen als Terrorpropaganda kategorisiert und unter Strafe gestellt wird (ÖB 10.2019).
Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen und Social Media-Posts (IPI 18.11.2019).
Die Meinungsfreiheit steht laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 (Beleidigung des Präsidenten der Republik) und 301 des Strafgesetzbuches (PACE 24.1.2019). Einerseits kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Andererseits ist die „Beleidigung des Türkentums“ gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält (AA 14.6.2019). Im Laufe des Jahres 2019 leitete die Regierung Ermittlungen gegen Tausende von Personen, darunter Politiker, Journalisten und Minderjährige, ein, weil sie den Staatspräsidenten, den Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, oder staatliche Institutionen beleidigt hatten (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB 10.2019). Laut Statistiken von türkischen Menschenrechtsorganisationen leitete die Regierung in den ersten elf Monaten des Jahres 2019 gegen mehr als 36.000 Personen Untersuchungen und gegen mehr als 6.000 Personen Strafverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten oder des Staates ein (USDOS 11.3.2020).
Betroffenen Politikern bietet auch deren allfällige parlamentarische Immunität keinen wirksamen Schutz mehr. Die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit wird durch Bestimmungen zum Schutz der nationalen Sicherheit und zum Schutz gegen den Terrorismus sowie deren Implementierung erheblich erschwert. Ebenso haben Anklagen und Verurteilungen wegen Art. 299 stark zugenommen (ÖB 10.2019).
Am 10. Oktober 2019 veröffentlichte die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul eine Erklärung, die kritische Nachrichten und Kommentare zu den militärischen Operationen der Türkei in Nordsyrien verbietet. In der Erklärung heißt es, dass Personen, die "den sozialen Frieden der Republik Türkei, den inneren Frieden, die Einheit und die Sicherheit" durch "jegliche Art von suggestiver Nachricht, schriftlicher oder bildlicher Veröffentlichung bzw. Ausstrahlung" neben "operativen sozialen Medienberichten" ins Visier nehmen, nach dem türkischen Strafgesetz und dem Antiterrorismusgesetz strafrechtlich verfolgt werden. In diesem Zusammenhang hat die Polizei zwei Journalisten verhaftet. Beide Journalisten wurden auf Bewährung freigelassen, erhielten aber ein Ausreiseverbot (PACE 3.1.2020).
Nach Angaben des türkischen Innenministeriums übermittelten die Behörden 2018 mehr als 7.000 Social-Media-Konten an die Justizbehörden wegen angeblicher terroristischer Propaganda (USDOS 1.11.2019). Nach Angaben der Generaldirektion Sicherheit (Polizei) wurden im Jahr 2018 110.000 Social Media Accounts untersucht, 7.109 der Nutzer wurden festgenommen und 2.754 ins Gefängnis gesteckt. Rund 2.828 wurden mit Einschränkungen, d.h. unter gerichtlicher Aufsicht, entlassen (IOHR 2019).
Einzelpersonen können den Staat oder die Regierung in vielen Fällen nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren oder Ermittlungen einzugehen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Einzelpersonen ein, die für bestimmte religiöse, politische oder kulturelle Standpunkte Sympathien haben. Manchmal riskieren Personen, die zu sensiblen Themen oder in einer gegenüber der Regierung kritischen Weise schreiben oder sprechen, eine behördliche Untersuchung (USDOS 11.3.2020).
Nach der Eliminierung von Dutzenden von Medien und der Übernahme der größten Mediengruppe der Türkei (Doğan-Gruppe) durch ein regierungsfreundliches Konglomerat (Demirören-Holding) gehen die Behörden gegen das vor, was vom Pluralismus noch übrig ist - eine Handvoll kritischer Medien (RSF 2019; vgl. Presse 22.3.2018). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 11.3.2020). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung bzw. des Präsidenten wider (FH 4.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin bestehen, stehen sie unter enormem politischen Druck und werden häufig strafrechtlich verfolgt (FH 4.3.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 11.3.2020).
Journalisten sitzen mitunter mehr als ein Jahr bis zum Prozessbeginn im Gefängnis. Lange Gefängnisstrafen werden zur neuen Norm. In einigen Fällen werden Journalisten zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung verurteilt. Inhaftierten Journalisten und geschlossenen Medien wird jeder wirksame Rechtsweg verwehrt. Die Türkei verblieb im World Press Freedom Index 2019 [1. Rang = bester Rang] auf Platz 157 von 180 Ländern (RSF 2019). Rund 120 Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen wegen z.B. "Verbreitung terroristischer Propaganda" oder "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation". Hunderte weitere stehen, ohne sich in Untersuchungshaft zu befinden, vor Gericht. Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020).
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (Al Monitor 24.3.2020). Laut Innenminister Süleyman Soylu sind fast 2.000 Social-Media-Konten identifiziert worden (Stand 25.3.2020), die provokante Beiträge über den Ausbruch gemacht hätten, was zur Festnahme von 410 Personen geführt hat, die versucht hätten, Unruhe zu stiften (Reuters 25.3.2020). Zuvor hat die Oberstaatsanwaltschaft Istanbul Untersuchungen und Gerichtsverfahren gegen 29 Personen eingeleitet, die in den sozialen Medien Zweifel an den Maßnahmen der Regierung äußerten und somit laut der Staatsanwaltschaft „Angst und Panik“ verbreiteten (FNS 16.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 7.11.2019
Al Monitor (24.3.2020): Turkey tightens restrictions to curb coronavirus outbreak, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/03/turkey-tighten-restrictions-curb-coronavirus-outbreak.html , Zugriff 7.4.2020
ARTICLE 19, RSF – Reporters Sans Frontières (Autor), CPJ – Committee to Protect Journalists (Autor), EFJ - European Federation of Journalists; IFJ - International Federation of Journalists; AEJ - Association of European Journalists; et al. (2.2019): Democracy at risk: Threats and attacks against media freedom in Europe, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003215/PREMS-018519-GBR-2519-Threats-and-attacks-Media-freedom-Rapport-annuel-18-WEB.pdf , Zugriff am 20. November 2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 7.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
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HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 13.2.2020
IOHR – International Observatory of Human Rights (2019): 2018 in Review: Human Rights Violations in Turkey #TurkeyHumanRights, https://observatoryihr.org/2018-in-review-human-rights-violations-in-turkey/ , Zugriff 7.11.2019
IPI - International Press Institute (Hg.) (18.11.2019): Turkey’s Journalistsin the Dock: Judicial Silencing of the Fourth Estate - Joint International Press Freedom Mission To Turkey (September 11–13, 2019), https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2019/11/Turkey-Mission-Report-IPI-FINAL4PRINT.pdf , Zugriff 20.11.2019
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12. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung am 7.4.2020
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere Rückschläge, wo die Gesetzgebung und ihre Umsetzung nicht im Einklang mit europäischen Normen stehen und sich nicht an die türkische Verfassung halten. Mit der Umsetzung der aus dem Ausnahmezustand resultierenden Gesetze wurden die Befugnisse der Verwaltung erweitert, um das Recht auf friedliche Versammlung zu beschränken (EC 29.5.2019).
Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte aber weitgehend ausgehebelt (AA 14.6.2019). Aufgrund des Auslaufens des Ausnahmezustandes (19.7.2018) konnte eine gewisse Lockerung auf dem Gebiet der Versammlungsfreiheit erwartet werden. Tatsächlich aber wurde der breite Entscheidungsspielraum der zuständigen Gouverneure von diesen im Sinne einer weiteren Verschärfung genutzt (ÖB 10.2019). Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind. In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 14.6.2019). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, wurden Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, LGBT-Veranstaltungen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition oder Demonstrationen mit Bezug auf die Kurden-Thematik verboten. Die Polizei setzt Gewalt ein, um nicht genehmigte Proteste zu beenden (EC 29.5.2019; vgl. FH 4.3.2020).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen „Propagandamarsch“ für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, gefärbtes Wasser in Wasserkanonen zu verwenden, um Demonstranten für eine spätere Identifizierung und Verfolgung zu markieren. Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in Haft zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen. Überdies gibt das Antiterrorgesetz den Gouverneuren verstärkte Befugnisse zum Verbot von Demonstrationen, ein Verbot, das einige Gouverneure im Laufe des Jahres 2019 im breiten Umfang erlassen haben (USDOS 11.3.2020).
Mit Beendigung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 trat ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft. Demnach können Gouverneure die Bewegungsfreiheit von Personen, die im Verdacht stehen, die öffentliche Ordnung an bestimmten Orten zu stören, für einen Zeitraum von 15 Tagen einschränken. Die Gouverneure können das Zusammentreffen von Personen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten einschränken sowie Einzelpersonen verbieten, ihre auch lizenzierten Waffen oder Munition zu tragen oder zu transportieren. Sie sind befugt, außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen auszurufen (TM 25.7.2018). Grundsätzlich darf es, wie im Ausnahmezustand, nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können Gouverneure Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen" (ZO 25.7.2018).
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Antiterrorgesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte. Im Juli 2019 gab die Untersuchungskommission für Notstandsmaßnahmen bekannt, dass die Regierung 1.750 nicht-staatliche Vereinigungen und Stiftungen im Rahmen von Notstandsmaßnahmen geschlossen hatte. 208 von diesen erlaubte die Regierung die Wiedereröffnung. Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 11.3.2020).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 11.3.2020).
Eine im Oktober 2018 verabschiedete Verordnung, die Vereine zur Offenlegung aller ihrer Mitglieder gegenüber Behörden verpflichtet, ist problematisch und verstößt gegen verfassungsmäßige Garantien wie Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 7.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 7.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 7.11.2019
TM – Turkish Minute (25.7.2018): First post-OHAL anti-terrorism law approved by Turkish Parliament, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/first-post-ohal-anti-terrorism-law-approved-by-turkish-parliament/ , Zugriff 18.9.2018
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 7.4.2020
ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 20.9.2018
12.1. Opposition
Letzte Änderung am 7.4.2020
Ein Teil der politischen Opposition kann sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Zehn ehemalige Abgeordnete der links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich in Untersuchungshaft oder sind rechtskräftig zu Haftstrafen verurteilt, darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Den HDP-Abgeordneten wird meistens Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (PKK) vorgeworfen. Damit droht ihnen im Falle von Verurteilungen neben den langen Haftstrafen auch ein fünfjähriges Politikverbot. Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP bzw. ihrer Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) zu verringern. Im Zuge der Notstandsdekrete sind bis Ende 2017 insgesamt über 90 gewählte Gemeindeverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, vereinzelt Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 14.6.2019; vgl. PACE 24.1.2019, TM 3.9.2019, DS 4.9.2019). Dies verstößt gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung und beeinträchtigt ernsthaft das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei (PACE 24.1.2019). Zusätzlich zur Verfolgung von HDP-Politikern wegen Terrorismus hat die Regierung Strafverfolgungsbehörden eingesetzt, um gegen die größte Oppositionspartei des Landes, die Republikanische Volkspartei (CHP), vorzugehen (FH 4.3.2020). So wurde Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, im September 2019 zu einer Gefängnisstrafe von fast zehn Jahren verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten und Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt worden war. Das Berufungsverfahren steht noch aus (FH 4.3.2020).
Bei den Lokalwahlen am 31.3.2019 sind einige abgesetzte Bürgermeister wiedergewählt worden. Allerdings verweigerten die lokalen Wahlräte einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten (meist: AKP). Begründet wurde die Maßnahme damit, dass die betroffenen HDP-Politiker zuvor per Dekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren. Dennoch hatte sie der Wahlrat zur Wahl zuvor zugelassen (AA 14.6.2019; vgl. HDP 18.11.2019). Nebst den sechs siegreichen HDP-Bürgermeisterkandidaten wurde 88 gewählten Gemeinderatsmitgliedern der HDP vom Innenministerium die Akkreditierung verweigert, angeblich wegen anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen (HDP 18.11.2019).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Der Führung der HDP/DBP wird regierungsseitig vorgeworfen, enge Verbindungen zur PKK zu pflegen. Nach Einschätzung der HDP befinden sich aktuell rund 6.000 Parteifunktionäre und -mitglieder (inklusive DBP) in Haft (AA 14.6.2019). Das harte Vorgehen der letzten Jahre hat die HDP gelähmt, zumal sich die restriktiven Maßnahmen auf lokale HDP-Niederlassungen, kommunale Behörden, Medien sowie NGOs, die mit ihnen sympathisieren, ausgeweitet haben (ICG 13.6.2018).
Während des polarisierenden Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 bezeichnete der amtierende Staatspräsident Erdoğan immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die Republikanische Volkspartei (CHP), Saadet-Partei und die İYİ-Partei, alles Oppositionsparteien (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Die HDP-Bürgermeister von Diyarbakır, Mardin und Van im Südosten der Türkei, die bei den Lokalwahlen im März 2019 gewählt worden sind, wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wird wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Innenminister Süleyman Soylu beschuldigte die Bürgermeister, die Gemeinden in eine vom Rest des Landes getrennte Verwaltungsstruktur umwandeln zu wollen und ehemalige Gemeindeangestellte wieder zu beschäftigen, die aufgrund ihres Engagements, ihrer Zugehörigkeit und ihrer Beziehung zu einer terroristischen Vereinigung vormals bereits aus ihren Ämtern entfernt worden waren (HDN 20.8.2019). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Die Entlassung der Bürgermeister hat Kritik seitens der EU und des Europarates ausgelöst, da ihre Entlassung die Ergebnisse der Wahlen vom 31. März infrage stellt (Ahval 20.8.2019; vgl. CoE 20.8.2019, EU 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer großangelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Seit den Wahlen im März 2019 sind über ein Dutzend Bürgermeister der HDP wegen Unterstützung der verbotenen PKK verhaftet und durch Regierungstreuhänder ersetzt worden, mehrfach in Zusammenhang mit der Kritik der HDP-Amtsinhaber an der Invasion türkischer Truppen im Norden Syriens (AM 24.10.2019; vgl. Bianet 8.11.2019). Im März 2020 haben die türkischen Behörden acht weitere Bürgermeister der Oppositionspartei HDP in der Südosttürkei wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir. Nach Angaben der HDP sind seit den Kommunalwahlen im März 2019 somit 32 HDP-Bürgermeister ihres Amtes enthoben worden (ZO 24.3.2020). Somit sind nur noch in 22 von ursprünglich 65 Gemeinden gewählte HDP-Bürgermeister im Amt (FNS 31.3.2020). Das anhaltende Vorgehen gegen gewählte Vertreter der HDP hat zu Diskussionen innerhalb der Partei und Anhängerschaft geführt, ob man sich sowohl aus dem Parlament als auch aus den lokalen Vertretungsorganen zurückziehen sollte (AM 24.11.2019; vgl. Duvar 20.11.2019, Reuters 20.11.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 8.11.2019
Ahval (20.8.2019): Police intervene in protests in Kurdish-majority provinces, Istanbul over dismissed mayors, https://ahvalnews.com/dismissed-kurdish-mayors/police-intervene-protests-kurdish-majority-provinces-istanbul-over , Zugriff 8.11.2019
AM – Al Monitor (24.10.2019): Crackdown on Kurdish mayors raises pressure on Turkish opposition, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/turkey-replaces-seven-more-kurdish-hdp-mayors.html , Zugriff 8.11.2019
AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkey’s HDP will not cede political ground, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-pro-kurdish-party-stuck-between-government-its-bas.html , Zugriff 27.11.2019
Bianet (8.11.2019): HDP Mayors, HDK Co-Spokesperson Detained, http://bianet.org/english/print/215523-hdp-mayors-hdk-co-spokesperson-detained , Zugriff 8.11.2019
CoE – Council of Europe (20.8.2019): Statement by the President of the Congress on the recent suspension of mayors in Turkey, https://www.coe.int/en/web/congress/-/statement-by-the-president-of-the-congress-on-the-recent-suspension-of-mayors-in-turkey , Zugriff 8.11.2019
DS – Daily Sabah (4.9.2019): 41 dismissed mayors receive over 237 years on terrorism charges, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2019/09/04/41-dismissed-mayors-receive-over-237-years-on-terrorism-charges , Zugriff 8.11.2019
Duvar (20.11.2019): HDP calls for early elections, won’t leave parliament https://www.duvarenglish.com/politics/2019/11/20/hdp-calls-for-early-elections-wont-leave-parliament/ , Zugriff 27.11.2019
DW – Deutsche Welle (20.8.2019): Türkei unterbindet Proteste gegen Bürgermeister-Entlassung, https://www.dw.com/de/t%C3%Bcrkei-unterbindet-proteste-gegen-b%C3%Bcrgermeister-entlassung/a-50102492 , Zugriff 8.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
FNS – Friedrich Naumann Stiftung (31.3.2020): Türkei Bulletin 06/20 - Berichtszeitraum: 17. – 31. März 2020, http://shop.freiheit.org/download/P2 @880/249231/T%C3%Bcrkei%20Bulletin%2006-2020.pdf, Zugriff 7.4.2020
FR – Frankfurter Rundschau (21.8.2019): Erdogan nimmt Rache an kurdischen Bürgermeistern, https://www.fr.de/politik/rache-erdogans-12927195.html , Zugriff 8.11.2019
HDN – Hürriyet Daily News (20.8.2019): Turkey will not tolerate terrorism: Interior minister, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-will-not-tolerate-terrorism-interior-minister-145911 , Zugriff Zugriff 8.11.2019
HDP – People‘s Democratic Party (18.11.2019): We urge Turkey’s larger political opposition and the international democratic community to lose no time in acting against appointed trustees coup, https://www.hdp.org.tr/en/english/news/news-from-hdp/we-urge-turkeys-larger-political-opposition-and-the-international-democratic-community-to-lose-no-time-in-acting-against-appointed-trustees-coup/13722 , Zugriff 25.11.2019
ICG - International Crisis Group (13.6.2018): Turkey’s Election Reinvigorates Debate over Kurdish Demands, https://d2071andvip0wj.cloudfront.net/b088-turkey-s-election-reinvigorates-debate%20(1).pdf , Zugriff 8.11.2019
MME – Middle East Eye (19.8.2019): Three pro-Kurdish mayors replaced in southeastern Turkey, https://www.middleeasteye.net/news/three-pro-kurdish-mayors-replaced-southeastern-turkey , Zugriff 8.11.2019
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey – Early Presidential and Parliamentary Elections – 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true , Zugriff 8.11.2019
PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en , Zugriff 7.11.2019
Reuters (20.11.2019): Turkey's pro-Kurdish party calls for early elections, won't leave parliament, https://www.reuters.com/article/us-turkey-kurds/turkeys-pro-kurdish-party-calls-for-early-elections-wont-leave-parliament-idUSKBN1XU1MW , Zugriff 20.11.2019
SCF - Stockholm Centre for Freedom (1.2018): Kurdish political movement under crackdown in Turkey The case of the HDP, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2018/01/Kurdish-political-movement-under-crackdown-in-Turkey-The-case-of-the-HDP_Jan-28-2018.pdf , Zugriff 8.11.2019
TM – Turkish Minute (3.9.2019): Turkey sentences 41 ex-mayors from Kurdish party to nearly 260 years in prison, https://www.turkishminute.com/2019/09/03/turkey-sentences-41-ex-mayors-from-kurdish-party-to-nearly-260-years-in-prison/ , Zugriff 8.11.2019
ZO - Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition , Zugriff 8.11.2019
ZO - Zeit Online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkei-buergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien , Zugriff 6.4.2020
13. Haftbedingungen
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Kritik an den Haftbedingungen gibt es vor allem hinsichtlich der Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Zu den unbestreitbaren Problemen in den Haftanstalten zählen, insbesondere bedingt durch eine große Zahl an Verhaftungen nach dem Putschversuch 2016, die Überbelegung und die damit zusammenhängenden Probleme: unzulängliche Umsetzung der Bestimmungen über Gemeinschaftsaktivitäten, Beschränkungen des Briefverkehrs, nicht durchwegs ausreichende Gesundheitsversorgung etc. Die 353 Gefängnisse in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 218.950 Plätzen. Die Zahl der Insassen betrug im Dezember 2018 260.000, dürfte aber seither noch mehr angestiegen sein (ÖB 10.2019). Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt (Nov. 2018: 118%; Nov. 2016: 104%). Diese landesweiten Durchschnittszahlen täuschen darüber hinweg, dass einzelne Gefängnisse deutlich stärker, bis zu 200%, überbelegt sind (AA 14.6.2019). Beispielsweise befanden sich in der Haftanstalt in Izmir laut Justizministerium durchschnittlich 18 Personen in einer Zelle, wobei einige auf dem Boden schlafen mussten, und sich 23 Häftlinge eine Toilette teilen mussten (Duvar 25.10.2019). Die Regierung bemüht sich jedoch mit ersten Erfolgen um Entlastung, indem die Kapazität der Haftanstalten gesteigert und Häftlinge in weniger belegte Gefängnisse verlegt werden (AA 14.6.2019).
Mit Stand Dezember 2018 befanden sich 57.000 Personen ohne Anklageerhebung in Haft bzw. in Untersuchungshaft, d.h. über 20% der Gesamtzahl der Gefängnisbevölkerung. Ebenfalls mehr als ein Fünftel aller Gefängnisinsassen, das sind rund 45.000 von mehr als einer viertel Million, befindet sich wegen terroristischer Anschuldigungen in Haft (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Bestimmungen über die Einzelhaft für Personen, die zu einer lebenslänglichen Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurden, sind nach wie vor in Kraft. Derartige Haftbedingungen dürfen nur über einen möglichst kurzen Zeitraum hinweg angeordnet werden, wobei eine individuelle Risikobewertung in Bezug auf den jeweiligen Häftling vorzunehmen ist (ÖB 10.2019).
Gegenwärtig befinden sich über 740 Kinder im Alter von sechs oder weniger Jahren mit ihren Müttern in Haft (DW 23.6.2019; vgl. EC 29.5.2019). Das türkische Strafgesetzbuch sieht unterdessen vor, dass Haftstrafen für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden. Diese Regel gilt jedoch nicht, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).
In den Gefängnissen gibt es zahlreiche Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter, Misshandlung und Einzelhaft als Disziplinarmaßnahmen (EC 29.5.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Laut der Statistik des Justizministeriums aus dem Jahr 2018 leitete die Regierung 2.196 Untersuchungen im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen ein. Davon führten 1.035 zu keiner Verfolgung, 766 zu Strafverfahren und 395 zu anderen Entscheidungen. Die Regierung gab keine Daten über ihre Untersuchungen zu angeblichen Folterungen heraus (USDOS 11.3.2020). In Gesuchen, die 2018 aus Gefängnissen an die türkische Menschenrechtsvereinigung İHD geschickt wurden, gaben 1.149 Personen an, dass sie in verschiedenen Gefängnissen Folter und Misshandlung ausgesetzt waren (İHD 19.4.2019).
Laut Berichten wird kranken Insassen regelmäßig der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt. Im Jahr 2018 gingen bei der Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten 877 Beschwerden über Folter und Misshandlung ein. Bis Dezember 2018 wurden rechtliche und administrative Maßnahmen gegen 543 Mitarbeiter ergriffen. Die Gefängnisaufsichtsbehörden bleiben jedoch weitgehend ineffizient. Besorgniserregend ist auch der mangelnde Zugang zivil-gesellschaftlicher Organisationen zu den Gefängnissen. Da der nationale Präventionsmechanismus nicht voll funktionsfähig ist, gibt es keine Kontrollaufsicht hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 28.10.2019
Duvar (25.10.2019): Justice Ministry: 23 people can share the same toilet in prison cell, https://www.duvarenglish.com/human-rights/2019/10/25/justice-ministry-23-people-can-share-the-same-toilet-in-prison-cell/ , Zugriff 28.10.2019
DW – Deutsche Welle (23.6.2019): Turkey: Babies behind bars, https://www.dw.com/en/turkey-babies-behind-bars/a-49320769 , Zugriff 28.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 28.10.2019
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html , Zugriff 14.2.2020
IHD- İnsan Haklari Derneğİ/ Human Rights Association (19.4.2019): İHD 2018 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-IHD-Violations-Report.pdf , Zugriff 28.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 28.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
14. Todesstrafe
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die Türkei schaffte 2004 die Todesstrafe für alle Straftaten ab. Die letzte Hinrichtung erfolgte 1984 (AI 7.2018).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019).
Quellen:
AI – Amnesty International (7.2018): Abolitionist and Retentionist Countries as of July 2018, https://www.amnesty.org/download/Documents/ACT5066652017ENGLISH.pdf , Zugriff 17.10.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 17.10.2019
15. Religionsfreiheit
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die Verfassung definiert die Türkei als säkularen Staat. Artikel 10 besagt, dass alle Personen vor dem Gesetz gleich sind, unabhängig von ihrer Weltanschauung und ihrer Religion. Gemäß Artikel 15 kann niemand gezwungen werden, sein Religionsbekenntnis kundzutun. Artikel 24 garantiert das Recht auf Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Überzeugungsfreiheit. Der Staat hat den Säkularismus traditionell so interpretiert, dass er für sich die staatliche Kontrolle über Religionsgemeinschaften, einschließlich ihrer Praktiken und Gotteshäuser verlangt. Die Diyanet [Anm. Religionsbehörde] verwaltet das islamische Bildungs- und Erziehungswesen, einschließlich der Moscheen; der Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) hingegen unterliegt die staatliche Verwaltung der Angelegenheiten aller übrigen Religionen (DFAT 9.10.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Die Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt; der Leiter der Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 21.6.2019).
Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mir der „Provozierung von Hass und Feindseligkeit“ vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es religiösen Führern, wie Imamen, Priestern und Rabbinern, die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen".
Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden, oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 21.6.2019).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, 77,5% davon sind schätzungsweise Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind. Die schiitische Dschafari-Gemeinde schätzt ihre Anhängerschaft auf 4% der Einwohner. Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen bestehen nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römische Katholiken und 16.000 Juden. Darüber hinaus sind 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha’is. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 sind griechisch-orthodoxe Christen. Eine Umfrage legt nahe, dass ca. 2% der Bevölkerung Atheisten sind (USDOS 21.6.2019).
Für das Jahr 2018 bleibt der Befund zur Religionsfreiheit in der Türkei äußerst beunruhigend. Das Fehlen nennenswerter Fortschritte seitens der Regierung bei der Behandlung langjähriger Fragen der Religionsfreiheit gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Zahlreiche schwerwiegende Einschränkungen der Religions- oder Glaubensfreiheit setzen sich fort und bedrohen die nachhaltige Vitalität und das Überleben der Religionsgemeinschaften von Minderheiten im Land. Darüber hinaus tragen eine zunehmende Dämonisierung und eine Schmierkampagne von Regierungsstellen und regierungsnahen Medien zu einem wachsenden Klima der Angst unter den Gemeinschaften religiöser Minderheiten bei. Die Regierung mischt sich weiterhin in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ein (USCIRF 4.2019).
Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen kommen vereinzelt vor (AA 14.6.2019). So werden Berichten zufolge Aleviten und Nicht-Muslime in der Arbeitswelt diskriminiert, insbesondere bei der Anstellung in leitenden Positionen des öffentlichen Dienstes (FH 4.3.2020). Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden wurden weiterhin gemeldet und Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten weiterhin verübt (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Übergriffe auf Aleviten oder nicht-muslimische Vertreter finden vereinzelt statt und werden mit unterschiedlicher Intensität verfolgt und geahndet. Die Zahl an tätlichen oder gar tödlichen Übergriffen aus religiösen Motiven ist laut Berichten rückläufig. Auch in der öffentlichen Meinung werden solche Vorkommnisse breit verurteilt. Antisemitische Äußerungen finden auch von offizieller Seite statt und sind in der Gesellschaft weit verbreitet. Sie unterliegen aber einem Auf und Ab, eine weitere Verschärfung der Situation ist nicht zu beobachten (ÖB 10.2019).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen. Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, von welchem Anhänger nicht-muslimischer Religionen im Allgemeinen ausgenommen sind, jedoch haben Aleviten und Nichtgläubige Schwierigkeiten, sich vom Religionsunterricht befreien zu lassen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 21.6.2019).
Das Gesetz verbietet Sufi und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 21.6.2019).
Da das türkische Recht keine explizite Anerkennung von Minderheiten kennt, geht der begrenzte Schutz religiöser Minderheiten, die gemäß der restriktiven türkischen Lesart nicht vom Lausanner Vertrag (1923) erfasst sind (erfasst sind lediglich Angehörige der Armenisch Apostolischen Kirche, Juden und Griechisch Orthodoxe), auf die Stiftungen (Vakif) nicht-muslimischer Minderheiten im Osmanischen Reich zurück; ein System, das durch den Vertrag von Lausanne und die Einführung des Stiftungsgesetzes (Deklaration aus 1936) verfestigt wurde. Derzeit gibt es rund 163 solcher Stiftungen, 76 griechisch-orthodoxe, 52 armenische, 18 jüdische, 10 syrisch-orthodoxe, 3 chaldäisch-katholische 2 bulgarisch-orthodoxe, eine georgisch-orthodoxe und eine türkisch-orthodoxe (ÖB 10.2019).
Kritiker behaupten, dass die regierende AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung der Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 4.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 11.11.2019
DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (9.10.2018): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 11.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 11.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 11.11.2019
USCIRF – US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008189/Tier2_TURKEY_2019.pdf , Zugriff 12.11.2019
USDOS – US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011023.html , Zugriff 12.11.2019
15.1. Aleviten
Letzte Änderung am 6.4.2020
Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen muslimischen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen muslimischen Mehrheit (MRGI 6.2018). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 9.10.2018; vgl. USCIRF 4.2019).
Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa zehn bis zu 40% der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (GI 18.1.2018). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich in erster Linie eher als Aleviten (DFAT 9.10.2018). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollten. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018). Während die Aleviten über die ganze Türkei zerstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95%) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 9.10.2018).
Das Alevitentum wird offiziell nur als kulturelles Phänomen, nicht aber als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind (ÖB 10.2019; vgl. FH 4.3.2020), und dies trotz eines anderslautenden Urteils des Obersten Gerichtshofs vom November 2018. Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 10.2019 FH 4.3.2020). Dies hat auch den Ausschluss von staatlichen Zuwendungen zur Folge (FH 4.3.2020).
Die Aleviten veranstalteten in jüngster Zeit mehrere Demonstrationen und gaben eine Reihe von Presseerklärungen zur Aufhebung des obligatorischen Religionsunterrichts und zur Beendigung der diskriminierenden Haltung gegenüber den Aleviten in Bildung, Beschäftigung und sozialem Leben ab (EC 29.5.2019). Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam (Gebetshäuser, staatliche Bezahlung der GebetshausvorsteherInnen, etc.). Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus der öffentlichen Auseinandersetzung (ÖB 10.2019).
Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte über Cem-Häuser und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt (EC 29.5.2019). Andererseits berichtet der Vertreter des Europarates in Ankara von ersten Schritten zur Umsetzung eines Urteils des EGMR aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) (ÖB 10.2019).
Trotz dieser Fortschritte gibt es weiterhin Probleme. Immer wieder werden alevitische Häuser mit abfälligen oder türkisch-nationalistischen Parolen beschmiert. Im November 2017 brachten die alevitischen Gemeindeleiter ihre Besorgnis zum Ausdruck, als 13 Häuser in der östlichen Provinz Malatya mit roten Kreuzen beschmiert wurden. Und im selben Monat griff ein Mob ein Cem-Haus in Istanbul an und versuchte es in Brand zu setzen (MRGI 6.2018). Außerdem wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdoğan und der regierenden AKP pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben. Die massive Verfolgung der Aleviten ist bis heute vor allem in der Provinz Dersim (türkisch: Tunceli), im alevitischen Kernland spürbar (GI 18.1.2018). Im März 2018 nahmen die Behörden in Erzincan 16 Mitglieder der alevitischen Pir Sultan Abdal Kulturvereinigung wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation fest. Lokale Vertreter des Vereins sagten, dass sie wegen ihrer Arbeit zum Schutz und zur Förderung des alevitischen Glaubens inhaftiert wurden. Im August 2018 erfolgte die Anklage wegen "Anstiftung zum Hass in der Öffentlichkeit" und "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung". Im Dezember 2018 wurden 12 der 17 Angeklagten zu zwei bis sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (USDOS 21.6.2019).
Quellen:
DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (9.10.2018): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 12.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 12.11.2019
FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html , Zugriff 6.4.2020
GI - Gatestone Institute (18.1.2018): Persecution of Alevis in Turkey: Threats, Arbitrary Arrests, https://www.gatestoneinstitute.org/11744/turkey-alevis-persecution , Zugriff 12.11.2019
MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey – Alevis, http://minorityrights.org/minorities/alevis/ , Zugriff 12.11.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 12.11.2019
USCIRF – US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008189/Tier2_TURKEY_2019.pdf , Zugriff 12.11.2019
USDOS – US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011023.html , Zugriff 12.11.2019
15.2. Christen
Letzte Änderung am 29.11.2019
Nach türkischem Verständnis werden neben Juden lediglich jene nicht muslimischen Minderheiten der Armenier und Griechen als Minderheiten anerkannt, die innerhalb der monarchisch-theokratischen Struktur des Osmanischen Reiches als „Nationen“ (millets) organisiert waren, und die in den Artikeln 37-45 des Friedensvertrages von Lausanne enthaltenen Garantien genießen (GIZ 9.2019c). Die nach türkischer Lesart nicht vom Lausanner Vertrag erfassten religiösen Gemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, haben keinen eigenen Rechtsstatus. Sie können sich als Verein und, nach umstrittener Auslegung des 2008 verabschiedeten Stiftungsgesetzes, auch in Form einer Stiftung organisieren. Eigentumserwerb und der Abschluss von Verträgen ist nur in den genannten Rechtsformen möglich (AA 14.6.2019).
Fälle von Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, sind besonders aus den großen Städten bekannt. Rechtliche Hindernisse bei Übertritt bestehen nicht, allerdings werden Konvertiten in der Folge oft auch von ihren eigenen Familien ausgegrenzt. Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen und Intoleranz (AA 14.6.2019).
Den Anträgen verschiedener christlicher Gemeinschaften auf Eröffnung von Gotteshäusern und Genehmigung von Lehrplänen für Geistliche wurden noch nicht stattgegeben. Hassreden und hassbedingte Straftaten gegen Christen (und Juden) wurden weiterhin vermeldet (EC 29.5.2019). Mehrere christliche Gotteshäuser waren Ziel von Vandalismus und Drohungen (USCIRF 4.2019). Während Christen weniger als ein halbes Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen, stellen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine regierende AKP sie als eine ernste Bedrohung für die Stabilität der Nation dar, indem sie die christlichen Bürger oft als keine echten Türken, sondern als Handlanger und Kollaborateure des Westens bezeichnen (MEF 1.6.2018; vgl. SCF 21.8.2017).
Am 31.7.2018 unterzeichneten 18 Vertreter christlicher und jüdischer Religionsgemeinschaften eine öffentliche Erklärung, wonach sie ihren Glauben frei praktizieren können, und dass Aussagen, die auf Unterdrückung hinweisen, völlig unwahr wären, und viele Missstände aus der Vergangenheit gelöst wurden (AM 10.8.2018; vgl. DS 31.7.2018). Andere Mitglieder der jeweiligen religiösen Minderheiten waren gegenteiliger Auffassung und behaupteten, dass die Deklaration auf Druck der Regierung verfasst worden war (AM 10.8.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 12.11.2019
AM – Al Monitor (10.8.2018): Are Turkey’s Christians as 'fine' as they say? https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/08/turkey-local-christians-after-detention-of-american-pastor.html , Zugriff 12.11.2019
DS – Daily Sabah (31.7.2018): Turkey’s minority leaders sign joint declaration denying 'pressure' on communities, https://www.dailysabah.com/minorities/2018/07/31/turkeys-minority-leaders-sign-joint-declaration-denying-pressure-on-communities , Zugriff 12.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 12.11.2019
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2019c): Länderinformationsportal: Türkei: Gesellschaft, https://www.liportal.de/tuerkei/gesellschaft/#c26139 , Zugriff 12.11.2019
MEF – Middle East Forum (1.6.2018): Turkey Turns On Its Christians, https://www.meforum.org/articles/2018/turkey-turns-on-its-christians , Zugriff 12.11.2019
SCF - Stockholm Center for Freedom (21.8.2017): Hate Speech Against Christians in Erdoğan’s Turkey, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2017/08/Hate-Speech-Against-Christians-in-Erdog%CC%86an%E2%80%99s-Turkey_21.08.2017.pdf , Zugriff 12.11.2019
USCIRF – US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008189/Tier2_TURKEY_2019.pdf , Zugriff 12.11.2019
16. Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung am 6.4.2020
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten - nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 11.3.2020).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 11.3.2020).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch die Hasskommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten. Auch die antisemitische Rhetorik in den Medien und von Vertretern des Staates hat sich aufgrund des Konflikts in Palästina verstärkt (EC 29.5.2019). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung über Hassreden gab es zwischen Jänner und April 2018 in annähernd 2.400 Artikeln und Kolumnen 427 Fälle antisemitischer Rhetorik. Konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale wurden den Minderheiten unterstellt, insbesondere den Armeniern, Juden und Griechen, gefolgt von den Syrern (HDF 7.2019).
Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind deutlich gesunken. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert (EC 29.5.2019). Gleichwohl wurde mit dem 4. Justizreformpaket 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2019). Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zaza (EC 29.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 12.11.2019
bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12 , Zugriff 12.11.2019
EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf , Zugriff 12.11.2019
HDF - Hrant Dink Foundation (7.2018): Media Watch on Hate Speech Report January - April 2018, https://hrantdink.org/attachments/article/1429/Media-Watch-on-Hate-Speech-January-April-2018.pdf , Zugriff 12.11.2019
MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 12.11.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 12.11.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 6.4.2020
17. Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung am 7.4.2020
Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung sind verfassungsrechtlich garantiert; die Regierung schränkt diese Rechte allerdings ein. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die PKK verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein. Die Regierung erklärte die Provinz Hakkâri zu einer "besonderen Sicherheitszone" und beschränkte die Bewegungsfreiheit in und aus mehreren Bezirken der Provinz wochenlang mit der Begründung, dass die Bürger vor -Angriffen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geschützt werden müssten (USDOS 11.3.2020).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 11.3.2020), obwohl unklar blieb, wie viele weitere nicht mehr reisen konnten (USDOS 11.3.2020).
Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen (AA 14.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 16.10.2019
HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 16.10.2019
TM - Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/ , Zugriff 16.10.2019
TM - Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/ , Zugriff 16.10.2019
TM - Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects’ spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 16.10.2019
USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html , Zugriff 16.10.2019
USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html , Zugriff 7.4.2020
18. Grundversorgung/ Wirtschaft
Letzte Änderung am 29.11.2019
Die türkische Wirtschaft hat in den letzten zwölf Monaten erhebliche außenwirtschaftliche Veränderungen erlebt, darunter rückläufige Leistungsbilanz-Ungleichgewichte und eine geringere Auslandsverschuldung der Banken. Dies hat die außenwirtschaftlichen Schwächen verringert, die sich im Vorfeld des Währungsschocks vom August 2018 gehäuft hatten. Investitionen sind zurückgegangen, die Preise hoch geblieben und die Arbeitslosigkeit gestiegen. Diese Anpassungen haben den Fremdfinanzierungsbedarf des Landes reduziert und zu einer stabileren Lira beigetragen, ungeachtet der Währungsschwankungen im Verlaufe des Jahres 2019. Die Anpassungen wurden durch ein aktiveres Agieren der Politik und günstigere globale monetäre Bedingungen unterstützt. Dennoch sind die Devisenreserven in den letzten zwei Jahren abgebaut worden und haben die Türkei einem außenwirtschaftlichen Druck ausgesetzt. Die Realwirtschaft ist nach wie vor stark von beharrlichen makro-finanziellen Schwächen betroffen. Die Investitionen gingen deutlich zurück (bis zum zweiten Quartal 2019), während die Industrieproduktion auf eine schwache Trendwende hinweist. Die allmähliche Erholung von der Rezession im Jahr 2018 wurde durch einen Anstieg des privaten Konsums und einer Nettoauslandsnachfrage betrieben. Der Rückgang der Inflation hat begonnen, nachdem die Wechselkursentwicklung und der Vertrauensverlust in die Lira die Verbraucherpreise stark anstiegen ließen. Die Inflation betrug in den ersten drei Quartalen 2019 durchschnittlich 17% (WB 2.11.2019).
Stagnierendes Produktionsniveau, steigende Produktionskosten und hohe Verbraucherpreise haben zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten und sinkenden Reallöhnen geführt. Die türkische Wirtschaft hat von Mai 2018 bis Mai 2019 rund 840.000 Arbeitsplätze verloren, was 2,9% der Gesamtbeschäftigung entspricht. Die Arbeitslosenquote stieg zwischen Mai 2018 und Mai 2019 von 10,6% auf 14%, wobei die Jugendarbeitslosigkeit einen Anstieg von 19,6% auf 25,6% verzeichnete. Die durchschnittlichen Reallöhne sanken zwischen 2017 und 2018 um 2,6%. Am stärksten betroffen sind ärmere Haushalte, da viele einkommensschwache Arbeitskräfte im Baugewerbe und in der Landwirtschaft beschäftigt sind - den Sektoren, in denen der größte Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen war (WB 2.11.2019).
Weitere Tendenzen: chronisch hohes Leistungsbilanzdefizit; starke Abhängigkeit von Energieimporten (mehr als 50% des Defizits); fehlende Leistungsfähigkeit in höherwertigen Wirtschaftssektoren, in Teilen beschränkte globale Wettbewerbsfähigkeit, niedrige lokale Wertschöpfung in der Produktion; Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen (auch durch die geringe Sparquote: 13% BIP) hoher Anteil an Schwarzarbeit und geringer Anteil von Frauen in der Erwerbsarbeit. Stark entwickelt ist die Westtürkei mit dem Marmara-Raum und der Ägäis. Dabei erwirtschaftet die Region Istanbul mit ca. 20% der Bevölkerung 40% der gesamten Wertschöpfung. Unterentwickelt ist der Südosten und Osten des Landes, gekennzeichnet oft durch bittere Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit (GIZ 9.2019a).
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
Quellen:
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2019a): Länderinformationsportal: Türkei: Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/tuerkei/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 11.10.2019
OECD (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0 , Zugriff 15.11.2019
WB – World Bank (2.11.2019): Turkey Economic Monitor, October 2019: Charting A New Course, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/32634/Turkey-Economic-Monitor-Charting-a-New-Course.pdf?cid=ECA_EM_Turkey_EN_EXT&deliveryName=DM48511 , Zugriff 15.11.2019
18.1. Sozialbeihilfen/-versicherung
Letzte Änderung am 29.11.2019
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber verschiedene Programme für mittellose Familien, wie z.B. Sachspenden (Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien, etc.); Kindergeld (eine einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und Lira 300 für das erste, Lira 400 für das zweite und Lira 600 für das dritte Kind beträgt); finanzielle Unterstützung für Schwangere in einmaliger Höhe von Lira 149 unter bestimmten Bedingungen, wie geleistete Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst; Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache (dreimonatlich zwischen Lira 1.527 und 2.589 je nach Grad der Behinderung). All diese Hilfeleistungen des Staates sind an bestimmte Bedingungen gekoppelt, die von den Einzelnen nicht immer erfüllt werden können. Es gibt zwei unterschiedliche Arten von „Witwenunterstützung“. Jede Witwe (ohne Einkommen) hat im Jahr 2019 den Anspruch auf Lira 550 (alle zwei Monate). Diese Leistung wird vom Familienministerium bereitgestellt. Dann gibt es zum zweiten die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (max. 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch max. Lira 4.263) (ÖB 10.2019).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankheitsversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Betrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; SSA 9.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 10.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 10.10.2019
SGK - Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische , Zugriff 10.10.2019
SGK - Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 10.10.2019
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 10.10.2019
18.2. Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung am 29.11.2019
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle ArbeiterInnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Im Jahr 2017 sah eine Novelle des Arbeitslosenversicherungsgesetzes die Ausweitung des Versicherungsschutzes auf Selbständige zum 1. Januar 2020 vor. Der Betroffene muss in den letzten 120 Arbeitstagen Beiträge gezahlt haben und in den drei Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens für 600 Arbeitstage eingezahlt haben. Der Anspruch auf das Arbeitslosengeld muss innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf des Arbeitsvertrages geltend gemacht werden oder er erlischt. Der Arbeitslose muss registriert sein und für eine geeignete Beschäftigung zur Verfügung stehen (SSA 9.2018). Bei 600 Tagen Beitragszahlung erhält man 180 Tage Arbeitslosenhilfe, bei 900 Tagen Beitragszahlung erhält man 240 Tage Arbeitslosenhilfe, und bei 1080 Tagen Beitragszahlung erhält man 300 Tage Arbeitslosenunterstützung (IOM 2019; vgl. SSA 9.2018, ÖB 10.2019). Das minimale Taggeld beträgt 40% des durchschnittlichen Tagesverdienstes des Versicherten in den letzten vier Monaten. Das maximale monatliche Arbeitslosengeld beträgt 80% des gesetzlichen monatlichen Bruttomindestentgelts (SSA 9.2018; vgl. ÖB 10.2019). Nach der Erhöhung des Mindestlohnes (Jänner 2019) hat sich auch die Höhe des Arbeitslosengeldes geändert. Der Mindestarbeitslosenbetrag liegt nun bei Lira 1.015 (rund € 159), der Maximalbetrag bei Lira 2.030 (rund € 317) (ÖB 10.2019).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 10.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 10.10.2019
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 10.10.2019
18.3. Pension
Letzte Änderung am 29.11.2019
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Sofern regelmäßige Einzahlungen getätigt wurden, wird die entsprechende Pension monatlich ausgezahlt.
Berechtigung:
Staatsbürger über 18 Jahre
Exilanten, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit möglich)
Im Ausland gezahlte Beiträge können in die Türkei transferiert und in Türkische Lira nach dem derzeitigen Kurs ausgezahlt werden
Ehegattinnen können von der Pension profitieren, sofern sie ihre ausländischen Beiträge an die Pensionskassen SSK, Bağ-kur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] überwiesen haben
Voraussetzungen:
Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
Hausfrauen müssen sich bei Bağ-kur anmelden
Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gearbeitet hat, haben Zugang zu Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gedient, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25, Waisenhilfe (IOM 2019).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1. Oktober 2008 erfolgt. Die monatliche Mindestpension beträgt Lira 1.402 [rund € 221] (2017); Lira 1.871 [rund € 295] für Beamte (2017). Leistungsanpassung: Die Anpassung der Leistungen erfolgt im Jänner und Juli eines jeden Jahres aufgrund von Änderungen des Verbraucherpreisindex (SSA 9.2018).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 10.10.2019
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html , Zugriff 10.10.2019
19. Medizinische Versorgung
Letzte Änderung am 2.3.2020
Die vorhandenen Systeme sind nicht ausreichend, um eine medizinische Versorgung auf angemessenem Niveau für alle Bürger zu gewährleisten. Derzeit wird um eine Reform der Krankenversicherung gerungen, das heißt die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung auf einer beitragsfinanzierten Grundlage. Dies erscheint angesichts der großen Anzahl der in der Schattenwirtschaft tätigen Arbeiter zumindest herausfordernd. Das staatliche Gesundheitswesen besteht aus Krankenhäusern (Träger: SSK, Gesundheitsministerium, Universitäten), Polikliniken, Gesundheitsstationen (Variante 1: mit Pflegekraft, Variante 2: mit Arzt), niedergelassenen Ärzten und weiteren ambulanten Einrichtungen. Für die Versicherten ist die Behandlung kostenlos. Allerdings sind materielle und personelle Ausstattung oft mangelhaft, sodass mehr als eine ausreichende Basisversorgung nicht möglich ist. Selbst in Krankenhäusern sind die Patienten auf die Pflege durch Verwandte angewiesen. Medikamentenengpässe sind nicht selten. Auf 1.100 Einwohner kommt ein Arzt. Das liegt weit unter dem OECD-Durchschnitt (350 Einwohner pro Arzt). Nicht-Sozialversicherte haben keinen Anspruch auf Leistungen. Für sie und Kinder unter 18 Jahren gibt es die Grüne Karte (yeşil kart), mit der ärztliche Hilfe von den Ärmsten beansprucht werden kann. Daneben gibt es ein privates ärztliches Versorgungssystem, das gehobenen internationalen Standards genügt. Auch die Krisenmedizin ist auf einem guten Stand (GIZ 12.2019).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit wächst die Zahl der Krankenhäuser (2017: 1.518), davon ca. 60% in staatlicher Hand mit einer Kapazität von knapp 226.000 Betten. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ gratis (AA 14.6.2019).
Die Gesundheitsreform ist als Erfolg zu werten, da mittlerweile 90% der Bevölkerung eine Krankenversicherung haben, und die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, und die Kindersterblichkeit um 2/3 gesunken ist. Die Welt-Bank warnt jedoch vor explodierenden Kosten. Zahlreiche Ärzte kritisieren die sinkende Qualität der Behandlungen aufgrund der reduzierten Konsultationsdauer und der geringeren Ressourcen pro Patient (ÖB 10.2019).
Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. Im Fall von Krebsbehandlungen kann nach aktuellen Medienberichten aufgrund des gesunkenen Wertes der türkischen Währung keine ausreichende Versorgung mit bestimmten Medikamenten aus dem Ausland gewährleistet werden; es handelt sich aber nicht um ein flächendeckendes Problem (AA 14.6.2019).
Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach hat das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Sağlık Ocağı) abgelöst und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung geführt. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig (AA 14.6.2019).
NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Guvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei Lira 76,75 an (IOM 2019).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner/-in automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SKG-Behörde registrieren (IOM 2019).
Der freiwillige Mindestbetrag für die Grundversorgung – sofern keine Versicherung durch den Arbeitgeber bereits besteht – beträgt zwischen 6 bis 12% des monatlichen Einkommens. Personen ohne ein reguläres Einkommen müssen ca. 13 EUR/Monat in die Krankenkasse einzahlen. Bei Nachweis über ein sehr geringes Einkommen (weniger als 150,- EUR/Monat) werden die Grundversorgungsbeiträge vom Staat übernommen (ÖB 10.2019).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insgesamt standen 2017 elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern. Insgesamt 36 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in 33 Provinzen. Zusätzlich werden in 50 ambulanten und 44 stationären Gesundheitszentren Behandlungsmöglichkeiten angeboten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologie-Krankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologie-Stationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. 166 Untersuchungszentren (sog. KETEM) bieten u. a. eine Früherkennung von Krebs an. Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Provinzen mit 765 Gesundheitsbussen mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen. Diese Betreuung wird vom Gesundheitsministerium gebührenfrei angeboten. Etwa 15% der Bevölkerung profitieren von diesen Angeboten. Eine AIDS-Behandlung kann in allen Provinzen mit staatlichen (93 Krankenhäusern) wie auch Universitätskrankenhäusern (68 Krankenhäuser) durchgeführt werden. In Istanbul stehen drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 14.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 11.10.2019
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2019): Länderinformationsportal: Türkei: Gesundheitswesen, https://www.liportal.de/tuerkei/gesellschaft/#c26139 , Zugriff 2.3.2020
IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf , Zugriff 11.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 11.10.2019
20. Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung am 29.11.2019
Türkische Staatsangehörige, die im Ausland für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, drohen polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Gülen-Anhänger, im Ausland ausspähen (AA 14.6.2019). Personen, die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida). Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2019). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (MFA o.D.).
Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. „Gülen-Netzwerkes“ gebeten. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 14.6.2019).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter, dieser entscheidet dann. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den geltenden Amnestiebestimmungen profitieren kann, oder ob Verjährung eingetreten ist. Sollte das Verfahren aufgrund der vorgenannten Bestimmungen ausgesetzt oder eingestellt sein, wird der Festgenommene freigelassen. Andernfalls fordert der Staatsanwalt beim Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, einen Haftbefehl an. Der Verhaftete wird verhört und mit einem richterlichen Haftbefehl dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, überstellt. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 14.6.2019).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019).
Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).
Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl:
• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail. almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf , Zugriff 23.10.2019
MFA - Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 23.10.2019
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 23.10.2019
UKHO - United Kindom Home Office (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf , Zugriff 23.10.2019
1.9. Eine besondere, berücksichtigungswürdige Abhängigkeit zu den Verwandten in Österreich oder einem Schengen Staat, welche im Rahmen einer Interessensabwägung die Rückkehrentscheidung bzw. das Einreiseverbot unzulässig erscheinen ließen, besteht nicht.
Die bP ist ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann mit Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer –wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich- gesicherten Existenzgrundlage.
Die bP stellt aufgrund ihres strafbaren Verhaltens eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Eine positive Zukunftsprognose (bzgl. des Verhaltens) konnte nicht erstellt werden. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Abschiebung der bP in die Türkei zulässig und möglich ist und war die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot geboten.
II.2. Beweiswürdigung
II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.
II.2.2. Die personenbezogenen Feststellungen hinsichtlich der bP ergeben sich aus ihren in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben sowie den seitens der bP vorgelegten Bescheinigungsmittel, den Feststellungen in den vorangegangenen Verfahren um Zuerkennung der Aufenthaltstitel und ihren Angaben in der Verhandlung.
Insbesondere die Feststellungen zu den familiären / verwandtschaftlichen und sozialen Bindungen in Österreich ergeben sich aus den vorgelegten Beweismitteln, den glaubhaften Angaben der bP und den Zeugen in der Verhandlung sowie der nachfolgenden Beweiswürdigung in Punkt II.2.4.. Auch hinsichtlich der Feststellungen zur Rückkehrsituation sowie der abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat wird auf die Beweiswürdigung unter Punkt II.2.4. sowie die Länderinformationen der Staatendokumentation verwiesen.
Hinsichtlich der Covid-19 Pandämie hat die bP nicht vorgebracht, dass sie bezüglich allfällig erforderlicher medizinischer Behandlung als Staatsbürger der Türkei schlechter gestellt wäre als die sonstige dort lebende türkische Bevölkerung. Dies ergibt sich auch nicht aus der Berichtslage.
Das Waffenverbot ergibt sich zweifelsfrei aus der Datenbank Personeninformation des BMI.
Die Feststellungen zur Beschäftigung bzw. Sozialversicherung ergeben sich zweifelsfrei aus einer Abfrage bei der der Datenbank der Sozialversicherung.
Die Feststellungen zu den strafrechtlich relevanten Vorfällen ergeben sich aus den diesbezüglichen Unterlagen, dem Strafregisterauszug und den Urteilen. Die verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen ergeben sich aus den im Akt erliegenden angeforderten Auskünften der zuständigen Behörden.
Der oben wiedergegebene Verfahrensgang war im Lichte des vorliegenden Akteninhalts unstrittig.
II.2.3 Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen -sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges- handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Die getroffenen Feststellungen ergeben sich daher im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu.
Die bP trat auch den Quellen nicht entgegen und traf keinerlei Ausführungen in diesem Zusammenhang.
II.2.4. In Bezug auf den weiteren festgestellten Sachverhalt ist anzuführen, dass die von der belangten Behörde vorgenommene freie Beweiswürdigung (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305) im hier dargestellten Rahmen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze im Wesentlichen von ihrem objektiven Aussagekern her tragfähig ist.
II.2.4.1. Insgesamt gesehen wurde der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt von der belangten Behörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben. Die belangte Behörde hat auch die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in der angefochtenen Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt und wurden durch das BVwG durch mündliche Verhandlung ergänzende Ermittlungen angestellt.
II.2.4.2. Die bP konnte auch im Beschwerdeverfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung den Feststellungen der belangten Behörde zwar letztlich nicht entsprechend entgegentreten. Der persönliche Eindruck, der in der Verhandlung gewonnen werden konnte, führte letztlich in einigen Punkten jedoch zu einer anderen Bewertung, als die der bB, welche seit 2019 keine Einvernahme mehr durchführte. Durch die Verhandlung gehen die Ausführungen in der Beschwerde in diesem Zusammenhang schon grundsätzlich ins Leere.
II.2.4.3. Zu den Kontakten in der Türkei ist auszuführen, dass die bP über familiären Anschluss in der Türkei verfügt.
Dezidiert führte die bP zwar vor der bB im Rahmen der Einvernahme im Juli 2019 aus, dass sie mit ihrem in der Türkei lebenden Vater und dessen Verwandten keinen Kontakt habe. Auch als sie mit der Mutter ihrer Tochter 2019 in der Türkei gewesen sei, hätten sie diesen Teil der Verwandtschaft nicht besucht. Sie telefoniere mit dem Vater nur einmal im Jahr. Im Rahmen der Verhandlung gab die bP an, dass sie mit dem Vater nicht in Kontakt sei.
Demgegenüber gab die Mutter seiner Tochter in der Verhandlung an, dass sie gemeinsam mit der bP auf Urlaub bzw. Familienbesuch in der Türkei gewesen wäre. Dabei haben sie gemäß ihren Angaben Vater, Oma und Opa besucht.
Auch die Mutter der bP versuchte zwar mit ihrer Angabe in der Verhandlung, dass auch der Sohn wie sie bei ihren Geschwistern gewohnt habe, die Angaben der bP zu stützen. Vor dem Hintergrund, dass die bP und ihre Mutter wohl ein veritables Interesse an der Verschleierung der familiären Anknüpfungspunkte der bP in der Türkei haben, während die Mutter der Tochter in diesem Zusammenhang offensichtlich frei in der Verhandlung ihre Angaben traf, war zu den Feststellungen zu gelangen, dass die bP auch den Vater und nicht nur die Verwandten der Mutter in der Türkei besucht hat und Kontakt zu den Verwandten mütterlicherseits und väterlicherseits besteht.
Die bP hat letztlich die Türkei mehrfach zu Urlaubszwecken besucht. Aufgrund des kulturellen Umfeldes und den notorischen Zusammenhalt in türkischen Großfamilien kann davon ausgegangen werden, dass die Verwandten mit ihren Familien dort die bP bei der Eingliederung in die türkische Gesellschaft im Falle der Rückkehr – falls überhaupt erforderlich - unterstützen.
Es kann auch von entsprechenden Kenntnissen der türkischen Sprache durch die bP ausgegangen werden, da sie in der Verhandlung selbst sogar mit der Mutter Türkisch gesprochen hat.
Mit Hilfe ihrer Verwandten wird sich die bP wieder in das soziale Umfeld in der Türkei integrieren können. Sie machte mit der Mutter ihrer Tochter zuletzt dort auch 2019 einen Besuch und war auch 2018 2x in der Türkei. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass ihr die dortigen Gepflogenheiten bekannt sind.
Auch steht es der Mutter bzw. Schwester der bP frei, mit der bP – zumindest vorübergehend – in die Türkei zu reisen um ihr dort die Reintegration zu erleichtern. Zudem gab die Mutter der bP in der Verhandlung an, dass sie ihren Sohn auch in der Türkei finanziell unterstützen würde, wenn der Sohn in einer Notlage sein würde.
II.2.4.4. Zu den Anknüpfungspunkten in Österreich ist festzustellen, dass von besonderen sozialen Kontakten im österreichischen Umfeld, welche über die Verbindungen, die durch den Aufenthalt automatisch geknüpft werden hinausgehen, nicht ausgegangen werden kann.
Der bP ist zuzugestehen, dass sie in Österreich nunmehr zumindest seit einiger Zeit einer Beschäftigung nachgeht und selbsterhaltungsfähig ist. Bis Anfang 2020 lagen nur sporadische Beschäftigungszeiten vor und hat die bP auch eine angefangene Lehre nicht abgeschlossen. Hinsichtlich der Lehre der bP ist auszuführen, dass sie den praktischen Teil bereits positiv im Jahr 2017 abgeschlossen hat und es ihr bis dato nicht möglich war, das Fachgespräch nochmals bzw. positiv zu absolvieren, wenngleich sie nunmehr offensichtlich 2021 versuchen will, den theoretischen Teil abzulegen.
Empfehlungsschreiben oder Unterstützungsschreiben wurden nicht vorgelegt. Zur Integration gab die bP nur an, in einem Fußballverein aktiv zu sein und dort Freunde zu haben.
Die volljährige bP lebt zwar mit der Mutter und der Schwester in einem gemeinsamen Haushalt, diese Bindungen konnten sie aber auch nicht von ihrem strafbaren Verhalten abhalten.
Im Rahmen der Verhandlung erhellte sich zwar für das Gericht, dass die bP von ihren Familienangehörigen unterstützt wird. Es erhellte sich aber gerade nicht, dass eine im Sinne von Art. 8 EMRK relevante Abhängigkeit bestünde.
Hinsichtlich der Tochter der bP ist jedoch auszuführen, dass vom Vorliegen eines Familienlebens auszugehen ist (vgl. rechtliche Beurteilung unten).
Jedenfalls seit dem Schreiben der bB im Februar 2019 hinsichtlich der beabsichtigten Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sowie der im Juli 2019 nach der dritten Verurteilung erfolgten Einvernahme vor der bB musste der bP bewusst gewesen sein, dass ihr Aufenthalt in Österreich gerade in Anbetracht der Straffälligkeit unsicher ist. Selbst wenn das Verfahren vorerst im Oktober 2019 aufgrund § 9 BFA-VG eingestellt wurde, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Personen mit befristeten Aufenthaltstiteln bekannt ist, dass Straftaten dazu führen können, dass diese nicht verlängert werden bzw. sie auch mit Einreiseverboten belegt werden können. Unmittelbar nach diesem Schreiben im Oktober 2019 wurde die bP jedoch wieder straffällig und wurde wegen eines Vorfalls am 23.11.2019 von der Ex-Freundin angezeigt.
II.2.4.5. Die bP wurde wegen den bereits festgestellten Straftaten strafgerichtlich verurteilt und liegen auch die festgestellten Verwaltungsstrafen vor.
Bereits in den strafgerichtlichen Urteilen wurde das Verhalten der bP und der diesem zugrunde liegende Gesinnungsunwert und Handlungsunwert festgestellt. Es wurden vorerst dreimal lediglich bedingte Strafen verhängt, erst im Rahmen der vierten Verurteilung bedurfte es nach Ansicht des Strafgerichts der gesetzten Sanktion einer teilbedingten Freiheitsstrafe, um der bP das Unrecht der Taten entsprechend vor Augen zu führen und die Wichtigkeit der geltenden Werte in Bezug auf die körperliche Integrität und die Verhinderung von strafbaren Handlungen zu unterstreichen.
Gegen die bP besteht ein rechtskräftiges Waffenverbot.
Auch wenn die bP vermeinte, sich nunmehr wohlzuverhalten, kann aufgrund des sich aus dem Verhandlungsprotokoll ergebenden Aussagen und der Einstellung der bP nicht mit der maßgeblichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die bP nicht mehr straffällig wird.
Vor der bB gab die bP zu ihren ersten drei Verurteilungen bzw. Straftaten an:
VP: Zu die vor 2019 waren, hab ich auch zum Gericht gesagt, dass ich es nicht wusste. Ich war noch unreif. Jetzt denke ich an meine Tochter und Freundin und an Fußball. Ich war Jung und dumm. Beim letzten habe ich vor der Polizei für einen Türken gedolmetscht. Ich habe nur das übersetzt, was er damals gesagt hat, aber ich bin dennoch verurteilt worden.
Aus der in den Feststellungen widergegebenen Urteilsbegründung zum zweiten rk. Urteil ergibt sich jedoch eindeutig, dass die bP versucht hat, Fakten in Zusammenhang mit Drogen abzustreiten und hinsichtlich der Protokollierung in der Hauptverhandlung angegeben hat, dass im Protokoll viel gestanden sei, was sie nicht gesagt habe. Damit hat sie jedoch wissentlich die Polizisten falsch wegen des Verbrechens des Amtsmissbrauches beschuldigt und zudem eine falsche Beweisaussage sowie eine Begünstigung begangen. Auch das dritte gegen sie ergangene Urteil ergibt eindeutig, dass die bP dazu beigetragen hat, jemanden zu einer falschen Aussage zu bringen und sie nicht nur wie von ihr behauptet lediglich Dolmetschertätigkeiten gesetzt hat. Die bP hat damit hinsichtlich dieser beiden Verurteilungen in Zusammenhang mit falscher Beweisaussage, Begünstigung und Verleumdung offensichtlich noch nicht erkannt, worin ihr Fehlverhalten lag, auch wenn sie entschuldigend ausgeführt hat, dass sie damals jung war.
Selbst wenn man hinsichtlich des vierten Urteils davon ausgehen kann, dass die bP tatsächlich nicht dermaßen häufig gewalttätig und übergriffig gegen die Ex-Freundin bzw. nunmehr Mutter seiner Tochter war, wie sich aus dem ersten Anschein ergibt, so ist dennoch festzuhalten, dass auch diese Verurteilung jedenfalls die grundsätzliche Aggressivität und Gewaltbereitschaft der bP zum Vorschein brachte. Offenbar kam es bereits am 23.11.2019 im familiären Umfeld zu einem Streit, bei welchem die bP auch Drohungen gegen die Mutter ihres Kindes vor der anwesenden Tochter aussprach (vgl. Abschlussbericht AS 171). Die Mutter der Ex-Freundin gab an, dass die bP ihre Tochter seit der Schwangerschaft immer wieder bedroht und manchmal auch geschlagen hätte. Auch die Ex-Freundin selbst sprach davon, dass die bP seit der Schwangerschaft versuchte, sie zu tyrannisieren, ihr vorgeschrieben hätte, was sie mit wem machen dürfe und auch wie sie sich zu kleiden hätte. Auch gewalttätig sei die bP geworden und hätte ihr ein „blaues Auge“ geschlagen. Sie hätten eine „on-off Beziehung“ geführt.
Am 10.12.2019 hat die Ex-Freundin dann zwar einen Antrag auf einstweilige Verfügung gestellt. Sie und die bP sind dann aber verschwunden und wurde in der Folge einem ermittelnden Beamten am 19.12.2019 mitgeteilt, dass die Ex-Freundin bei der bP lebt.
Die on-off Beziehung der bP mit der Ex-Freundin ist vor diesem Hintergrund durchaus glaubwürdig und ist auch glaubwürdig, dass es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen ihnen kam. Trotz der Vorwürfe gegen die bP und deren Verurteilung hat die Ex-Freundin auch nach diesem Vorfall 2019 eine zeitlang wieder mit der bP gemeinsam gelebt und war sie auch vor dem Vorfall beispielsweise bei der Einvernahme der bP am 17.07.2019 als Vertrauensperson oder bei der Geburt der Tochter anwesend. Dass es immer wieder zu Streitigkeiten kam zeigt auch der Umstand, dass die bP bereits im Urteil vom 07.05.2019 vom Vorwurf, dass sie die Geburtsurkunde der Mutter seiner Tochter am 16.01.2018 zerrissen habe, freigesprochen wurde. Dies mangels Schuldbeweis und dokumentiert die diesbezügliche Anzeige auch, dass die Mutter der Tochter dies angezeigt hat, damals aber keine körperlichen Übergriffe zur Anzeige brachte, was auch gegen eine fortwährende massive Gewalttätigkeit der bP gegenüber der Mutter der Tochter spricht.
In weiterer Folge zeigte die Ex-Freundin die bP dann wiederum im Jahr 2020 an. Die Ex-Freundin gab an, dass die bP ua. am 01.11.2020 sie am Hals gepackt habe, ihr damit gedroht habe, sie werde sie vor der gemeinsamen Tochter umbringen und ihr die Zähne ausschlagen und sie derart gewürgt habe, dass sie Rötungen am Hals erlitt. Die bP habe sie zudem am 10.07.2020 zu Boden geworfen und an den Haaren gerissen, insgesamt sei es zu etwa 100 Angriffen gekommen, bei denen die bP sie geschlagen, am Hals gepackt, an den Haaren gerissen und sie bedroht hätte. Zudem gab die Ex-Freundin an, die bP hätte einen Schlagring besessen. Für die Vorfälle gäbe es keine Zeugen und sei sie auch nie beim Arzt gewesen.
Der Ansicht der bB, dass aus dem letzten gegen die bP ergangenen Urteil zu entnehmen ist, dass die Beziehung der bP zur Mutter ihrer Tochter über mehrere Jahre hinweg von der fortgesetzten Gewaltausübung geprägt gewesen wäre, kann aufgrund des Abschlussberichts sowie nach Durchführung der Verhandlung und den Angaben der bP, der Mutter der bP und der Ex-Freundin nicht gefolgt werden, wenngleich im Urteil vom 02.12.2020 festgestellt wurde, dass die bP im Zeitraum von September 2017 bis November 2020 gegen die Ex-Freundin fortgesetzt Gewalt ausgeübt hat.
Das BVwG verkennt nicht, dass es grundsätzlich an die Sachverhaltsfeststellungen gebunden ist, es geht aber auch im Rahmen der eigenständigen, fremdenrechtlichen Beurteilung der Beziehung der bP zur Mutter ihrer Tochter davon aus, dass es zwar tatsächlich zu Streitigkeiten in der Beziehung gekommen ist und diese teilweise auch mit Gewalttätigkeiten einhergingen, was an sich verwerflich ist. Langandauernde, ständige gewalttätige Übergriffe können jedoch nicht festgestellt werden und ist insbesondere festzuhalten, dass zwar auch aktuell zwischen der bP und der Ex-Freundin keine Beziehung besteht, diese jedoch auch die enge Beziehung der bP zu ihrer Tochter in der Verhandlung bestätigt hat und zulässt. Dies geht soweit, dass die Ex-Freundin sogar angegeben hat, dass sie kein Problem damit hätte, dass die Tochter mit der Mutter der bP in die Türkei die bP besuchen fährt.
Dass die bP letztlich alles zugegeben hat, um aus der nach dem Vorfall am 01.11.2020 verhängten Untersuchungshaft entlassen zu werden, erwies sich als durchaus glaubwürdig, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des mit der Beschwerde vorgelegten Schreibens des damaligen Strafverteidigers.
Gerade hinsichtlich des Verhaltens gegenüber der Ex-Freundin zeigte sich die bP in der Verhandlung teilweise einsichtig und vermeidet sie Kontakte zur Ex-Freundin, um keine weiteren Vorfälle zu provozieren. Sie zahlt auch regelmäßig Unterhalt und erweckte sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung einen grundsätzlich positiven Eindruck. Es erhellte sich, dass sie bis zu einem gewissen Grad in das Familienleben eingebettet ist, eine starke Beziehung zur Tochter besteht und sie bemüht ist, gerade für die Tochter nunmehr ein geordnetes Leben zu führen.
In Anbetracht des verwaltungsstraf- und strafgerichtlichen Verhaltens konnte die Interessensabwägung aber gerade nicht zugunsten der bP ausschlagen, wobei das Einreiseverbot jedoch herabzusetzen war (vgl. rechtliche Beurteilung unten.)
II.2.4.6. Die bP hat kein substantiiertes Vorbringen dazu erstattet, dass eine Abschiebung sie in den Rechten nach Art. 3 EMRK verletzen würde. Vielmehr hat sie lediglich Befürchtungen dahingehend geäußert, dass sie keine entsprechenden Kontakte zur Integration in der Türkei hätte, was jedoch wie bereits gewürdigt nicht der Wahrheit entspricht. Auch die etwaige Ableistung des Militärdienstes oder eines Ersatzdienstes durch die bP als türkischen Staatsangehörigen kann aufgrund der allgemeinen Wehrdienstverpflichtung und den Länderfeststellungen diesbezüglich zu keiner anderen Einschätzung führen, da nicht erkannt werden kann, dass die bP dabei aus individuellen bzw. asylrelevanten Gründen benachteiligt werden würde.
II.2.4.7. Hinsichtlich der Zitierung in der Beschwerde betreffend einen in den Augen der bP bzw. deren Vertretung ähnlichen Fall ist darauf hinzuweisen, dass jeder Einzelfall vom BVwG einer eigenen Wertung zu unterziehen ist. Dass in einem anderen Fall nach Gewalttätigkeiten in einer Beziehung trotz Verhängung eines Einreiseverbots durch das BVwG in einer neuen Beziehung keinerlei Gewalt mehr vorgekommen ist, vermag für gegenständliches Verfahren keinerlei Wirkung zu entfalten. Es kann gerade noch nicht mit entsprechender Sicherheit angenommen werden, dass sich die bP in Zukunft wohlverhält und reicht dafür auch der Zeitraum von nicht einmal einem halben Jahr seit dem letzten Vorfall bzw. der Haftentlassung nicht aus.
Auch wenn die Vaterschaft der bP an sich nicht angezweifelt wird, so ist dennoch festzuhalten, dass die Ausführungen in der Beschwerde unrichtig sind, soweit ausgeführt wird, dass ein Zugriff auf die Daten der Tochter für die bB gegeben wäre und stellten sich in diesem Zusammenhang die in der Verhandlung aufgezeigten Fragen zum Nachnamen und der Staatsangehörigkeit der Tochter.
Auch der Umstand, dass sich die Schwester der bP keinerlei Übergriffe gefallen lassen würde, vermag keine Rückschlüsse in Bezug auf die Beziehung der bP zur Mutter ihrer Tochter zuzulassen. Dass die Verurteilung im Zusammenhang mit der Mutter der Tochter der speziellen Beziehungsdynamik mit dieser Person geschuldet war, wird auch vom BVwG nicht verkannt, dass dies in einem anderen Beziehungsgeflecht- wie in der Beschwerde behauptet – aber nicht mehr vorkommen wird, kann nicht automatisch angenommen werden.
3. Rechtliche Beurteilung
II.3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter, Anzuwendendes Verfahrensrecht
II.3.1.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF) entscheidet das Bundesverwaltungs-gericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
II.3.1.2. Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesver-waltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 idgF entscheidet im gegenständlichen Fall der Einzelrichter.
II.3.1.3. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft und hat das ho. Gericht im gegenständlichen Fall gem. § 17 leg. cit das AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt. Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
II.3.1.4. Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, es den angefochtenen Bescheid, auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Zu A) (Spruchpunkt I)
II.3.2. Erlassung einer Rückkehrentscheidung
II.3.2.1. Assoziierungsabkommen mit der Türkei
Am 12. September 1963 schlossen die damaligen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Rat der Europäischen Gemeinschaften mit der Türkei ein Abkommen zur Gründung einer Assoziation (Assoziierungsabkommen). Am 23. November 1970 verabschiedeten die Vertragsparteien das "Zusatzprotokoll zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation" (im Folgenden: ZP), das am 1. Januar 1973 in Kraft trat. In weiterer Folge wurde am 19.09.1980 durch den Assoziationsrat (dem durch das ZP Normsetzungskompetenz übertragen wurde) der Beschluss Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation (kurz: ARB 1/80) gefasst, welcher den vorangegangenen Beschluss Nr. 2/76 weitgehend ablöste.
In Art. 6 ARB 1/80 werden die Rechte türkischer Staatsangehöriger geregelt, welche je nach Beschäftigungsdauer in Österreich bestimmte Ansprüche im Hinblick auf ihre Weiterbeschäftigung und letztlich ihren Aufenthalt ableiten können.
Art 6 Abs. 1 ARB 1/80 lautet:
Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
– nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
– nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
– nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
Art. 7 ARB 1/80 lautet:
Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
- | haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben; |
- | haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. |
Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellengebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.
II.3.2.2. Die bP fällt mangels entsprechender Beschäftigungsdauer nicht unter die Regelung des Assoziationsabkommens EWG-Türkei bzw. unter Art. 6 ARB. Da die bP gemeinsam mit ihrer Mutter eingereist ist und diese damals noch nicht dem Arbeitsmarkt in Österreich angehörte bzw. der ehemalige Ehegatte der Mutter der bP, zu dem sie gereist sind, österreichischer und nicht türkischer Staatsangehöriger war, sind auch die Regelungen des Art. 7 ARB auf die bP nicht anzuwenden.
Die von der bB gewählte Vorgangsweise gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm Einreiseverbot gemäß § 53 FPG zu verhängen, ist damit in Einklang mit der Rechtsprechung zu sehen und war sohin grundsätzlich rechtskonform.
II.3.2.3. Anwendung des § 52 Abs. 4 FPG
Die bP hält sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf und wurde von der Niederlassungsbehörde aktuell kein Verfahren hinsichtlich der Aberkennung oder Nichtverlängerung des Titels eingeleitet.
Gemäß § 52 Abs. 4 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels, Einreisetitels oder der erlaubten visumfreien Einreise entgegengestanden wäre,
2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
6. Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet, dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen.
Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§ 11. NAG
(1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn
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1. | gegen ihn ein aufrechtes Einreiseverbot gemäß § 53 FPG oder ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht; | |||||||||
2. | gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht; | |||||||||
3. | gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind, sofern er nicht einen Antrag gemäß § 21 Abs. 1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist; | |||||||||
4. | eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30 Abs. 1 oder 2) vorliegt; | |||||||||
5. | eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6 vorliegt oder | |||||||||
6. | er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde. | |||||||||
(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn
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1. | der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet; | |||||||||
2. | der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird; | |||||||||
3. | der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist; | |||||||||
4. | der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte; | |||||||||
5. | durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden; | |||||||||
6. | der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§ 24) das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, rechtzeitig erfüllt hat, und | |||||||||
7. | in den Fällen der §§ 58 und 58a seit der Ausreise in einen Drittstaat gemäß § 58 Abs. 5 mehr als vier Monate vergangen sind. | |||||||||
(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
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1. | die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war; | |||||||||
2. | das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens; | |||||||||
3. | die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; | |||||||||
4. | der Grad der Integration; | |||||||||
5. | die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen; | |||||||||
6. | die strafgerichtliche Unbescholtenheit; | |||||||||
7. | Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts; | |||||||||
8. | die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren; | |||||||||
9. | die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist. | |||||||||
(4) Der Aufenthalt eines Fremden widerstreitet dem öffentlichen Interesse (Abs. 2 Z 1), wenn
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1. | sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde oder | |||||||||
2. | der Fremde ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt. | |||||||||
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
(6) Die Zulässigkeit, den Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des Abs. 2 Z 2 und 4 mit einer Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15) erbringen zu können, muss ausdrücklich beim jeweiligen Aufenthaltszweck angeführt sein.
(7) Der Fremde hat bei der Erstantragstellung ein Gesundheitszeugnis vorzulegen, wenn er auch für die Erlangung eines Visums (§ 21 FPG) ein Gesundheitszeugnis gemäß § 23 FPG benötigen würde.
Gem. § 11 Abs 2 Z 1 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet. Gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 NAG widerstreitet der Aufenthalt eines Fremden dem öffentlichen Interesse wenn sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden wurde.
Im gegenständlichen Fall wurde die bP wegen der festgestellten Straftaten verurteilt, insbesondere mehrfach wegen derselben schädlichen Neigung sowie einmal zu einer teilbedingten Strafe von über 6 Monaten. Aufgrund des der Verurteilung(en) zugrundeliegenden Verhaltens widerstreitet in diesem Fall der Aufenthalt öffentlichen Interessen (vgl. unten).
II.3.3. Rückkehrentscheidung im Zusammenhang mit den rechtlichen Bestimmungen
Die Behörde hat ihre Entscheidung unter anderem richtigerweise auf § 52 Abs. 4 Z 1 FPG gestützt, da die bP rechtmäßig aufhältig ist. Ausgeführt wurde, dass von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die bP auszugehen ist.
II.3.3.1. Gesetzliche Grundlagen (auszugsweise):
§ 9 BFA-VG, Schutz des Privat- und Familienlebens:
„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) – (6) …“
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§ 55 FPG, Frist für die freiwillige Ausreise(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
§ 58. AsylG (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,
4. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder
5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
(2) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.
(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Abs. 3) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Abs. 11 gilt.
(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.
(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Abs. 11 gilt.
(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,
2. bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder
3. gemäß § 95 FPG über einen Lichtbildausweis für Träger von Privilegien und Immunitäten verfügt oder gemäß § 24 FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist
soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.
(10) Anträge gemäß § 55 sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art. 8 EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß §§ 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.
(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist
1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder
2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.
Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.
(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.
(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn
1. ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß § 56 eingeleitet wurde und
2. die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Z 1, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben.
II.3.3.2. Bestimmungen im gegenständlichen Verfahren
Die bP stellt eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, dass jedenfalls eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit der dargestellten Judikatur gemäß § 52 FPG samt Einreiseverbot auszusprechen war und stehen auch die familiären- und privaten Bindungen einer Rückkehrentscheidung nicht entgegen (vgl. Ausführungen unten).
II.3.3.3. Interessensabwägung
Wie bereits dargestellt und unten noch erörtert wird, stellt die bP eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung gem. § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
II.3.3.3.1. Die Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann einen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Vom Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8
EMRK
ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. (vgl. dazu EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981, 118; EKMR 14.3.1980, 8986/80, EuGRZ 1982, 311; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention,
EMRK
- Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art.
8
; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayr, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1, ebenso VwGH vom 26.1.2006, 2002/20/0423).
Bei dem Begriff „Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK“ handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention.
Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, greift sie lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben ein; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR, Cruz Varas and others vs Sweden, 46/1990/237/307, 21.3.1991).
II.3.3.3.2. Basierend auf den getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung einen Eingriff in das Recht auf das Privat- und Familienleben darstellt.
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Zweifellos handelt es sich sowohl bei der belangten Behörde als auch beim ho. Gericht um öffentliche Behörden im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und ist der Eingriff in § 10 AsylG gesetzlich vorgesehen.
Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung der durch Art. 8 (1) EMRK geschützten Rechte des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art. 8 (2) EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt wird.
Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der gesetzlichen Determinanten im Lichte der Judikatur Folgendes (Gesamtschau unter Zugrundelegung der Abwägungskriterien und Ermittlungsergebnisse):
Für die bP spricht, dass sie seit dem 11 Lebensjahr in Österreich aufhältig ist. Sie hat damit ca. die Hälfte ihres Lebens in der Türkei verbracht, wo sie sozialisiert wurde, und die letzte Hälfte ihres Lebens in Österreich, wo sie seit ca. 11 Jahren lebt. Die bP spricht zwar sehr gut Deutsch, es wurden aber keine Empfehlungsschreiben vorgelegt, die eine außergewöhnliche gesellschaftliche Integration belegen würden und ergab sich diesbezüglich auch nichts in der mündlichen Verhandlung. Die bP betätigt sich nicht ehrenamtlich und ist lediglich Mitglied in einem Fußballverein. Seit Anfang 2020 ist die bP beruflich integriert und geht einer Beschäftigung nach. Sie lebt auch wieder bei ihrer Mutter in deren Haushalt, in dem sie mithilft.
Als Kriterien für die Beurteilung, ob Beziehungen zu Verwandten im Aufnahmestaat im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entsprechen, müssen neben der bloßen Verwandtschaft noch weitere Umstände hinzutreten, etwa besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgehen (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff).
Es liegt mit der Mutter und der Schwester, mit denen sie im gemeinsamen Haushalt lebt, kein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis oder ein Pflegeverhältnis vor und kann auch vor dem Hintergrund der Angaben der bP und der Mutter in der Verhandlung nicht erkannt werden, dass die Kriterien iSd Art. 8 EMRK für ein aufrechtes Familienleben insbesondere angesichts der Volljährigkeit der Personen im Hinblick auf die Mutter, die Schwester sowie die weiteren in Österreich aufhältigen Verwandten wie Onkel und Großvater erfüllt wären. Die bP lebt lediglich mit der Mutter und Schwester in gemeinsamen Haushalt und beteiligt sich finanziell, indem sie zB. Einkäufe erledigt sowie im Haushalt hilft (Geschirrspüler ausräumen, Wäsche waschen, für Tochter kochen). Auch mit der Frau, mit welcher die bP beabsichtigt, eine Beziehung aufzubauen, liegen aktuell noch keinerlei enge Verbindungen vor, die die Annahme eines Familienlebens rechtfertigen würden und liegt mit der Mutter der Tochter keinerlei Beziehung mehr vor.
Nach einem VwGH Erkenntnis vom 26.06.2007, GZ: 2007/01/0479 sowie nach einer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fällt die familiäre Beziehung unter Erwachsene nur unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzlich Merkmale einer Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen.
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt – auch nach der Rechtsprechung des EGMR – nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu VfGH 9.6.2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse VwGH 26.1.2006, 2002/20/0235; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 22.8.2006, 2004/01/0220; VwGH 29.3.2007, 2005/20/0040 und VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720).
Weder aus der Aktenlage noch aus Stellungnahmen oder Beschwerde sind Hinweise auf ein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Verwandten hervorgetreten.
Das Vorliegen eines „Familienlebens“ iSd Art. 8 EMRK laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ipso iure wird bis zum Erreichen der Volljährigkeit letzterer angenommen.
Demnach liegt ein Familienleben zwischen der bP und ihrer Tochter vor. Die Tochter wird jedes Wochenende Freitags von Mutter oder Schwester der bP abgeholt, um Streitigkeiten zwischen der Mutter der Tochter und der bP vorzubeugen und wird am Sonntag wieder zur Mutter und deren Familie zurückgebracht. Unter der Woche lebt die Tochter bei ihrer Mutter und den Großeltern mütterlicherseits. Auch die Mutter der Tochter gab in der Verhandlung an, dass es zwischen Tochter und bP ein gutes Verhältnis gibt und auch regelmäßig Unterhalt gezahlt wird. Zudem hat die Mutter der Tochter gemäß ihrer Angaben in der Verhandlung keinerlei Problem, wenn die Tochter die bP in der Türkei besuchen würde und hat sie sogar angegeben, dass die Tochter - immer wenn sie von der bP zurückkomme - weinen würde, was eine enge Vater- Tochter Beziehung belegt. In der Beweiswürdigung wurde bereits darauf hingewiesen, dass das BVwG in der Verhandlung den Eindruck gewinnen konnte, das tatsächlich eine starke Vater- Tochter Beziehung besteht.
Es trifft zwar zu, dass im Rahmen einer Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden in der Regel von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (vgl. VwGH 1.2.2019, Ra 2019/01/0027, mwN). Diese Rechtsprechung betraf allerdings nur Konstellationen, in denen sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab. Die „Zehn-Jahres-Grenze“ spielte in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (VwGH vom 28.02.2019, Zl. Ra 2018/01/0409-7, vgl. VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001, mwN).
In diesem Zusammenhang wird auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.03.1995, 95/18/0061, verwiesen, in welcher der VwGH ausdrücklich ausgeführt hat, dass das wiederholte Fehlverhalten des Fremden (im damals vom VwGH beurteilten Verfahren waren dies die Delikte des Einbruchsdiebstahles und der Hehlerei) eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit bewirkt und derart schwerwiegend ist, dass auch die stark ausgeprägten privaten und familiären Interessen des Fremden, der mit seiner Familie, Gattin und Kindern, seit fünf Jahren in Österreich lebte, zurücktreten müssen (vgl. auch VwGH 08.02.1996, 95/18/0009).
Soweit sich die bP bzw deren Vertretung grundsätzlich auf das Kindeswohl bzw. gerade die Vater- Tochter Beziehung berufen, ist anzuführen, dass der VfGH zuletzt in einer Entscheidung festgehalten hat, dass der Kontakt zwischen Vater und Sohn über moderne Kommunikationsmittel lebensfremd sei und körperliche Nähe sowie nonverbale Interaktion nicht ersetzen könne. Eine grundrechtskonforme Auslegung gelange unzweifelhaft zu dem Ergebnis, dass eine Außerlandesbringung des Beschwerdeführers mit einer Verletzung des Kindeswohls (VwGH vom 20.09.2017, RA 2017/19/0163, Rz 12 mwN), nicht zuletzt aufgrund der besonders nachteiligen Implikationen für die kindliche Entwicklung, einhergeht und damit eine unverhältnismäßige Maßnahme darstellen würde (vgl. zum Recht eines Vaters auf persönlichen Kontakt mit seinem Kind VwGH 16.05.2012, 2011/21/0277 sowie VwGH 17.04.2013, 2013/22/0088).
Zwar verkennt das erkennende Gericht nicht, dass einem Kind grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen zukommt (vgl § 138 Z 9 ABGB) (vgl dazu zuletzt VwGH 19.12.2019, RA 2019/21/0282-13) und dass ein Kontakt im Wege der Telekommunikation bei Kleinkindern nicht leicht möglich ist (vgl VfGH 25.02.2013, U 2241/12), es ist allerdings im gegenständlichen Fall durchaus möglich, den Kontakt beispielsweise durch Besuche zu halten.
Auch wenn man vom Bestehen eines durch Art. 8 EMRK geschützten Familienlebens zwischen der bP und ihrer Tochter ausgeht, ist festzuhalten, dass bei der Abwägung zwar auf das Wohl des Kindes, das die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, und auf das Interesse der bP an einer Beziehung zum Kind Bedacht zu nehmen ist. Vor allem der Umstand, dass das Kind mit nur einem Elternteil, der Mutter, aufwachsen müsste und dementsprechend körperliche Nähe und nonverbale Interaktion mit der bP nicht laufend möglich wären, verleihen dem Interesse am Verbleib im Bundesgebiet ein gewisses Gewicht. Der Verfassungs- und der Verwaltungsgerichtshof scheinen dem Recht auf persönlichen Kontakt zwischen Vater und Kind sowie der Möglichkeit körperlicher Nähe und nonverbaler Interaktion in der Beziehung zwischen Vater und Kleinkind grundsätzlich große Bedeutung beizumessen. Durch die Rückkehrentscheidung würde grundsätzlich auch in eine schon aufrechte, funktionierende Beziehung eingegriffen. Ein Gutachten wie in der Beschwerde angeführt zu den Auswirkungen auf das Kind war nicht einzuholen, da sich in der Verhandlung durchaus das Bild zeigte, dass es eine intakte Beziehung zwischen der bP und ihrer Tochter gibt und diese durch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot jedenfalls zumindest vorübergehend stark beeinträchtigt wird.
Ein persönlicher Kontakt durch Besuche ist aber grundsätzlich als möglich anzusehen. Dass ein solcher Kontakt nicht gleichzusetzen ist mit einer funktionierende Eltern(teil)-Kind-Beziehung bei einem Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt, steht außer Frage. Die bP lebt aber auch jetzt schon nicht mit der Tochter in gemeinsamen Haushalt, sieht diese allerdings jedes Wochenende.
Es steht der bP auch - nach Ablauf des gegen ihn verhängten Einreiseverbots - frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen. Zu den für die Gewichtung des Familienlebens relevanten Kriterien ist festzuhalten, dass ein ausgeprägtes Interesse des Beschwerdeführers am Kind bzw. an der Beziehung zum Kind nach dessen Geburt im Verfahren zwar zutage trat, womit es zu einer Erhöhung des Interesses der bP am Verbleib im Bundesgebiet kommt.
Soweit die serbische Mutter nicht (freiwillig) Österreich verlassen wird, wird das die türkische Staatsangehörigkeit innehabende Kind hier bei seiner Mutter aufwachsen. Damit ist der nach der Judikatur zumindest wünschenswerte, bisweilen sogar notwendige ständige Kontakt des Kindes mit der Mutter in den ersten Lebensphasen jedenfalls gewährleistet. Medizinische Versorgung und die Befriedigung existentieller Bedürfnisse sind ebenfalls wenigstens auf dem in Österreich allgemein verfügbaren Mindestniveau sichergestellt. Die Mutter des Kindes unterhält in Österreich soziale Kontakte; sie wäre auch ohne die bP nicht auf sich allein gestellt, und lebt diese bei ihren Eltern.
Dass das Erbringen von Unterhaltsleistungen im Falle der Rückkehr der bP in die Türkei mit Unwägbarkeiten verbunden sein kann, erscheint vor diesem Hintergrund kein gewichtiges Argument für den Verbleib in Österreich. Unterhaltszahlungen an die Kinder können – allenfalls in vermindertem Umfang – auch vom Ausland aus erbracht werden (vgl. VwGH vom 16.01.2007, Zahl 2006/18/0482).
Das Kindeswohl ist vor diesem Hintergrund damit nicht schwerwiegend durch die Rückkehr der bP gefährdet. Generell gemindert ist die Schutzwürdigkeit des Familienlebens der bP auch deshalb, weil sie es zu einem Zeitpunkt begründet hat, zu dem die Zulässigkeit des Aufenthalts im Bundesgebiet schon bis zu einem gewissen Grad aufgrund der Verurteilungen unsicher war. Die bP hat auch trotz der Geburt der Tochter Straftaten gesetzt, insbesondere gegen die Mutter der Tochter.
Für die Beendigung des Aufenthalts der bP im Bundesgebiet sprechen im Ergebnis damit die gewichtigen Interessen der Republik Österreich, allen voran das öffentliche Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Verhinderung von strafbarem Verhalten. Diesen öffentlichen Interessen läuft das Verhalten der bP massiv zuwider.
Die bP musste sich der Konsequenzen neuerlicher Straffälligkeit bewusst gewesen sein, nicht einmal dieser Umstand hielt sie jedoch von der Begehung neuerlicher Straftaten ab, was nicht nur eine Wiederholungs- bzw. neuerliche Tatbegehungsgefahr indizierte, sondern allgemein auf ein fehlendes Unrechtsbewusstsein und fehlende Rechtstreue der bP schließen ließ.
Die bP ist zwar selbsterhaltungsfähig und auch bis zu einem gewissen Grad sozial und gesellschaftlich integriert, die Straffälligkeit spricht jedoch gegen den Verbleib im Bundesgebiet. Die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigenden Interessen können im gegenständlichen Fall weder für sich genommen noch in Summe die gewichtigen öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Zu bedenken sind dabei insbesondere die Tatsache, dass keine außergewöhnliche Integration vorliegt und die Tochter zu einem Zeitpunkt geboren wurde, wo sich die bP schon aufgrund der Straffälligkeit bewusst gewesen sein musste, dass der Aufenthalt zu einem gewissen Grad unsicher ist. Zudem hat die bP noch nach der Geburt der Tochter Straftaten begangen, insbesondere auch gegen die Mutter der Tochter gerichtet. Die bP hat die Bindungen zum Herkunftsstaat trotz der längeren Abwesenheit nicht gänzlich verloren und verfügt dort über Verwandte, welche ihr bei der Integration in den Arbeitsmarkt sowie die Gesellschaft behilflich sein können. Sie hat auch die prägenden Jahre der Kindheit und Jugend dort verbracht, die Volksschule besucht uns spricht die türkische Sprache auf muttersprachlichen Niveau.
Es wird ihr aufgrund des guten Gesundheitszustands und der Berufserfahrung möglich sein, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation auch dort für ihren Lebensunterhalt aufzukommen und sich ohne größere Probleme wieder in die dortige Gesellschaft zu integrieren.
Aufgrund der Straffälligkeit der bP ist die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen sie trotz des rechtmäßigen Aufenthalts, der sozialen und beruflichen Integration in Österreich und der Beziehung zu ihrer minderjährigen Tochter zulässig. Das wiederholte Fehlverhalten bewirkt eine so erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, dass sogar die privaten und ausgeprägten familiären Interessen zurücktreten müssen. Die Rückkehrentscheidung ist angesichts der Schwere der Verstöße der bP gegen österreichische Rechtsnormen zur Verwirklichung der in Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, namentlich der Verhinderung strafbarer Handlungen, des Schutzes der öffentlichen Ordnung sowie der körperlichen Integrität anderer und der Gewährleistung rechtsstaatlicher Verfahren, dringend geboten.
Es besteht auch eine hinreichende und zumutbare Möglichkeit der Aufrechterhaltung des Kontakts mit der Tochter auch im Falle der Aufenthaltsbeendigung insbesondere durch Besuche der türkischen Tochter mit der Mutter der bP sowie moderne Medien (vgl. EGMR, Joseph Grant gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 08.01.2009, Beschwerde Nr. 10.606/07). Eine Erschwerung des (künftigen) Kontakts zwischen der bP und dem Kind ist im öffentlichen Interesse hinzunehmen. Der Umstand, dass die bP auch nach der Geburt der Tochter straffällig insbesondere gegenüber der Mutter der Tochter wurde, wiegt besonders schwer und hat die bP damit bewusst ihr Familienleben mit der Tochter aufs Spiel gesetzt. Angesichts der vom Bundesverwaltungsgericht im konkreten Einzelfall getroffenen, begründeten Gewichtung sowohl der für das Kindeswohl maßgeblichen Faktoren als auch des grundsätzlich berücksichtigungswürdigen Interesses des Vaters an einer vor allem von körperlicher Nähe und nonverbaler Interaktion geprägten Beziehung zum Kind überwiegen jedoch die öffentlichen Interessen, sodass die Rückkehrentscheidung im Ergebnis im Sinne der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Dass es durch die Rückkehrentscheidung zu einer Trennung von der Ehegattin und den Kindern kommen kann, sofern diese nicht mitziehen würden, ist angesichts dieses gezeigten Verhaltens bzw. durch die Straffälligkeit durch das hohe öffentliche Interesse hinzunehmen und gerechtfertigt (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271). Dies gilt umso mehr für eine Trennung von Eltern und Geschwistern.
II.3.3.3.3. Nach Maßgabe einer im Sinne des § 9 BFA-VG durchgeführten Interessensabwägung ist das BFA daher zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet das persönliche Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen oder in der Beschwerde vorgebracht worden, die im gegenständlichen Fall den Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, rechtfertigen würden.
Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung einer Rückkehrentscheidung.
II.3.4. Abschiebung
II.3.4.1. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Gemäß § 50 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 EMRK oder Art 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (Abs 1), wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Abs 2) oder solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht (Abs 3).
Im gegenständlichen Fall sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs. 9 iVm. § 50 FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in die Türkei unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in gegenständlicher Beschwerde nicht schlüssig dargelegt.
Eine im § 50 Abs. 3 FPG genannte Empfehlung des EGMR liegt ebenfalls nicht vor.
II.3.4.2. Zur individuellen Versorgungssituation der bP wird darüber hinaus festgestellt, dass diese in der Türkei über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügt. Bei der bP handelt es sich um einen mobilen, jungen, gesunden und arbeitsfähigen Menschen. Auch steht es der bP frei, zumindest Gelegenheitsarbeiten anzunehmen oder das –wenn auch nicht sonderlich leistungsfähige- Sozialsystem des Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen.
Einerseits stammt die bP aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehört die bP keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Ebenso kam hervor, dass die bP im Herkunftsstaat nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt. Sie stammt aus einem Kulturkreis, in dem auf den familiären Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung im Familienkreis großer Wert gelegt wird und kann die bP daher Unterstützung durch ihre Familie erwarten.
Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass die bP im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat ihre dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht in eine, allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage gerät.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist die Abschiebung der bP in ihren Herkunftsstaat zulässig. Es sind keine konkreten Umstände dahingehend hervorgekommen, dass - auch unter dem Gesichtspunkt des Privat- und Familienlebens der bP - unter Berücksichtigung der konkreten Situation in der Türkei die Abschiebung in den Herkunftsstaat unzulässig wäre (vgl VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).
II.3.5. Die bB erteilte der bP zurecht kein Aufenthaltsrecht gem. §§ 57 oder 55 AsylG. Es wurden keine Anträge auf Aufenthaltstitel gestellt und war auch nicht erkennbar, dass von Amts wegen solche zu erteilen gewesen wären.
Grundsätzlich ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG nur zu prüfen, wenn ein Fall des § 58 Abs 1 AsylG vorliegt. So ist gemäß der Entscheidung des VwGH vom 16.07.2020, Zl. Ra 2020/21/0091 eine Entscheidung der bB über die amtswegige Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, der gemäß dem maßgeblichen § 58 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 nur dann vorzunehmen ist, wenn sich der Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, vom BVwG ersatzlos zu beheben (vgl. neuerlich VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, nunmehr Rn. 15, mit dem Hinweis auf VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0081, Rn. 8).
Eine Frist zu freiwilligen Ausreise wurde gem. § 55 FPG gemäß den dort vorgesehenen Bestimmungen erteilt. Da keine besonderen Umstände nachgewiesen wurden, die die bP bei der Regelung der persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage und ist daher nicht zu beanstanden
Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Rückkehrentscheidung vorliegen, keine Umstände gegen die Zulässigkeit der Abschiebung sprechen und eine Frist für eine freiwillige Ausreise besteht, ist die Beschwerde gegen diese Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
II.3.6. Einreiseverbot
II.3.6.1. § 53 FPG lautet:
„Einreiseverbot
§ 53.
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
(Anm.: Abs. 1a aufgehoben durch BGBl. I Nr. 68/2013)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
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1. | wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 20 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, iVm § 26 Abs. 3 des Führerscheingesetzes (FSG), BGBl. I Nr. 120/1997, gemäß § 99 Abs. 1, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß § 37 Abs. 3 oder 4 FSG, gemäß § 366 Abs. 1 Z 1 der Gewerbeordnung 1994 (GewO), BGBl. Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den §§ 81 oder 82 des SPG, gemäß den §§ 9 oder 14 iVm § 19 des Versammlungsgesetzes 1953, BGBl. Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
2. | wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde; | |||||||||
3. | wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Abs. 3 genannte Übertretung handelt; | |||||||||
4. | wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
5. | wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
6. | den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag; | |||||||||
7. | bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen; | |||||||||
8. | eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht geführt hat oder | |||||||||
9. | an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat. | |||||||||
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
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1. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
2. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
3. | ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
4. | ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist; | |||||||||
5. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
6. | auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB); | |||||||||
7. | auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet; | |||||||||
8. | ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder | |||||||||
9. | der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt. | |||||||||
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Abs. 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Abs. 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.
II.3.6.2. Der VwGH hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237 zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (vgl. ErläutRV, 1078 BlgNR 24. GP 29 ff und Art 11 Abs. 2 Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Z 1 bis 9 des § 53 Abs. 2 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 anzunehmen. In den Fällen des § 53 Abs. 3 Z 1 bis 8 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Z 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht. Es ist festzuhalten, dass -wie schon nach bisheriger Rechtslage (vgl. E 20. November 2008, 2008/21/0603)- in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen auch an dieser Stelle nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrunde liegende Verhalten abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum früher geltenden § 63 FPG (IdF vor dem FrÄG 2011), der die Festlegung der Gültigkeitsdauer eines Aufenthaltsverbotes regelte, war ein Aufenthaltsverbot für jenen Zeitraum zu erlassen, nach dessen Ablauf vorhersehbarerweise der Grund für seine Verhängung weggefallen sein wird, und auf unbestimmte Zeit (unbefristet), wenn ein Wegfall des Grundes für seine Verhängung nicht vorhergesehen werden kann.
§ 53 Abs. 3 FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Gericht diese auch nach wie vor als anwendbar.
Aus der Formulierung des § 53 Abs. 2 FPG ergibt sich, dass die dortige Aufzählung nicht als taxativ, sondern als demonstrativ bzw. enumerativ zu sehen ist ("Dies ist insbesondere dann anzunehmen, "), weshalb die bB in mit den in Z 1 – 9 leg. cit expressis verbis nicht genannten Fällen, welche jedoch in ihrer Interessenslage mit diesen vergleichbar sind, ebenso ein Einreisverbot zu erlassen hat.
Der ständigen Judikatur des VwGH zufolge, ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (vgl. VwGH vom 25.01.2018, Ra. 2018/21/0004 sowie VwGH vom 19. April 2012, Zl. 2010/21/0507, und vom 25. April 2013, Zl. 2013/18/0056, jeweils mwN). Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Entscheidung nur nach Einzelfallbeurteilung erfolgen kann, weshalb insoweit die abstrakte allgemeine Festlegung eines Wohlverhaltenszeitraumes nicht in Betracht kommt. Dass es aber grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens - regelmäßig in Freiheit - bedarf, um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, was grundsätzlich Voraussetzung für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes ist, kann nicht mit Erfolg in Zweifel gezogen werden (VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0193; vgl. auch VwGH vom 22. Jänner 2013, 2012/18/0185 und vom 22. Mai 2013, 2013/18/0041); ebenso wenig, dass dieser Zeitraum üblicherweise umso länger anzusetzen sein wird, je nachdrücklicher sich die für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgebliche Gefährlichkeit manifestiert hat (VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009; 28.01.2016, Ra 20015/21/0013). Wenn sich die Gefährdung über einen - beginnend mit der Haftentlassung - Zeitraum von mehr als 8 Jahren nicht erfüllt, kann die diesem Aufenthaltsverbot zugrundeliegende Zukunftsprognose grundsätzlich nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. VwGH vom 09.09.2013, 2013/22/0117).
Bei der im Verfahren betreffend Aufenthaltsverbot gebotenen Prognosebeurteilung kommt es nicht (nur) auf die strafgerichtlichen Verurteilungen als solche an (vgl. VwGH vom 20. November 2008, 2008/21/0603). Es ist vielmehr eine - aktuelle - Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Fremden vorzunehmen und die Frage zu beantworten, ob sich daraus (weiterhin) eine maßgebliche Gefährdung ableiten lässt (VwGH vom 25.04.2013, Zl. 2012/18/0072).
II.3.6.3. Vor dem Hintergrund dieser Judikaturlinien wurden bereits verschiedenste Fallkonstellationen im Rahmen von Einzelfallbeurteilungen jeweils unter Zugrundelegung der sich ergebenden maßgeblichen Gefährdung und in weiterer Folge der Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG, welche u.a. zu einer "reduzierten Gefährlichkeit des Mitbeteiligten“ führen kann, beurteilt.
Auch aus einem einmaligen Fehlverhalten - entsprechende Gravidität vorausgesetzt - kann eine maßgebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit abgeleitet werden (VwGH 03.07.2018, Ra 2018/21/0099).
II.3.6.3.1. Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR
Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 2. 4. 2015, 27945/10, Sarközi and Mahran v. Austria zur Verhängung eines Aufenthaltsverbots nach mehrmaliger strafgerichtlicher Verurteilung trotz eines minderjährigen Kindes mit einem österreichischen Staatsbürger festgehalten, dass va die Schwere der sieben strafgerichtlichen Verurteilungen und die Tatsache, dass der BF bei ihrer letzten Straftat bewusst gewesen sein muss, dass eine Ausweisung droht, zu berücksichtigen war. Hingewiesen wurde auf die räumliche Nähe zwischen dem Wohnort ihrer Familie (XXXX) und Bratislava, wohin sie abgeschoben wurde.
In der Entscheidung vom 15.11.2012, Bsw. 52873/09, Shala gg. Schweiz wurde ein aus dem Kosovo stammender und im Rahmen eines Familiennachzugs im Alter von 7 Jahren in die Schweiz gekommen BF nach mehreren strafrechtlichen Verurteilungen eine Ausweisung für die Dauer von 10 Jahren ausgesprochen, nachdem er 18 Jahren in der Schweiz gelebt hatte. Der BF wurde 2003 wegen fahrlässiger Körperverletzung, grober Verletzung von Straßenverkehrsregeln sowie pflichtwidrigem Verhalten bei einem Unfall zu einer bedingten 3-monatigen Freiheitsstrafe und wegen grober Verletzung von Straßenverkehrsregeln zu einer 30-tägigen Freiheitsstrafe verurteilt. 2004 erhielt der BF wegen Rauferei eine bedingte Freiheitsstrafe von 45 Tagen. Im Jahr 2007 wurde er wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage sowie versuchter Erpressung zu einer Geldstrafe verurteilt und wurde die Bewährung für die 45-tägige Freiheitsstrafe aufgehoben. Unter Artikel 8 EMRK machte er vor dem Gerichtshof geltend, seine Wegweisung sei aufgrund der fehlenden Möglichkeit, sich im Kosovo beruflich zu integrieren, unverhältnismässig. Angesichts der mehrmaligen Straftaten des Beschwerdeführers, der Beschränkung der Einreisesperre auf 10 Jahre und des engen Bezugs, den er noch zu seinem Herkunftsland habe, befand der Gerichtshof, dass die von den Schweizer Behörden vorgenommene Abwägung der privaten Interessen des Beschwerdeführers mit dem Interesse der Schweiz, die Einwanderung zu kontrollieren, verhältnismäßig ausgefallen war.
II.3.6.3.2. Beispiele aus der Rechtsprechung des VwGH
Wie aus der Judikatur des EGMR erkennbar, handelt es sich bei der Suchtgiftkriminalität um eine besondere gefährliche Kriminalitätsform, bei der die Wiederholungsgefahr besonders groß ist und der eine große Sozialschädlichkeit anhaftet, wobei auch die Beschaffungskriminalität zu berücksichtigen ist.
Die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes wegen zahlreicher strafbarer Handlungen gegen fremdes Eigentum und körperliche Integrität ist auch bei einem rund 19 Jahre dauernden Aufenthalt des Fremden in Österreich gerechtfertigt, wenn der Zeitpunkt des Wegfalls der maßgeblichen Umstände für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes wegen der trotz zwischenzeitlicher Verurteilungen wiederholt begangenen und in ihrer Schwere noch gesteigerten Straftaten nicht vorhergesehen werden kann (VwGH 17.02.2006, 2005/18/0666).
Schon die Verhinderung von (vorsätzlichen und fahrlässigen) Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit von Personen stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar (VwGH 09.11.2009, Zl. 2006/18/0318; VwGH 29.11.2006, Zl. 2006/18/0339).
Verwaltungsübertretungen weisen nicht schon für sich genommen eine solche Schwere auf, dass sie die Gefährdungsprognose nach § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FrPolG 2005 ohne weiteres indizieren würden, wenn sie im Katalog des § 53 Abs. 3 FrPolG 2005 nicht enthalten sind (VwGH vom 29.06.2017, Zl. Ra 2017/21/0068, vgl. VwGH 7. Mai 2014, 2013/22/0233). Vom EGMR wurden in der Rechtssache Yildiz gegen Österreich vom 31.10.2002 (Bsw. 37295/97) 7 Verwaltungsstrafen in Zusammenschau mit 2 strafrechtlichen Verurteilungen als nicht nebensächlich betrachtet.
In der Entscheidung vom 16.07.2020, Ra 2020/21/0091-10 hielt der VwGH fest:
Soweit das BVwG diese Gefährdungsprognose auch auf die Bestrafungen des Revisionswerbers wegen Übertretung von Verwaltungsvorschriften stützte, so kommt dafür von vornherein nur jenen wegen Lenkens eines Fahrzeuges ohne Besitz der erforderlichen Lenkberechtigung vom 24. April 2018 und vom 28. September 2018 zu einer Geldstrafe von 500 € bzw. 600 € (und nicht auch jenen wegen Übertretungen des KFG und der StVO wegen Nichtanlegens des Sicherheitsgurtes bzw. unterlassener Ummeldung des Fahrzeuges wegen Wechsels des Behördensprengels zu Geldstrafen von 70 € bzw. 150 € sowie wegen Überfahrens einer Ampel bei Rotlicht zu einer Geldstrafe von 180 €) Relevanz zu. Allerdings hat das BVwG nicht erkennbar berücksichtigt, dass diese Bestrafungen nach § 37 Abs. 1 iVm § 1 Abs. 3 FSG nicht einmal den eine (bloße) Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit indizierenden Tatbestand des § 53 Abs. 2 Z 1 FPG erfüllen. Sie sind daher nicht geeignet, in maßgeblicher Weise die bei Verhängung des Einreiseverbotes vom BVwG angenommene schwerwiegende Gefährdung im Sinne des § 53 Abs. 3 FPG zu begründen. Das gilt umso mehr für die vom BVwG in diesem Zusammenhang auch ins Treffen geführte Verletzung melderechtlicher Vorschriften, für die keine Bestrafung erfolgte, was aber schon für die Verwirklichung des Tatbestandes nach § 53 Abs. 2 Z 1 FPG erforderlich gewesen wäre.
In seiner Entscheidung vom 24.05.2018, Ra 2017/19/0311 behob der VwGH eine durch das BVwG vorgenommene ersatzlose Behebung eines Einreiseverbotes. Vom BVwG wurden die Voraussetzungen der Verhängung eines Einreiseverbotes verneint, weil keiner der Tatbestände des § 53 Abs. 2 oder 3 FPG verwirklicht gewesen sei. Dies greift gemäß der Ansicht des VwGH zunächst schon insofern zu kurz, als im Hinblick auf den demonstrativen Charakter dieser Tatbestände (vgl. VwGH 26.6.2014, Ro 2014/21/0026) sich auch aus einer hinsichtlich des Unrechtsgehaltes ähnlich schwerwiegenden Konstellation (vgl. in diesem Sinn VwGH 16.11.2012, 2012/21/0080) - wobei vorliegend die Verurteilung der Mitbeteiligten wegen falscher Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 StGB in Betracht kommt - ergeben könnte, dass durch den Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist und daher - nach Vornahme einer Beurteilung im Einzelfall - ein Einreiseverbot zu verhängen ist. In seiner Entscheidung vom 18.06.2020, Ra 2020/01/0162 bestätigte der VwGH ein Einreiseverbot in der Dauer von 5 Jahren, da die Beschwerdeführerin wegen § 288 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt wurde und zudem ohne Aufenthaltstitel nach rechtskräftiger Entscheidung im Bundesgebiet verblieben ist. Dies vor dem Hintergrund ihrer familiären Bindungen.
II.3.6.4. In den Fällen des § 53 Abs 3 Z 1 bis 8 FPG ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert (vgl VwGH 30.07.2014, 2013/22/0281). Der Aufenthalt der bP stellt eine derartige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung dar, die ein Einreiseverbot erforderlich macht.
Da die bP zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt wurde und auch mehrfache Verurteilungen wegen derselben schädlichen Neigung vorliegen (2x falsche Beweisaussage, 2x Eingriffe in die körperliche Integrität), ist der Maßstab des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG (Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen) erfüllt.
Die materielle Rechtskraft des Schuldspruches bewirkt, dass dadurch - vorbehaltlich einer allfälligen Wiederaufnahme des Strafverfahrens - mit absoluter Wirkung, somit gegenüber jedermann, bindend festgestellt ist, dass der Verurteilte die strafbare Handlung entsprechend den konkreten Tatsachenfeststellungen des betreffenden Urteiles rechtswidrig und schuldhaft begangen hat (vgl. VwGH vom 24. April 2002, Zl. 2001/18/0258).
Das der bP vorzuwerfende Fehlverhalten ist in den Feststellungen ausführlich dargestellt und sind die insgesamt zur Erlassung eines Einreiseverbotes führenden Ausführungen zur Gefährdungsprognose und dem Fehlverhalten der bP in der Beweiswürdigung ausführlich erörtert.
Zweimal hat die bP gemäß gerichtlichen Verurteilungen in die körperliche Integrität anderer eingegriffen, und zwar einmal, indem sie wegen grob fahrlässiger Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 StGB verurteilt wurde, da sie Polizisten und die eigenen Fahrzeuginsassen im Rahmen einer Verfolgungsjagd durch Streifkollison gefährdete. Auch wenn im Zusammenhang mit der ersten Straftat insbesondere auch das jugendliche Alter der bP zu berücksichtigen ist, hat sie zudem später jedenfalls die Mutter ihres Kindes bedroht und misshandelt, wenngleich das Ausmaß und die Dauer der Übergriffe nicht genau abgeschätzt werden können.
Vor allem waren die erste und zweite Straftat auch im Umfeld von Suchtmittelkriminalität angesiedelt. Dies zeigt schon die verwaltungsstrafrechtliche Verurteilung, wonach die bP bei der Verfolgungsjagd das Fahrzeug der Polizisten auch im stehenden Zustand gerammt hat und aus dem Auto der bP, in welcher Personen saßen, die bereits im Zusammenhang mit Suchtmittel überwacht wurden, vermutlich Drogen geschmissen wurden. Bei der zweiten Verurteilung wollte die bP nun einen Verdächtigen bei einem Verfahren im Zusammenhang mit dem SMG durch Falschaussage begünstigen und hat zudem die protokollierenden Polizisten in der Verhandlung im April 2018 verleumdet.
Abrundend kommt die versuchte Begünstigung und das Vergehen der falschen Beweisaussage als Beitragstäter in einem weiteren Verfahren im November 2017 hinzu, in welchem die bP als Dolmetscher fungierte und versucht wurde, einen Dritten zu einer Falschaussage zu bringen. Zudem wurde gegen die bP ein Waffenverbot ausgesprochen und wurde sie wegen Vergehen nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG verurteilt. Auch wurde ihr gerade im Zusammenhang mit dem beeinträchtigten Lenken eines Fahrzeuges mehrfach der Führerschein entzogen und ist sie im Rahmen einer „Verfolgungsjagd“ mit der Polizei nach einem Unfall geflohen.
In Anbetracht der Straftaten, der Häufigkeit der einschlägigen Delikte sowie auch den zahlreichen Verwaltungsstrafen, insbesondere den mehrmaligen Führerscheinentzügen und dem Konnex zu Suchtmittel – wenngleich das Verfahren eingestellt wurde, hat die bP den Konsum selbst zugegeben und war über einen längeren Zeitraum in diesem Milieu unterwegs – und dem sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbild stellt der Aufenthalt der bP eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, sodass mit einem Einreiseverbot vorzugehen ist.
Die fremdenpolizeiliche Beurteilung ist unabhängig und eigenständig von denen betreffenden Erwägungen eines Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs zu treffen (vgl. Erkenntnis des VwGH v. 6.Juli 2010, Zl. 2010/22/0096). Es obliegt dem erkennenden Gericht festzustellen, ob eine Gefährdung im Sinne des FPG vorliegt oder nicht. Es geht bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 8. Juli 2004, 2001/21/0119). Selbiges gilt auch für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot.
Ein allfälliger Gesinnungswandel eines Straftäters ist der ständigen Judikatur des VwGH zufolge grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (vgl. VwGH vom 25.01.2018, Ra. 2018/21/0004 sowie VwGH vom 19. April 2012, Zl. 2010/21/0507, und vom 25. April 2013, Zl. 2013/18/0056, jeweils mwN).
Das gilt auch im Fall einer (erfolgreich) absolvierten Therapie (VwGH vom 26.01.2017, Zl. Ra 2016/21/0233 - vgl. E 22. September 2011, 2009/18/0147; B 22. Mai 2014, Ro 2014/21/0007; B 15. September 2016, Ra 2016/21/0262).
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Entscheidung nur nach einer Einzelfallbeurteilung erfolgen kann, weshalb insoweit die abstrakte allgemeine Festlegung eines Wohlverhaltenszeitraumes nicht in Betracht kommt. Dass es aber grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens - regelmäßig in Freiheit - bedarf, um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, was grundsätzlich Voraussetzung für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes ist, kann nicht mit Erfolg in Zweifel gezogen werden (VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0193; vgl. auch VwGH vom 22. Jänner 2013, 2012/18/0185 und vom 22. Mai 2013, 2013/18/0041); ebenso wenig, dass dieser Zeitraum üblicherweise umso länger anzusetzen sein wird, je nachdrücklicher sich die für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgebliche Gefährlichkeit manifestiert hat (VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009; 28.01.2016, Ra 20015/21/0013). Wenn sich die Gefährdung über einen - beginnend mit der Haftentlassung - Zeitraum von mehr als 8 Jahren nicht erfüllt, kann die diesem Aufenthaltsverbot zugrundeliegende Zukunftsprognose grundsätzlich nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. VwGH vom 09.09.2013, 2013/22/0117).
Die bP wurde unstrittiger Weise mehrfach rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt. Es ist zwar zu berücksichtigen, dass von den vier gegen die bP ausgesprochenen Strafen lediglich die letzte in einer teilbedingten Haftstrafe endete und alle anderen Strafen bedingt verhängt wurden und auch die Strafrahmen letztlich nicht voll ausgeschöpft wurden. Dennoch ist festzuhalten, dass die bP erst vor ca. ½ Jahr aus der einmonatigen Haft entlassen worden ist und damit noch kein Zeitraum des Wohlverhaltens festgestellt werden kann.
Zusammenfassend ist daher dem BFA beizupflichten, dass die bP eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt und aktuell noch von keiner positiven Zukunftsprognose ausgegangen werden kann.
II.3.6.5. Zur Dauer des Einreiseverbotes
Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände und in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes der bP im Zusammenhang mit den strafgerichtlichen Verurteilungen sowie den Verwaltungsstrafen kann auch eine künftige Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere zur Wahrung der Rechtmäßigkeit des Ablaufes von gerichtlichen Verfahren, der körperlichen Integrität anderer und damit an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als eindeutig gegeben angenommen werden (vgl VwGH 19.05.2004, 2001/18/0074).
Das gewonnene Persönlichkeitsbild wird durch Verletzung der Anmeldepflicht nach dem Meldegesetz (Dauerdelikt) im Jahr 2020 noch abgerundet.
Abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens der bP ist darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (vgl. Erkenntnis VwSlg. 18.295 A, mwN). Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen, wobei im Allgemeinen auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt (vgl. zu diesem Aspekt etwa das hg. Erkenntnis vom 16. Oktober 2014, Ra 2014/21/0039, mwN).
Eine positive Prognose ist zusammenfassend zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, bedarf es eines Zeitraums des Wohlverhaltens, wobei in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich ist (VwGH 22.03.2018, Ra 2017/22/0194).
Die bP befand sich bis vor ca. ½ Jahr in Haft und kann aufgrund des verstrichenen Zeitraums seit der Haft noch nicht von einem entsprechenden Wohlverhaltenszeitraum gesprochen werden, der zu einer positiven Zukunftsprognose führen würde.
II.3.7. Dem Bundesamt kann im vorliegenden Fall nicht entgegengetreten werden, wenn es die Verhängung eines Einreiseverbotes im Lichte der öffentlichen Interessen als erforderlich erachtet.
Da sich die bP aber keine Schwerkriminalität zuschulden kommen ließ, seit der letzten Verurteilung keine physische Gewalt mehr ausübte und erhebliche familiäre, berufliche sowie private Interessen an einem Aufenthalt in Österreich hat, ist die Dauer des Einreiseverbots auf 2 Jahre zu reduzieren. Auch das Strafgericht blieb bei der letzten Verurteilung im unteren Bereich des Strafrahmens und fand mit einer teilweise bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe das Auslangen, deren Dauer die Grenze des § 53 Abs. 3 Z 1 zweiter Fall FPG knapp überschreitet. Trotz des einschlägigen Rückfalls wurde auch bei der letzten Verurteilung der Strafrahmen nicht ausgeschöpft. Ein 2-jähriges Einreiseverbot erscheint dem konkreten Unrechtsgehalt der von der bP begangenen Straftaten unter Berücksichtigung aller Milderungs- und Erschwerungsgründe, ihren persönlichen Lebensumständen und dem persönlichen Eindruck in der Verhandlung angemessen.
Die ausgesprochene Dauer von 4 Jahren erweist sich in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles als zu hoch angesetzt und wurde auch im angefochtenen Bescheid keiner entsprechenden Begründung zugeführt. Die Dauer des Einreiseverbotes war daher spruchgemäß auf 2 Jahre herabzusetzen, da anzunehmen ist, dass innerhalb dieses Zeitraums ein Wegfall der von der bP ausgehenden Gefährdung erwartet werden kann.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiter ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zur Auslegung des durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienlebens in Verbindung mit den Voraussetzungen zur Erlassung einer Rückehrentscheidung samt eines Einreiseverbotes abgeht.
Aufgrund der oa. Ausführungen war die Revision nicht zuzulassen.
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