VwGH Ra 2016/21/0193

VwGHRa 2016/21/019317.11.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Halm-Forsthuber, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das (als Beschluss bezeichnete) Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. April 2016, Zl. G307 2104090-1/11E, betreffend (insbesondere) Aufenthaltstitel, Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot (mitbeteiligte Partei: S D in W, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Universitätsstraße 8/2), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
FrPolG 2005 §52 Abs4 Z4;
FrPolG 2005 §52 Abs4;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1;
FrPolG 2005 §55 Abs1;
FrPolG 2005 §55 Abs2;
FrPolG 2005 §55 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1 impl;
NAG 2005 §25;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z2;
AsylG 2005 §55 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs1;
BFA-VG 2014 §9 Abs3;
FrPolG 2005 §52 Abs4 Z4;
FrPolG 2005 §52 Abs4;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1;
FrPolG 2005 §55 Abs1;
FrPolG 2005 §55 Abs2;
FrPolG 2005 §55 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1 impl;
NAG 2005 §25;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z2;

 

Spruch:

Die angefochtene Entscheidung wird insoweit, als sie feststellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 vorlägen, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

Im Übrigen (Stattgebung der zugrunde liegenden Beschwerde betreffend Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides und Aufhebung der Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Bescheides) wird die angefochtene Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste erstmals im Jahr 2009 nach Österreich ein. Er hielt sich seit September 2010 rechtmäßig im Bundesgebiet auf und verfügte durchgehend über Aufenthaltstitel, zuletzt eine bis zum 20. März 2016 gültige "Rot-Weiß-Rot Karte plus". Am 1. März 2016 stellte er diesbezüglich einen Verlängerungsantrag.

2 Mit (nach Bestätigung durch Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 25. Juli 2014) rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. März 2014 war über den Mitbeteiligten wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten Suchtgifthandels (betreffend insgesamt rund 55 g Heroin im Jänner 2014) sowie des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (wiederholter Erwerb und Besitz von Cannabis, Kokain und Heroin zum Eigengebrauch zwischen 22. September 2009 und 5. Jänner 2014) eine 15- monatige Freiheitsstrafe (davon 10 Monate bedingt nachgesehen) verhängt worden.

3 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19. Februar 2015 war über den Mitbeteiligten wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (wiederholte Weitergabe von insgesamt 2 bis 3 g Kokain zwischen 6. Juni 2014 und September 2014 sowie Erwerb und Besitz von Cannabis, Kokain und Heroin zum Eigengebrauch zwischen 6. Juni und 16. Oktober 2014) eine 5-monatige Freiheitsstrafe verhängt worden.

4 Mit Bescheid vom 3. März 2015 sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bezug auf die erstgenannte Verurteilung aus, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt werde. Gemäß § 52 Abs. 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Serbien zulässig sei (Spruchpunkt I). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG setzte das BFA die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung fest (Spruchpunkt II). Gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG erließ es gegen den Mitbeteiligten ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt III).

5 Mit der angefochtenen - nach mündlicher Verhandlung ergangenen und der Beschwerde des Mitbeteiligten stattgebenden - Entscheidung vom 18. April 2016 stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - unter impliziter Aufhebung des Spruchpunktes I des angefochtenen Bescheides vom 3. März 2015 - fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei; es hob überdies die Spruchpunkte II und III des genannten Bescheides ausdrücklich auf. Gleichzeitig stellte es noch fest, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 vorlägen. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Begründend führte das BVwG aus, die Motivation des Mitbeteiligten für seine in den Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. März 2014 und vom 19. Februar 2015 dokumentierten strafbaren Handlungen sei in seiner schwierigen Jugend und dem rauen Verhalten seines Vaters zu suchen, das ihn und seine Mutter zum gemeinsamen Verlassen der Heimat bewogen und in die Suchtmittelabhängigkeit getrieben habe. Seit Jänner 2015 sei er allerdings nicht mehr suchtmittelabhängig, nachdem er eine Therapie "bis dato erfolgreich absolviert" habe, und übe seit 16. März 2015 den Beruf einer Reinigungskraft aus. Er sei - im Anschluss an eine ab Februar 2010 bestehende Beziehung - seit 9. August 2014 mit der (in Österreich nicht über einen Aufenthaltstitel verfügenden) serbischen Staatsangehörigen J. verheiratet, mit der er während ihrer Besuche in Österreich im gemeinsamen Haushalt lebe. Auch hielten sich weitere Verwandte (Großeltern, Onkel und Tante) in Österreich auf. In seiner Freizeit widme er sich überwiegend dem Judosport, sei seit September 2015 Mitglied in einem näher bezeichneten Wiener Judoclub und engagiere sich dort vor allem in der Jugendarbeit. Er sei der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig und "besuchte einen Deutschkurs des Niveaus A2".

7 In der rechtlichen Beurteilung hob das BVwG neuerlich die schwierige Jugend des Mitbeteiligten hervor und verwies darauf, dass sein letzter Suchtmittelhandel bereits rund eineinhalb Jahre zurückliege. Umso beachtlicher sei die - vor allem seit der erwähnten Eheschließung - "in eine völlig andere Richtung gewandelte Lebenseinstellung", die Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung als Reinigungskraft und das Engagement für die Jugendarbeit eines Judovereines. "Von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit iSd § 53 Abs. 2 FPG" könne somit nicht mehr ausgegangen werden. Auf Grund der Überwindung der Drogenabhängigkeit sowie der erwähnten beruflichen, sprachlichen, familiären und sozialen Integration in Österreich - bei praktischem Fehlen aufrechter Beziehungen zu Serbien - überwögen im Übrigen auch unter Bedachtnahme auf die schwierige Jugend des schuldeinsichtigen Mitbeteiligten seine privaten und familiären Interessen die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet. Daher sei gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG die Feststellung zu treffen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, sowie gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG der angefochtene Bescheid insoweit aufzuheben. Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 sei die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 leg. cit. von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt werde. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005, was vom Prüfungsgegenstand der angefochtenen Rückkehrentscheidung mit umfasst sei, lägen - wie das BVwG näher darstellte - inhaltlich vor. Den Ausspruch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG über die Unzulässigkeit der Revision begründete das BVwG damit, dass die Entscheidung im Einklang mit der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, welche auf die nunmehr geltende Rechtslage übertragen werden könne, erfolgt sei.

8 Dagegen richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens, Aktenvorlage und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen hat:

9 Entgegen dem - den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden (§ 34 Abs. 1a VwGG) - Ausspruch des BVwG ist die gegenständliche Revision, wie sich aus dem Folgenden ergibt, zulässig. Sie ist auch berechtigt.

10 In einer Konstellation, in der im Zusammenhang mit dem Antrag auf Verlängerung eines erteilten Aufenthaltstitels nach dem NAG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 Z 4 FPG zu prüfen ist, ist das Verwaltungsgericht, wie der Verwaltungsgerichtshof zuletzt im Erkenntnis vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0224, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, näher dargelegt hat, zu einer Feststellung nach § 9 Abs. 3 BFA-VG, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, nicht befugt. Ebenso wenig ist nach den Ausführungen im genannten Erkenntnis dann eine Feststellung dahingehend zu treffen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen, bzw. ein solcher Aufenthaltstitel zu erteilen. Das gilt auch für den vorliegenden Fall, in dem die Niederlassungsbehörde (noch) nicht gemäß § 25 NAG an das BFA herangetreten ist. In Bezug auf diese beiden Feststellungen erweist sich daher auch das hier angefochtene Erkenntnis als mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes belastet, sodass es insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben war.

11 Was die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot anlangt, erachtet die Revision unter Hinweis insbesondere auf die Verwirklichung des Verbrechens des Suchtgifthandels betreffend Heroin sowie auf den raschen und einschlägigen Rückfall die vom BVwG - zu Gunsten des Mitbeteiligten - vorgenommene Gefährdungsprognose (die im Übrigen primär unter Bezug auf § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG vorzunehmen gewesen wäre) sowie die Interessenabwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG als unvertretbar. Damit ist sie nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes - jedenfalls für den Prüfungszeitpunkt der hier angefochtenen Entscheidung - im Ergebnis im Recht:

12 Bei der Wertung des Wohlverhaltens des Mitbeteiligten hat das BVwG die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht gelassen, wonach für die Annahme eines Wegfalls der sich durch das bisherige Fehlverhalten manifestierten Gefährlichkeit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich ist. Das gilt auch im Fall einer erfolgreich absolvierten Therapie (vgl. dazu aus der ständigen Judikatur zuletzt etwa den Beschluss vom 15. September 2016, Ra 2016/21/0262, mwN).

Das BVwG hat, die dargestellte Judikatur nicht beachtend, den (nach dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten jedenfalls nicht vor dem 21. Jänner 2015 und somit nicht lange zurück liegenden) Zeitpunkt der Haftentlassung des Mitbeteiligten nicht einmal festgestellt.

13 Dazu kommt, dass sich die vom BVwG auf Basis der erwähnten, ab dem Februar 2010 bestehenden Beziehung mit der serbischen Staatsangehörigen J., die der Mitbeteiligte am 9. August 2014 heiratete, gefolgerte Annahme einer "gewandelten Lebenseinstellung" nicht als schlüssig begründet darstellt. Sowohl die Beziehung als auch die Eheschließung konnten den Mitbeteiligten nämlich nicht davon abhalten, in der unter Rz 2 und 3 näher beschriebenen Weise bis zum 16. Oktober 2014 wiederholt straffällig - und zuletzt einschlägig rückfällig - zu werden.

14 Ebenso ist die vom BVwG hervorgehobene familiäre Integration dadurch relativiert, dass die in Serbien lebende Ehefrau des kinderlosen Mitbeteiligten in Österreich nicht aufenthaltsberechtigt ist und die Beziehung daher, solange sich der Mitbeteiligte in Österreich aufhält, auf besuchsweise Kontakte beschränkt ist. Daraus folgt aber auch die Unrichtigkeit der Annahme des BVwG zum praktischen Fehlen aufrechter Beziehungen zu Serbien.

15 Die angefochtene Entscheidung ist somit, soweit sie (implizit) die Rückkehrentscheidung und die damit zusammenhängende Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG sowie ausdrücklich das Einreiseverbot und den auf Spruchpunkt I. aufbauenden (im Bescheid des BFA vom 3. März 2015 enthaltenen) Folgeausspruch II. (Ausreisefrist) aufhebt, mit - in erster Linie wahrzunehmender - inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet und war daher in diesem Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 17. November 2016

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