BVwG L526 2165405-1

BVwGL526 2165405-111.12.2020

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2020:L526.2165405.1.00

 

Spruch:

 

1) L526 2165397-1/28E

2) L526 2165405-1/26E

3) L526 2165403-1/21E

4) L526 2165394-1/21E

5) L526 2165401-1/21E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. über die Beschwerde des XXXX (BF1), geb. XXXX , der XXXX , (BF2), geb. XXXX , des XXXX (BF3), geb. XXXX , des XXXX (BF4), geb. XXXX , der XXXX (BF5), geb. XXXX , BF3 bis BF5 vertreten durch die Mutter, XXXX (BF2), alle Staatsangehörigkeit Irak, alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48, 1170 Wien gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. 1) XXXX , 2) XXXX , 3) XXXX , 4) XXXX und 5) XXXX nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz „BF“ oder gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als „BF1“ bis „BF5“ genannt) stellten im Gefolge ihrer schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 22.05.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am 23.05.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Niederösterreich gaben die BF an, die im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Sie seien Angehörige der arabischen Volksgruppe und Moslems der sunnitischen Glaubensrichtung. BF1 und BF2 seien verheiratet und bei BF3-BF5 handle es sich um ihre gemeinsamen Kinder.

Sie brachten vor, in Bagdad gewohnt zu haben und von dort aus am 01.10.2015 legal unter Verwendung ihrer irakischen Reisepässe mit dem Flugzeug nach Istanbul ausgereist zu sein. Von dort aus seien sie mit einem Schlauchbot auf die griechische Insel Mytilini gefahren und von dort über Athen und verschiedene europäische Länder wie Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich gelangt. Ihre Reisepässe seien auf dem Weg verloren gegangen. BF1 sei Beamter im Innenministerium und BF2 Hausfrau gewesen.

Zu den Gründen für die Ausreise befragt, führten BF1 und BF2 an, dass sie und ihre Familie aufgrund ihrer sunnitischen Glaubensrichtung von schiitischen Milizen bedroht worden seien, in Gefahr gewesen wären und daher beschlossen hätten zu fliehen. BF1 führte zusätzlich aus, dass seine zwei anderen Töchter im Irak von ihrer Mutter und seiner ersten Frau entführt worden seien und er daher nicht wisse, wo sie sich befänden. BF2 erklärte, dass ihre Kinder, BF3 bis BF5, keine eigenen Fluchtgründe hätten und sich auf dieselben Gründe stützen würden, wie ihre Eltern.

BF1 beantragte am 13.04.2016 die Umschreibung seines irakischen Führerscheins bei der BH Waidhofen an der Thaya.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurden die BF am 19.06.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, der nunmehr belangten Behörde (im Weiteren auch kurz „bB“ genannt) im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

BF1 gab zu den Gründen für die Ausreise zusammengefasst Folgendes an: Er sei in Bagdad geboren worden, habe dort maturiert und ein technologisches Institut besucht, bevor er danach den Militärdienst absolvierte. 2008 sei er schließlich Beamter geworden und habe im Märtyrer-Institut gearbeitet, wo er zuerst in der Rechtsabteilung, dann in der Abteilung für Bürgerangelegenheiten und schließlich ab 2014 im Büro des Vizepräsidenten im Monitoring beschäftigt gewesen sei.

Er habe mit seiner ersten Frau noch zwei Töchter, die diese jedoch im Jahr 2009 entführt habe, weil sie nicht gottesfürchtig gewesen sei. Er kenne deren Aufenthalt nicht, vermute jedoch, dass sie im Kurdengebiet seien. Nach der Entführung habe er eine Anzeige bei der Polizei gemacht und ein Abwesenheitsurteil erwirkt. Weiters habe er noch zwei Brüder und eine Schwester im Irak, die in Bagdad leben und mit denen er in Kontakt stehe. Er sei gesund und nehme keine Medikamente. Die Tasche, in der sich auch die Reisepässe befunden hätten, habe der Schlepper über das Boot geworfen, da sie kurz vor dem Kentern gestanden seien. In der Tasche sei auch das Gold seiner Ehefrau gewesen. Er sei gesund, in Österreich nicht berufstätig und lebe von der Grundversorgung.

Befragt, weshalb genau sie den Irak verlassen hätten, gab BF1 an, dass er am 13.09.2015 einen Anruf von einem Hinterbliebenen eines Gefallenen bekommen habe, der ihm von einem Korruptionsfall berichtete. Man habe von ihm die Zahlung von 5 Millionen irakische Dinar verlangt, um seinen Fall überhaupt zu behandeln. Einen Namen habe ihm der Anrufer jedoch nicht nennen wollen, da er Angst gehabt habe, deswegen umgebracht zu werden. Da er bereits seit März 2014 im Monitoring tätig gewesen sei, habe er seinem Chef davon berichtet und die Anweisung erhalten, sich darum zu kümmern. BF1 habe daher der entsprechenden Direktion einen Besuch abgestattet und 10 Tage dort ermittelt, bis er über einen dort vorsprechenden Bürger einen Namen erhalten habe. Auf dem Weg zurück zu seinem Vorgesetzten habe er einen Anruf erhalten und ihm sei gesagt worden, dass er beobachtet worden sei und wenn er jemanden von der Person erzähle, würde er getötet werden. Der Anrufer sei von der Asa’ib Ahl al-Haq Miliz gewesen und habe der Anrufer auch gesagt, dass BF1 Sunnit sei und nachschnüffeln würde. Daraufhin sei BF1 sehr ängstlich gewesen und habe an dem Tag niemanden etwas berichtet. Auf dem Heimweg sei er dann von einem weißen Landcrouser mit verdunkelten Scheiben verfolgt worden. Trotz seiner Angst habe er am nächsten Tag, dem 24.09.2015, seinem Chef von der korrupten Person erzählt und ihn um zwei Monate Urlaub gebeten. Als er an dem Tag von der Arbeit nachhause gefahren sei, sei er erneut verfolgt worden und eine Person habe aus einem neben ihm fahrenden Fahrzeug auf ihn geschossen. Nur aufgrund einer schnellen Bremsung sei er nicht erwischt worden. Als er danach zuhause angekommen und seiner Frau alles berichtet habe, sei sie ohnmächtig geworden. Aus Angst, getötet zu werden, habe er dann alle Sachen gepackt und sie seien zum Bruder des BF1 gegangen. Sein Nachbar hätte am nächsten Tag berichtet, dass zweimal drei Personen zu dem Haus der BF gekommen seien, nachgesehen und auch geklopft hätten. Am Sonntag habe schließlich der Bruder des BF1 Flüge gebucht, der BF habe sein Auto verkauft und am 01.10.2015 seien sie schließlich ausgereist.

BF1 legte bei der bB einen Beamten-Dienstausweis, Abschlusszeugnisse von sich und BF2, diverse Empfehlungsschreiben und eine Liste von Kollegen vor, die getötet worden seien. Sein Bruder habe ihm diese Dokumente mit der Post geschickt.

BF2 gab zunächst an, dass ihre Kinder keine eigenen Fluchtgründe, sondern die gleichen wie sie hätten und führte zusammengefasst Folgendes aus: Sie sei in Bagdad geboren, habe am Institut für Geschichte studiert und die Universität abgeschlossen. Da sie im Jahr 2003 geheiratet und dann Kinder bekommen habe, wäre sie nie berufstätig gewesen. Sie habe zusammen mit BF1 und den gemeinsamen Kindern in einem Eigentumshaus gelebt. Ihre Familie, die im selben Bezirk in Bagdad leben würde, hätten ihr mitgeteilt, dass in dem Haus nun Vertriebene leben würden. In Bagdad würden noch ihre Eltern, Schwestern und Brüder leben, zu denen sie auch in Kontakt stehe.

Auf ihrer Flucht seien die Reisepässe, welche sich ein einer Tasche befunden hätten, ins Meer geworfen worden, da der Schlepper gemeint habe, dass das Boot zu schwer sei. Darin hätten sich auch der Ehering des BF1, dessen Arbeitsausweis und Kleidung der Kinder befunden. Den Personalausweis habe ihnen ein Freund ihres Mannes aus der Türkei geschickt. Sie hätten ihm die Dokumente nach ihrer Ankunft übergeben.

In Österreich würden auch zwei Cousins von ihr leben, mit denen sie im telefonischen Kontakt stehe. Sie besuche darüber hinaus einen Deutschkurs. Sie sei nicht gesund, da sie Migräne und Asthma habe. Sie sei wegen der Migräne bei einer Ärztin in Behandlung und gegen das Asthma habe sie einen Inhalator. BF3 bis BF5 seien gesund und würden auch keine Medikamente nehmen.

Befragt, weshalb genau sie den Irak verlassen hätten, gab BF2 an, dass ihnen Katastrophen widerfahren seien. Am 23.09.2015 sei ihr Mann bedroht und am 24.09.2015 auf ihn geschossen worden. Die Kugeln hätten ihn nicht erwischt, da er stark gebremst habe. Als BF1 nachhause gekommen sei, habe er ihr alles erzählt, sie sei daraufhin eine halbe Stunde in Ohnmacht gefallen und habe dann schrecklich geweint. Sie hätten danach Dokumente und Kleidung zusammengepackt und seien zu ihrem Schwager gegangen. Sie hätten ihren Nachbar gebeten, ihnen bescheid zu geben, ob er auf seiner Videoaufzeichnung etwas sehen würde und dieser habe ihnen dann berichtet, dass zweimal das selbe Auto in ihre Straße gekommen und auf ihr Haus geschaut worden sei. Beim zweiten Mal sei eine der Personen ausgestiegen und habe an ihr Haus geklopft. Ihr Mann sei bedroht worden, weil er, wie er im Monitoring gearbeitet habe, keine Bestechungsgelder verlangt habe. Er habe den Namen eines Kollegen in Erfahrung gebracht, der Bestechungsgelder von einer Partei verlangt habe. Der BF1 sei angerufen worden und die Asa’ib Ahl al-Haq Miliz habe ihm gesagt, dass sie ihn und seine Familie töten würden. Er sei ein Sunnit und schnüffle ihnen hinterher. Das seien all ihre Fluchtgründe.

3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.07.2017 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist. (Spruchpunkt III.) Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Mit Verfahrensanordnung vom 07.07.2017 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

5. Gegen die den BF am 12.07.2017 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachten Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser werden unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilungen moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und den BF den Status von Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder allenfalls den angefochtenen Bescheid aufzuheben und an die 1. Instanz zurückzuverweisen oder einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen oder die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklären oder die Abschiebung in den Irak als unzulässig erklären. Zudem wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und die Beauftragung eines landeskundlichen Sachverständigen begehrt.

In der Sache bringen die BF im Wesentlichen vor, dass die Beweiswürdigung der bB nicht stichhaltig sei, Aussagen der BF aus dem Zusammenhang gerissen worden seien und sich nicht mit der individuellen Situation auseinandergesetzt habe. Die Länderberichte würden das Vorbringen der BF untermauern. Sie seien individuell durch die Asa’ib AHL al-Haq bedroht worden und der Staat könnte dies nicht verhindern. Außerdem habe die Behörde auch die geschlechtsspezifische Verfolgung der weiblichen BF im Irak unbeachtet gelassen. Darüber hinaus hätten diese eine sehr westliche Lebenseinstellung.

Die Beweiswürdigung der belangten Behörde erweise sich außerdem als mangelhaft, wobei den beweiswürdigenden Argumenten der bB im angefochtenen Bescheid im Detail entgegengetreten wird. Die BF hätten ihr Vorbringen detailliert und lebensnah geschildert, weshalb die Behörde hätte zum Schluss kommen müssen, dass die geschilderte Verfolgungsgefahr objektiv nachvollziehbar sei.

Darüber hinaus sei auch die allgemeine Sicherheitslage im Irak derart gestaltet, dass eine Rückkehr nicht zulässig sei. Die bB habe den Länderberichten eklatant widersprochen und diese in die Beurteilung gar nicht miteinbezogen. Die BF seien in Österreich auch in beeindruckender Weise integriert und daher hätte die Rückkehrentscheidung als unzulässig beurteilt werden müssen.

6. Die Beschwerdevorlage langte am 25.07.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am 01.09.2017 wurde die Rechtssache aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

8. Mit Schreiben vom 21.01.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Befundbericht betreffend die Migräne der BF2 und ein ärztlicher Befund hinsichtlich des Asthmas von BF2 vorgelegt.

9. Mit Schreiben vom 26.02.2018 legten die BF folgende Unterlagen vor:

 eine Kurteilnahmebestätigung „Deutschkurse für AsylwerberInnen“ für BF1

 eine Teilnahmebestätigung des BF1 und der BF2 am Werte- und Orientierungskurs

 Schulzeugnisse der BF3 und BF4

10. Am 28.06.2018 erfolgte die Mitteilung des Migrantinnenverein St. Marx über die Auflösung der Vollmachten der BF.

11. Am 17.07.2018 erfolgte die Vollmachtsbekanntgabe der ARGE Rechtsberatung für BF1 und BF2.

12. Am 23.04.2019 langten folgende Unterlagen bie Gericht ein:

 eine Bestätigung über eine laufende psychotherapeutische Behandlung der BF2

 ein Schreiben eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie betreffend Migräne, Spannungskopfschmerz und Anpassungsstörung der BF2

 ein Bestätigungsschreiben des Büro für Diversität der Stadt St- Pölten

13. Am 17.07.2019 legten die BF folgende Unterlagen vor:

 einen Psychotherapeutischen Befundbericht betreffend BF2

 eine Schulbesuchsbestätigung der BF5

 das Jahreszeugnis von BF4

 das Zeugnis über die Integrationsprüfung von BF3

 „ÖSD Zertifikate A1“ für BF1 und BF2

14. Die BF wurden mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.08.2020 über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung am 30.09.2020 informiert und wurden ihnen zugleich Länderberichte übermittelt, wobei Ihnen die Möglichkeit der Stellungnahme bis spätestens eine Woche vor der mündlichen Verhandlung eingeräumt wurde.

15. Am 30.09.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der BF, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde den BF einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation sowie ihre Rückkehrbefürchtungen umfassend darzulegen, eine Stellungnahme zur aktuellen Lageentwicklung im Irak anhand der den BF im Vorfeld übermittelnden Länderdokumentationsunterlagen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurden, abzugeben. Den BF wurde in dieser Verhandlung ferner die Möglichkeit gegeben, über ihre Integration zu berichten und weitere Unterlagen vorzulegen und eine Stellungnahme zu weiteren in der Verhandlung übergebenen und dort erörterten Anfragebeantwortungen, Berichten und Zeitungsartikeln abzugeben. Dabei wurden ein Empfehlungsschreiben des Fußballtrainerteams von BF4, ein Bericht der Klassenlehrerin von BF5, je eine Bestätigung des Klassenvorstandes von BF3 und BF4 und ein Empfehlungsschreiben für BF1 vorgelegt.

16. Am 2.10.2020 wurde ein Aufgabeschein in Original nachgereicht.

17. Das Bundesverwaltungsgericht verständigte die BF mit Schreiben vom 27.10.2020 über das Ergebnis der Beweisaufnahme (Einsicht in die Country Policy and Informatin Note Iraq: Medical and health care issues) und räumte ihnen die Möglichkeit ein, binnen 14 Tage schriftlich dazu Stellung zu nehmen.

18. Bislang ist keine Stellungnahme dazu eingegangen.

19. Am 10.12.2020 wurde ein vom Bundesverwaltungsgericht beauftragter Untersuchungsbericht der LPD Oberösterreich zu insgesamt sechs der als „Original“ vorgelegten Dankesschreiben der Republik Irak übermittelt. Aus diesem Bericht geht hervor, dass keine Aussage über die Echtheit getroffen werden könnten. Es könnten auch keine Aussagen über die Echtheit der verwendeten Stempel und Unterschriften auf den Dokumenten gemacht werden. Abänderungen in den Ausfüllschriften des Untersuchungsmaterials hätten nicht festgestellt werden können. Bei dem Dokument, welches im Jahr 2014 ausgestellt wurde, handle es sich um eine Kopie auf einem bereits vorgedruckten Papier. Aufgrund der im Untersuchungsbericht erlangten Befunde köne jedoch auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich auch bei den übrigen Dokumenten ebenfalls um keine Originale bzw. nicht autorisierte Ausstellungen handle.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF führen die im Spruch ersichtlichen Namen, sind Staatsangehöriger des Irak und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie sind Moslems und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. BF1 und BF2 sind miteinander verheiratet. BF3 bis BF5 sind ihre gemeinsamen, minderjährigen und ledigen Kinder.

BF3 bis BF5 sind gesund. BF1 leidet an Bluthochdruck und hohen Cholesterinwerten, weswegen er Medikamente nimmt. BF2 leidet an Migräne und Asthma bronchiale. Es wurden ihr dafür Medikamente (Relpax 40mg und Symbicort Asthmaspray) verordnet. Weiters besucht sie wegen psychischer Probleme (Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung) eine Therapie. Eine schwere Erkrankung, die einer Rückkehr des BF1 oder der BF2 in den Irak entgegenstehen würde, konnte im Verfahren nicht festgestellt werden.

Alle BF sind im Irak geboren und aufgewachsen.

BF1 ist in Bagdad geboren und hat neun Jahre lang die Grundschule besucht. Danach besuchte er drei Jahre lang die AHS und studierte anschließend an einem technologischen Institut. Nach seinem Militärdienst war er als Beamter tätig.

BF2 ist ebenso in Bagdad geboren, besuchte neun Jahre die Grundschule und drei Jahre die AHS. Nach der Schulbildung schloss sie ihr Studium der Geschichte ab, bevor sie Kinder bekam und Hausfrau wurde.

BF3 bis BF5 sind in Bagdad geboren.

Die BF lebten zuletzt in einem Eigentumshaus in Bagdad und verfügen noch über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und dort auch in Bagdad.

Am 01.10.2015 verließen die BF den Irak legal von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei. Am 15.10.1015 reisten sie zusammen auf dem Seeweg nach Griechenland und dann weiter nach Österreich, um hier am 22.10.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

1.2. Die BF gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Sie hatten vor ihrer Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften ihres Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in ihrem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass BF1 einer individuellen Bedrohung durch Mitglieder der Asa’ib Ahl al-Haq aufgrund seiner früheren Berufstätigkeit unterliegt.

Die BF sind im Fall einer Rückkehr nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihrer früheren beruflichen Tätigkeit oder ihres Bekenntnisses zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam ausgesetzt.

BF2 und BF5 sind im Fall einer Rückkehr nach Bagdad auch nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihres weiblichen Geschlechts oder ihres Lebensstils ausgesetzt.

1.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

BF1 und BF2 sind arbeits- und anpassungsfähige Menschen mit sehr guter Schulbildung und abgeschlossenen Studien. Der Gesundheitszustand der BF steht der Aufnahme einer Arbeit nicht entgegen. BF1 verfügt über langjährige Berufserfahrung im öffentlichen Dienst. BF1 und BF2 verfügen über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in ihrem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte. Ihnen ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung ihres Auskommens möglich und zumutbar.

Auch die minderjährigen BF3 bis BF5 verfügen im Irak über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage. Ferner ist deren Pflege und Obsorge zumindest durch ihre Eltern sowie eine hinreichende Absicherung in ihren altersentsprechenden Grundbedürfnissen gegeben. Den minderjährigen BF steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung zur Verfügung.

1.5. Es konnten keine Reisepässe der BF sichergestellt werden.

1.6. Die BF halten sich seit Oktober 2015 in Österreich auf. Sie reisten rechtswidrig in Österreich ein, sind seither Asylwerber und verfügten über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Die BF beziehen seit ihrer Ankunft in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung.

BF2 hat in Österreich zwei Cousins, pflegt zu diesen jedoch keinen Kontakt. Darüber hinaus leben keine Verwandten in Österreich. Die BF pflegen im Übrigen normale soziale Kontakte.

BF1 und B2 besuchen Deutschkurse und haben beide das ÖSD Zertifikat A1 erworben. BF3 und BF4 besuchen die Neue Mittelschule und BF4 spielt in Österreich Fußball in der U15 des SC St. Pölten Inkasso Blum. BF5 besucht die 2. Klasse Volksschule in St. Pölten. Alle BF sind in Österreich unbescholten.

Der Aufenthalt der BF war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.8. Zur Lage in Bezug auf die weltweit herrschende Corona-Pandemie werden folgende Feststellungen getroffen:

Mit Stichtag 11.12.2020 gab es im Irak insgesamt 571253 Corona-Fälle. 501967 Personen sind wieder genesen, 12526 Personen starben.

Nächtliche Ausgangssperre sind komplett aufgehoben. Der Irak hat Anfang September seine Landgrenzen wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wurden am 23. Juli für kommerzielle Linienflüge wiedereröffnet.

Die dänische Regierung hat in Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) dem Irak 6.000.000 DKK (ca. 870.000 USD) zugesagt, um die irakische Regierung bei der Bekämpfung der globalen COVID-19-Pandemie zu unterstützen.

Im Irak sowie in Kurdistan arbeiten alle Ministerien mit 50% Kapazität.

Apotheken und Bäckereien sind ohne Einschränkungen geöffnet.

Die Weltbank hat, als Unterstützung für das irakische Gesundheitssystem, einer Umverteilung von USD 33,6 Mio. des aktuellen Projekts „Notfalloperation für Entwicklung“ (EODP-750 Mio. USD) zugestimmt.

Die irakische Börse nimmt den Handel mit 26.4.2020 wieder auf.

Quelle: https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-situation-im-irak.html

https://www.google.at/search?ei=eny3X-X2E8imaI6Nn6gP&q=corona+irak&oq=Corona+Irak&gs_lcp=CgZwc3ktYWIQARgAMgIIADICCAAyAggAMgoIABCxAxDHAxAKMgIIADIECAAQCjICCAAyBAgAEAoyAggAMgIIADoKCAAQsQMQgwEQQzoECC4QQzoHCAAQsQMQQzoICAAQsQMQgwE6BAgAEEM6BwguEEMQkwI6BQgAELEDULVHWOdLYK5aaABwAHgBgAHNAYgB-AWSAQUxLjQuMZgBAKABAaoBB2d3cy13aXrAAQE&sclient=psy-ab

1.9. Zur sonstigen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten Quellen getroffen (detaillierte Quellenangaben wurden den BF offengelegten):1 Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafazāt) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwāb, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).1.1 Parteienlandschaft

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

(LSE 7.2018)1.2 Kurdische Region im Irak (KRI) / Autonome Region Kurdistan

Die Kurdische Region im Irak (KRI) wird in der irakischen Verfassung, in Artikel 121, Absatz 5 anerkannt (Rudaw 20.11.2019). Die KRI besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah. sowie aus dem im Jahr 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja, wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Verwaltet wird die KRI durch die kurdische Regionalregierung (KRG) (GIZ 1.2020a).

Das Verhältnis der Zentralregierung zur KRI hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der KRI und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil „umstrittener Gebiete“ ab dem 25.9.2017 deutlich verschlechtert. Im Oktober 2017 kam es sogar zu lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen (AA 12.1.2019). Der langjährige Präsident der KRI, Masoud Barzani, der das Referendum mit Nachdruck umgesetzt hatte, trat als Konsequenz zurück (GIZ 1.2020a).

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI (AA 12.1.2019).

Die KRI ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), angeführt von der Familie Barzani, und deren Rivalen, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die vom Talabani-Clan angeführt wird (France24 22.2.2020; vgl. KAS 2.5.2018). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen einerseits über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im Irakischen Parlament und gewannen andererseits auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der KRI im September 2018 (CRS 3.2.2020). Der Machtkampf zwischen KDP und PUK schwächt einerseits inner-kurdische Reformen und andererseits Erbils Position gegenüber Bagdad (GIZ 1.2020a). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert (KAS 2.5.2018; vgl. WI 8.7.2019), sowie eine Reihe kleinerer islamistischer Parteien (KAS 2.5.2018).

Auch nach dem Rücktritt von Präsident Masoud Barzani teilt sich die Barzani Familie die Macht. Nechirvan Barzani, langjähriger Premierminister unter seinem Onkel Masoud, beerbte ihn im Amt des Präsidenten der KRI. Masrour Barzani, Sohn Masouds, wurde im Juni 2019 zum neuen Premierminister der KRI ernannt (GIZ 1.2020a) und im Juli 2019 durch das kurdische Parlament bestätigt (CRS 3.2.2020).

Proteste in der KRI gehen auf das Jahr 2003 zurück. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind dabei gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018). Insbesondere in der nordöstlichen Stadt Sulaymaniyah kommt es zu periodischen Protesten, deren jüngste im Februar 2020 begannen (France24 22.2.2020).2 Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).2.1 Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).2.2 Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

(ACCORD 26.2.2020)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

 

(IBC 2.2020)

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)2.3 Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]2.4 Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).

Gouvernement Ninewa

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus (Joel Wing 3.5.2019). Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen (Joel Wing 5.6.2019). Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten (ISW 19.4.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019).

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vgl. Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Febraur 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Salah ad-Din

Im Gouvernement Salah ad-Din ist der IS hauptsächlich in ländlichen Regionen aktiv. Im Dezember 2019 setzte der IS erstmals seit Mai 2019 wieder Autobomben ein (Joel Wing 6.1.2020). Drei derartige Attacken trafen Sicherheitskräfte der PMF (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Rudaw 12.12.2019; Anadolu 13.12.2019), zusätzlich zu einem Vorfall mit einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffweste (Joel Wing 6.1.2020; vgl. NINA 29.12.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 27 Toten und 42 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es sechs Vorfälle mit zehn Toten und vier Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für zwei Vorfälle im Jänner 2020 - ein Raketen-, bzw. ein Mörserbeschuss auf den Militärstützpunkt Balad - pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Kirkuk

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück (Joel Wing 5.8.2019). Da der Süden Kirkuks nicht vollständig von IS-Kämpfern befreit wurde, kommt es insbesondere in dieser Region regelmäßig zu Angriffen (Joel Wing 3.2.2020). Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements Kirkuk konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen (Joel Wing 16.10.2019). Im Dezember 2019 hat der IS einen falschen Kontrollpunkt entlang der Straße von Tikrit nach Kirkuk eingerichtet, an dem er sechs Zivilisten hinrichtete (Joel Wing 6.1.2020). Neun der 13 Vorfälle im Jänner 2020 ereigneten sich im Süden, wo der IS im Gouvernement seine Basis hat (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Kirkuk 39 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 41 Toten und 60 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es acht Vorfälle mit sieben Toten und zwölf Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für je einen Vorfall im Jänner und Februar 2020 pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Anbar

Das Gouvernement Anbar, früher ein IS-Zentrum und Schwerpunkt der IS-Aktivitäten, wird nun hauptsächlich für den Transit von IS-Kämpfern zwischen dem Irak und Syrien genutzt (Joel Wing 16.10.2019; vgl. Joel Wing 3.2.2020). Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Anbar hat bis Mitte 2019 stark fluktuiert (Joel Wing 5.8.2019) und ab Mitte 2019 hat sich Anbar zu einem sekundären Schauplatz entwickelt, mit einem Rückgang der Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle im einstelligen Bereich (Joel Wing 3.2.2020).

Im November 2019 gab es im Gouvernement Anbar keine sicherheitsrelevanten Vorfälle. Im Dezember 2019 waren es fünf Vorfälle mit zwölf Toten und zwei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 war Anbar mit einer Steigerung von fünf Vorfällen im Dezember 2019 auf sieben im Jänner 2020, mit acht Toten und 76 Verletzten das einzige Gouvernement mit einer Zunahme an sicherheitsrelevanten Vorfällen, mit einer Steigerung von fünf Vorfällen. Zu diesen Vorfällen zählen der iranische Raketenangriff auf die Militärbasis Ain Al-Assad, bei dem 64 amerikanische Soldaten verwundet wurden, ein Angriff mit einer Autobombe (VBIED) gegen einen Armeekonvoi, Entführungen und Angriffe mit Schusswaffen (Joel Wing 3.2.2020; vgl. BasNews 16.1.2020). Im Februar 2020 waren es fünf Vorfälle mit je zwei Toten und Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).2.5 Sicherheitslage Südirak

Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).

Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar,Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019).

[Anm.: Weiterführende Informationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]3 Rechtsschutz / Justizwesen

Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020). 4 Sicherheitskräfte und Milizen

Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).4.1 Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).4.2 Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).

Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hezbollah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und bis zu seinem Tode 2019 auch angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist (Süß 21.8.2017). Kata’ib Hizbullah bilden die 45. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018). Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von mindestens 400 bis zu 30.000 Mann (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center). Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Ihr Anführer Jamal Jaafar Ibrahimi alias Abu Mahdi al Muhandis war auch stellvertretender Leiter der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission (Al-Tamini 31.10.2017).

Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018).

Die Harakat Hezbollah al Nujaba (HHN, Bewegung der Partei der Edlen Gottes) ist ein Ableger von Kata’ib Hizbullah und Asa‘ib Ahl al-Haqq, die 2013 zur Unterstützung des Assad Regimes in Syrien von Sheikh Akram al Ka‘abi gegründet wurde. Die pro-iranische HHN hat eigenen Angaben zufolge etwa 9.000 Kämpfer, von denen einige nach wie vor in Syrien aktiv sind. Sie stellt die 12. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).

Die Kata‘ib Sayyid al Shuhada (KSS, Meister der Märtyrerbrigade), ist eine Miliz, die im Mai 2013 gegründet wurde, um an der Seite des Assad-Regimes in Syrien zu kämpfen. Nach dem Aufstieg des IS im Jahr 2014 dehnte die KSS ihre Operationen auf den Irak aus und war insbesondere im Gouvernement Salah ad-Din, aber auch in Anbar und Ninewa aktiv. Geschätzt auf über 2.000 Kämpfer im Jahr 2017, wird die KSS von den Iranischen Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guards Corps, IRGC) unterstützt und finanziert (Wilson Center 27.4.2018). Sie stellt die 14. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).

Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018).

Auch die Kata’ib al-Imam Ali (KIA, Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Sie ist den PMF als 40. Brigade beigetreten (Wilson Center 27.4.2018). Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi stand in engem Kontakt zu Muhandis (bis zu dessen Tod) und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata’ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azra‘el erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017). Kata’ib al-Imam Ali hat im Dezember 2014 die kleine syriakische (Anm.: aramäisch- assyrisch) Christenmiliz Kata‘ib Roh Allah Issa Ibn Miriam (Die Brigade vom Geist Gottes, Jesus, Sohn der Maria) gegründet und ausgebildet (Wilson Center 27.4.2018).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).

Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).5 Folter und unmenschliche Behandlung

Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 12.1.2019), oder auch um Geständnisse zu erzwingen (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020; AI 10.4.2019) und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren (USDOS 11.3.2020) auch für die Vollstreckung von Todesurteilen (AI 10.4.2019). Laut Informationen von UNAMI sollen u.a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören (AA 12.1.2019). Ehemalige Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter (AI 26.2.2019). Auch Minderjährige werden Folter unterzogen, um Geständnisse zu erpressen (HRW 6.3.2019).

Weiterhin misshandeln und foltern die Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den Volksmobilisierungskräften (PMF) verbundenen Milizen und Asayish, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung (KRG). Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 11.3.2020). Eine Studie zu Berufungsgerichtsentscheidungen zeigt, dass Richter bei fast zwei Dutzend Fällen aus den Jahren 2018 und 2019 Foltervorwürfe ignorierten und auf Grundlage von Geständnissen ohne weitere Beweise Schuldsprüche erließen. Einige dieser Foltervorwürfe waren durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet. Die Berufungsgerichte sprachen die Angeklagten in jedem dieser Fälle frei (HRW 14.1.2020). Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz übergeben, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 12.1.2019).

Trotz der Zusage des damaligen Premierministers Haidar Abadi im September 2017, den Vorwürfen von Folter und außergerichtlichen Tötungen nachzugehen, haben die Behörden im Jahr 2019 keine Schritte unternommen, um diese Missstände zu untersuchen (HRW 14.1.2020).6 Korruption

Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Staatsdiener vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht immer wirksam um. Im Laufe des Jahres 2018 gab es zahlreiche Berichte über staatliche Korruption. Beamte waren häufig ungestraft in korrupte Praktiken verstrickt. Die Untersuchung von Korruption ist nicht frei von politischer Einflussnahme. Erwägungen hinsichtlich Familienzugehörigkeit, Stammeszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit beeinflussen Regierungsentscheidungen auf allen Ebenen maßgeblich. Bestechung, Geldwäsche, Vetternwirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder sind üblich. Obwohl Antikorruptionsinstitutionen zunehmend mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, ist die Wirkung der erweiterten Zusammenarbeit begrenzt. Medien und NGOs versuchen Korruption unabhängig aufzudecken, obwohl ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Antikorruptions-, Strafverfolgungs- und Justizbeamte sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft und der Medien werden wegen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung korrupter Praktiken bedroht und eingeschüchtert (USDOS 11.3.2020). Korruption war einer der Auslöser für die Massenproteste am 1.10.2019 im Süd- und Zentralirak, inklusive Bagdad (UNAMI 10.2019).

Auf dem Corruption Perceptions Index 2020 von Transparency International wird der Irak mit 20 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 3.2020).7 NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) müssen sich registrieren (FH 4.3.2020). Mit Stand September 2019 waren laut der irakischen Bundesdirektion für Nichtregierungsorganisationen 4.365 NGOs registriert (USDOS 11.3.2020). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) betrug die Zahl registrierter NGOs 4.300 im Jahr 2018 (USDOS 13.3.2019). In der KRI sind die Registrierungen jährlich zu erneuern (FH 4.3.2020).

Seit 2010 gibt es ein Gesetz zu NGOs, das die Beschränkungen der Auslandsfinanzierung von NGOs lockert, die Ablehnung von Registrierungsanträgen einschränkt, strafrechtliche Sanktionen beseitigt, unbegründete Überprüfungen und Inspektionen untersagt, sowie gerichtliche Kontrollen über die Suspendierung von NGOs schafft (ICNL 26.6.2019). NGOs, die nur in Bagdad registriert waren, konnten nicht in der KRI tätig werden, und vice versa (USDOS 11.3.2020).

Im gesamten Irak existierten allein im Bereich Menschenrechte zuletzt etwa 368 registrierte NGOs. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, unterliegen in ihrer Registrierung keinen besonderen Einschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und weiter bestehende regulatorische Hindernisse erschweren dennoch die Arbeit vieler NGOs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft. Zahlreiche NGOs berichten von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden „Besuchen“ durch Vertreter des Ministeriums. Die Präsenz von ausländischen NGOs im Zentral- und Südirak ist nach wie vor gering. Dies gilt nicht für die KRI, wo viele ausländische NGOs tätig sind, die derzeit aber unter verschärften Kontrollen durch die Zentralregierung in ihrer Arbeit beeinträchtigt sind (AA 12.1.2019).

Nationale und internationale NGOs operieren in den meisten Fällen unter geringer staatlicher Einflussnahme, jedoch gibt es Berichte über staatliche Einmischung, wenn NGOs Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Akteuren untersuchen. In Basra im Südirak wurden Berichten zufolge mehrere Menschenrechtsvertreter willkürlich festgenommen und gezwungen Dokumente ihnen unbekannten Inhalts zu unterzeichnen, bevor sie wieder freigelassen wurden(USDOS 11.3.2020). Ende 2019 gibt es im Zuge der Protestbewegung auch Berichte über Entführungen und Ermordnungen von regierungskritischen Aktivisten (FH 4.3.2020). Die KRI verfügt über eine aktive Gemeinschaft von meist kurdischen NGOs, viele mit engen Beziehungen zu den politischen Parteien PUK und KDP (USDOS 11.3.2020).8 Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.1.2019; vgl. CIA 21.8.2019). Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft (BasNews 7.8.2019). Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen (USDOS 21.6.2019). Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können (BasNews 7.8.2019).

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre (DIS/Landinfo 5.11.2018). Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnungen alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt (MEMO 6.11.2019).

Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) herrscht keine Wehrpflicht. Kurdische Männer und Frauen können sich freiwillig zu den Peshmerga melden (DIS 12.4.2016). Rekruten für die Peshmerga unterzeichnen einen Vertrag für eine bestimmte Dienstzeit, nach dessen Ablauf die Person freiwillig gehen kann (EASO 3.2019).

Die Strafe für Desertion von den Peshmerga kann, je nach den Umständen, von der Auflösung des Vertrages bis zur Verurteilung zum Tode reichen. Für letzteres gibt es jedoch keine Berichte (DIS 12.4.2016; vgl. EASO 3.2019). Wenn ein Peshmerga von der Frontlinie desertiert, wird er vor ein Militärgericht gestellt und kann nach irakischem Militärrecht zum Tode verurteilt werden. Einige Peshmerga-Soldaten verlassen die Streitkräfte, weil sie keinen Sold erhalten. Bislang wurden jedoch keine Fälle von Desertion durch die Peshmerga-Truppen vor Gericht gebracht (DIS 12.4.2016).

Es gibt Vorwürfe der Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Shingal Protection Units (YBS) und von PMF-Milizen (USDOS 11.3.2020). 9 Allgemeine Menschenrechtslage

Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft (AA 12.1.2019).

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).

Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohen sind, von zentral-irakischen und kurdischen Kräften willkürlich verhaftet wurden und nach wie vor als vermisst gelten. Sicherheitskräfte einschließlich PMFs haben Personen mit angeblichen IS-Beziehungen auch in Lagern inhaftiert und gewaltsam verschwinden lassen (AI 26.2.2019).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).

Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).

Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).10 Meinungs- und Pressefreiheit

Die Verfassung garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit, solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt (AA 12.1.2019), Unterstützung für die verbotene Ba‘ath-Partei ausdrückt oder die gewaltsame Änderung der Grenzen des Landes befürwortet. Einzelpersonen und Medien betreiben jedoch Selbstzensur aufgrund der begründeten Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionellen Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden. Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung (USDOS 11.3.2020).

Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen (AA 12.1.2019). Die meisten der mehreren hundert Printmedien, die im Irak täglich oder wöchentlich erscheinen, sowie dutzende Radio- und Fernsehsender, werden von politischen Parteien stark beeinflusst oder vollständig kontrolliert (USDOS 11.3.2020). Es gibt nur wenige politisch unabhängige Nachrichtenquellen. Journalisten, die sich nicht selbst zensieren, können mit rechtlichen Konsequenzen oder gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen rechnen (FH 4.2.2018).

Einige Medienorganisationen berichteten über Verhaftungen von und Schikanen gegenüber Journalisten sowie darüber, dass die Regierung sie davon abhielt, politisch heikle Themen zu behandeln, darunter Sicherheitsfragen, Korruption und das Unvermögen der Regierung öffentliche Dienstleistungen sicherzustellen (USDOS 11.3.2020). Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält unter anderem mehrere Kategorien des Straftatbestands der Verleumdung aufrecht, die in ihrem Strafmaß zum Teil unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig (AA 12.1.2019).

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen ist der Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt (AA 12.1.2019). Auf ihrem Index für Pressefreiheit kommt der Irak im Jahr 2019 auf Platz 156 von 180 (RSF 2020).

Journalisten sind häufig Opfer von bewaffneten Angriffen, Verhaftungen oder Einschüchterungen durch regierungsnahe Milizen und Sicherheitskräfte in allen Teilen des Landes. Morde an Journalisten bleiben ungestraft (RSF 2020). So wurden etwa auch im Zuge der am 1.10.2019 begonnenen Massenproteste im Südirak und Bagdad Journalisten durch willkürliche Verhaftungen, Belästigungen, Drohungen und die widerrechtliche Beschlagnahme von Equipment daran gehindert über die Demonstrationen zu berichten (UNAMI 10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Neun Journalisten gelten seit 2014 nach wie vor als vermisst. Zwei Journalisten wurden 2019 getötet (CPJ 2020). Zwei Journalisten, die in Basra über die Proteste berichteten, wurden am 10.1.2020 erschossen (CPJ 10.1.2020). Seit Mitte Oktober verließen die meisten internationalen Medien und viele lokale Journalisten Bagdad in Richtung Erbil und andere Oerte in der Kurdischen Region im Irak (KRI), nachdem berichtet wurde, dass die Sicherheitskräfte eine Liste von Journalisten und Aktivisten in Umlauf brachten, die verhaftet und eingeschüchtert werden sollten (USDOS 11.3.2020).

Das Land nimmt im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007-2016) des „Committee to Protect Journalists“ zudem den weltweit drittletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Demnach wurden in den letzten zehn Jahren 25 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt (AA 12.1.2019).

Auch Lehrer sind im Irak seit langem mit der Gefahr von Gewalt oder anderen Auswirkungen konfrontiert, wenn sie Themen unterrichten oder besprechen, die mächtige staatliche oder nicht staatliche Akteure für verwerflich halten. Politischer Aktivismus von Universitätsstudenten kann zu Schikane oder Einschüchterung führen (FH 4.3.2020). Sozialer, religiöser und politischer Druck schränken die Entscheidungsfreiheit in akademischen und kulturellen Angelegenheiten ein. In allen Regionen des Landes versuchen verschiedene Gruppen die Ausübung der formalen Bildung und die Vergabe von akademischen Positionen zu kontrollieren (USDOS 11.3.2020).10.1 Internet und soziale Medien

Es gibt offene staatliche Einschränkungen beim Zugang zum Internet und Berichte (jedoch kein offizielles Eingeständnis), dass die Regierung E-Mail- und Internetkommunikation ohne entsprechende rechtliche Befugnisse überwacht (USDOS 11.3.2020).

Es gibt Fälle von Vergeltungsmaßnahmen aufgrund von Aussagen bzw. Beiträgen in sozialen Medien (FH 4.3.2020). Trotz Einschränkungen nutzen politische Persönlichkeiten und Aktivisten das Internet, um korrupte und ineffektive Politiker zu kritisieren, Demonstranten zu mobilisieren und sich über soziale Medien für Kandidaten zu engagieren bzw. Wahlkampf zu betreiben (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung räumt ein in manchen Gebieten den Internetzugang beschränkt zu haben, angeblich aufgrund von Sicherheitsfragen, wie der Nutzung von Social Media Plattformen durch den IS (USDOS 11.3.2020). Während Großereignissen wird regelmäßig das Internet für einige Stunden gesperrt (AA 12.1.2019).

Im Zuge der am 1.10.2019 begonnen Massenproteste hat die Regierung wiederholt das Internet gedrosselt, um zu verhindern, dass Fotos und Videos der Proteste hochgeladen und ausgetauscht werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020), und blockierte Messaging-Apps. Einige Iraker wurden verhaftet, weil sie mit Facebook-Nachrichten ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck gebracht hatten (HRW 14.1.2020).11 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition11.1 Versammlungsfreiheit

Die Verfassung sieht das Recht auf Versammlung und friedliche Demonstration „nach den Regeln des Gesetzes“ vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Entsprechend einfach gesetzlichen Bestimmungen fehlen jedoch. Im Alltag wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das seit dem 7.11.2004 geltende „Gesetz zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit“ eingeschränkt, das u.a. die Verhängung eines bis zu 60-tägigen Ausnahmezustands ermöglicht (AA 12.1.2019).

Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass die Veranstalter sieben Tage vor einer Demonstration um Genehmigung ansuchen und detaillierte Informationen über Veranstalter, Grund des Protests und Teilnehmer einreichen müssen. Die Vorschriften verbieten jegliche Slogans, Schilder, Druckschriften oder Zeichnungen, die Konfessionalismus, Rassismus oder die Segregation der Bürger zum Inhalt haben. Die Vorschriften verbieten auch alles, was gegen die Verfassung oder gegen das Gesetz verstößt; alles, was zu Gewalt, Hass oder Mord ermutigt; und alles, was eine Beleidigung des Islam, der Ehre, der Moral, der Religion, heiliger Gruppen oder irakischer Einrichtungen im Allgemeinen darstellt. Die Behörden erteilen Genehmigungen in der Regel in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften (USDOS 11.3.2020).

Demonstranten sind häufig der Gefahr von Gewalt oder Verhaftung ausgesetzt (FH 4.3.2020). Als die Demonstrationen ab Oktober 2019 eskalierten, versäumten es die Behörden, die Demonstranten vor Gewalt zu schützen (USDOS 11.3.2020).11.1.1 Protestbewegung

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).11.2 Vereinigungsfreiheit / Opposition

Die Verfassung garantiert, mit einigen Ausnahmen, das Recht auf Gründung von und Mitgliedschaft in Vereinen und politischen Parteien. Die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen. Ausnahmen betreffen das gesetzliche Verbot von Gruppen, die Unterstützung für die Ba‘ath-Partei oder für zionistische Prinzipien bekunden (USDOS 11.3.2020). Belastbare Erkenntnisse über die gezielte Unterdrückung der politischen Opposition durch staatliche Organe liegen nicht vor. Politische Aktivisten berichten jedoch von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken (AA 12.1.2019).

Die Arbeitsgesetze garantieren Arbeitsnehmern das Recht auf die Bildung von Gewerkschaften, von Tarifverhandlungen und auf das Abhalten von Streiks, schützen sie aber nicht vor gewerkschaftsfeindlicher Diskriminierung bis hin zu Entlassungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). 12 Haftbedingungen

Die Haftbedingungen entsprechen nicht dem internationalen Mindeststandard, wobei die Situation in den Haftanstalten erheblich variiert (AA 12.1.2019). In einigen Gefängnissen und Haftanstalten sind die Bedingungen aufgrund von Überbelegung oft hart (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Misshandlung und unzureichender Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung lassen die Bedingungen auch lebensbedrohlich werden. In staatlichen Haftanstalten und Gefängnissen fehlt es zuweilen an ausreichender Nahrung und Wasser. Einige Haftanstalten verfügen über keine eigene Apotheke oder Krankenstation. Existierende Apotheken sind oft unterversorgt. Die Überbelegung der staatlichen Gefängnisse stellt ein systemisches Problem dar, das durch die Zunahme der Zahl der festgenommenen mutmaßlichen IS-Mitglieder, noch verschärft wird. Es gibt keine Unterkünfte für Häftlinge mit Behinderungen. Eine vom Innenministerium angekündigte Initiative zur Errichtung solcher Einrichtungen wurde noch nicht vollständig umgesetzt. Häftlinge, die des Terrorismus beschuldigt werden, werden vom Rest der Gefangenen isoliert und bleiben häufiger in Gewahrsam des Innen- bzw. Verteidigungsministeriums (USDOS 11.3.2020). Behörden der Zentralregierung und der Kurdischen Region im Irak (KRI) betreiben weiterhin auch geheime Haftanstalten (AI 26.2.2019). Es gibt Berichte über gewaltsames Verschwindenlassen von Häftlingen, besonders von mutmaßlichen IS-Kämpfern (FH 4.3.2020; vgl. AI 26.2.2019).

Es fehlt an Jugendstrafanstalten; laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz werden jugendliche Häftlinge mittlerweile meist getrennt von erwachsenen Straftätern inhaftiert, ihnen wird aber oft der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien verwehrt (AA 12.1.2019). In manchen Fällen werden Minderjährige gemeinsam mit Erwachsenen inhaftiert, ohne Zugang zu Bildung, Rehabilitation (HRW 6.3.2019).

Die UN-Mission für den Irak (UNAMI) konnte ihr Mandat zum Besuch irakischer Haftanstalten nicht umfassend wahrnehmen. Die irakischen Behörden verweigerten in mehreren Fällen den Zugang zu Haftanstalten. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hat hingegen regelmäßigen und flächendeckenden Zugang (AA 12.1.2019).

Die Behörden halten IS-Verdächtige unter überfüllten und in einigen Fällen unmenschlichen Bedingungen fest (HRW 14.1.2020). Der nationale Sicherheitsdienst (National Security Service, NSS), ein dem Premierminister unterstellter Geheimdienst, hat im Juli 2018 erstmals eingestanden Personen über einen längeren Zeitraum festzuhalten, beispielsweise in al-Shurta, im Osten Mossuls. Dies geschieht laut NSS mit der Zustimmung des Hohen Justizrates in Ninewa (HRW 22.7.2018).

Auch in Frauengefängnissen gibt es Überbelegung, und es fehlten oft ausreichende Kinderbetreuungseinrichtungen für die Kinder der Gefangenen, die nach dem Gesetz bis zum Alter von vier Jahren bei ihren Müttern bleiben dürfen (USDOS 11.3.2020). 13 Todesstrafe

Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen, sie wird auch verhängt und vollstreckt. Der Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen (AA 12.1.2019; vgl. HRC 5.6.2018; HRW 14.1.2020). Problematisch sind die Bandbreite und die mitunter fehlende rechtliche Klarheit der Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden kann: neben Mord und Totschlag unter anderem auch wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Aktivitäten, Vergewaltigung, Einsatz von chemischen Waffen und insbesondere wegen terroristischer Aktivitäten unterschiedlicher Art (AA 12.1.2019). So beinhalten beispielsweise die irakischen Anti-Terrorismus-Gesetze die Vollstreckung der Todesstrafe auch für ein breites Spektrum an Handlungen, die nicht als schwere Verbrechen, wie Mord, definiert sind (FP 31.1.2020). Die Todesstrafe stößt in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz (AA 12.1.2019).

Aktuelle Daten liegen nicht vor, da die irakische Regierung die Zahlen nicht mehr regelmäßig an die Vereinten Nationen berichtet und, auch auf Nachfrage keine verlässlichen Angaben macht. Soweit UNAMI bekannt, wurden 2018 112 Personen zum Tode verurteilt, 36 Todesurteile wurden vollzogen. UNAMI schätzt jedoch, dass tatsächliche Zahlen deutlich darüber liegen (AA 12.1.2019). Amnesty International zufolge wurden 2018 271 Todesurteile ausgesprochen und 52 Hinrichtungen vollzogen (AI 10.4.2019). Zwischen Jänner und August 2019 wurden Angaben des irakischen Justizministeriums zufolge über 100 Personen hingerichtet. 8.022 Gefangene saßen im August 2019 in der Todeszelle (HRW 14.1.2020). Aktuell werden insbesondere ehemalige IS-Kämpfer – oder Personen, die dessen beschuldigt werden – in großer Zahl in unzulänglichen Prozessen zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilt (AA 12.1.2019). Über zwei Dutzend Frauen wurden wegen der wahrgenommenen IS-Mitgliedschaft eines männlichen Angehörigen, meist des Ehemanns, zum Tode verurteilt (AI 26.2.2019).

Das irakische Strafgesetzbuch verbietet das Verhängen der Todesstrafe gegen jugendliche Straftäter, d.h. Minderjährige und Personen im Alter von 18 bis 21 Jahren zum Zeitpunkt der Begehung der mutmaßlichen Straftat (HRC 5.6.2018; vgl. HRW 14.1.2020), sowie gegen schwangere Frauen und Frauen bis zu vier Monaten nach einer Geburt. In diesem Fall wird die Todesstrafe in eine lebenslange Haft umgewandelt (HRC 5.6.2018).14 Religionsfreiheit

Aufgrund der komplexen Verflechtung religiöser und ethnischer Identitäten ist eine strikte Unterscheidung zwischen rein religiösen Minderheiten und rein ethnischen Minderheiten im Irak oft nur schwer möglich. Um eine willkürliche Trennung zu vermeiden, werden alle Minderheiten, einschließlich derer, bei denen das religiöse Element überwiegt, im Abschnitt 15 (Minderheiten) behandelt.

Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.1.2019). Es darf kein Gesetz erlassen werden, das den „erwiesenen Bestimmungen des Islams“ widerspricht. In Absatz 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen oder Atheisten (RoI 15.10.2005; vgl. USDOS 21.6.2019).

Artikel 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.1.2019; vgl. ROI 15.10.2005). Artikel 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten (AA 12.1.2019; vgl. ROI 15.10.2005).

Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Sabäer-Mandäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der Regierung gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 21.6.2019).

Das Gesetz verbietet die Ausübung des Bahai-Glaubens und der wahhabitischen Strömung des sunnitischen Islams (USDOS 21.6.2019; vgl. UNHCR 5.2019).

Die alten irakischen Personalausweise enthielten Informationen zur Religionszugehörigkeit einer Person, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiös-konfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen (AA 12.1.2019). Die Religionen, die auf dem Antrag für den nationalen Personalausweis angegeben werden können, sind christlich, sabäisch-mandäisch, jesidisch, jüdisch und muslimisch. Dabei wird zwischen den verschiedenen Konfessionen des Islams (Shi‘a-Sunni) bzw. den unterschiedlichen Denominationen des Christentums nicht unterschieden. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Ausweis erhalten, wenn sie sich selbst als Muslim, Jeside, Sabäer-Mandäer, Jude oder Christ deklarieren (USDOS 21.6.2019) Artikel 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 12.1.2019). Es wird berichtet, dass das Gesetz faktisch zu Zwangskonvertierungen führt, indem Kinder mit nur einem muslimischen Elternteil als Muslime angeführt werden müssen. Christen, die formell als Muslims registriert sind, aber den christlichen oder einen anderen Glauben praktizieren, berichten auch, dass sie gezwungen sind, ihr Kind als Muslim zu registrieren oder das Kind undokumentiert zu lassen, was die Berechtigung auf staatliche Leistungen beeinträchtigt (USDOS 21.6.2019; vgl. USCIRF 4.2019).

Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im irakischen Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Schabak und Faili Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 12.1.2019).

Institutionelle und gesellschaftliche Einschränkungen der Religionsfreiheit sowie Gewalt gegen Minderheitengruppen sind nach Ansicht von Religionsführern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf Religionsfreiheit konzentrieren, nach wie vor weit verbreitet. Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS- Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen in Kirkuk, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) (USDOS 11.3.2020).

Da Religion, Politik und Ethnizität oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf religiöser Identität beruhend zu kategorisieren (USDOS 11.3.2020).

Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die Zentralregierung im Allgemeinen nicht in religiöse Handlungen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt. Manche Minderheitenvertreter berichten jedoch über Schikane und Restriktionen durch lokale Behörden (USDOS 21.6.2019).

Vertreter religiöser Minderheiten berichten weiterhin über Druck auf ihre Gemeinschaften Landrechte abzugeben, wenn sie sich nicht stärker an islamische Gebote halten (USDOS 21.6.2019).

Die Kurdische Region im Irak (KRI) war für viele religiöse und ethnische Minderheiten im Nordirak ein wichtiger Zufluchtsort, während der Phase der konfessionellen Gewalt nach 2003 und während der IS-Krise (USCIRF4.2019). Einige jesidische und christliche Führer berichten über Schikanen und Misshandlungen durch Peshmerga und Asayesh im von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierten Teil von Ninewa, jedoch sagen einige dieser Führer, dass die Mehrheit dieser Fälle eher politisch als religiös motiviert seien (USDOS 21.6.2019).

[Anm.: Weiterführende Informationen zur Situation einzelner religiöser Minderheiten können dem Kapitel 15 Minderheiten entnommen werden.]14.1 Konversion und Apostasie

Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z.B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z.B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht (AA 12.1.2019). Das Zivilgesetz sieht einen einfachen Prozess für die Konversion eines Nicht-Muslims zum Islam vor. Die Konversion eines Muslims zu einer anderen Religion ist jedoch gesetzlich verboten (USDOS 21.6.2019; vgl. EASO 3.2019). Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion übertreten, müssen ihre Kinder daher weiterhin als Muslime registrieren (DIS/Landinfo 9.11.2018). Muslimische Männer dürfen eine nicht-muslimische Frau heiraten, muslimische Frauen dürfen jedoch keine Nicht-Muslime heiraten (RoI 30.12.1959).

Personen, die vom Islam zum Christentum konvertieren, können auf Schwierigkeiten mit den Behörden stoßen. Hauptursache für Probleme stellen in der Regel jedoch die Gesellschaft und die Familie dar (EASO 6.2019; vgl. Open Doors 4.2019). Es wird nur selten über Fälle offener Konversion vom Islam zum Christentum berichtet. Personen halten eine Konversion geheim, da Feindseligkeit gegenüber Konvertiten aus der islamischen irakischen Gesellschaft weit verbreitet sind. Familien und Stämme können die Konversion eines ihrer Angehörigen als einen Affront gegen ihre kollektive „Ehre“ interpretieren, weswegen eine offene Konversion Ächtung und/oder Gewalt durch die Gesellschaft, den Stamm, die Familie oder bewaffnete Gruppen nach sich ziehen kann (UNHCR 5.2019).

Es gibt keine gemeldeten Fälle von Personen, die in der Kurdischen Region im Irak (KRI) wegen eines Religionswechsels vor Gericht gestellt wurden. Die Zahl der zum Christentum konvertierten Personen in der KRI wird auf wenige hundert geschätzt (EASO 6.2019). Personen, die vom Islam zu Christentum konvertieren, sind in der KRI in Gefahr Opfer von (auch tödlicher) Gewalt zu werden (DIS/Landinfo 9.11.2018).14.2 Atheismus, Agnostizismus, Kritik an konfessioneller Politik

Das irakische Strafgesetzbuch enthält keine Artikel, die eine direkte Bestrafung für Atheismus vorsehen. Es gibt auch keine speziellen Gesetze, die Strafen für Atheisten vorsehen. (Al-Monitor 1.4.2018). Atheismus ist im Irak zwar nicht illegal (NBC 5.4.2019), aber die irakische Verfassung garantiert Atheisten nicht die freie Glaubensausübung (USDOS 21.6.2019; vgl. EASO 3.2019).

Staatliche Akteure setzen Atheismus typischerweise mit Blasphemie gleich (UKHO 10.2019). Atheisten wurden Berichten zufolge wegen „Schändung von Religionen“ und damit zusammenhängenden Anklagen verfolgt (UNHCR 5.2019; vgl. Al Monitor 1.4.2018). Im März 2018 wurden in Dhi Qar Haftbefehle gegen vier Iraker aufgrund von Atheismus-Vorwürfen erlassen. Einer wurde verhaftet, während die übrigen drei geflohen sind (Al-Monitor 1.4.2018; vgl. USCIRF 4.2019). Ende 2018 wurde ein atheistischer Buchhändler im südirakischen Gouvernement Nasriyah verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen Atheismus verbreiten zu wollen (AW 20.7.2019; vgl. NBC 5.4.2019).

Atheisten im Irak sind eine wachsende Minderheit (AW 20.7.2019). Berichten zufolge gibt es auch eine kleine, wachsende Bewegung von Agnostikern im Irak (NBC 5.4.2019).

Offener Atheismus ist im Irak äußerst selten, da die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Atheisten sehr begrenzt ist, wie die öffentliche Rhetorik einiger Politiker und religiöser Führer zeigt. Atheisten halten ihre Ansichten oft geheim, aus Furcht vor Diskriminierung und Gewalt durch die eigene Familie, Milizen oder auch religiös-konservative Gruppen (UKHO 10.2019). Milizen sollen Mittel haben, um die Personen hinter Social Media-Einträgen ausfindig zu machen. Angeblich werden Atheisten ins Visier genommen (NBC 5.4.2019).

Personen, die gegen die strenge Auslegungen der islamischen Regeln in Bezug auf Kleidung, soziales Verhalten und Berufe verstoßen, einschließlich Atheisten und säkular gesinnte Personen, Frauen und Angehörige religiöser Minderheitsgruppen, sind Berichten zufolge mit Entführungen, Schikanen und körperlichen Angriffen durch verschiedene extremistische bewaffnete Gruppen und Milizen konfrontiert (UNHCR 5.2019).

Obwohl in der Bevölkerung verschiedene Grade der Religiosität vertreten sind, und ein Segment der Iraker eine säkulare Weltanschauung vertritt, ist es dennoch selten, dass sich jemand öffentlich zum Atheismus bekennt. Die meisten Atheisten verstecken ihre Identität und behaupten Muslime zu sein (EASO 3.2019).

Viele Geistliche, die islamischen politischen Parteien nahe stehen, haben missverständliche Vorstellungen zu dem Thema und bezeichnen z.B. oft den Säkularismus als Atheismus (Al-Monitor 1.4.2018).

An den Wahlen von 2018 nahm auch eine Reihe eher sekulärer Parteien teil (FH 4.3.2020).15 Minderheiten

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer-Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.1.2019).

In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.1.2019; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der KRI durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017). Es gibt auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 13.3.2019). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.1.2019).

Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in dem ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Gouvernement Diyala (AA 12.1.2019). Im Gouvernement Ninewa wurden alle Distriktverwaltungen angeordnet, dem Bundesgesetz von 2017 folge zu leisten und den Familien von PMF-Märtyrern, die im Kampf gegen den IS gefallen sind (zumeist Schiiten), Land zuzuweisen. Diese Anordnung schloss auch Distrikte mit sunnitischer und nicht-muslimischer Mehrheit ein. Es kam zu Widerstand unter Verweis auf das in der Verfassung verankerte Verbot eines erzwungenen demografischen Wandels, insbesondere im mehrheitlich christlichen Distrikt Hamdaniya (USDOS 21.6.2019).

 

BMI (2016): Atlas - Middle East & North Africa: Religious Groups

BMI (2016): Atlas - Middle East & North Africa: Ethnic Groups

Anmerkung zu beiden Karten: Die religiös-konfessionelle sowie ethnisch-linguistische Zusammensetzung der irakischen Bevölkerung ist höchst heterogen. Die hier dargebotenen Karten zeigen nur die ungefähre Verteilung der Hauptsiedlungsgebiete religiös-konfessioneller bzw. ethnisch-linguistischer Gruppen und Minderheiten. Insbesondere in Städten kann die Verteilung deutlich von der ländlichen Umgebung abweichen (BMI 2016). Dazu muss hervorgehoben werden, dass ein und dieselbe Gruppe in einer Gegend die Minderheit, in einer anderen jedoch die Mehrheitsbevölkerung stellen kann und umgekehrt (Lattimer EASO 26.4.2017).

Die territoriale Niederlage des IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Viele Schiiten und religiöse Minderheiten, die vom IS vertrieben wurden, sind bis heute nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Rückkehr irakischer Streitkräfte in Gebiete, die seit 2014 von kurdischen Streitkräften gehalten wurden, führte Ende 2017 zu einer weiteren Runde demografischer Veränderungen, wobei manche kurdische Bewohner auszogen, und Araber zurückkehrten. In Gebieten, die von schiitischen Milizen befreit wurden, gab es wiederum Berichte von der Vertreibung sunnitischer Araber (FH 4.3.2020). Aufgrund der konfliktbedingten internen Vertreibungen und Rückkehrbewegungen hat sich seit 2014 die Demographie einiger Gebiete von mehrheitlich sunnitisch zu mehrheitlich schiitisch bzw. zu konfessionell gemischt entwickelt, insbesondere in den Gouvernements Bagdad, Basra und Diyala. Im Distrikt Khanaqin in Diyala ist die Anzahl der Orte mit einer sunnitischen Mehrheit von 81 auf 73 gesunken, jene mit einer kurdisch-sunnitischen Mehrheit von 20 auf 17. Im Gouvernement Babil sind vormals arabisch-sunnitisch-schiitische Mischstädte wie Jurf al-Sakhr und Musayab vollständig schiitisch geworden. In der KRI hat die Präsenz sunnitischer Araber zugenommen, sodass die Anzahl der Orte mit einer sunnitisch-arabischen Mehrheit seit 2014 von 2 auf 25 angewachsen ist (IOM 2019).

Ebenso wurde ein Rückgang von assyrischen Christen in vormals gemischt-konfessionellen Regionen im Gouvernement Ninewa verzeichnet, sowie von vormals ethnisch-konfessionell gemischten Orten in den Distrikten Mossul, Sinjar und Telfar, in denen die Zahl der kurdischen Sunniten, Jesiden und Schabak zurückging. Im Gouvernement Diyala sind turkmenisch-sunnitische Mischgebiete verschwunden, während sich die turkmenische Präsenz in der Region um Kirkuk verstärkt zu haben scheint (IOM 2019).15.1 Sunnitische Araber

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).

Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).16 Relevante Bevölkerungsgruppen16.1 Frauen

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament verankert (AA 12.1.2019). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) sind es 30% (AA 12.1.2019; vgl. OHCHR 11.9.2019). Frauen sind jedoch auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung weiterhin unterrepräsentiert. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben, bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht (K4D 24.11.2017).

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt (FH 4.3.2020). Zwar ist laut Artikel 14 und 20 der Verfassung jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Artikel 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht (AA 12.1.2019). Die Stellung der Frau hat sich jedenfalls im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert (AA 12.1.2019; vgl. FIS 22.5.2018). Auch die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen (AA 12.1.2019). In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen auch stärker eingeschränkt als für Männer (FH 4.3.2020). So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020), oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist (FH 4.3.2020).

Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17% (AA 12.1.2019; vgl. Frontline 12.11.2019). Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (Frontine 12.11.2019). Die genauen Zahlen unterscheiden sich je nach Statistik und Erhebungsmethode (FIS 22.5.2018).

Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Buben und Männer. Im Alter von zwölf Jahren aufwärts sind Mädchen doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Buben (GIZ 1.2020b). Mehr als ein Viertel von Frauen im Alter von über 15 Jahren können nicht lesen und schreiben (CIA 28.2.2020). Schätzungen zufolge liegt die Analphabetenrate bei Frauen im Irak bei 28,2% und ist damit etwa doppelt so hoch wie jene von Männern und Buben (13%) (UN Women 12.2018). In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Buben (GIZ 1.2020b).16.1.1 Häusliche Gewalt, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigung

Häusliche Gewalt ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020), vor dem Frauen nur wenig rechtlichen Schutz haben (HRW 17.1.2019). Das irakische Strafgesetz enthält zwar Bestimmungen zur Kriminalisierung von Körperverletzung, es fehlt jedoch eine ausdrückliche Erwähnung von häuslicher Gewalt (HRW 14.1.2020; vgl. FIS 22.5.2018). Der Irak hat zwar eine nationale Strategie gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen angenommen, aber noch kein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt verabschiedet (OHCHR 11.11.2019).

Nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches hat der Ehemann das Recht, seine Frau innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (HRW 14.1.2020). Diese Grenzen sind recht vage definiert, sodass verschiedene Arten von Gewalt als „rechtmäßig“ interpretiert werden können. Nach Artikel 128 Absatz 1 des Strafgesetzbuches können Straftaten, die aufgrund der „Ehre“ oder „vom Opfer provoziert“ begangen wurden, ungestraft bleiben, bzw. kann in solchen Fällen die Strafe gemildert werden. Täter, die Gemeinschaft, aber auch Opfer selbst sehen häusliche Gewalt oft als „normal“ und rechtfertigen sie aus kulturellen und religiösen Gründen (FIS 22.5.2018). Frauen tendieren dazu häusliche Gewalt aus Scham oder Angst vor Konsequenzen nicht zu melden, manchmal auch um den Täter zu schützen (UNFPA 2016; vgl. FIS 22.5.2018). Viele Frauen haben kein Vertrauen in die Polizei und halten den von ihr gebotenen Schutz für nicht angemessen (FIS 22.5.2018).

Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020). Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist (FIS 22.5.2018). Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar (FIS 22.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020).

Zwischen 2014 und 2017 etablierte der Islamische Staat (IS) ein System organisierter Vergewaltigungen, sexueller Sklaverei und Zwangsheirat von jesidischen Frauen und Mädchen und anderen Minderheiten. Es wurde jedoch kein IS-Mitglied wegen dieser spezifischen Verbrechen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt (HRW 14.1.2020). Im Zuge des IS-Vormarsches auf Sinjar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als „Trophäen“ an IS-Kämpfer übergeben oder nach Syrien „verkauft“ wurden. Diese Frauen wurden anschließend oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen (AA 12.1.2019; vgl. USCIRF 4.2019). 16.1.2 Schutzmaßnahmen, Schutzeinrichtungen, Frauenhäuser

Der Irak verfügt zurzeit über keinen adäquaten rechtlichen Rahmen, um Frauen und Kinder vor häuslicher, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen (FIS 22.5.2018).

Das Innenministerium unterhält 16 Familienschutzeinheiten im ganzen Land, die dafür bestimmt sind, häusliche Streitigkeiten zu lösen und sichere Zufluchtsorte für Opfer sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt zu schaffen. Diese Einheiten tendieren jedoch dazu, der Familienversöhnung Vorrang vor dem Opferschutz einzuräumen und verfügen nicht über die Fähigkeit, Opfer zu unterstützen (USDOS 11.3.2020; vgl. FIS 22.5.2018). Manchmal werden Schutzhäuser Ziel von Gewalt (USDOS 11.3.2020, vgl. Lattimer EASO 26.4.2017). Per Gesetz genehmigt das Arbeits- und Sozialministerium den Betrieb von Schutzhäusern, hat dies jedoch für NGOs nicht getan. Manche NGOs betreiben daher inoffizielle Schutzhäuser unter der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (USDOS 11.3.2020). UNFPA unterstützt fünf Frauenhäuser im gesamten Irak, davon eines in Bagdad, mit einem Aufnahmevermögen von 80 Personen in zehn Schlafräumen, sowie einem Beratungsraum und einem Raum für psychosoziale Unterstützung (UNFPA 20.2.2019). Aufgrund von Druck durch die Gemeinschaften, die Frauenhäuser häufig als Bordelle ansehen, werden diese regelmäßig durch das Ministerium geschlossen, um später an anderer Örtlichkeit wieder eröffnet zu werden (USDOS 11.3.2020).

Im Jahr 2011 wurde vom kurdischen Regionalparlament Gesetz Nr. 8 zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen (PKI 21.6.2011). Auch danach hat die kurdische Regionalregierung ihre Anstrengungen zum Schutz von Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie drei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NGOs betrieben (AA 12.1.2019). Nach anderen Angaben gibt es in der KRI ein privat betriebenes und vier staatliche Frauenhäuser. Letztere werden vom Arbeits- und Sozialministerium betrieben (USDOS 11.3.2020). Um dort aufgenommen zu werden, benötigen Frauen einen Gerichtsbeschluss (Lattimer EASO 26.4.2017). Es gibt jedenfalls nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen, die Serviceleistungen sind schlecht (USDOS 11.3.2020).

Vereinzelt werden Frauen „zum eigenen Schutz“ inhaftiert. Einige Frauen werden mangels Notunterkünften obdachlos (USDOS 11.3.2020). Frauen, die in Frauenhäusern oder Notunterkünften untergebracht sind, verfügen nur über wenige Alternativen, abgesehen von einer Eheschließung oder der Rückkehr zu ihren Familien, was oft zu weiterer Bestrafung oder Diskriminierung durch die Familie oder die Gemeinschaft führt (USDOS 11.3.2020; vgl. Lattimer EASO 26.4.2017).16.1.3 Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya)

Zwangs- und Kinderehen sind weit verbreitet, insbesondere im Zusammenhang mit Vertreibung und Armut (FH 4.3.2020; vgl. AA 12.1.2019). Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen. Rund 20% der Frauen werden als Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis14 Jahren (AA 12.1.2019). Ein Gesetzesentwurf der u.a. die Möglichkeit der Verheiratung von Mädchen im Alter ab acht Jahren beinhaltet hätte, wurde im Dezember 2017 vom Parlament abgelehnt (HRW 17.12.2017).

Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung beträgt mit elterlicher Erlaubnis 15 Jahre, ohne Erlaubnis 18 Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Berichten zufolge unternimmt die Regierung jedoch wenig Anstrengungen, um dieses Gesetz durchzusetzen. Traditionelle Zwangsverheiratungen von Mädchen, Kinderehen und sogenannte „Ehen auf Zeit“ (zawaj al-mut‘a) finden im ganzen Land statt (USDOS 11.3.2020). „Ehe auf Zeit“ ist eine im zwölferschiitischen Islam erlaubte Möglichkeit auf religiös gebilligten Geschlechtsverkehr. Im sunnitischen Islam sind diese Ehen nicht erlaubt, auch wenn manche sunnitische Geistliche eine ähnliche Form der Ehe auf Zeit, misyar, gestatten (BBC 4.10.2019). Zwangsehen und „Ehen auf Zeit“ werden benutzt, um Frauen und Mädchen innerhalb des Irak sowie in Ländern wie Syrien, Jordanien und Kuwait zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu verkaufen (OHCHR 11.11.2019).

Nach Angaben des Hohen Rates für Frauenangelegenheiten der kurdischen Regionalregierung (KRG) tragen Flüchtlinge und IDPs in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu einer zunehmenden Zahl an Kinderehen und Polygamie bei (USDOS 11.3.2020). Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass Mädchen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen, oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Mädchen (AA 12.1.2019).

Fasliya bezeichnet eine traditionelle Stammespraxis zur Schlichtung von Konflikten, bei der Frauen bzw. Mädchen eines Stammes mit Männern eines verfeindeten Stammes als Entschädigung für Mord bzw. für die Verletzung von Mitgliedern des anderen Stammes verheiratet werden (USDOS 11.3.2020; vgl. Musawah 11.2019). Dies geschieht ohne die Zustimmung der betreffenden Frauen (Musawah 11.2019). Obwohl die „Blutgeld-Ehe“ seit den 1950er Jahren mit dem irakischen Personenstandsgesetz von 1959 gesetzlich verboten ist, erlebt diese Praxis vor allem im Südirak, wo sich Bürger zur Konfliktbewältigung wieder vermehrt an Stämme wenden, einen Aufschwung. Die Praxis existiert auch in anderen Teilen des Landes (z.B. im Zentralirak) (Al-Monitor 18.6.2015) und wird auf kurdisch als badal khueen oder jin be xwên bezeichnet (FO 29.12.2015). Frauen, die im Zuge solcher Arrangements „als Kompensation“ bzw. „als Ersatz“ für den Toten bzw. für das vergossene Blut verheiratet werden, können sich nicht scheiden lassen und sind häufig Missbrauch ausgesetzt (Raseef22 17.8.2016; vgl. France 24 18.4.2019; Al-Monitor 18.6.2015). Sogar Kinder, die in einer solchen Ehe geboren werden, werden als „Kinder der Fasliya" gebrandmarkt (France 24 18.4.2019).

Im Jahr 2011 hat das kurdische Regionalparlament mit Gesetzt Nr. 8 ein Gesetz zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen, das auch die Zwangsehe, die Kinderehe und die Blutgeld-Ehe unter Strafe stellt (PKI 21.6.2011). 16.1.4 Ehrenverbrechen an Frauen

Die Familien- und die individuelle Ehre wird ausschließlich von Männern gehalten und kann verloren oder wiedergewonnen werden. Frauen dagegen können nur eine Quelle der Familien- oder individuellen „Schande“ sein und können nicht aktiv Ehre in ihre Familie oder ihren Stamm bringen (TCF 7.11.2019).

Sogenannte Ehrenverbrechen sind Gewalttaten, die von Familienmitgliedern gegen Verwandte ausgeübt werden, weil diese „Schande“ über die Familie oder den Stamm gebracht haben. Ehrenverbrechen werden oft in Form von Mord begangen, obwohl sie auch andere Arten der Gewalt umfassen können wie z.B. körperliche Misshandlung, Einsperren, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Entzug von Bildung, Zwangsverheiratung, erzwungener Selbstmord und öffentliche Schändung bzw. „Entehrung“. Ehrendelikte werden überwiegend von männlichen Familienmitgliedern gegen weibliche Familienmitglieder verübt, obwohl gelegentlich auch Männer Opfer solcher Gewalt werden können. Ehrenverbrechen werden meist begangen, nachdem eine Frau eines der folgenden Dinge getan hat bzw. dessen verdächtigt wird: Freundschaft oder voreheliche Beziehung mit einem Mann; Weigerung, einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten; Heirat gegen den Willen der Familie; Ehebruch; Opfer einer Vergewaltigung oder Entführung geworden zu sein. Solche Verletzungen der Ehre werden als unverzeihlich angesehen. In den meisten Fällen wird die Tötung der Frau, manchmal auch die des Mannes, als der einzige Weg gesehen, die Ehrverletzung zu sühnen (MRG 11.2015).

Ehrenverbrechen finden in allen Gegenden des Irak statt und beschränken sich nicht auf bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen. Sie werden gleichermaßen von Arabern und Kurden ausgeübt, von Sunniten und Schiiten, wie auch von einigen ethnischen und religiösen Minderheiten. Es ist schwer, das wahre Ausmaß von Ehrenverbrechen und Ehrenmorden im Irak zu erfassen, da viele Fälle nicht angezeigt werden bzw. oft als Selbstmord oder Unfall angeführt werden (MRG 11.2015). Ehrenmorde bleiben auch weiterhin ein ernstes Problem im ganzen Land (USDOS 11.3.2020).

Das Strafgesetzbuch sieht für Gewalttaten aus „ehrenhaften Motiven“, inklusive Ehrenmorde, milde, reduzierte Strafen vor (FH 4.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020). In der Regel werden Ehrenverbrechen nicht angezeigt und auch nicht strafrechtlich verfolgt. Von der Polizei und den zuständigen Behörden werden die Fälle in der Regel als Familiensache erachtet, die dem Ermessen männlicher Familienmitglieder obliegt (MRG 11.2015). In Fällen von Gewalt gegen Frauen erlaubt das irakische Recht zudem den Grund der „Ehre“ als rechtmäßige Verteidigung. Wenn ein Mann des Mordes an einer Frau angeklagt wird, die er getötet haben soll, weil sie des Ehebruchs verdächtigt worden war, begrenzt das Gesetz seine mögliche Strafe auf maximal drei Jahre Gefängnis (USDOS 11.3.2020). Strafen für Ehrenverbrechen sind selten (FH 4.3.2020). Täter werden oft freigesprochen oder zu sehr milden Strafen verurteilt, selbst wenn eindeutige, belastende Beweise vorliegen (MRG 11.2015).16.1.5 Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation)

Das Thema der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen im Irak war lange Zeit ein Tabu, über das kaum gesprochen wurde. Erst als durch Studien die alarmierend hohe FGM-Rate im kurdischen Norden aufgezeigt wurde, hat sich dies geändert (MRG 11.2015). Seit 2011 stellt ein Gesetz in der Kurdischen Region im Irak (KRI) die Genitalverstümmelung unter Strafe (AA 12.1.2019; vgl. PKI 21.6.2011). Die UNO arbeitet mit Regierungsinstitutionen und lokalen NGOs zusammen, um FGM durch Sensibilisierungskampagnen zu verhindern (UNICEF 6.2.2019). NGOs berichten jedoch, dass die Praxis weiter betrieben wird, vor allem in ländlichen Gebieten. Allerdings geht die FGM-Rate kontinuierlich zurück (USDOS 11.3.2020; vgl. UNICEF 6.12.2018). Etwa 7,4% der irakischen Frauen im Alter von 15-49 Jahren sind einer FGM unterzogen worden, In der KRI sind es 37,5%, im Zentral- und Südirak hingegen nur 0,4%. Bei Mädchen im Alter von 0 bis14 Jahren ist der Prozentsatz mittlerweile auf 1% gesunken, bzw. auf 3% in der KRI (UNICEF 6.12.2018).

Außerhalb der KRI gibt es bisher keine staatlichen Anstrengungen zur Bekämpfung von FGM (AA 12.1.2019). Dabei gibt es laut einer Studie in Kirkuk auch Betroffene in der arabischen und turkmenischen Bevölkerung, wenn auch in geringerem Ausmaß (AA 12.1.2019). 16.1.6 Weibliche Familienoberhäupter, Witwen, Geschiedene, alleinstehende Frauen

Die hohe Anzahl an Todesopfern in den Konfliktjahren, die meisten davon männlich, hat zu einem hohen Anteil an Haushalten mit weiblichen Familienoberhäuptern geführt (IOM 4.2019). Einer Studie zufolge haben etwa 8,9% der Haushalte einen weiblichen Haushaltsvorstand (UNICEF 6.12.2018). Gemäß einer anderen Quelle sind allein 10% der irakischen Frauen Witwen und viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien (AA 12.1.2019).

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem (PDS). Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und NGOs angewiesen. Während theoretisch die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab (FIS 22.5.2018). Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung (UNHCR 11.2018). Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken (FIS 22.5.2018; vgl. UNHCR 11.2018).

Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert (IOM 4.2019).

Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden (AA 12.1.2019). Alleinstehende Frauen und Witwen haben oft Schwierigkeiten, ihre Kinder registrieren zu lassen, was dazu führt, dass den Kindern staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfen und Zugang zum Gesundheitswesen verweigert werden (USDOS 11.3.2020).

Männer können sich einseitig von ihren Ehefrauen scheiden lassen, während Frauen nur aus bestimmten Gründen Scheidungsverfahren einleiten können, wie z.B. die Inhaftierung des Mannes für mehr als drei Jahre, Impotenz oder Unfruchtbarkeit des Mannes (OECD 12.2018; vgl. HRW 25.2.2018), die Abwesenheit des Mannes für mehr als zwei Jahre, oder wenn der Ehemann für vier oder mehr Jahre als vermisst gilt (HRW 25.2.2018). Darüber hinaus haben sowohl Männer als auch Frauen das Recht, aus Gründen wie Untreue, Glücksspiel im Ehehaus oder Gewalt in einer Weise, die das Eheleben unmöglich macht, die Trennung zu verlangen. Frauen können zusätzlich eine „Khula“-Scheidung beantragen, bei der sie ihre Brautgabe zurückgeben und jede zukünftige finanzielle Unterstützung verlieren (OECD 12.2018). 2018 wurde ein Anstieg von Scheidungsanträgen, insbesondere durch Frauen verzeichnet. Obwohl nicht verfolgt wurde, ob es sich dabei um IS-bezogene Scheidungen handelte, wurde insbesondere in sunnitischen Regionen unter vormaliger IS-Herrschaft, wie Anbar und Ninewa, ein Anstieg verzeichnet (NBC 5.7.2018). Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen (AA 12.1.2019). Nach anderen Angaben bleibt eine Scheidung im Irak weiterhin mit starkem sozialen Stigma verbunden (MRG 11.2015; vgl. FIS 22.5.2018). 16.1.7 Verwestlichung, westlicher bzw. nicht-konservativer Lebensstil

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft (FH 4.3.2020). Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken (AA 12.1.2019). Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (USDOS 21.6.2019).

Auch Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen (UNHCR 5.2019). Im Jahr 2018 gab es einige Morden an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Bürgerechtlerinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen (FH 4.3.2020; vgl. UNHCR 5.2019).

Mädchen und Frauen haben immer noch einen schlechteren Zugang zu Bildung. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine „frühe Ehe" für sie vor (GIZ 1.2020b). 16.2 Kinder

Die Hälfte der irakischen Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Kinder waren und sind Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Sie sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen (AA 12.1.2019). Laut UNICEF machen Kinder fast die Hälfte der durch den Konflikt vertriebenen Iraker aus (USDOS 11.3.2020). Im Dezember 2019 waren noch mehr als 1,4 Millionen Menschen, darunter 658.000 Kinder, IDPs, vor allem im Norden und Westen des Landes (UNICEF 31.12.2019).

Artikel 29 und 30 der irakischen Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Der Irak ist dem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten (AA 12.1.2019). Nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches haben Eltern das Recht, ihre Kinder innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (HRW 14.1.2020).

Im Falle einer Nichtregistrierung der Geburt eines Kindes werden diesem staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfe und Gesundheitsversorgung vorenthalten. Alleinstehende Frauen und Witwen hatten oft Probleme bei der Registrierung ihrer Kinder. Kinder, die nicht die irakische Staatsbürgerschaft besitzen, haben ebenfalls keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Humanitäre Organisationen berichten von einem weit verbreiteten Problem bezüglich Kindern, die im Gebiet des Islamischen Staates (IS) geboren worden sind und keine von der Regierung ausgestellte Geburtsurkunden erhalten. Etwa 45.000 Kinder sind davon betroffen (USDOS 11.3.2020). [siehe Abschnitt 16.7]

Nach dem Gesetz ist der Vater der Vormund der Kinder, auch wenn eine geschiedene Mutter das Sorgerecht für ihre Kinder bis zum Alter von zehn Jahren erhalten kann. Dies kann per Gerichtsentscheid auch bis zum Alter von 15 Jahren verlängert werden, zu welchem Zeitpunkt das Kind wählen kann, mit welchem Elternteil es leben möchte (USDOS 11.3.2020). Das irakische Familienrecht unterscheidet zwischen zwei Arten der Vormundschaft (wilaya und wasiya), sowie der Pflege bzw. Sorge (hanada). Dem Vater kommt immer die Vormundschaft (wilaya) zu. Wenn dieser nicht mehr lebt, dem Großvater bzw. nach Entscheidung eines Shari‘a-Gerichts einem anderen männlichen Verwandten. Nur ein Mann kann demnach wali sein. Die Fürsorgeberechtigung (hanada), d.h. die Verantwortung für die Erziehung, Sicherheit und Betreuung eines Kindes, kommt im Falle einer Scheidung der Mutter zu. D.h. die Kinder leben bei der Mutter, im Falle von Knaben bis zum 13. Lebensjahr und im Falle von Mädchen bis zum 15. Lebensjahr (Migrationsverket 15.8.2018).

Einem Bericht aus 2018 zufolge sind fast alle irakischen Kinder (92%) in der Grundschule eingeschrieben, aber nur etwas mehr als die Hälfte der Kinder aus ärmeren Verhältnissen absolvieren die Grundschule (UNICEF 19.11.2018). Dabei ist die Grundschulbildung für Kinder mit irakischer Staatsbürgerschaft in den ersten sechs Schuljahren verpflichtend und wird für diese kostenfrei angeboten. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) besteht die Schulpflicht bis zum Alter von 15 Jahren; auch dort kostenfrei. Der gleichberechtigte Zugang von Mädchen zu Bildung bleibt eine Herausforderung, insbesondere in ländlichen und unsicheren Gebieten (USDOS 11.3.2020). Die Sicherheitslage und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern allerdings mancherorts den Schulbesuch, sodass die Alphabetisierungsrate in den letzten 15 Jahren drastisch gefallen ist (aktuell bei 79,7%), besonders in ländlichen Gebieten. Im Unterschied dazu sind in der KRI fast alle Menschen des Lesens und Schreibens mächtig (AA 12.1.2019). Mindestens 70% der Kinder von IDPs haben mindestens ein Jahr Schulunterricht verpasst (USDOS 11.3.2020). Mehr als 3,3 Millionen Kinder im Irak benötigen Unterstützung im Bildungsbereich (UNICEF 31.12.2019).

Eine Million Kinder unter 18 Jahren hatte Ende 2019 humanitären Bedarf an Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene (UNICEF 31.12.2019). Über ein Viertel aller Kinder im Irak lebt in Armut. Dabei waren, über die letzten Jahrzehnte, Kinder im Süden des Landes und in ländlichen Gebieten am stärksten betroffen (UN News 19.1.2018; vgl. UNICEF 31.1.2017). 22,6% der Kinder im Irak sind unterernährt (AA 12.1.2019). Ein Viertel aller Kinder unter fünf Jahren sind physisch unterentwickelt bzw. im Wachstum zurückgeblieben (UNICEF 31.1.2017).

Gewalt gegen Kinder bleibt ein großes Problem (USDOS 11.3.2020). Berichten zufolge verkaufen Menschenhändlernetze irakische Kinder zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung. Letztere erfolgt im In- und Ausland. Verbrecherbanden sollen Kinder zwingen, im Irak zu betteln und Drogen zu verkaufen (USDOS 20.6.2019). Auch Kinderprostitution ist ein Problem, insbesondere unter Flüchtlingen. Da die Strafmündigkeit im Irak in den Gebieten unter der Verwaltung der Zentralregierung neun Jahre beträgt und in der KRI elf, behandeln die Behörden sexuell ausgebeutete Kinder oft wie Kriminelle und nicht wie Opfer (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten die schlimmsten Formen von Kinderarbeit. In den Gebieten, die unter die Zuständigkeit der Zentralregierung fallen, beträgt das Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre. Versuche der Regierung Kinderarbeit z.B. durch Inspektionen zu überwachen, blieben erfolglos. Kinderarbeit, auch in ihren schlimmsten Formen, kam im ganzen Land vor (USDOS 11.3.2020).

Kindersoldaten, Rekrutierung von Kindern

Die Regierung und schiitische religiöse Führer verbieten Kindern unter 18 Jahren ausdrücklich den Kriegsdienst. Es gibt keine Berichte, wonach Kinder von staatlicher Seite zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden. Der Regierung mangelt es jedoch an Kontrolle über einige PMF-Einheiten, sie kann die Rekrutierung von Kindern durch diese Gruppen nicht verhindern, darunter die Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH), Harakat Hezbollah al-Nujaba (HHN) und die Kata’ib Hizbollah (KH) (USDOS 11.3.2020). Es gibt auch keine diesbezüglichen Untersuchungen (USDOS 20.6.2019). Die Vereinten Nationen untersuchen die Rekrutierung und Verwendung von 39 Kindern durch die Konfliktparteien, darunter fünf Buben im Alter von zwölf bis 15 Jahren, die von der irakischen Bundespolizei im Gouvernement Ninewa zur Verstärkung eines Kontrollpostens eingesetzt wurden (UN General Assembly 30.7.2019). Berichten zufolge rekrutieren sowohl die Volksverteidigungskräfte (HPG), der militärische Arm der Kurdische Arbeiterpartei (PKK), und die jesidische Miliz Shingal Protection Unit (YBS) nach wie vor Kinder und setzen diese als Soldaten ein. Genaue Zahlen sind zwar nicht verfügbar, aber sie werde auf einige Hundert geschätzt (USDOS 11.3.2020). Seit der territorialen Niederlage des IS im Jahr 2017 gibt es keine neuen Informationen über den Einsatz von Kindern durch den IS (USDOS 11.3.2020). Zuvor hatte der IS ab 2014 tausende Kinder rekrutiert. Diese wurden als Frontkämpfer, Selbstmordattentäter, zur Herstellung und Anbringung von Sprengsätzen, zur Durchführung von Patrouillen, als Wächter und Spione und für eine Vielzahl von Unterstützungsaufgaben eingesetzt (HRW 6.3.2019). Die Zentralregierung sowie die Regierung der Kurdischen Region im Irak verfolgen solche Kinder gemäß ihren Terrorismusbekämpfungsgesetzen. Etwa 1.500 irakische Kinder werden wegen des Vorwurfs einer IS-Angehörigkeit in Gefängnissen festgehalten und gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen (The New Arab 8.3.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über Verurteilungen von Kindern als Terroristen (HRW 6.3.2019).

[Anm.: Informationen zu Kinderehen können dem Kapitel 16.1.3 Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya) entnommen werden, Informationen zu Kindern, die unter dem IS geboren sind finden sich in Kapitel 16.7 (Mutmaßliche) IS-Mitglieder, IS-Sympatisanten und „IS-Familien“ (Dawa‘esh).]16.3 Berufsgruppen & Menschen, die einer bestimmten Beschäftigung nachgehen

Übergriffe auf Regierungsziele durch den Islamischen Staat (IS) sind trotz eines generellen Rückgangs an Vorfallzahlen gestiegen (CSIS 30.11.2018). Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte sowie Mitglieder des Sicherheitsapparats sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von gezielten Attentaten (AA 12.1.2019).

Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird - fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen (AA 12.1.2019; vgl. USDOS 21.6.2019), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal werden ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen (AA 12.1.2019).16.4 Ex-Ba‘athisten

Die Arabische Sozialistische Ba‘ath-Partei war kurzzeitig im Jahr 1963 und dann zwischen 1968 und 2003, bis zum Fall von Saddam Hussein, die herrschende Partei des Irak (EB o.D.). Mit der neuen Verfassung von 2005 wurde die Ba‘ath Partei verboten (WI 3.3.2016). Nach dem Fall des Regimes Saddam Husseins durchlief der Irak eine Ent-Ba‘athifizierung, die die Auflösung der Ba‘ath-Partei und verschiedener, mit ihr verbundener Organisationen umfasste. Es kam zu Verhaftungen ehemaliger hochrangiger Parteimitglieder, sowie zur Säuberung des Staatsapparates, der Streitkräfte und der öffentlichen Verwaltung (UKHO 1.2020; vgl. ICTJ 3.2013). Im Zuge der Ent-Ba‘athifizierung wurden mit Wirkung vom 16.4.2003 alle militärischen Dienstgrade und Titel annulliert, Wehrpflichtige und Mitarbeiter entlassen. In späterer Zeit konnten manche Ba‘ath Mitglieder wieder in den Dienst genommen werden, oft nach einem „Rehabilitationskurs“, die Kriterien für die Wiedereinsetzung waren jedoch unklar (ICTJ 3.2013). Schrittweise aufeinander folgende Gesetze zur Entfernung von Ba‘athisten aus dem öffentlichen Dienst basierten auf „Schuld durch Assoziation“ anstatt individuell begangener und nachgewiesener Verbrechen (EUISS 10.2017).

Einige mittel- bis hochrangige Ba‘athisten sind für schwere, unter dem Saddam Regime begangene Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Darüber hinaus wird berichtet, dass einige frühere Ba‘athisten Verbindungen zum Islamischen Staat (IS) oder zu anderen aufständischen Organisationen, wie der „Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens“ (JRTN, Jaysh Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiyya) haben (UKHO 1.2020).

Obwohl viele Mitglieder der Baath-Partei schiitisch waren, waren Sunniten in den oberen Rängen der Partei, im Militär und in den Sicherheitsdiensten überproportional vertreten. Sunniten stellen die Ent-Ba‘athifizierung wiederholt als „Ent-Sunnifizierung“ dar und beklagen, dass der Prozess zu einem Instrument konfessioneller Politik geworden ist (ICTJ 3.2013). Eine Vielzahl von ehemaligen Mitgliedern der seit 2003 verbotenen Ba‘ath-Partei ist, soweit nicht ins Ausland geflüchtet, häufig aufgrund der Anschuldigung terroristischer Aktivitäten in Haft. Viele von ihnen haben weder Zugang zu Anwälten noch Kontakt zu ihren Familien (AA 12.1.2019).

Das 2006 verabschiedete irakische „Ent-Ba‘athifizierungs"-Gesetz verbietet ehemaligen Mitgliedern der Partei und des Regimes, führende Positionen, einschließlich Parlamentssitze, zu bekleiden (Anadolu 2.4.2018). Vormalige Ba‘athisthen, zumeist Sunniten, sind daher von einer Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen (CEIP 25.2.2010; vgl. Anadolu 2.4.2018). 2008 hat das irakische Parlament das generelle Verbot für vormalige Ba‘athisten in Regierungspositionen zu arbeiten aufgehoben. Hochrangige Ba‘athisten blieben von Regierungspositionen ausgeschlossen (NYT 13.1.2008). Im Jahr 2016 stimmte das Parlament für die Verabschiedung eines Gesetzes, das „Entitäten, die sich zu Rassismus, Terrorismus, Sektierertum oder konfessionellen Säuberungen bekennen oder diese fördern", wie die Ba‘ath-Partei, jegliche politische Aktivität im Land verbietet (MEE 31.7.2016).

Es gab Vorfälle, bei welchen vormalige Regierungsmitglieder des Ba‘ath Regimes sowie Angehörige der Ba‘ath Partei zu Zielen von Übergriffen auf Eigentum und Gewaltakten wurden, in einigen Fällen auch von Morden. Oft sind die Gründe für diese Übergriffe nicht bekannt und können auch aufgrund einer angenommen IS-Angehörigkeit erfolgen, bzw. einen Stammes-, konfessionellen oder beruflichen Tathintergrund haben (UNHCR 5.2019). Allerdings berichteten etwa sunnitische Stammesführer über Übergriffe von PMF wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Regime von 2003 (CEIP 3.3.2016).16.5 (Mutmaßliche) IS-Mitglieder, IS-Sympatisanten und „IS-Familien“ (Dawa‘esh)

Generell: Frauen und Kinder von Angehörigen des Islamischen Staates (IS) sind wegen ihrer Verbindung zum IS stigmatisiert (USDOS 11.3.2020). Das Fehlen von Ausweispapieren wirkt sich für vermeintliche ehemalige IS-Angehörige bzw. deren Familien negativ auf Bewegungsfreiheit, Recht auf Arbeit und Sozialleistungen aus (HRW 14.1.2020).

Irakische Sicherheitskräfte hielten mutmaßliche IS-Angehörige willkürlich fest, viele davon monatelang. Verdächtige werden regelmäßig ohne Gerichtsbeschluss oder Haftbefehl und ohne Nennung eines Grundes für die Festnahme verhaftet (HRW 14.1.2020). Regierungstruppen der Zentralregierung und der Kurdischen Region im Irak (KRI) werden für das Verschwindenlassen tausender mutmaßlicher IS-Mitglieder und Personen, die ihnen nahe stehen, verantwortlich gemacht (USDOS 11.3.2020). In den Gouvernements Diyala und Babil wurden sunnitische Araber durch Angehörige der PMF-Milizgruppe Kata‘ib Hizbullah eingeschüchtert oder entführt, sowie sunnitisch-arabische IDPs an der Rückkehr in ihre Herkunftsorte gehindert (USDOS 21.6.2019). Regierungskräfte und Milizen haben in einigen Gouvernements mutmaßliche IS-Sympathisanten und Familienangehörige mutmaßlicher IS-Mitglieder aus deren Häusern vertrieben und diese beschlagnahmt (USDOS 11.3.2020; vgl. USDOS 21.6.2019). Derartige Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich 2017 vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019). Bewaffnete Akteure unter der Kontrolle der irakischen Behörden bestrafen Familien mit einer vermeintlichen Beziehung zum IS (AI 26.2.2019). Außerdem werden IS-Verdächtige, sowie Personen mit Verbindungen zu IS-Angehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kinder, im Rahmen der Anti-Terrorismus-Gesetze rechtlich verfolgt (FP 31.1.2020). Dabei wird über die weit verbreitete Anwendung von Folter durch zentral-irakische und kurdische Sicherheitskräfte zur Gewinnung von Geständnissen berichtet (HRW 14.1.2020).

Bewegungsfreiheit: Die Bewegungsfreiheit von Personen mit angenommenen IS-Verbindungen werden eingeschränkt. Zudem sind Familienmitglieder von IS-Angehörigen oft nicht bereit oder in der Lage an ihre Herkunftsorte zurückzukehren (USDOS 1.11.2019; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Auch das Fehlen von Dokumenten hindert Menschen an der Rückkehr in ihre Heimatregionen (HRW 14.6.2019; vgl. NRC 4.2019). Überhaupt wirkt sich das Fehlen von Ausweispapieren negativ auf die Bewegungsfreiheit aus. Personen ohne Papiere sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, willkürlich verhaftet oder an Kontrollpunkten festgehalten zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. HRW 14.6.2019; NRC 4.2019).

Unterstützung: Personen mit angenommenen IS-Verbindungen erhalten keinen Zugang zu Dienstleistungen (USDOS 1.11.2019; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Die Entschädigungskommissionen von Mossul im Gouvernement Ninewa hat erklärt, dass Familien von IS-Mitgliedern eine Entschädigung erhalten können, wenn sie vom irakischen Geheimdienst NSS eine Sicherheitsfreigabe für ihre Heimkehr erhalten. Es wird aber berichtet, dass allen Familien von mutmaßlichen IS-Mitgliedern diese Genehmigung verweigert wird (USDOS 11.3.2020). Das Fehlen von Dokumenten schränkt mitunter den Zugang zu grundlegenden Diensten zusätzlich ein (NRC 4.2016; vgl. HRW 14.6.2019; HRW 14.1.2020).

Dokumente: Nach Schätzungen von Hilfsgruppen fehlten Anfang 2019 mindestens 156.000 IDPs zumindest ein Teil ihrer wesentlichen zivilen Dokumente. Personen, denen zivile Dokumente fehlen oder die abgelaufene Dokumente erneuern wollen, benötigen eine Sicherheitsfreigabe. Um diese zu erhalten, müssen sie sich an den zuständigen Geheimdienst wenden. Die Beamten werden ihre Namen durch eine Datenbank von Personen laufen lassen, die wegen ihrer mutmaßlichen Verbindungen zu IS als „gesucht" markiert sind. Wenn ihr Verwandter auf einer dieser Listen steht, wird die Freigabe verweigert (HRW 14.6.2019). Oft werden Anti-Terrorismusgesetze herangezogen, um Sicherheitsfreigaben zu verlangen oder die Ausstellung von Dokumenten zu verweigern (NRC 4.2019). Aufgrund des Familiennamens, der Stammeszugehörigkeit oder des Herkunftsgebietes von Familien wird mitunter eine IS-Angehörigkeit vermutet. Dadurch kommt es zur Weigerung, eine Sicherheitsfreigabe zu erteilen, was wiederum die Beschaffung von Dokumenten verunmöglicht. Einige Familien wurden genötigt, zur Erlangung der Sicherheitsfreigabe Verwandte, die verdächtigt werden, sich dem IS angeschlossen zu haben, anzuzeigen (HRW 14.1.2020).

Irakische Sicherheitskräfte konfiszieren Dokumente von Personen, die aus IS-Territorien geflohen sind bzw. von Personen, die in Flüchtlingslagern ankommen (HRW 28.8.2019; vgl. NRC 4.2019). Es kommt auch zur Vernichtung abgelaufener Dokumente oder zur Verhaftung ansuchender Personen (HRW 14.6.2019).

Kinder: Familien, deren Kinder im IS-Territorium geboren wurden, haben Schwierigkeiten, für ihre Kinder Geburtsurkunden, und darauf aufbauende, weiterführende Unterlagen zu erhalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Ehemann tot, vermisst oder inhaftiert ist (HRW 28.8.2019). Speziell jenen Kindern, die zwischen 2014 und 2017 in Gebieten unter der Kontrolle des IS geboren wurden oder lebten, fehlen zivile Dokumente. Die irakische Regierung verweigert bzw. erschwert aber Tausenden von Kindern, deren Eltern tatsächlich oder wahrgenommen dem IS angehörten, die Ausstellung ziviler Dokumente (HRW 28.8.2019; vgl. AI 26.2.2019). Etwa 43.000 bis 45.000 solcher Kinder droht dadurch Staatenlosigkeit (Independent 30.4.2019; vgl. NRC 4.2019; OHCHR 11.9.2019). Außerdem wirkt sich das Fehlen von Dokumenten auf alle mit Dokumenten einhergehenden Rechte aus, wie etwa dem Recht auf Bildung (HRW 28.8.2019; vgl. AI 26.2.2019). Laut einem Dokument aus dem September 2018 soll zwar Kindern, denen die notwendigen Dokumente fehlen, das Einschreiben an Schulen ermöglicht werden; doch wird undokumentierten Kindern immer noch die Einschreibung an staatlichen Schulen untersagt (HRW 28.8.2019). Auch im Jahr 2019 wurden tausende Kinder ohne zivile Papiere daran gehindert, sich an staatlichen Schulen anzumelden – einschließlich Schulen in Flüchtlingslagern (HRW 14.1.2020).

Frauen: Viele Frauen von Männern, die dem IS beigetreten sind, insbesondere Frauen, die in die Ehe gezwungen wurden, können keine Heirats-, Scheidungs- oder Sterbeurkunden für ihre gefallenen Männer vorlegen oder erlangen (HRW 28.8.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Es wird auch berichtet, dass Regierungstruppen Frauen beim Versuch zivile Dokumente zu erhalten mit Verhaftung oder anderer Bestrafung bedroht haben (HRW 28.8.2019). Diese Frauen sind einem erhöhten Risiko von Selbstmord, Vergeltung und sexueller Ausbeutung ausgesetzt. Auch Ehrenmorde bleiben ein Risiko. Manche Gemeinschaften haben Edikte erlassen und Maßnahmen ergriffen, um die betroffenen Frauen von jeder Schuld freizusprechen, die mit ihrer sexuellen Ausbeutung durch IS-Kämpfer verbunden ist. Die Gemeinschaften akzeptieren jedoch im Allgemeinen keine Kinder von IS-Kämpfern, weswegen diese häufig ausgesetzt oder in Waisenhäuser gebracht werden (USDOS 11.3.2020).

Amnestie: Ein im August 2016 verabschiedetes allgemeines Amnestiegesetz (Nr. 27/2016) gewährt allen Personen, die zwischen 2003 und dem Datum der Verabschiedung des Gesetzes verurteilt wurden, die Möglichkeit einen Antrag auf Amnestie zu stellen. Ausgenommen sind Personen, die wegen 13 Arten von Verbrechen verurteilt wurden, darunter Terrorakte, die Todesfälle oder dauerhafte Invalidität zur Folge hatten, Menschenhandel, Vergewaltigung, Geldwäsche und Veruntreuung sowie Diebstahl staatlicher Gelder (Al-Monitor 30.8.2016). Dieses Gesetz sieht theoretisch auch eine Amnestie für jede Person vor, die sich gegen ihren Willen dem IS oder einer anderen extremistischen Gruppe angeschlossen und keine schwere Straftat begangen hat (HRW 6.3.2019; vgl. Al-Monitor 30.8.2016). Richter, die mit Fällen der Terrorismusbekämpfung befasst sind, weigern sich jedoch häufig, das Gesetz anzuwenden (HRW 6.3.2019).17 Bewegungsfreiheit

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 11.3.2020).

Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vgl. Zeidel/al-Hashimis 6.2019).

Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 11.3.2020).

Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS, zwischen 2014 und 2017, führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.2019). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 4.3.2020).

Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). An den Grenzen zu den Nachbarstaaten haben sich in den letzten Monaten immer wieder Änderungen der Ein- und Ausreisemöglichkeiten, Kontrollen, Anerkennung von Dokumenten etc. ergeben. Nach wie vor muss mit solchen Änderungen – auch kurzfristig – gerechnet werden (AA 12.1.2019).

Einreise und Einwanderung in die Kurdische Region im Irak (KRI)

Die Kurdischen Region im Irak (KRI) schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein (USDOS 11.3.2020). Während die Einreise in die Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah ohne Bürgen möglich ist, wird für die Einreise nach Dohuk ein Bürge benötigt. Insbesondere Araber aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten, sowie Turkmenen aus Tal Afar im Gouvernement Ninewa benötigen einen Bürgen aus Dohuk, es sei denn, sie erhalten eine vorübergehende Reisegenehmigung vom Checkpoint in der Nähe des Dorfes Hatara. Diese Genehmigung wird für kurzfristige Besuche aus medizinischen oder ähnlichen Gründen erteilt (UNHCR 11.2019).

Inner-irakische Migration aus dem Zentralirak in die KRI ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert (AA 12.1.2019). Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der Asayish-Behörde des jeweiligen Bezirks anmelden (AA 12.1.2019; vgl. UNHRC 11.2019). Eine Sicherheitsfreigabe ist dabei in allen Regionen der KRI notwendig (UNHCR 11.2019). Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen, dass sie einen in der Region ansässigen Bürgen vorweisen können (USDOS 11.3.2020). Eine zusätzliche Anforderung für alleinstehende arabische und turkmenische Männer ist, dass sie eine feste Anstellung und ein Unterstützungsschreiben ihres Arbeitgebers vorweisen müssen (UNHCR 11.2019). In Dohuk muss eine Person in Begleitung des Bürgen, der die Einreise ermöglicht, vorstellig werden, um eine Aufenthaltskarte („Informationskarte“) zu erhalten (UNHCR 11.2019). Die Aufenthaltsgenehmigung ist in der Regel einjährig erneuerbar (UNHCR 11.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Personen ohne feste Anstellung erhalten jedoch nur eine einmonatige, erneuerbare Genehmigung (UNHCR 11.2019). Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 12.1.2019). Bürger, die aus dem Zentral- oder Südirak in die KRI einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten, auch Kurden) müssen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen über sich ergehen lassen (USDOS 11.3.2020).

Die KRI-Behörden wenden Beschränkungen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen (USDOS 11.3.2020).

Einreise und Einwanderung in den Irak unter der Zentralregierung

Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Najaf, Qadissiya und Wassit. Für den Zugang zu den Gouvernements Maysan und Muthanna wird hingegen ein Bürge benötigt, der die Person an einem Grenz-Checkpoint in Empfang nimmt, oder mit ihr bei der zuständigen Sicherheitsbehörde für eine Freigabe vorstellig wird. Ohne Bürge wird der Zugang wahrscheinlich verweigert, auch wenn die Sicherheitsbehörden über einen Ermessensspielraum für Ausnahmen verfügen (UNHCR 11.2019).

Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar (Anm.: etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Eine Ausnahme stellt der Bezirk Khanaqin dar, in dem Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS), und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.2019).18 IDPs und Flüchtlinge

Seit Jänner 2014 hat der Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak die Vertreibung von ca. sechs Millionen Irakern verursacht, rund 15% der Gesamtbevölkerung des Landes (IOM 4.9.2018). Anfang 2019 waren noch etwa 1,8 Millionen Menschen intern Vertrieben (IDPs) (FIS 17.6.2019; vgl. HRW 14.6.2019). Anfang 2020 betrug die Zahl der IDPs noch 1,4 Millionen (IOM 28.2.2020; vgl. UNICEF 31.12.2019; UNOCHA 27.1.2020). Die Zahl der IDPs sinkt seit der zweiten Hälfte des Jahres 2017 sukzessive (IOM 28.2.2020); die Zahl der Rückkehrer ist gestiegen (IOM 10.2019). Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Zahlen an IDPs im Irak von März 2014 bis Februar 2020. Das Diagramm mit den blauen Balken links unten veranschaulicht die Verteilung der IDPs auf die jeweiligen Gouvernements.

(IOM 29.2.2020)

 

Wie den folgenden Grafiken zu entnehmen ist, sind die Gouvernements mit den höchsten Zahlen an IDPs Ninewa, gefolgt von Anbar, Salah ad-Din, Kirkuk, Diyala, Bagdad, Erbil und Dohuk (IOM 31.12.2019).

(IOM 31.12.2019)

 

Etwa 450.000 bis 500.000 Personen leben in Lagern, die meisten davon seit ungefähr zwei bis drei Jahren (FIS 17.6.2019; vgl. HRW 14.6.2019), während die übrigen in privaten oder informellen Unterkünften leben (HRW 14.6.2019).

Erzwungene Rückkehr und die Blockierung der Rückkehr dauerten im Jahr 2019 an (HRW 14.1.2020). Personen aus vormals vom IS kontrollierten oder vom Konflikt betroffenen Gebieten werden in vielen Gebieten, wegen mutmaßlicher Nähe zum IS und aus ethno-konfessionellen Gründen, von lokalen Behörden oder anderen Akteuren, wie den Volksmobilisierungskräften (PMF) unter Druck gesetzt oder gezwungen, in ihre Heimatregionen zurückzukehren (UNHCR 11.2019; vgl. USDOS 11.3.2020).

Behörden der Zentralregierung und der Gouvernements unternahmen manchmal Maßnahmen zur Schließung oder Konsolidierung von Flüchtlingslagern, um IDPs zur Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete zu zwingen. Aufgrund der verordneten Lagerschließungen ist die Zahl der formellen IDP-Lager zwischen August und September 2019 von 89 auf 77 gesunken. Häufig resultierte eine zwangsweise Rückkehr in neuerlicher Vertreibung (USDOS 11.3.2020). So gibt es Berichte über die Ausweisung von tausenden Flüchtlingen aus Lagern in Ninewa, die aus anderen Gouvernements stammten (HRW 4.9.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Ende August 2019 wurden schätzungsweise 1.600 IDPs (300 Haushalte) aus Flüchtlingslagern im Gouvernement Ninewa (Hamam Al Alil (HAA), As Salamiyah und Nimrud) nach Anbar, Kirkuk und Slah ad-Din verbracht. Dabei gab es einen Mangel an Informationsweitergabe an die betroffenen Personen und zwischen den jeweiligen Behörden. Trotz vorangegangener Sicherheitsüberprüfungen wurde einigen IDPs der Zugang zu Lagern in Anbar verwehrt (UN OCHA 15.9.2019).

Rückkehrer riskieren Landminen, Racheangriffe von Nachbarn oder die Zwangsrekrutierung in lokale bewaffnete Gruppen (HRW 14.6.2019). Anfang Juli 2019 begannen Sicherheitskräfte damit hunderte IDPs aus Lagern in Ninewa und Salah ad-Din zwangsweise in deren Heimatgouvernements zu verbringen, ungeachtet der Sicherheitsbedenken (HRW 14.1.2020). Vertreibungen ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Personen hat häufig neuerliche Vertreibung zur Folge (UNHCR 11.2019). In vielen Fällen führt erzwungene Rückkehr zu sekundärer oder tertiärer Vertreibungen (USDOS 11.3.2020).

Einige IDPs werden auch an der Rückkehr gehindert und effektiv in Lagern festgehalten (HRW 14.6.2019). Etwa eine Million Menschen aufgrund angeblicher Verbindungen zum IS an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert (FIS 17.6.2019). IDPs, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, müssen laut lokalen Organisationen über bestimmte Ausweispapiere verfügen, etwa einen irakischen Personalausweis, eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung und eine Aufenthaltsgenehmigung. Manchmal wird auch ein Reisepass angefordert (FIS 17.6.2019). Manche IDPs konnten verlorene Dokumente wieder einholen (IOM 13.11.2019).

Die Regierung und internationale Organisationen, einschließlich UN-Einrichtungen und NGOs, gewähren IDPs Schutz und andere Hilfe. Humanitäre Akteure unterstützen IDP-Lager und gewähren auch IDPs außerhalb der Lager Dienstleistungen, um die Belastung der Ressourcen der Gastgebergemeinden zu begrenzen (USDOS 11.3.2020). Der Großteil der humanitären Hilfe kommt Projekten in den Gouvernements Ninewa und Dohuk zugute, in denen sich auch die meisten IDPs befinden (UN OCHA 15.9.2019). Der Zugang zu humanitärer Hilfe hat sich allerdings verringert. Weniger als 10% der IDP-Haushalte berichten, dass sie Hilfe erhalten, meist in Form von Nahrungsmitteln und Wasser durch NGOs (IOM 13.11.2019). Von befragten IDP-Haushalten in Lagern im gesamten Irak wurde am häufigsten der Bedarf an Nahrungsmitteln (76% der Haushalte) angegeben, gefolgt von Beschäftigung (59 %) und medizinischer Versorgung (54%). Der Anteil der Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand in IDP-Lagern lag Mitte 2019 bei etwa 21%. Etwa 90% der befragten IDP-Haushalte gab an, dass sie bei Tageslicht ohne Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit das Lager verlassen und wieder betreten konnten (REACH 8.2019).

Die Regierung stellt vielen - aber nicht allen - IDPs, auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI), Nahrungsmittel, Wasser und finanzielle Hilfe zur Verfügung. Viele IDPs leben in informellen Siedlungen, wo sie keine ausreichende Versorgung mit Wasser, sanitären Einrichtungen oder anderen wichtigen Dienstleistungen erhalten. Alle Bürger sind berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des Public Distribution System (PDS) zu erhalten. Die Behörden verteilen aber nicht jeden Monat alle Waren. Nicht alle IDPs können in jedem Gouvernement auf Lebensmittel aus dem Public Distribution System (PDS) zugreifen, insbesondere nicht in den befreiten Gebieten. Die Bürger können die PDS-Rationen nur an ihrem Wohnort und in ihrem eingetragenen Gouvernement einlösen, was zu einem Verlust des Zugangs und der Ansprüche aufgrund von Vertreibungen führt (USDOS 11.3.2020).

Die lokalen Behörden entscheiden oft darüber, ob IDPs Zugang zu örtlichen Leistungen erhalten. Humanitäre Organisationen berichten, dass einige IDPs mangels erforderlicher Unterlagen Schwierigkeiten bei der Registrierung haben. Viele Bürger, die zuvor in den vom IS kontrollierten Gebieten gelebt haben, besitzen keine Personenstandsdokumente, was die Schwierigkeit, einen Ausweis und andere persönliche Dokumente zu erhalten, noch vergrößerte. Laut einem Bericht von Februar 2018 hat die lokale Polizei Ausweispapiere von Personen in Lagern beschlagnahmt, was ihre Bewegungsfreiheit, einschließlich ihrer Möglichkeit das Lager zu verlassen beeinträchtigte (HRW 4.2.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen unterstützen IDPs bei der Beschaffung von Dokumenten und der Registrierung bei den Behörden, um den Zugang zu Dienstleistungen und Bezugsrechten zu verbessern (USDOS 11.3.2020).

Die schwierigsten Rückkehrbedingungen finden sich unter anderem in den Distrikten Al-Khalis, Al-Muqdadiya und Khanaqin im Gouvernement Diyala, in den Distrikten Daquq und Kirkuk im Gouvernement Kirkuk, in den Distrikten Al-Ba'aj, Hatra, Sinjar und Telafar im Gouvernement Ninewa und in den Distrikten Balad, Samarra und Tooz im Gouvernement Salah ad-Din. Ninewa (196.644) und Salah ad-Din (154.674) sind die Gouvernements mit der höchsten Anzahl von Rückkehrern, die unter schweren Bedingungen leben. Verbesserungen in der Versorgung mit Elektrizität und Wasser haben die Lebensbedingungen für Rückkehrer in einigen Bezirken, darunter auch Ost-Mossul in Ninewa und Khanaqin in Diyala etwas verbessert (IOM 10.2019).

Massive Zerstörung von Wohnungen und Infrastruktur, die Präsenz konfessioneller- oder parteiischer Milizen, sowie die anhaltende Bedrohung durch Gewalt machten es vielen IDPs schwer, nach Hause zurückzukehren (FH 4.3.2020). In einigen Gebieten behindern Gewalt und Unsicherheit sowie langjährige politische, stammes- und konfessionelle Spannungen die Fortschritte bei der nationalen Aussöhnung und erschweren den Schutz von IDPs. Tausende Familien sahen sich aus wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Gründen mit einer neuerlichen Vertreibung konfrontiert. Zwangsvertreibungen, kombiniert mit dem langwierigen und weitgehend ungelösten Problem von Millionen von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten entwurzelt wurden, belasten die Kapazitäten der lokalen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Haushalte mit vermeintlichen Verbindungen zum IS sind stigmatisiert und werden mit einem erhöhten Risiko ihrer Grundrechte beraubt. Probleme bei der Beschaffung der notwendigen Zivildokumente und die häufig vorenthaltenen Sicherheitsfreigaben schränken ihre Bewegungsfreiheit ein, einschließlich ihrer Möglichkeiten zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, wegen der Gefahr von Verhaftungen und eines Verbots ins Lager zurückzukehren (USDOS 11.3.2020).

Ausländische Flüchtlinge

Das Gesetz sieht die Gewährung von Asyl vor, und die Regierung hat ein System zum Schutz von Flüchtlingen eingerichtet (USDOS 11.3.2020). Unter den etwa 335.000 ausländischen Flüchtlingen sind etwa 249.000 Syrer und ca. 40.000 Flüchtlinge aus anderen Gebieten, sowie knapp 50.000 Staatenlose. Ihren Status regelt das „Gesetz über politische Flüchtlinge“, Nr. 51 (1971). Der Entwurf einer Novellierung des Gesetzes wurde bislang nicht verabschiedet. Die Flüchtlinge befinden sich überwiegend in und um Bagdad sowie unmittelbar im Grenzbereich zu Syrien und Jordanien (AA 12.1.2019). Die Regierung arbeitet im Allgemeinen mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Flüchtlingen im Land Schutz und Unterstützung zu bieten (USDOS 11.3.2020).

Seit 2014 hat die KRI mehr als eine Million IDPs aus verschiedenen Teilen des Irak aufgenommen. Es bestehen etwa 39 Lager für IDPs und Flüchtlinge, in denen die Mehrzahl der vertriebenen religiösen Minderheiten leben (OHCHR 11.9.2019). Darunter befinden sich, je nach Quelle auch über 228.000, bis mehr als 240.000 syrische Flüchtlinge (USAID 30.9.2019; vgl. OHCHR 11.9.2019). Es wird erwartet, dass die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Zuge des anhaltenden militärischen Konflikts in Nordost-Syrien weiter ansteigen wird (USAID 30.9.2019).19 Grundversorgung und Wirtschaft

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).

Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).

Wasserversorgung

Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).

Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Nahrungsmittelversorgung

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).

Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).

Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

[Anm.: Informationen zum Unterkünften können dem Kapitel 21 Rückkehr entnommen werden.]20 Medizinische Versorgung

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.1.2019). Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind (UNOCHA 17.2.2020).21 Rückkehr

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).

Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).

Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).22 Staatsbürgerschaft und Dokumente

Artikel 18 der irakischen Verfassung besagt, dass jede Person, die zumindest über einen irakischen Elternteil verfügt, die Staatsbürgerschaft erhält und somit Anspruch auf Ausweispapiere hat (Irakische Nationalversammlung 15.10.2005; vgl. HRW 28.8.2019; USDOS 11.3.2020). Dies wird in Artikel 3 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2006 bestätigt, jedoch wird in Artikel 4 darauf hingewiesen, dass Personen, die außerhalb des Iraks von einer irakischen Mutter geboren werden und deren Vater entweder unbekannt oder staatenlos ist, vom Minister für die irakischen Staatsbürgerschaft in Betracht gezogen werden können. Dies geschieht, wenn sich die besagte Person innerhalb eines Jahres nach ihrer Vollmündigkeit für die irakische Staatsbürgerschaft entscheidet. Wenn dies aus schwierigen Gründen unmöglich ist, kann die Person trotzdem noch um die irakische Staatsbürgerschaft ansuchen. In jedem Fall muss der Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Bewerbung aber im Irak ansässig sein (Irakische Nationalversammlung 7.3.2006). Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist per Staatsbürgerschaftsgesetz No.26/2006, Artikel 10 erlaubt (RoI MoFA 2020).

Nach dem Geburts- und Todesregistergesetz (1971) und dem Zivilstandsgesetz (1972), muss für den Erhalt einer Heiratsurkunde der Eheschluss von beiden Ehepartnern bezeugt werden, bzw. muss im Fall einer Wiederverheiratung die Sterbeurkunde des früheren Ehepartners vorgelegt werden. Es sind jeweils zwei Zeugen notwendig (HRW 25.2.2018).

Der irakische Personalausweis (arabisch: bitaqat hawwiyat al-ahwal al-shakhsiya) wird für alle behördlichen Angelegenheiten benötigt, wie beispielsweise Gesundheits- und Sozialdienste, Schulen, sowie für den Kauf und Verkauf einer Unterkunft und eines Autos. Er wird auch für die Beantragung anderer amtlicher Dokumente, wie den Reisepass, benötigt. Im Oktober 2015 ist ein neues nationales Ausweisgesetz in Kraft getreten. Laut diesem soll ein neuer biometrischer Personalausweis vier Karten ersetzen: den alten Personalausweis, den Staatsangehörigkeitsnachweis, den Aufenthaltsnachweis und den Lebensmittelausweis. Seit der Jahreswende 2015/2016 werden die neuen Ausweise sukzessive ausgestellt, bisher mehr als zehn Millionen. Viele Iraker besitzen nach wie vor ihren alten Personalausweis und die erforderlichen Staatsangehörigkeitsbescheinigungen. Zwar haben die alten Ausweise kein Ablaufdatum, doch werden sie laut irakischen Behörden im Jahr 2024 ihre Gültigkeit verlieren. Die alten Ausweise werden dabei nach wie vor an Orten ausgegeben, an denen die notwendigen Gegebenheiten für die Ausstellung der neuen Dokumente nicht vorhanden sind. So werden etwa nach Angaben der irakischen Behörden in Teilen der Gouvernements Ninewa, Diyala, Salah ad-Din und Anbar immer noch alte Personalausweise und Staatsangehörigkeitsbescheinigungen ausgestellt. Von den 356 Ausweisämtern des Landes stellen derzeit 266 die neuen elektronischen Ausweise aus. Da Ausweise in der Regel nur an den Orten der Aufenthaltsmeldung ausgestellt werden, benötigen IDPs häufig die Hilfe anderer, um zumindest an einen alten Ausweis zu kommen (FIS 17.6.2019).

Laut dem irakischen Passgesetz kann jede Person über 18 Jahren, unabhängig von ihrem Geschlecht und ohne Erlaubnis des Vormunds einen Pass erhalten (Irakisches Innenministerium 2017). Jedoch können Frauen ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters weder einen Reisepass beantragen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020), noch einen Personalausweis bekommen, der etwa für den Zugang zu Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnen benötigt wird (FIS 22.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die neuen irakischen Pässe enthalten einen maschinenlesbaren Abschnitt sowie einen 3D-Barcode und gelten, im Vergleich zu den Vorgängermodellen, als fälschungssicherer. Vor allem können diese nur noch persönlich und nicht mehr durch Dritte beantragt werden (AA 12.1.2019; vgl. FIS 17.6.2019), da Fingerabdrücke aller Finger, ein Foto und ein Iris-Scan angefertigt werden. Davon ausgenommen sind Kinder unter zwölf Jahren (FIS 17.6.2019). Die irakischen Botschaften haben erst vereinzelt begonnen, diese Pässe auszustellen (AA 12.1.2019). Nur etwa 25-30 Millionen Iraker (etwa 60-75% der Bevölkerung) besitzen einen Reisepass (FIS 17.6.2019). Der Islamische Staat (IS) konfiszierte in Gebieten unter seiner Kontrolle regelmäßig offizielle Dokumente, die von staatlichen irakischen Stellen ausgestellt worden waren und stellte eigene Dokumente aus, wie z.B. Heirats- und Geburtsurkunden. Diese werden von den irakischen Behörden jedoch nicht anerkannt (HRW 28.8.2019; vgl. NRC 4.2019).

Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 12.1.2019).

 

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben der BF und der im Gefolge ihrer Einvernahme in Vorlage gebrachten Unterlagen sowie des Inhaltes der gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerden, ferner durch Vernehmung der BF als Parteien in der vor dem erkennenden Gericht am 30.09.2020 durchgeführten mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die von den Parteien vorgelegten Urkunden und Dokumente, in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, die den BF zur Kenntnis gebracht und mit ihnen erörtert wurden. Dabei handelt es sich um folgende Anfragebeantwortungen, Berichte und Artikel:

 Aktuelle länderkundliche Informationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020)

 Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zum Irak: Sicherheitslage in Bagdad, ACCORD vom 8.3.2018

 Bericht über “Das Schulsystem im Irak"; ACCORD; Mai 2020

 Staatendokumentation Research paper „Socio-economic dynamics: Baghdad

 Artikel von DW vom 23.05. 2019 „Die neuen Freiheiten von Bagdad“

 Ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, veröffentlicht am 22.7.2019

 Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Medical and healthcare issues; Mai 2019

 EASO Country of Origin Information Report, security situation:https://easo.europa.eu/news-events/easo-publishes-coi-report-iraq-security-situation-and-information-civilians-killed

 EASO Country of Origin Information Report: Iraq – Key socio-economic indicators, Februar 2019, https://reliefweb.int/report/easo-country-origin-information-report-iraq-key-socio-economic-indicators-february-2019

 Übersicht über das Bildungssystem im Irak:

https://media.anlaufstelle-anerkennung.at/Irak_Bldungssystem_Ahmad.pdf

 

2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verfahrensakte der belangten Behörde, die ein mängelfreies und ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat.

Die Angaben zur Identität und zur Staatsangehörigkeit der BF ergeben sich aus den Angaben der BF in den Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und dem erkennenden Gericht. BF1 und BF2 brachten irakische Personalausweise in Vorlage, sodass ihre Angaben zur Identität anhand dieser Urkunden nachvollzogen werden können.

Im Hinblick auf die persönlichen und familiären Lebensumstände der BF im Herkunftsstaat wird auf die untenstehenden Erwägungen zu deren Lebensläufen verwiesen. Dass die BF noch über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und dort auch in Bagdad verfügen, ergibt sich vor allem aus den Angaben der BF1 und BF2 vor der belangten Behörde. Dass den nunmehr in der mündlichen Verhandlung getätigten Angaben, der Clan des BF1 hätte ihn ausgeschlossen, nicht gefolgt werden kann, wird ebenfalls noch erörtert.

Hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Lage brachten BF3 bis BF5 vor, gesund zu sein. B1 berichtete in der Verhandlung von hohem Blutdruck und hohem Cholesterin. BF2 legte einen psychotherapeutischen Befundbericht vom 27.05.2019 vor, in welchem eine Posttraumatische Belastungsstörung attestiert wird. Ferner legte sie medizinische Befunde aus dem Jahr 2017 vor, in welchen Migräne und Atembeschwerden (Asthma bronchiale, allerg. Rhinitis und Milbenallergie) attestiert werden. In der Verhandlung brachte sie vor, dass es ihr psychisch nicht gut gehe und sie in Therapie sei. Die laut den vorgelegten Befunden verordneten Medikamente bzw. medizinischen Behelfe Relpax 40mg und Symbicort legte sie ebenfalls vor.

Eine schwere Erkrankung, die einer Rückkehr des BF1 und BF2 in den Irak entgegenstehen würde, kann aufgrund der vorliegenden Befunde und den Schilderungen der BF1 und BF2 nicht festgestellt werden.

 

Zwar bleibt die medizinische Versorgung im Irak ausweislich der den Feststellungen zugrundeliegenden Berichte angespannt, die BF haben als irakische Staatsbürger jedoch Zugang zum Gesundheitssystem. Den eingesehenen Berichten zufolge ist eine flächendeckende Versorgung mit Krankenhäusern bzw. Gesundheitszentren, auch in Bagdad, gegeben (siehe aktuelles Länderinformationsblatt der Staatendokumentation), wo die BF Behandlungen erhalten werden.

 

In Bezug auf die Migräne, unter welcher BF2 leidet, gab sie an, dass sie diese Kopfschmerzen bereits seit Jahren habe und früher schon Relpax erhalten habe, was bei ihr gute Wirkung erzielt hätte. Dies lässt darauf schließen, dass sie bereits im Irak eine entsprechende Behandlung erhalten hat und wird zudem darauf verwiesen, dass den Länderberichten zufolge Krankenhäuser und Gesundheitszentren im Irak zur Verfügung stehen, welche allgemeinmedizinische Leistungen anbieten. Dass BF2 durch ihre Migräne in lebensbedrohliche Zustände geraten könnte, wurde weder vorgebracht, noch lässt sich das aus den vorgelegten medizinischen Attesten ableiten.

 

In Bezug auf die Asthmaerkrankung kann eine allenfalls notwendige Behandlung ebenfalls im Irak fortgeführt werden, da sich dort unter anderem das Baghdad Medical City Hospital befindet, wo eine solche Behandlung sowie auch entsprechende Medizinbehelfe verfügbar sind. Bezüglich des Asthmas ergibt sich aus dem Bericht „Country Policy and Information Note Iraq: Medical and healthcare issues“ des British Home Office aus Mai 2019, dass Asthma im Herkunftsstaat der BF behandelbar ist und Medikamente mit dem Wirkstoffen Salbutamol, Beclamethason, Formoterol u.a. in den Kliniken und Apotheken des Landes erhältlich sind.

 

Gleiches gilt für die Posttraumatische Belastungsstörung, weswegen sie sich in psychotherapeutischer Therapie befindet, wenngleich das erkennende Gericht nicht außer Acht lässt, dass der irakische Gesundheitssektor in Bezug auf die Versorgung von psychischen Leiden nur eingeschränkte Personal- und Behandlungskapazitäten zur Verfügung stellen kann. Auch hier wurde weder behauptet noch belegt, dass BF2 im Falle der Nicht-Verfügbarkeit einer Behandlung in lebensbedrohliche Zustände geraten würde.

 

Auch die gängigen Medikamente mit den Wirkstoffen zur Behandlung von Bluthochdruck sind in den Apotheken vor Ort erhältlich. Insgesamt kommt das Gericht unter Berücksichtigung der Ausführungen in den medizinishcen Attesten und den Ausführungen der Länderberichte, insbesondere der „Country Policy and Information Note Iraq: Medical and healthcare issues“ des British Home Office aus Mai 2019 zum Schluss, dass die Behandelbarkeit aller Leiden der BF im Irak gegeben ist.

Nach Einsicht der zuvor genannten Unterlagen kommt das Bundesverwaltungsgericht weiter zum Schluss, dass die von den BF genannten gesundheitlichen Probleme einer Abschiebung in den Irak nicht entgegenstehen.

2.3. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat, insbesondere zur Sicherheitslage und den schiitischen Milizen im Irak ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, wie unter 2.1. aufgelistet, welche in der mündlichen Verhandlung erörtert und den BF ausgehändigt wurden. Die Feststellungen und Schlussfolgerungen zur sozioökonomischen Lage in Bagdad und der Situation der BF im Rückkehrfall wurden ebenfalls aufgrund der unter 2.1. genannten Dokumente getätigt.

Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen sowie aktuelle Medienberichte berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Die BF sind den vom Bundesverwaltungsgericht vor der mündlichen Verhandlung bzw. in dieser Verhandlung übergebenen Berichten nicht substantiiert entgegengetreten.

Der Ansicht, dass die Lage im Irak angespannt ist und es dort zu sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen und Entführungen kommt, wird vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht entgegengetreten. Dass gerade BF2 und BF5 einem derartigen Risiko der geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt wären, wurde lediglich in der Beschwerde unsubstantiiert behauptet und ist auch aufgrund der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung nicht davon auszugehen, wie noch eingehend zu erörtern sein wird.

Eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen ist nur dann erforderlich, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da die BF jedoch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen hatten, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit der Behörden des Herkunftsstaates nicht geboten.

2.4. Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der Glaubhaftmachung im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinn der Zivilprozessordnung zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hierzu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers, voraus (vgl. VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058 mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt ebenso wie die Beweisführung den Regeln der freien Beweiswürdigung (VwGH 27.05.1998, Zl. 97/13/0051). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.02.1993, Zl. 92/03/0011; 01.10.1997, Zl. 96/09/0007). Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers sind positive Feststellungen von der Behörde nicht zu treffen (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).

Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht. Der Asylwerber hat im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069; 30.11.2000, Zl. 2000/01/0356). Die Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes beziehungsweise Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650). Die Unkenntnis in wesentlichen Belangen indiziert ebenso mangelnde Glaubwürdigkeit (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).

2.5. Unter Berücksichtigung der vorstehend angeführten Rechtsprechung ist es den BF nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen glaubwürdig und in sich schlüssig darzulegen; im Einzelnen:

2.5.1. Die BF erachten sich ausweislich ihres Vorbringens vor dem belangten Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht in ihrem Herkunftsstaat wegen der früheren beruflichen Tätigkeit des BF1 bei der „Märtyrer-Anstalt“ im Ministerpräsidentenamt, wo dieser aufgrund seiner Ermittlungen in Bezug auf einen korrupten Kollegen von der Miliz Asa’ib Ahl Al-Haq bedroht und auf ihn geschossen worden wäre, als verfolgt und bedroht.

Das Bundesverwaltungsgericht erachtet das Vorbringen der BF zu den behaupteten ausreisekausalen Vorfällen jedoch als in hohem Ausmaß widersprüchlich und stellt sich ihr Standpunkt in mehrerlei Hinsicht als unplausibel dar. Weder vor der bB noch vor dem Bundesverwaltungsgericht vermochten die BF eine von Kämpfern schiitischer Milizen aus zur Gewährung von internationalem Schutz führenden Gründen erfolgten Bedrohung bzw. Übergriff glaubhaft zu machen. Auch konnten sie nicht glaubhaft vermitteln, dass eine Gefährdung im Rückkehrfall zu befürchten sei.

2.5.2. Die mangelnde Glaubwürdigkeit der BF offenbarte sich zunächst schon in ihren Angaben zum Verbleib ihrer Reisepässe:

Zusammengefasst gaben die BF vor der bB Folgendes an:

BF1: Die Reisepässe hätte der Schlepper mit der Tasche, in der sie sich befunden hätten, in das Meer geworfen, da das Boot kurz vor dem Kentern gestanden sei. In der Tasche sei auch das Gold seiner Ehefrau gewesen. Von den drei Taschen, die sie mit sich geführt hätten, wäre zufällig diese ausgewählt worden, weil diese nicht in ihrer Nähe gestanden sei. Er hätte den Schlepper auch nicht aufhalten können, da die Situation stressig gewesen wäre und die Kinder geweint hätten (AS 67).

BF2: Die Reisepässe seien in einer Tasche gewesen und ins Meer geworfen worden, weil das Boot sonst zu schwer gewesen wäre. In der Tasche hätten sich darüber hinaus noch der Ehering ihres Ehemannes und Kleidung der Kinder befunden. Es wäre keine Zeit gewesen, die Pässe heraus zu nehmen (AS 39).

Auffällig ist dabei vor allem, dass BF1 davon sprach, dass in der Tasche mit den Reisepässen auch das Gold seiner Ehefrau gewesen wäre, wohingegen diese ihr Gold nicht einmal erwähnte; vielmehr sprach sie vom Ehering ihres Mannes und Kleidung der Kinder, der bzw. die sich noch in der weggeworfenen Tasche befunden hätte. Zudem ist die Aussage des BF1, sie hätten drei Taschen mit sich geführt, aber gerade die eine Tasche, in welcher sich die Pässe und das Gold seiner Frau befunden hätten, habe sich nicht in ihrer näheren Umgebung befunden, nicht glaubwürdig, zumal es in hohem Maße lebensfremd erscheint, dass eine Tasche mit derart wichtigem und wertvollem Inhalt nicht besonders bzw. besser als die anderen zwei Taschen bewacht wird.

 

2.5.3. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Steigerung des Vorbringens während des Verfahrens:

Die BF bezogen sich bei ihrer Erstbefragung lediglich darauf, dass sie aufgrund ihrer sunnitischen Glaubensrichtung von schiitischen Milizen bedroht wurden. BF1 führte zusätzlich dazu aus, dass seine anderen zwei Töchter von seiner ersten Frau entführt worden seien und er nicht wüsste wo sie sich befinden (AS 17).

In der Einvernahme durch die bB steigerte sich das Vorbringen zur Bedrohung durch schiitische Milizen dahingehend, dass die Bedrohung erfolgt sei, weil BF1 in seiner Arbeit Ermittlungen zu einem angezeigten Korruptionsfall durchgeführt habe; er hätte den Namen des korrupten Beamten nicht preisgeben sollen. Als er letztendlich den Namen am nächsten Tag doch an seinen Vorgesetzten weitergegeben habe, sei auf dem Heimweg aus einem Auto heraus auf ihn geschossen worden (AS 70). Ferner konkretisierte er die Zugehörigkeit seiner Verfolger; er sei von der Asa’ib Ahl al-Haq bedroht worden.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zufolge nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat und gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen Bedenken bestehen (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN). Dennoch fällt im gegenständlichen Fall ins Gewicht, dass die BF bei der Erstbefragung ausschließlich eine Bedrohung aufgrund ihres sunnitischen Glaubensbekenntnisses vorbrachten, dass der BF1 jedoch eigentlich aufgrund seiner durchgeführten Ermittlungstätigkeit bedroht, verfolgt und auf ihn geschossen worden sei, erwähnte er nicht mit einem Wort. Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedenfalls zu erwarten gewesen, dass von Asylwerbern schon in der Erstbefragung zuerst die unmittelbar erlebten Vorfälle – wie etwa ein Schussattentat – dargelegt werden, anstatt sich auf eine allgemeine Bedrohung aufgrund ihres sunnitischen Glaubens zu beziehen und erst in Folge, nämlich anlässlich der Befragung des belangten Bundesamtes ein anderes individuelleres Vorbringen vorzubringen und das Attentat auf BF1 zu erwähnen. Auch wenn in der Erstbefragung kein detailliertes Vorbringen verlangt wird, so hat sich die Behörde immerhin die Zeit genommen, das Vorbringen des BF1 in Bezug auf seine erste Frau und die von ihr im Jahr 2009 entführten Töchter zu Protokoll zu nehmen und ist insofern kein Grund ersichtlich, warum der BF ein unmittelbar vor der Ausreise erfolgtes Schussattentat durch schiitische Milizen nicht hätte erwähnen können.

Schon der im gegenständlichen Fall nicht erfolgten Darlegung der nunmehr behaupteten ausreisekausalen Erlebnisse bei der Erstbefragung in Gestalt einer telefonischen Drohung, eines mehrfachen Verfolgens und eines Schussattentates kommt aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ein nicht unmaßgeblicher Beweiswert insofern zu, als dem Fehlen jedweden Hinweises in der Erstbefragung auf diese Umstände zumindest Indizcharakter dahingehend zuzumessen ist, als dies schon begründete Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Antragsteller zulässt (zur Zulässigkeit derartiger Erwägungen bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindruckes vom Beschwerdeführer VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0143; zur Maßgeblichkeit solcher Erwägungen auch ohne mündliche Verhandlung siehe jüngst VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168).

Das Vorbringen wurde zudem ergänzt, als in der Beschwerde – gänzlich – unsubtantiiert auf die geschlechtsspezifische Verfolgung der Beschwerdeführerinnen hingewiesen und moniert wurde, dass sich die Behörde gar nicht damit auseinandergesetzt habe (AS 166), wohingegen dies im Verfahren vor der Behörde nicht einmal ansatzweise angesprochen wurde. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht kamen Hinweise auf eine geschlechterspezifischen Verfolgung der weiblichen BF hervor. Sollten die weiblichen BF eine derartige Verfolgung bzw. Bedrohung tatsächlich erlebt haben, wäre ebenfalls zu erwarten gewesen, dass die erwachsenen BF spätestens in der Verhandlung über Derartiges berichtet hätten. Vielmehr führte BF2 in der Verhandlung aus, dass sie nie Opfer von Übergriffen gewesen sei, sondern sich ihre Fluchtgründe lediglich auf die ihres Mannes beziehen. Auch wurden keine konkreten, diesbezüglichen Befürchtungen im Falle der Rückkehr artikuliert.

Dazu sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass es grundsätzlich nicht genügt, auf allgemeine Probleme, die in Länderberichten thematisieren werden, hinzuweisen, wenn eine individuelle Betroffenheit der BF nicht vorliegt.

Der Vollständigkeit halber weist das erkennende Gericht darauf hin, dass die der Erstbefragung unterzogenen BF am Ende der Niederschrift mit ihrer Unterschrift bestätigten, dass ihnen die aufgenommene Niederschrift in einer für sie verständlichen Sprache rückübersetzt und keine Fehler bemerkt worden sei. Die BF wurden auch auf das Neuerungsverbot hingewiesen.

2.5.4. Das Vorbringen der BF ist auch aufgrund mehrfacher Widersprüche und unplausibler Angaben nicht glaubwürdig; im Einzelnen:

Bei der Erstbefragung hatte BF1 noch angebeben, dass er als Beamter im Innenministerium tätig gewesen sei (AS 11). In der Einvernahme vor der bB veränderte sich seine Aussage dann dahingehend, dass er in der Märtyrer-Anstalt tätig gewesen sei; zuerst in der Rechtsabteilung, dann in der Abteilung für Bürgerangelegenheiten und dann im Monitoring im Büro des Vizepräsidenten (AS 67). In der mündlichen Verhandlung konkretisierte er seine Angaben (Verhandlungsprotokoll, S. 19) und gab an, dass diese Anstalt zu einem Amt gehöre, welches vergleichbar mit dem österreichischen Bundeskanzleramt ist, nämlich das irakische Ministerpräsidentenamt (Verhandlungsprotokoll, S. 14).

Darauf angesprochen, dass er in der Erstbefragung noch angegeben hatte, er sei zuletzt im Innenministerium tätig gewesen sei, verantwortete er sich dahingehend, dass er dies niemals gesagt habe. Auch nach Zitierung der entsprechenden Stelle des Protokolles über die Erstbefragung bestand er darauf, dass dies bei der Rückübersetzung nicht erwähnt worden sei und er dies nie gesagt habe (Verhandlungsprotokoll, S. 19), was wiederum seiner Angabe vor der bB, die Angaben bei der Erstbefragung seien ihm gar nicht rückübersetzt worden (AS 66), widerspricht. Auch an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass BF1 das Protokoll der Behörde unterfertigte und damit die Richtigkeit seiner Angaben bestätigte. Ergänzend sein auch noch darauf hingewiesen, dass es sich bei BF1 um einen gebildeten Menschen handelt, der ein Studium absolvierte und angab, u.a. im Monitoring, dem Beschwerdemanagement und der Korruptionsbekämpfung tätig gewesen zu sein und ist schon aus diesem Grund schwer vorstellbar, dass der BF ein Protokoll unterfertigt haben soll, welches falsche Angaben beinhaltet hätte bzw. ohne eine Rückübersetzung erhalten zu haben.

Weitere Ungereimtheiten ergeben sich aus der von dem BF1 geschilderten Tätigkeiten, die letztendlich kausal für die Ausreise der gesamten Familie gewesen sein sollen:

In der Einvernahme gab BF1 an, dass er im März 2014 die Ermächtigung bekommen habe, zu kontrollieren und seine Aufgabe das Monitoring gewesen wäre (AS 69). In den vom BF1 vorgelegten Unterlagen finden sich verschiedenste Aufgabenbezeichnungen: So wird dieser einmal als Technischer Manager bezeichnet (Unterlage 2), dessen Tätigkeit derart beschrieben, dass er administrative Angelegenheiten mit den Anstaltseinrichtungen verfolge und die von der Direktion erhaltenen Probleme und Hindernisse lösen solle (Unterlage 1). In einem weiteren Schreiben aus dem Jahr 2010 wird seine Arbeit bei der Instandhaltung und Sanierung des Märtyrerdenkmales gelobt (Unterlage 9). Ein anderes Schreiben vom 17.02.2014 weist ihn als Abteilungsleiter für Bürger Angelegenheiten aus (Unterlage 11), während er mit Schreiben vom 02.01.2014 (Unterlage 12) und 11.06.2013 (Unterlage 14) als Beauftragter der Beschwerdeabteilung ausgewiesen wird.

Aufgrund der vorgelegten Unterlagen (auf deren Echtheit und Richtigkeit wird noch näher einzugehen sein) und der Angaben des BF lässt sich zwar rekonstruieren (siehe etwa Verhandlungsprotokoll, S. 16 und 19), dass der in den Dokumenten Genannte von 2009 bis 2015 durchgehend im Märtyreramt, welches im irakischen Ministerpräsidentenamt situiert ist, und dort in verschiedenen Abteilungen (2009: Rechtsabteilung, 2010 bis 2013 Bürgerservice, 2014 und 2015: Amt des Vertreters der Anstaltsleitung), tätig war, jedoch lässt sich den eingesehenen Arbeitsbestätigungen und Belobigungen nicht entnehmen, dass er auch mit den behaupteten investigativen Tätigkeiten betraut war.

Sofern BF1 angab, er sei im Jahr 2015 für die Kontrolle und Aufsicht über alle Abteilungen zuständig gewesen, er sei offiziell dazu ermächtigt gewesen, Beschwerden zu empfangen und zu bearbeiten und er dazu weiter ausführt, dass er die Fälle entweder per Telefon oder per E-Mail bekommen habe, er Kontakt mit der zuständigen Abteilung aufzunehmen und sich zu bemühen hatte, das Anliegen zu lösen, so scheint dies grundsätzlich nicht unglaubwürdig und mit den Aufgaben im Bereich des Beschwerdemanagements vereinbar, wiewohl die offizielle Ermächtigung dafür, die er bekommen hätte (Verhandlungsprotokoll, S. 16) in den von ihm vorgelegten Unterlagen jedoch nicht zu finden ist.

Dass er bei Erfüllung seiner Aufgaben im Rahmen des Beschwerdemanagements auch (verdeckte) Ermittlungen zu führen und die Aufklärung von Korruptionsfällen vorzunehmen gewesen seien, wie der BF an anderer Stelle behauptete, geht weder aus den vorgelegten Dokumenten hervor, noch ist dies nachvollziehbar.

Selbst unter der hypothetischen Annahme – wiewohl ein derartiges Vorbringen gar nicht erstattet wurde – von ungeordneten Verhältnissen in den Ämtern der irakischen Regierung in den Jahren 2014 und 2015 bzw. in sonstigen staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen ist es kaum vorstellbar, dass eine Person, welche – in welchem Amt oder in welcher Abteilung auch immer – im Beschwerdemanagement tätig ist, mit der Abwicklung aller Korruptionsfälle beauftragt wird, zumal das Amt, für welches der BF arbeitete, seien Aussagen zufolge auch über eine eigene Korruptionsbekämpfungsstelle verfügte. Dass die Korruptionsstelle erst einzuschalten ist, nachdem ein Bediensteter im Beschwerdemanagement das Vorliegen von Korruption, etwa durch Vornahme investigativer Ermittlungen, festgestellt bzw. geklärt hat (Verhandlungsprotokoll, S. 16), ist nicht nur unüblich, sondern wäre die Festlegung eines derartigen Ablaufes in einem Verwaltungsapparat darüber hinaus in höchstem Maße ineffizient und auch unlogisch, zumal dies die Einrichtung einer eigenen Korruptionsbekämpfungsstelle wohl ad absurdum führen würde.

Noch unverständlicher ist, dass der BF als Mitarbeiter im Büro des Vertreters des Ministers die beschriebenen Aufgaben durchgeführt haben will. Schon die auf Vorhalt, dass die beschriebene Aufgabe (auch in diesem Büro habe er Beschwerden über Telefon und E-Mail erhalten) wohl eher die Aufgabe eines Bürgerservices – in welchem der BF lediglich bis zum Jahr 2014 gearbeitet hätte – oder einer ähnlichen Support-Einrichtung eines Amtes sei, erteilte Antwort – sie hätten die Aufgaben der Angestellten zu kontrollieren und sie auch bei Erhalt der Beschwerden zu unterstützen gehabt – überzeugt nicht, zumal es zwar nicht gänzlich unvorstellbar ist, dass Mitarbeiter eines Büros eines hochrangigen Bediensteten, nämlich des Vertreters des Ministers, auch Beschwerden entgegen nehmen und sich mit der einer eigens für Beschwerden eingerichteten Abteilung koordinieren, kaum vorstellbar ist jedoch, dass sie diese in ihrer operativen Tätigkeit „unterstützen“ sollen.

Gänzlich untergegangen ist die Glaubwürdigkeit des BF jedoch, als er auf den Vorhalt, er habe an anderer Stelle angegeben, dass er direkt von BürgerInnen angesprochen worden sei und seine Telefonnummer auf der Homepage des Märtyrer-Amtes veröffentlicht wurde, was eher auf eine Tätigkeit in einem Bürgerservice hinweise, angab, dass seine Nummer zu dieser Zeit noch jedem von seiner Zeit im Bürgerservice bekannt gewesen sei, er aufgrund der Mundpropaganda unter dem Angehörigen der Märtyrer als der Einzige gegolten habe, der Probleme lösen könne und ihn sein Vorgesetzter zusätzlich zu seinen Kontroll-Aufgaben im Büro des Stellvertreters des Ministerpräsidenten beauftragt hätte, seine frühere Aufgabe weiter zu verrichten.

Auch das Vorbringen in Bezug auf den Kontakt mit dem anonymen Anzeigeleger und die von BF1 geführten Ermittlungen gestalten sich als unplausibel:

So ist etwa nicht nachvollziehbar, dass BF1 bei dem anonymen Anrufer, der den Fall, durch welchen der BF in Schwierigkeiten geriet, nicht nachfragte, um mehr Details über den angeblich korrupten Beamten zu erhalten. Nicht nachvollziehbar ist ferner, dass eine zehntägige Untersuchung aufgrund eines anonymen Hinweises ohne konkreten Verdachtsmoment eingeleitet wird. Sofern der BF vermeint, der Anrufer habe seinen Namen aus Angst um sein Leben nicht genannt, so ist wiederum nicht verständlich, weshalb er den BF dann überhaupt ersuchte, den Fall zu untersuchen. Das von BF1 geschilderte Vorgehen ist ach keinesfalls als vorsichtiges Nachfragen bzw. Ermitteln zu bewerten, sondern wird eine Vorgehensweise, wie sie von BF1 geschildert wurde (BF1 habe zehn Tage lang in der Direktion ermittelt, wo der korrupte Beamte arbeiten hätte sollen, er habe den Leiter der Direktion befragt, mit allen Angestellten gesprochen und dann auch noch anonym mit Parteien gesprochen; am zehnten Tag sei er dann zufällig auf einen älteren Herrn gestoßen, der sich über einen Kollegen beschwert habe, der korrupt sei; dieser habe den BF1 auch den Namen des betroffenen Beamten verraten) nur dann gewählt, wenn damit Präsenz gezeigt und ein offensives Vorgehen demonstriert werden soll.

In der mündlichen Verhandlung (Protokoll S. 14) gab der BF auch an, der Bedroher habe von der zehntägigen Untersuchung gewusst. Insofern mangelt es den Schilderungen auch an Plausibilität, wenn BF1 angibt, er habe am letzten Tag seiner Ermittlungen, an dem er zufällig den Namen des korrupten Beamten erfahren haben möchte, den Drohanruf bekommen. Zumal sein offensives Vorgehen schon zu Beginn seiner Untersuchung offenkundig klar zu erkennen gewesen wäre, ist nicht ersichtlich, warum jemand, der sich dadurch bedroht fühlt, zehn Tage mit einer Drohbotschaft warten sollte.

Nicht verständlich ist auch, dass ein unzufriedener und wütender Kunde in der Direktion dem BF konkrete Hinweise gegeben hätte, zumal dieser anonym und „verdeckt“ ermittelt hätte. Vor dem Hintergrund des Vorbringens des BF über die Korruption im Irak, die Gefährlichkeit der Milizen und deren Verbindung zu Politik und Polizei ist es noch viel unverständlicher, dass sich eine ältere, wütende Person in einem Amt getraut, mit einer ihr fremden, anonymen Person offen zu sprechen und auch konkrete Verdächtigungen zu deponieren.

In der mündlichen Verhandlung führte BF1 auch aus, der Anrufer, welcher ihm nach der Identifizierung des korrupten Beamten bedroht habe, hätte ihm gesagt, dass er von der Miliz getötet würde, wenn er den Namen preisgeben würde; genauso, wie auch andere Kollegen von ihm getötet worden seien (Verhandlungsprotokoll, S. 14). Vor der Behörde gab BF1 auch an, er habe sich an die getöteten Kollegen erinnert (AS 70). Gerade vor diesem Hintergrund ist es aber noch weniger nachvollziehbar, dass BF1 so offenkundig und offensiv ermittelt haben sollte.

Weitere Zweifel an den Schilderungen des BF1 ergeben sich aus dem Umstand, dass er den Namen des korrupten Beamten erst in der Verhandlung und nicht in der Einvernahme preisgab. Der BF bejahte die Frage, ob dies die Person sei, von der schon in der Einvernahme gesprochen habe, gab aber auch an, dass in der Einvernahme nicht nach dem Namen gefragt worden. Dass in der Befragung vor der bB nicht explizit nach einem Namen gefragt wurde, entspricht offenkundig den Tatsachen, doch wäre einer Bekanntgabe des Namens auch nichts entgegengestanden, zumal die bB auch mit offenen Fragen den Sachverhalt zu erheben versuchte und dem BF genügend Zeit zur Verfügung stand, alle Details zu schildern (AS 69f).

Das erwähnte Vorbringen ist auch hinsichtlich des geschilderten Schussattentates und der geschilderten Abläufe bis zur Ausreise nicht glaubwürdig:

BF1 gab an, dass er, nachdem er seinem Chef den Namen preisgegeben habe, am Heimweg von einem Auto verfolgt worden sei. Dieses sei immer nähergekommen und hätte sich dann nah neben ihm befunden, der Beifahrer hätte das Fenster geöffnet und mit einer Pistole auf den BF1 gezielt. Dieser hätte dann sofort abgebremst und die Kugeln hätten ihn daher nicht getroffen. Die Attentäter hätten dann jedoch weiterfahren müssen, nachdem sie bemerkt hätten, dass auch andere Fahrzeuge unterwegs waren (Verhandlungsprotokoll, S. 15). Nicht plausibel erscheint insbesondere der Umstand, dass die Angreifer erst nach dem Abgeben von zwei Schüssen bemerken hätten, dass noch andere Fahrzeuge unterwegs sind. Wenn Angreifer schon so weit geht, dass sie auf offener Straße auf ein Auto schießen, so ist wiederum nicht nachvollziehbar, dass sich diese – gerade, wenn es sich um Mitglieder einer Terrormiliz handelt – von anderen Fahrzeugen so weit abschrecken lassen, unvollendeter Dinge wegfahren und ihrem „Ziel“ danach auch noch genug Zeit lassen, um langsam und vorsichtig nach Hause zu fahren, alle Sachen zu packen und das Haus zu verlassen, wie der BF angab.

In Bezug auf die Angaben zum Zeitablauf und den Geschehnissen vor der Ausreise fällt auch auf, dass BF2 ausweichend antwortete. Dazu befragt, was sie selbst wahrgenommen habe bzw. was sie zur Kündigung ihres Mannes wisse, gab sie in der mündlichen Verhandlung zusammengefasst an, sie könne sich überhaupt nicht erinnern und verwies auf ihre Migräne und den psychischen Zustand, obwohl sie eingangs der Verhandlung angab, psychisch und physisch in der Lage zu sein, der Verhandlung zu folgen und wahrheitsgemäß zu antworten. Auch von Gefühlen oder sonstigen Eindrücken, die nach der Erzählung ihres Mannes von seiner Verfolgung aufkamen, konnte BF2 nichts berichten, wohingegen sie in Bezug auf die zeitliche Dauer ihre Ohnmacht, die der Erzählung ihres Mannes von der Verfolgung folgte, wiederum sehr konkrete Angaben machte (Verhandlungsprotokoll, S. 24). Insgesamt erweckte BF2 in der Verhandlung den Eindruck, den Fragen der Richterin auszuweichen und verstärkte sich dadurch der Eindruck von der Unglaubwürdigkeit der dargebotenen Geschichte.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass die BF am 01.10.2015 legal unter Verwendung ihrer Reisepässe mit dem Flugzeug in die Türkei ausreisen konnten. Hätte die Terrormiliz Asa’ib Ahl al-Haq wirklich nach den BF gesucht und diese umbringen wollen – anlässlich seiner Einvernahme vor der bB gab BF1 auch an, dass die Milizen den Staat unterwandert hätten; auch an allen Check Points seien Mitglieder der Milizen – wäre eine Ausreise ohne Zwischenfälle wohl nicht möglich gewesen. Darüber hinaus hätten sich die BF wohl auch nicht noch eine Woche nach dem Schuss-Attentat bei dem Bruder des BF1 aufhalten können, da anzunehmen ist, dass ein Verfolger zunächst bei den Verwandten und Nachbarn der Zielperson gesucht hätte und es für eine einflussreiche Miliz wohl auch möglich wäre, die entsprechenden Adressen zu erkunden.

Zusätzlich zu den bereits geschilderten Widersprüchen und Ungereimtheiten erweckt auch der Umstand Zweifel, dass der BF1, nachdem er seinem Chef von der Korruption berichtet habe, bei diesem um Urlaub angesucht habe. In der Einvernahme gab er an, dass er bei seinem Chef um zwei Monate Urlaub gebeten hätte, um in der Zeit seine Lage zu überdenken. Er hätte dabei zuhause bleiben wollen. Auf Vorhalt, dass er an anderer Stelle (nämlich auf die Frage, weshalb er dem Vorgesetzten den Namen des Korrupten überhaupt genannte habe, obwohl er vermeine, dass die Behörde diesen decke (AS 73)) angab, damit gerechnet zu haben, dass er getötet wird, gab BF1 an, das es sich zuerst nur um eine sporadische Bedrohung gehandelt habe, wo sich jedoch gezeigt habe, dass eine einflussreiche Bande dahintersteckt (AS 74). Dies ist aber vor allem insoferne unglaubwürdig, als der BF seinem Vorbringen nach dem Direktor erst nach dem erhaltenen Drohanruf, in welchem sich der Anrufer als Mitglied der Miliz zu erkennen gab und nach der Verfolgung durch ein Auto von der Korruption berichtete (Verhandlungsprotokoll S. 14). Dass sich erst danach herausgestellt habe, widerspricht klar den zuvor erwähnten Angaben des BF. Auch vor dem Hintergrund, dass der BF nach dem Drohanruf an seinen getöteten Kollegen gedacht hätte, ist nicht verständlich, weshalb er noch von einer „sproadischen Bedrohung“ ausgegangen sein sollte.

Darüber hinaus hat er in der mündlichen Verhandlung im Gegensatz zur Einvernahme bei der Behörde davon gesprochen, dass er zuerst nur um ein Monat Urlaub angesucht habe. Diesen habe er dann durch einen Kollegen verlängern lassen (Verhandlungsprotokoll S. 20).

BF1 konnte auch nicht erklären, wieso seine Kündigung erst im Jahr 2016 – drei Monate nach dem behaupteten Kündigungsgrund, welchen er durch das zehntätige unentschuldigte Fernbleiben nach dem Urlaub, gesetzt hätte – ausgesprochen worden sei. Auch wie sein Kollege an das Schreiben gekommen sei und es ihm dann geschickt habe konnte nicht schlüssig dargestellt werden.

In Bezug auf die Echtheit der vorgelegten Dokumente, wie etwa Arbeitsplatzbeschreibungen Belobigungen etc. ist anzumerken, dass bis auf das Dokument aus dem Jahr 2014 wohl alle Dokumente original unterschrieben wurden (es sind Eindruckspuren des Schreibwerkzeuges vorhanden, welche lediglich aufgrund der groben Oberflächenstruktur des Papiers teilweise schwer erkennbar ist), wiewohl dem Untersuchungsbericht der LPD Oberösterreich vom 4.12.2020 auch zu entnehmen ist, dass aufgrund der erlangten Befunde (es fehlen etwa Stempel, es wurden zwei verschiedene Unterschriften einer Person bzw. gleiche Unterschriften dreier Personen appliziert, es sind Rechtschreibfehler im Text des Kopfbereiches vorhanden, es wurden unterschiedliche Formularvordrucke in abwechselnder Abfolge verwendet und die Ausstellungsmodalitäten sind zum Teil als unüblich zu bezeichnen) auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich auch bei den übrigen Dokumenten ebenfalls um keine Originale bzw. nicht autorisierte Ausstellungen handelt. Zumal der Untersuchungsbericht zu den insgesamt sechs der als „Original“ vorgelegten Dankesschreiben der Republik Irak vorgelegten Dokumente insgesamt aber zum Ergebnis kommt, dass über die Echtheit keine Aussagen getroffen werden können, konnten diesbezüglich auch vom Gericht keine Feststellungen getroffen werden und kann dem BF trotz der Auffälligkeiten bezüglich der als „Original“ vorgelegten Urkunden ohne weitergehende Ermittlungen nicht zur Last gelegt werden, dass er dem Gericht gefälschte oder verfälschte Urkunden vorlegte.

Auffällig ist aber jedenfalls, dass der BF nur sechs der im Laufe des Verfahrens insgesamt sechzehn als Beweis für seine Tätigkeit im Märtyrer-Amt vorgelegten Dokumente dem Gericht als „Original“ unterbreitete (vgl. Verhandlungsschrift und Untersuchungsbericht der LPD und Übersetzung der im Akt befindlichen Dokumente vom 11.9.2020).

Insgesamt kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass der BF eine Funktion, etwa im Bereich des Beschwerdemanagements, in einem Märtyrer- oder einem anderen Amt innehatte. Aufgrund der zahlreichen Widersprüche und Unplausibilitäten hat der BF jedoch jedenfalls nicht glaubhaft machen können, dass er die behaupteten Ermittlungen gegen einen korrupten Beamten tätigte und daher in das Visier von Milizen geriet. Von einer persönlichen Bedrohung des BF und seiner Familienmitglieder oder einer davon abgeleiteten Gefährdung im Rückkehrfall ist deshalb nicht auszugehen. In Bezug auf die aktuelle Sicherheitslage wird auf die Feststellungen und die weiteren beweiswürdigenden Ausführungen verwiesen.

Nicht glaubwürdig ist auch, dass BF1, wie er in der mündlichen Verhandlung vorbrachte, von seinem Clan ausgeschlossen und bedroht worden sei, weil er eine Anzeige erstattet habe gegen einen Miliz-Anhänger. Sein Clan habe ihn ausgestoßen, weil sie Probleme vermeiden hätten wollen. Dieser Ausschluss sei im Jahr 2018 vollzogen worden. Sein Clan hätte eine Zeit für die Entscheidung gebraucht und die Person, die er angezeigt habe, sei bestraft worden. Die Frage, ob er Belege für die Bestrafung der Person habe, wurde verneint, wiewohl BF1 jedoch vermeinte, dass sein Ausschluss für die Bestrafung der Person spräche; es sei jedoch nur eine Vermutung von ihm, er habe keine Informationen über eine Bestrafung (Verhandlungsprotokoll, S. 10).

Zum einen handelt es sich bei den Schilderungen des BF1 in Bezug auf seinen Ausschluss aus dem Clan lediglich um vage Angaben und Vermutungen und ist auch die Darstellung, dass erst drei Jahre nach seiner Ausreise ein Konzil stattgefunden habe, welches ihn aus dem Clan ausgeschlossen habe, nicht nachvollziehbar. Im Übrigen hat BF1 im gesamten Verfahren noch nicht erwähnt, dass er eine Anzeige bei der Polizei getätigt hätte. Eine Anzeige der ihn bedrohenden Milizen und des korrupten Kollegen ist auch mit der Schilderung der Abläufe rund um die Bedrohung bis zur Ausreise nicht in Einklang zu bringen (Verhandlungsprotokoll S. 14). Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die familiären Bindungen der BF weiterhin bestehen – BF1 gab auch explizit an, dass er weiterhin Kontakt zu seinen Geschwistern habe und auch Kontakt zu den Verwandten von BF2 besteht – und das Vorbringen um den Ausschluss vom Clan nur deshalb getätigt wurde, um ein günstiges Verfahrensergebnis zu erwirken.

2.5.5. Wenn sich die weiblichen BF wegen ihrer Eigenschaft als irakische Frau als verfolgt erachten, was aus der Beschwerdeschrift des gewillkürten Vertreters der BF geschlossen werden kann, ist dem entgegenzuhalten, dass eine Gruppenverfolgung sämtlicher Angehöriger des weiblichen Geschlechts im Irak ausweislich der Feststellungen nicht vorliegt.

Der allgemeine Hinweis darauf, dass es für Frauen im Irak gefährlich sei bzw. der pauschale Verweis auf die „Zugehörigkeit der sozialen Gruppe der Frauen im Irak“ ist für sich alleine nicht geeignet, eine Gefährdung im Rückkehrfall glaubhaft zu machen (vgl. dazu VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, worin der Grundsatz wiederholt wird, dass das Vorbringen des Asylwerbers eine entsprechende Konkretisierung aufweisen muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen und dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, dem nicht gerecht wird).

Wie später noch thematisiert wird, haben die BF auch noch Familienmitglieder im Irak und wird es den BF möglich sein, in den Familienverband aufgenommen zu werden.

2.5.6. Dass BF2 im Falle einer Rückkehr nach Bagdad eine Bedrohung wegen ihres westlichen Lebensstils ausgesetzt wäre, wie ebenso aus der Beschwerdeschrift des gewillkürten Vertreters hervorgeht, kann ebenfalls nicht angenommen werden. Zum einen äußerte die BF2 keinerlei konkrete Befürchtungen in dieser Hinsicht und wurde dies lediglich vom Rechtsvertreter unsubstantiiert in den Raum gestellt. Zum anderen ist aus den eingesehenen Medienberichten abzuleiten, dass die Verdrängung des Islamischen Staates eine Öffnung der Gesellschaft bewirkte, wovon vor allem Frauen besonders profitieren. Dem Artikel von Judit Neurink vom 23.6.2019 (https://p.dw.comp/p/3KhNN) ist etwa zu entnehmen, dass in Bagdad ein Frauencafé eröffnet wurde, in bestimmten Stadtvierteln gemischte Restaurants und Cafés der Regelfall sind, Frauen sich wieder bunter kleiden, immer seltener ein Kopftuch und häufig Jeans tragen.

Dass BF2 in Bezug auf ihren Kleidungsstil besondere Gefahren gewärtigen würde, ist auch deshalb nicht anzunehmen, da sie auch in Österreich einen traditionellen Kleidungsstil pflegt und ein Kopftuch trägt.

Dem Vorbringen der BF2 war auch nicht zu entnehmen, dass sonst besondere Gefährdungsmomente vorliegen. Dazu befragt, wie sich ihr jetziges Leben von jenem im Irak unterscheide, nannte BF2 auch lediglich Umstände, die die allgemeine Sicherheit betreffen (Verhandlungsprotokoll, S. 26).

 

Zudem ist auch daraufhin zu weisen, dass nicht jede Änderung in der Lebensführung während eines Aufenthaltes in Österreich, die im Fall der Rückkehr nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, dazu führt, dass die Asylwerberin internationaler Schutz gewährt werden muss, sondern nur eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Inanspruchnahme oder Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und die im Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (zuletzt VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0315).

Dies wurde von der BF2 weder behauptet noch belegt.

2.5.7. Schließlich ist noch ein Aspekt anzusprechen, der gegen eine wohlbegründete Furcht der BF vor Verfolgung spricht:

Wenn die BF tatsächlich eine asylrelevante Verfolgung aus den von ihnen genannten Gründen befürchtet hätten, wäre wohl anzunehmen, dass sie in der Türkei geblieben wären oder sie auch in Griechenland oder in den anderen Ländern, welche sie bei ihrer Weiterreise nach Österreich durchquerten, einen Asylantrag gestellt hätten.

In diesem Zusammenhang ist auf die Richtlinie 2011/95/EG des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes zu verweisen, welche in ihrem Art. 4 Abs. 5 lit. d vorsieht, dass dann, wenn für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, diese Aussagen keines Nachweises bedürfen, wenn der Antragsteller internationalen Schutz zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war. Wendet man diese sekundärrechtliche Norm im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung auf das gegenständliche Verfahren an, so ergibt sich um Umkehrschluss, dass gegenständlich jedenfalls – glaubwürdige bzw. fundierte – Nachweise erforderlich gewesen wären.

Insgesamt ergibt sich nach Einsicht in den Verfahrensakt der bB sowie nach Anhörung der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht das Bild, dass die BF den Irak aufgrund der schlechten Lage im Jahr 2015 und in der Hoffnung auf eine wirtschaftliche Verbesserung ihrer Lage verlassen haben.

2.5.8. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet das Vorbringen der BF betreffend die individuelle Gefährdung der Person des BF1 und seiner Familie durch die Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq als nicht glaubwürdig, weshalb dieses Vorbringen den Feststellungen nicht zugrunde zulegen ist.

2.5.9. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es nun für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an (VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307 mwN). Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung (Vorverfolgung) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn eine Person im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob die Person im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 25.9.2018, Ra 2017/01/0203 mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hat daher auch zu prüfen, ob den Beschwerdeführern zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ihrem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten haben.

Das Bundesverwaltungsgericht kann keine Rückkehrgefährdung erkennen, da die BF kein exponiertes persönliches Profil aufweisen, welches auf eine gegenüber der Durchschnittsbevölkerung höheres Risiko eines Konfliktes mit schiitischen Milizionären hindeutet.

Aktuelle Berichte über die Aktivitäten der Milizen weisen zwar auf mehrere Wirkungsfelder in Bagdad hin und im August 2018 räumten Vertreter der Asaib Ahl Al Haqq auch ein, dass 50 ihrer Milizkämpfer in Bagdad Verbrechen, darunter Plünderungen, Erpressungen, Ermordungen und Entführungen begangen haben, um an Geld zu gelangen.

Bagdad und die Vororte befinden sich laut EASO-Bericht zur Sicherheitslage im Irak aus März 2019 generell unter staatlicher Kontrolle, wobei es in den Bereichen Verteidigung und Strafverfolgung auch zu Kontrollen der PMF kommt. Im Juni 2019 rief ein Provinzrat dazu auf, die PMF zur Hilfe zu nehmen, um den Bagdad-Gürtel zu sichern. Der Berichtslage lässt sich jedoch auch entnehmen, dass Teile der Regierung sich von verschiedenen Milizen distanzieren und es immer wieder zur Aufklärung von Gewalttaten, in die Milizionäre verwickelt waren, kommt. Im Zuge von Operationen der Sicherheitskräfte in Bagdad wurden auch vier Stützpunkte der PMF durchsucht und geschlossen. Ferner kam es im Februar 2019 innerhalb der PMF-Strukturen zu Auseinandersetzungen, was eine Welle von Festnahmen und Schließungen von PMF-Stützpunkten zur Folge hatte. Im Mai belagerten zum Präsidentenregime gehörige Sicherheitskräfte einen PMF-Stützpunkt im Stadtteil Dschdirya und Fordern zur Räumung derselben auf (siehe ACCORD-Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research Documentation, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen).

Insgesamt ist aus den eingesehenen Anfragebeantwortungen und (Medien) Berichten abzulesen, dass auch Bagdad weiter zum Wirkungsfeld der PMF gehört und es vereinzelt noch zu Übergriffen auf Stadtbewohner kommt. Die Spitze der kriminellen Aktivitäten der Asaib Ahl Al Haqq in Bagdad und der Einflussbereich krimineller Elemente wurde mit der Zurückdrängung des Islamischen Staat, was eine deutliche Entspannung der konfessionellen Konflikte auch in Bagdad mit sich brachte, überschritten und hat sich die Lage dort entscheidend verbessert.

Damit einhergehend hat sich auch die Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung in Bagdad verbessert. Davon, dass aktuell jeder Stadtbewohner oder jede Stadtbewohnerin Gefahr läuft, von einer Miliz gekidnappt, erpresst, ermordet oder vergewaltigt zu werden, kann nicht mehr die Rede sein.

Die zu den Aktivitäten der Miliz Asa'ib Ahl al-Haq getroffenen Feststellungen bieten ferner keinen Anhaltspunkt dafür, dass Einzelpersonen auch nach Jahren der Abwesenheit im Rückkehrfall gezielt verfolgt oder Todeslisten geführt werden. Die Fluchtgeschichte der BF wurde bereits als unglaubwürdig erkannt und kamen auch sonst keine Hinweise darauf hervor, dass die BF den Milizionären von Asa'ib Ahl al-Haqq persönlich bekannt wären.

2.5.10. Die BF verfügten vor ihrer Ausreise über ein Eigentumshaus in Bagdad. Da den Schilderungen der BF kein Glaube geschenkt wurde und sie sich durch ihr Verhalten auch als persönlich unglaubwürdig präsentierten, ist auch die Angabe, ehemalige Nachbarn der BF der Familie von BF2 hätten gesagt, dass nun die Miliz das Haus an sich genommen hätte und das Haus nun ihnen gehören würde, als rein zweckbezogenes Vorbringen zu bewerten. Den BF steht die Rückkehr in ihr Viertel und ihr Haus offen. Dort sind sie auch wegen ihres Religionsbekenntnisses nicht exponiert. Dazu tritt, dass sich, wie bereits angesprochen, die allgemeine Sicherheitslage im Irak im Allgemeinen und in der Hauptstadt Bagdad im Besonderen seit der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Jahr 2017 entscheidend verbessert hat (siehe beispielsweise die Daten im Update on incidents according to the Armed Conflict Location & Evant Data Project (ACLED) zum ersten Quartal 2020, welche den BF in der mündlichen Verhandlung übergeben wurden). Damit einhergehend sind auch die konfessionellen Spannungen in der irakischen Hauptstadt zum Erliegen gekommen. Den in diesem Verfahren herangezogenen Berichten zur Lage im Herkunftsstaat kann in dieser Hinsicht auch nicht entnommen werden, dass es in den Jahren 2018 und 2019 zu konfessionell motivierten Übergriffen auf Sunniten in der irakischen Hauptstadt Bagdad gekommen wäre. Davon, dass Personen sunnitischen Bekenntnisses nunmehr im Bagdad generell einer besonderen Gefährdung durch schiitische Milizen unterliegen würden, kann keine Rede sein.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im Hinblick auf die Sicherheitslage in Bagdad nicht, dass Bagdad immer noch oftmals Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten ist und ausweislich der statistischen Daten zu den unsichereren Provinzen gehört. Der aktuellen Berichterstattung folgend gehen Anschläge in Bagdad in erster Linie vom Islamischen Staat aus und richten sich im Wesentlichen gegen die Zivilbevölkerung und staatliche Sicherheitskräfte. Die Situation im letzten Jahr war besonders gekennzeichnet durch gewalttätige Auseinandersetzungen, die sich im Zuge von Massenprotesten ergaben. In Bagdad konzentrierte sich das Geschehen um die sogenannte „grüne Zone“ und die dorthin führende Brücke über den Tigris sowie weitere Brücken, die von Demonstranten im Oktober des Jahres 2019 eingenommen wurden.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte sowie auch aufgrund der aktuellen Medienberichterstattung nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz der BF in Bagdad davon ausgegangen werden muss, dass diese wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages oder Gegenschlages der Sicherheitskräfte in Bagdad werden würde (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).

2.5.11. Die weiblichen BF sind im Fall einer Rückkehr nach Bagdad auch nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihres weiblichen Geschlechts oder ihres westlichen Lebensstils gefährdet, wie bereits erörtert wurde.

2.5.12. Aufgrund des Vorbringens der BF ist auch eine Auseinandersetzung mit der Lage der BF aufgrund ihres sunnitischen Glaubensbekenntnisses im (hypothetischen) Rückkehrfall geboten:

Aus den Feststellungen zur Lage im Irak geht im Hinblick auf die Lage der sunnitischen Minderheit darüber hinaus hervor, dass im Irak zahlreiche Sunniten leben und sunnitische Araber ca. 17 bis 22% der Gesamtbevölkerung von ca. 36 Millionen Einwohnern ausmachen. In Bagdad bekennt sich zwar die Mehrheit der Bevölkerung zum schiitischen Glauben, allerdings bestehen auch sunnitische Viertel, in welchen sich eine namhafte Zahl sunnitischer Bürger aufhält.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im gegebenen Zusammenhang nicht, dass die irakische Gesellschaft bereits seit dem Sturz des (sunnitisch geprägten) Regimes von Saddam Hussein in zunehmendem Maße religiös gespalten ist und sich in den Jahren 2006 bis 2008 massive konfessionelle Konflikte ereigneten. Während des Bürgerkrieges der (ebenfalls sunnitischen) Milizen des Islamischen Staates wurde die sunnitische Minderheit im Irak darüber hinaus oftmals einerseits für das Erstarken des Islamischen Staates und die damit verbundenen zahlreichen vornehmlich schiitischen Opfer unter den Sicherheitskräften (wie etwa beim Massaker von Tikrit) und Zivilisten verantwortlich gemacht und andererseits selbst fallweise mit einer unterstellten Sympathie gegenüber dem Islamischen Staat konfrontiert. Bagdad und die umgebenden Gebiete sind in zunehmendem Maße religiös gespalten und in schiitische und sunnitische Viertel geteilt, wobei die schiitisch dominierten Viertel aufgrund von Vertreibungen durch Regierungstruppen und schiitische Milizen zunehmen und es bei Straßensperren zu Beschimpfungen und Diskriminierungen von Sunniten kommen kann. Die Feststellungen zeugen ferner davon, dass auch Entführungen zum Zweck der Erpressung von Lösegeld dokumentiert sind.

Eine systematische und asylrelevante Verfolgung sämtlicher Angehöriger der sunnitischen Minderheit durch die schiitische Mehrheitsbevölkerung in Bagdad kann dessen ungeachtet angesichts der Quellenlage nicht nachvollzogen werden, was sich auch daraus ergibt, dass gegenwärtig die Verwandten der BF mit ihren Familien in Bagdad leben. BF1 gab vor dem Bundesverwaltungsgericht noch an, dass er mit seinen Geschwistern in relgelmäßigem Kontakt stehe. Auch die Familie der BF2 lebt noch in Bagdad und gab BF2 auch an, mit diesen in Kontakt zu stehen.

Ein genereller Ausschluss von Sunniten vom Arbeitsmarkt und von Bildungseinrichtungen liegt in Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, den Irak betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen ebenfalls nicht vor. Dazu tritt, dass ausweislich der Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak hohe Staatsämter, etwa jenes des Parlamentspräsidenten, Sunniten vorbehalten und diese auch im irakischen Parlament angemessen repräsentiert sind, war auch gegen eine Verfolgung sämtlicher Angehöriger des sunnitischen Religionsbekenntnisses im Irak spricht. Würde eine Gruppenverfolgung sämtlicher Angehöriger der sunnitischen Glaubensrichtung im Irak tatsächlich stattfinden, wäre ferner mit Sicherheit davon auszugehen, dass entsprechende eindeutige und aktuelle Quellen vorhanden wären. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass von schiitischen Milizen nach wie vor Menschenrechtsverletzungen ausgehen und auch eine nicht feststellbare Zahl von Übergriffen auf sunnitische Iraker stattfindet, welche über die vorstehend dargelegten Diskriminierungen hinausgehen. Ausweislich der Feststellungen sind insbesondere in den von den Milizen des Islamischen Staates zurückeroberten Gebieten von schiitischen Milizen (wie etwa der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq) ausgehende Gewaltakte gegen männliche sunnitische Araber dokumentiert und kommen Entführungen und außergerichtliche Hinrichtungen ebenso vor, wie die bereits zuvor angesprochenen Vertreibungen mit dem Ziel einer religiösen Homogenisierung. Ferner sind Übergriffe seitens Angehöriger der al-Haschd asch-Schaʿbī im Gefolge von Kampfhandlungen oder Anschlägen in den umkämpften Gebieten bekannt, welche von den Verantwortlichen als Einzelfälle abgetan werden und die als Vergeltungsaktionen in Zusammenhang mit konkreten Angriffen des Islamischen Staates angesehen werden.

Bei Abwägung der Feststellungen zu Übergriffen einerseits und den aus den Feststellungen zur Sicherheitslage ersichtlichen Angaben zu zivilen Opfern andererseits und der Bevölkerungszahl und der Anzahl der Binnenvertriebenen in den Provinzen Bagdad andererseits ist indes nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht davon auszugehen, dass sämtliche sunnitischen Araber in Bagdad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigte Eingriffe von erheblicher Intensität in ihre schützende persönliche Sphäre aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses oder einer ihnen unterstellten Anhängerschaft zum Islamischen Staat zu gewärtigen hätten. Es gibt auch keine Zahlen, die zeigen würden, wie viele Sunniten etwa aus politischen oder religiösen Gründen getötet wurden. In Anbetracht der in den Feststellungen zur Lage in Bagdad dargelegten jüngsten sicherheitsrelevanten Vorfälle ist die Wahrscheinlichkeit, einem zielgerichteten Übergriff schiitischer Milizen aus den eingangs erörterten Motiven zum Opfer zu fallen, vielmehr nicht als erheblich anzusehen. Diese nur entfernte Möglichkeit, Opfer eines religiös motivierten Übergriffes zu werden, genügt jedoch nicht zur Annahme einer Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Im Übrigen beträgt bei geschätzten mindestens zehn Prozent Sunniten in Bagdad (Schätzungen des Jahres 2009 zufolge sind ca. 80 - 85% der Einwohner Bagdads der schiitischen Glaubensrichtung zugehörig, vgl. die dazu getroffenen Feststellungen) deren Anzahl bei Zugrundelegung der festgestellten Bevölkerungszahl des Gouvernement Bagdad mindestens 700.000 Personen. Insbesondere vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass eine tatsächlich vorhandene zielgerichtete Verfolgung dieser Gruppe entsprechenden deutlichen Niederschlag in den Berichten finden würde, was jedoch nicht gegeben ist.

Dass andere Personen als Binnenvertriebene und diejenigen sunnitischen Männer, die in vom Islamischen Staat zurückeroberten Gebieten im Gefolge der Rückeroberung vorgefunden wurden (und sohin dort während der Machtausübung durch den Islamischen Staat gelebt haben), von schiitischen Milizen oder Sicherheitskräften in den Jahren 2014 bis 2017 systematisch bedrängt wurden oder nunmehr der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt wären, kann den länderkundlichen Informationen auch derzeit nicht entnommen werden. Die BF stammen aus Bagdad, einer Stadt die niemals vom Islamischen Staat eingenommen wurde und demgemäß niemals Teil des sogenannten Kalifates war. Den BF kann somit nicht vorgeworfen werden, eine gewisse Zeit unter der faktischen Herrschaft des Islamischen Staates zugebracht und dermaßen – wenn auch nur stillschweigend – mit dem Islamischen Staat kooperiert zu haben. Sie sind auch nicht in der Situation, binnenvertrieben zu sein. Die BF werden auch nicht in ein vom Islamischen Staat befreites und nunmehr von schiitischen Milizen kontrolliertes Gebiet zurückehren müssen. Die gegenwärtige Lage in Bagdad ist ausweislich der Feststellungen durch eine im Verhältnis zur Bevölkerungszahl wieder geringe Anzahl an Zivilisten betreffender sicherheitsrelevanter Vorfälle gekennzeichnet, zumal aktuell im Jahr 2018 eine maßgebliche Beruhigung der Lage eingetreten ist. Die in Quellen ersichtlichen festgestellten Vorfälle von gewaltsamen Übergriffen gegenüber Sunniten betreffen allesamt das Jahr 2017 oder frühere Jahre und stehen aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes in Zusammenhang mit Kampfhandlungen gegen die Milizen des Islamischen Staates, wobei abschnittsweise diese Motivation in den Feststellungen deutlich hervorkommt. Selbst der im Mai 2019 veröffentlichten Position des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge „International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq“ kann entnommen werden, dass die berichteten gravierenden Übergriffe auf Sunniten „in the context of military operations against ISIS between 2014 and 2017“ berichtet wurden und somit als Folge der Kampfhandlungen bzw. der anschließenden Besatzung zu sehen sind (Seite 60 des Berichtes).

Der Verwaltungsgerichtshof ist im Übrigen einer behaupteten Gruppenverfolgung von Sunniten in mehreren Entscheidungen nicht nähergetreten (VwGH 25.04.2017, Ra 2017/18/0014; 19.06.2019, Ra 2018/01/0379; 25.06.2019, Ra 2019/19/0193; 10.07.2019, Ra 2019/14/0225, und 18.07.2019, Ra 2019/19/0191) und es wurde zuletzt im Erkenntnis vom 29.06.2018, Ra 2018/18/0138, auch seitens des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppenverfolgung von Sunniten in Bagdad verneint.

Eine individuelle Gefährdung der BF im Fall einer Rückkehr nach Bagdad aufgrund ihres sunnitischen Religionsbekenntnisses ist vor diesem Hintergrund zusammenfassend nicht erkennbar.

2.5.13. Zusammenfassend erweist sich das Vorbringen der BF als widersprüchlich und auch vor dem Hintergrund der Lage im Herkunftsstaat als nicht plausibel.

Das Bundesverwaltungsgericht kann in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen daher nicht feststellen, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die BF einer individuellen Bedrohung unterliegen.

Da die vorgebrachten ausreisekausalen Vorfälle mangels einer glaubhaften Darlegung nicht festgestellt werden konnten, ergibt sich daraus auch keine Rückkehrgefährdung.

2.6. Die Feststellungen betreffend die nicht vorhandene politische Betätigung der BF sowie die nicht vorhandenen Schwierigkeiten mit den Behörden ihres Heimatstaates beruhen auf den diesbezüglichen Angaben der BF vor der bB und den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung. Dass die Regierung sowie die Sicherheitskräfte von Milizen unterwandert sind, wie BF1 vor der bB vorgebracht hat, ist grundsätzlich glaubwürdig. Allerdings hat er die gegen sie gerichteten Verfolgungshandlungen und Übergriffe der Milizen nicht glaubhaft machen können und ist demzufolge auch nicht glaubhaft, dass ihm von staatlicher Seite Verfolgung droht.

Darüber hinaus konnten die BF keine mit ihrer arabischen Volksgruppenzugehörigkeit oder ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit in Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten vor der Ausreise glaubhaft machen.

2.7. Da die BF keine staatliche Strafverfolgung im Irak aufgrund eines Kapitalverbrechens glaubhaft vorgebracht haben, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass sie im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würden. Ebenso kann aus dem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden, zumal keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften vorgebracht wurden.

Wie bereits dargelegt, verkennt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Sicherheitslage in Bagdad nicht, dass Bagdad nach wie vor oft Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten sowie aktuell auch gerade Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Polizeikräften und Demonstranten ist und ausweislich der statistischen Daten zu den unsicheren Provinzen des Irak gehört. Der aktuellen Berichterstattung folgend gehen Anschläge in Bagdad in erster Linie vom Islamischen Staat aus und richten sich im Wesentlichen gegen die Zivilbevölkerung und staatliche Sicherheitskräfte, wobei Anschläge vorzugsweise an öffentlichen Orten mit großen Menschenansammlungen (wie etwa Moscheen oder Märkte bzw. Einkaufszentren) oder an Checkpoints der Sicherheitskräfte verübt werden.

Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Person der BF, welche zu einer im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung stark erhöhte Gefährdung durch terroristische Aktivitäten hindeuten würden, wurden im Verfahren nicht vorgebracht. Die BF gehören nicht den staatlichen Sicherheitskräften an und kamen auch keine Anhaltspunkte dafür hervor, dass sie im Rückkehrfall mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung durch gewalttätige Auseinandersetzungen ausgesetzt wären.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte darüber hinaus nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz der BF in Bagdad davon ausgegangen werden muss, dass diese wahrscheinlich das Opfer eines terroristischen oder sonstigen gewaltsamen Anschlages werden würden.

2.8. In Ansehung der BF sind folgende Erwägungen zu im Rückkehrfall zu erwartenden sozioökonomischen Lage maßgeblich:

Die Feststellungen zum Lebenslauf unter Punkt 1.1. beruhen auf den Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, in der Einvernahme vor der Landespolizeidirektion und der belangten Behörde sowie den vorgelegten Personalausweisen.

Demnach ist BF1 ist in Bagdad geboren und hat neun Jahre lang die Grundschule besucht. Danach absolvierte er die AHS und besuchte ein Technologiecollege. Ob er tatsächlich als Beamter gearbeitet hat bzw. wo genau er bis zur Ausreise gearbeitet hat, konnte aufgrund der widersprüchlichen Angaben (Innenministerium vs. Ministerpräsidentenamt) nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Er wohnte mit seiner Familie bis zu ihrer Ausreise in einem Eigentumshaus in Bagdad, von wo aus er sein Heimatland verließ.

BF2 ist ebenfalls in Bagdad geboren, besuchte zwölf Jahre lang die Schule, hat einen Maturaabschluss und schloss die Studien Soziologie, Geografie und Geschichte ab. Danach heiratete sie, bekam drei Kinder und wurde Hausfrau.

BF3 bis BF5 sind in Bagdad geboren und lebten bis zu ihrer Ausreise mit ihren Eltern dort. Sie besuchen in Österreich aktuell alle die Schule.

Alle BF sind mit der Sprache sowie den Gebräuchen in ihrem Herkunftsstaat vertraut. Sie haben im Irak Schulbildung konsumiert und BF1 hat auch Berufserfahrung.

BF1 steht es frei, im Rückkehrfall neuerlich einer Beschäftigung nachzugehen. Auch BF2 ist es zumutbar, im Fall der Rückkehr zumindest eine Teilzeit beschäftigung aufzunehmen, zumal das jüngste Kind etwas über acht Jahre und damit in schulpflichtigem Alter ist. Dass eine Erwerbstätigkeit als Frau aus traditionellen Gründen nicht üblich ist, brachte sie nicht vor. Dass es Frauen in Bagdad grundsätzlich nicht möglich wäre, einer Arbeit nachzugehen, lässt sich der Quellenlage nicht entnehmen. Im Gegenteil, zeigen doch die über das Internet einsehbaren Profile prominenter Frauen aus Bagdad (etwa der im Jahr 2015 in das Amt der Bürgermeisterin berufenen Frau Thikra Alwasch, auch wenn es sich bei ihrem Lebenslauf zugegebenermaßen um einen außergewöhnlichen handelt), dass Frauen in Bagdad Bildung und eine berufliche Laufbahn grundsätzlich offen stehen.

Alle drei Kinder können nach ihrer Rückkehr in den Irak die Schule dort besuchen. BF3 ist bereits sechzehn Jahre alt und auch ihm ist damit die Aufnahme einer Arbeit möglich und zumutbar.

Es ist nicht ersichtlich, weshalb die BF im arbeitsfähigen Alter im Irak keine Tätigkeit ausüben sollten. Zwar ist die Situation im Land von einer generell hohen Arbeitslosenquote, insbesondere bei Jugendlichen und Frauen, gekennzeichnet (vgl. etwa Research paper der Staatendokumentation „Socio-economic dynamics: Baghdad“ vom 31.7.2019), allerdings ist auch festzuhalten, dass die Arbeitslosenrate in Bagdad generell niedriger ist als in den übrigen Landesteilen, wie sich dem zuvor genannten Bericht entnehmen lässt. Zuverlässige Daten betreffend Bagdad sind nicht erhältlich, die World Bank ging im Jahr 2019 von einer offiziellen Rate von 9,9 % für den gesamten Irak aus.

Zwar kann die wirtschaftliche Situation im Land für den Großteil der Bevölkerung durchaus als angespannt bezeichnet werden und wird die Wirtschaftsentwicklung sicherlich durch die Corona-Pandemie – wie in anderen Staaten der Erde auch – weiter gedämpft. Dass es Menschen in Bagdad grundsätzlich nicht möglich wäre, einer Arbeit nachzugehen oder dort massenhaftes Elend und Hunger herrschen würden, lässt sich der Quellenlage und der aktuellen Medienberichterstattung jedoch nicht entnehmen.

Im Hinblick auf den Bezug von Wasser kommt es den eingesehenen Dokumenten zufolge im Irak, vor allen in den Sommermonaten, immer wieder zu Unterbrechungen. Auch die mitunter schlechte Wasserqualität bedingt die Notwendigkeit, Wasser in Flaschen und Medikamenten gegen Auswirkungen von verunreinigtem Wasser zu beziehen. Zudem leidet die Nahrungsmittelproduktion im Irak unter der Trockenheit und versalztem Wasser, was eine hohe Importrate bei bestimmten Nahrungsmitteln, wie etwa Zucker, Öl, Reis, Milchprodukte und Weizenmehl, bedingt und vor allem bei ausgeprägten Trockenperioden die Preise für gewisse Lebensmittel in die Höhe treiben kann.

Für Bagdad liegen diesbezüglich keine genauen bzw. zuverlässigen Daten vor. Von diesbezüglichen Nöten in einem für die Durchschnittsbevölkerung lebensbedrohlichen Ausmaß wird jedoch weder medial berichtet noch erstatteten die BF ein diesbezügliches Vorbringen.

Den eingesehenen Berichten lässt sich insgesamt entnehmen, dass die sozio-ökonomische Situation angespannt bleibt, dass die Situation in Bagdad von Massenarbeitslosigkeit und Nahrungsmittelknappheit gekennzeichnet wäre, konnte jedoch ebenfalls nicht festgestellt werden.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Geschwister des BF1 mit ihrer Familie und auch die Familie der BF2 in Bagdad sowie auch andere Familien dort wohnen und weiterhin ihr Leben meistern können.

Zwar gab der BF1 an, aus seinem Clan ausgeschlossen worden zu sein, dennoch bestätigte er wiederholt, auch jetzt noch mit seinen Geschwistern in Kontakt zu stehen. BF2 gab ebenfalls an, mit der in Bagdad lebenden Familie und Verwandtschaft noch in Kontakt zu stehen. Es ist auch anzunehmen, dass die BF im Irak auch über einen gewissen Bekanntenkreis verfügen. Die BF werden deshalb auch wieder sozialen Anschluss im Irak finden und kann daher auch davon ausgegangen werden, dass den BF – zumindest für die Phase einer ersten Orientierung – Unterstützung durch die Familie, der Verwandtschaft oder dem Bekanntenkreis zuteil werden wird. Die BF verfügten in Bagdad vor ihrer Ausreise über ein Eigentumshaus und waren ihre Angaben über die Vereinnahmung dieses Hauses durch die Milizen ebenfalls als zweckbezogen zu bewerten. Selbst bei Wahrunterstellung ist aber davon auszugehen, dass das verwandtschaftliche und familiäre Netzwerk den BF auch Unterstützung in Form der Zurverfügungstellung von Wohnraum zukommen lassen wird.

Dessen ungeachtet vertritt das Bundesverwaltungsgericht auch ob des von den BF in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks die Auffassung, dass diese anpassungsfähig und arbeitsfähig sind. Sowohl BF1 als auch BF2 gaben vor dem Bundesverwaltungsgericht an, arbeitswillig zu sein. Auch BF3 gab an, er würde sich für den Fall, dass seine Pläne über die weitere schulische Entwicklung nicht umgesetzt werden können, für eine Lehre interessieren. Es ist daher davon auszugehen, dass die BF daher selbst in der Lage sein werden, für ihr Auskommen im Fall der Rückkehr nach Bagdad zu sorgen.

Den BF steht es auch frei, am ERIN-Programm teilzunehmen. ERIN ist ein Rückkehr- und Reintegrationsprogramm auf europäischer Ebene mit dem Hauptziel, Reintegrationsunterstützung im Herkunftsland anzubieten. ERIN ist eine Spezifische Maßnahme (Specific Action) im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU, wird von den Niederlanden (Repatriation and Departure Service (R&DS) – Ministry of Security and Justice of the Netherland) geleitet und zu 90% aus Europäischen Mitteln finanziert.

Im Rahmen des ERIN Programms erhält jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eine Reintegrationsleistung in der Höhe von 3.500 Euro, wobei 500 Euro als Bargeld und 3.000 Euro als Sachleistung vom Service Provider im Herkunftsland ausgegeben werden. Während die Geldleistung grundsätzlich dazu gedacht ist die unmittelbaren Bedürfnisse nach der Rückkehr zu decken, dient die Sachleistung insbesondere als Investition zur Schaffung einer Existenzgrundlage und trägt somit zu einer nachhaltigen Rückkehr bei. Von Juni 2016 bis Jänner 2018 erhielten 843 Personen im Rahmen ihrer Rückkehr von Österreich in ihr Heimatland Reintegrationsunterstützung über das ERIN-Programm. Unter Berücksichtigung von Familienangehörigen kehrten im selben Zeitraum sogar 1.254 Personen freiwillig in ihr Heimatland zurück. Aktuell wird ERIN-Reintegrationsunterstützung im Zentralirak und in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung gestellt (http://www.bmi.gv.at/107/EU_Foerderungen/Finanzrahmen_2014_2020/AMIF/ERIN.aspx ). Die Teilnahme an diesem Programm vermittelt etwa hinreichende Starthilfe für eine selbständige Tätigkeit und den neuerlichen Aufbau eines eigenen Geschäftes.

BF sind als irakische Staatsbürger außerdem berechtigt, am Public Distribution System (PDS) teilzunehmen, einem sachleistungsorientierten Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft und an die Bevölkerung verteilt. Auch wenn das Programm von schlechter Organisation gekennzeichnet ist und Verzögerungen bei der Ausgabe der Rationen dokumentiert sind, ist zumindest von einer grundlegenden Absicherung im Hinblick auf den existenziellen Bedarf an Grundnahrungsmitteln auszugehen.

Dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland besonders vulnerabel wären, kann den zur Rückkehr getroffenen Feststellungen zur Lage im Irak nicht entnommen werden. Seitens der BF wurde letztlich auch nicht vorgebracht, im Rückkehrfall in eine ausweglose Lage zu geraten oder in ihren Grundbedürfnissen nicht abgesichert zu sein, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage im Irak als erwiesen anzusehen ist.

Schließlich ist im vorliegenden Fall zu beachten, dass es sich bei den beschwerdeführenden Parteien um eine Familie mit minderjährigen Kindern und daher um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den BF bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besonders zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien tatsächlich vorfinden (siehe dazu statt aller VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336 mwN; VfGH 11.12.2018, E 2025/2018).

Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die Minderjährigen keiner besonders gefährdeten Gruppen angehören und ist auch von einer Rückkehr der minderjährigen BF gemeinsam mit ihren Eltern auszugehen, sodass die Betreuung und Beaufsichtigung der Minderjährigen sichergestellt ist.

Das Bundesverwaltungsgericht kann außerdem in Ansehung der minderjährigen BF nicht die reale Gefahr erkennen, im Rückkehrfall von häuslicher Gewalt betroffen zu sein. BF1 und BF2 vermittelten den Eindruck, am Wohlergehen ihrer Kinder interessiert zu sein. Hinweise auf gewalttätige Übergriffe auf die Minderjährigen im Bundesgebiet liegen nicht vor. Die erwachsenen BF brachten auch keine von Verwandten im Herkunftsstaat potentiell ausgehenden Gewalttätigkeiten vor. Ausgehend davon ist auch nicht zu besorgen, dass die minderjährigen BF im Rückkehrfall einem davon abgeleiteten Risiko ausgesetzt würden oder sie sonst von häuslicher Gewalt betroffen wären.

Im Irak ist die Grundversorgung mit Nahrung und medizinische Versorgung gegeben und steht den schulpflichtigen Kindern auch ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schulsystem offen (siehe das Länderinformationsblatt, den Bericht über das Schulsystem von ACCORD oder die Übersicht über das Bildungssystem von Soma Ahmad).

Ob der obenstehenden Erwägungen und den getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in der Herkunftsregion der BF ist nicht zu besorgen, dass die minderjährigen BF als besonders vulnerable Personen im Rückkehrfall von terroristischen oder kriminellen Aktivtäten betroffen wären. Aufgrund der Verfahrensergebnisse ist auch nicht davon auszugehen, dass sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit sonstiger Gewalt, wie etwa Blutrache oder einem Ehrenmord, zum Opfer fallen würden.

Dass die weibliche minderjährige BF nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit frauenspezifischer Gewalt zum Opfer fallen wird, wurde bereits thematisiert.

Ein dahingehendes Vorbringen wurde im Verfahren nicht erstattet und es kann das Bundesverwaltungsgericht in Ansehung der persönlichen Profile der BF auch kein amtswegig wahrzunehmendes besonderes Gefährdungsmoment erkennen.

Aufgrund der oben dargelegten Erwägungen zur sozioökonomischen Lage kann schließlich nicht die reale Gefahr erkannt werden, dass die BF im Rückkehrfall von einer unzureichenden Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern oder von Unterernährung betroffen wären. Hinweise auf Versorgungsengpässe bzw. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen liegen ausweislich der Feststellungen nicht vor.

Ausgehend von den persönlichen Profilen der BF und den Erwägungen zur Lebensgrundlage im Herkunftsstaat geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die minderjährigen BF im Wege der Versorgung durch ihre Eltern und der durch das familiäre Netzwerk erlangbaren Hilfe nicht nur eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs, sondern insbesondere auch im Hinblick auf ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; 12.11.2014, Ra 2014/20/0069 mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 mwN). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183; 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

3.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der BF, im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

Im gegenständlichen Fall gelangt das Bundesverwaltungsgericht aus oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausführlich erörterten Gründen zum Ergebnis, dass die BF keiner individuellen Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt waren oder im Fall der Rückkehr ausgesetzt wären, sodass internationaler Schutz nicht zu gewähren ist. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass den BF keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind.

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur hinzunehmen sind, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).

Eine Verfolgung der BF im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Z 2 GFK liegt somit nicht vor und es braucht daher auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe vor derartigen Bedrohungen sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden.

Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist demgemäß nicht zu beanstanden und kommt der Beschwerde insoweit keine Berechtigung zu.

3.2. Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten:

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung des Beschwerdeführers in den Irak Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).

Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es dabei grundsätzlich dem Beschwerdeführer, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255; VwGH 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, Zl. 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der EGMR aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande, 5.7.2005).

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).

3.2.2. Unter „real risk“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (grundlegend VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; RV 952 BlgNR XXII. GP 37). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die Feststellung einer Gefahrenlage im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfordert das Vorliegen einer konkreten, den Beschwerdeführer betreffenden, aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbaren Gefährdung bzw. Bedrohung. Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände, welche ihnen noch einen aktuellen Stellenwert geben, nicht geeignet, die begehrte Feststellung zu tragen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 14.10.1998, Zl. 98/01/0122).

3.2.3. Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. EGMR U 08.04.2008, Nnyanzi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein ausreichend reales Risiko für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (EGMR U 04.07.2006, Karim gegen Schweden, Nr. 24171/05, U 03.05.2007, Goncharova/Alekseytev gegen Schweden, Nr. 31246/06).

3.2.4. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Beschwerdeführers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, zur Lage in Bagdad). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).

Im Hinblick der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Beschwerdeführer typischerweise zurückkehren wird. Zur Feststellung der Gefahrendichte kann auf eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zurückgegriffen werden. Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (dt BVerwG 17.11.2011, 10 C 13/10).

3.2.5. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gegeben sind:

Dass die BF im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

 

Im Hinblick auf die zur Zeit vorherrschende Pandemie wegen des Coronavirus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 und der Situation im Irak kann aufgrund des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation der BF (aus den Altersangaben, und den Angaben der BF zu ihrem Gesundheitszustand und den vorgelegten medizinischen Unterlagen kann nicht geschlossen werden, dass die BF zur Gruppe der von COVID-19 besonders Gefährdeten laut der COVID-19-Risikogruppe-Verordnung) und des Umstandes, dass der irakische Staat, wie sich aus allgemein zugänglichen Quellen ergibt, auf die Situation bisher angemessen reagierte, nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Art. 2 bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls kann dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im Hinblick auf die Sicherheitslage in Bagdad nicht, dass Bagdad immer noch oftmals Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten ist und ausweislich der statistischen Daten zu den unsichereren Provinzen gehört. Der aktuellen Berichterstattung folgend gehen Anschläge in Bagdad in erster Linie vom Islamischen Staat aus und richten sich im Wesentlichen gegen die Zivilbevölkerung und staatliche Sicherheitskräfte.

Offene Kampfhandlungen finden in Bagdad nicht statt und kann bei Betrachtung der Statistiken über sicherheitsrelevante Vorfälle von einer Stabilisierung der Sicherheitslage ausgegangen werden.

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

 

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Den Anschlagereignissen steht die Bevölkerungsanzahl im Gouvernement Bagdad gegenüber, welche die reale Gefahr, dass gerade die BF wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages werden würde, ausschließt. Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Person des BF wurden im Übrigen nicht vorgebracht und gehörte dieser weder staatlichen Sicherheitskräften an noch weist er sonst ein Risikoprofil auf, welches darauf schließen lassen könnte, dass er von Milizen bedrängt werden könnte – die Angaben über seine politische Verfolgung durch die Milizen wurden als unglaubwürdig verworfen. Zumal der BF bislang auch nicht angab, an Demonstrationen oder sonstigen regimekritischen Aktivitäten teilgenommen zu haben, ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb er in eine Auseinandersetzung im Rahmen von Demonstrationen gelangen sollte.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte sowie auch aufgrund der aktuellen Medienberichterstattung nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz der BF in Bagdad davon ausgegangen werden muss, dass diese wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages oder Gegenschlages der Sicherheitskräfte werden würde (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).

Zudem finden die Demonstrationen und Auseinandersetzungen auch lokal beschränkt um die gründe Zone statt und richten sich Handlungen der Sicherheitskräfte auch nicht gegen alle Bürgerinnen und Bürger von Bagdad, sondern gezielt auf die Teilnehmer der Demonstrationen.

Im Übrigen wurde auch nicht vorgebracht, dass die BF im Falle einer Rückkehr von den Kampfhandlungen betroffen wären.

Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Person der BF wurden im Verfahren ebenfalls nicht vorgebracht. Dem Vorbringen der BF ist nicht zu entnehmen, dass sich diese vor ihrer Ausreise politisch betätigten, etwa durch die Teilnahme an Demonstrationen oder regierungskritische Äußerungen, sodass sie nunmehr Gefahr liefen, ins Visier der Sicherheitskräfte zu geraten. Da es sich bei den Auseinandersetzungen um einen lokal begrenzten Konflikt handelt, ist es den BF jedenfalls zumutbar, sich in einen Bezirk zu begeben, der von diesen Geschehnissen nicht betroffen ist.

Auch ergaben sich keine Hinweise darauf, dass die BF einer gefährdeten Berufsgruppe angehören würden.

Soweit BF1 und BF 2 ihren Gesundheitszustand thematisieren, wird Folgendes erwogen:

 

Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung in den Irak nicht zulässig wäre, wenn durch die Überstellung eine existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.

 

Der VfGH fasste in seinem Erkenntnis vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9 die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammen und verweist insbesondere auf D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06.

 

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

 

Wie bereits erwähnt, geht der EGMR weiters davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet und kann nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen {EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964 („St. Kitts-Fall“)}. Im Zusammenhang mit einer Erkrankung des Beschwerdeführers nahm der EGMR außerordentliche, ausnahmsweise vorliegende Umstände im „St. Kitts-Fall“ an. Im Mai 1997 hatte der EGMR die Abschiebung eines HIV-infizierten Drogenhändlers, welcher laut medizinischen Erkenntnissen auch in Großbritannien bei entsprechender Behandlung nur mehr ca. 8 – 14 Monate zu leben gehabt hätte und sich somit im fortgeschrittenen Krankheitsstadium befand, aus Großbritannien auf seine Heimatinsel St. Kitts/kleine Antillen (Karibik) als "unmenschliche Behandlung" im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen. Die im zitierten Erkenntnis beschriebene außergewöhnliche, exzeptionale Notlage (er hätte dort keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Betreuung, nicht einmal zu einem Pflegebett gehabt hätte und wäre so qualvollst, einsam und in extremer Armut gestorben) die ihn dort erwarte, würde seine Lebenserwartung deutlich reduzieren und ihn psychischem und physischem Leiden aussetzen. Diese Abschiebung war daher in diesem Einzelfall unzulässig (EGMR 02.05.1997 -146/1996/767/964).

 

Auch der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter wären als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend (HUKIC gg. Schweden, 27.09.2005, Rs 17416/05).

Die BF3 bis BF5 brachten vor, gesund zu sein. BF1 gab an, unter hohem Blutdruck und hohen Cholesterinwerten zu leiden. BF2 legte Befunde für Asthma bronchiales, Migräne und ihre psychotherapeutische Therapie vor. Ihr wurden dafür Relpax 40mg, Symbicort Asthmaspray und Psychotherapie verordnet.

 

Wie unter 2.2. näher dargestellt, bleibt die medizinische Versorgung im Irak zwar angespannt, die BF haben als irakische Staatsbürger jedoch Zugang zum Gesundheitssystem. Den eingesehenen Berichten zufolge ist eine flächendeckende Versorgung mit Krankenhäusern bzw. Gesundheitszentren, wo die BF Behandlungen erhalten werden. Hinsichtlich der Asthmaerkrankung kann eine Behandlung im Irak fortgeführt werden, da sich dort unter anderem das Baghdad Medical City Hospital befndet, wo eine solche verfügbar ist.

 

Die genannten allgemeinen Ausführungen gelten sinngemäß auch beim Vorliegen psychischer Erkrankungen bzw. Störungen.

 

Die BF brachten auch während des gesamten Verfahrens nicht vor, dass sie in Sorge darüber wären, im Irak nicht die notwendigen Behandlungen ihrer Beschwerden vorzufinden.

 

Zur Verdeutlichung der vom EGMR gesetzten Schwelle sei hier aus der Application no. 7702/04 by SALKIC and others against Sweden zitiert, wo es um die Zulässigkeit der Abschiebung schwer traumatisierter und teilweise suizidale Tendenzen aufweisende Bosnier nach Bosnien und Herzegowina ging, wobei hier wohl außer Streit gestellt werden kann, dass das bosnische Gesundheitssystem dem schwedischen qualitätsmäßig erheblich unterliegt:

„Das Gericht ist sich bewusst, dass die Versorgung bei psychischen Problemen in Bosnien-Herzegowina selbstverständlich nicht den gleichen Standard hat wie in Schweden, dass es aber dennoch Gesundheitszentren gibt, die Einheiten für geistige Gesundheit einschließen und dass offensichtlich mehrere derartige Projekte am Laufen sind, um die Situation zu verbessern. Auf jeden Fall kann die Tatsache, dass die Lebensumstände der Antragsteller in Bosnien-Herzegowina weniger günstig sind als jene, die sie während ihres Aufenthaltes in Schweden genossen haben, vom Standpunkt des Art. 3 [EMRK] aus nicht als entscheidend betrachtet werden (siehe, Bensaid gegen Vereinigtes Königreich Urteil, oben angeführt, Art. 38).

Abschließend akzeptiert das Gericht die Schwere des psychischen Gesundheitszustandes der Antragsteller, insbesondere den der beiden Kinder. Dennoch mit Hinblick auf die hohe Schwelle, die von Art. 3 [EMRK] gesetzt wurde, besonders dort, wo der Fall nicht die direkte Verantwortlichkeit des Vertragsstaates für die Zufügung von Schaden betrifft, findet das Gericht nicht, dass die Ausweisung der Antragsteller nach Bosnien-Herzegowina im Widerspruch zu den Standards von Art. 3 der Konvention stand. Nach Ansicht des Gerichtes zeigt der vorliegende Fall nicht die in seinem Fallrecht festgelegten außergewöhnlichen Umstände auf (siehe, unter anderem, D. gegen Vereinigtes Königreich, oben angeführt, Art. 54). Dieser Teil des Antrages ist daher offenkundig unbegründet.“

 

Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen, bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. In der Beschwerdesache OVDIENKO gg. Finland vom 31.05.2005, Nr. 1383/04, wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der seit 2002 in psychiatrischer Behandlung war und der selbstmordgefährdet ist, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine ist kein ausreichendes „real risk“.

 

Im vorliegenden Fall konnten somit seitens der BF keine akut existenzbedrohenden Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung in den Irak belegt, respektive die Notwendigkeit weitere Erhebungen seitens des Bundesverwaltungsgerichts dargelegt werden. Aus der Aktenlage sind keine Hinweise auf das Vorliegen (schwerer) Erkrankungen im Sinne des Artikel 3 EMRK ersichtlich.

 

In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass der EGMR es für eine Art. 3 EMRK-konforme Überstellung ausreicht, dass Behandlungsmöglichkeiten [für Traumatisierte, hier aufgrund der identischen Interessenslage jedoch analog anwendbar] im Land der Überstellung verfügbar sind (vgl. Paramasothy v. Netherlands 10.11.2005; Ramadan Ahjeredine v. Netherlands, 10.11.2005, Ovidienko v. Finland 31.5.2005; Hukic v. Sweden, 27.9.2005), was im Herkunftsstaat hinsichtlich der von der bP vorgebrachten Erkrankung offensichtlich der Fall ist (vgl, etwa die bereits erörterte Berichtslage zum Gesundheitswesen im Herkunftsstaat.) und führte der EGMR in Bezug auf jene Fälle, welche in welchen außergewöhnliche, exzeptionelle Umstände im Lichte des Art 3 EMRK (vgl. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“]) im Urteil Paposhvili v. Belgium (no. 41738/10, GC) vom 13 Dezember 2016 aus, dass der tatsächliche Zugang der Partei zu medizinischer Versorgung realistischer Weise erwartbar sein muss, wobei hier festzuhalten ist, dass bloß spekulative Erwägungen in Bezug auf den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung auszublenden sind (Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 27. Mai 2008, N. v. The United Kingdom, Nr. 26.565/05).

 

Im Gegenständlichen Fall besteht im Lichte der Berichtslage kein Hinweis, dass die BF vom Zugang zu medizinsicher Versorgung im Irak ausgeschlossen wären und bestehen auch keine Hinweise, dass die seitens der BF beschriebenen Krankheiten nicht behandelbar wären. Auch faktisch Hindernisse, welche das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person der BF gelegenen Umständen kamen nicht hervor.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch die BF selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in den Irak jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.

Die BF1 und BF2 sind arbeits- und anpassungsfähige Menschen mit ausgezeichneter Schulbildung und Universitätsabschluss. Die grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme am Erwerbsleben kann in Ansehung der BF vorausgesetzt werden, zumal BF1 im Irak als Beamter gearbeitet hat.

Das Bundesverwaltungsgericht geht, wie beweiswürdigend unter 2.8. eingehend erörtert, davon aus, dass die BF im Irak grundsätzlich in der Lage sein werden, sich mit eigener Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts und dem Auskommen der Familie zu erwirtschaften. Ferner ist davon auszugehen, dass die BF – zumindest für die Phase einer ersten Orientierung – Unterstützung durch die in Bagdad lebenden Verwandten finden werden.

Das Bundesverwaltungsgericht geht demnach davon aus, dass die BF im Irak und dort in Bagdad grundsätzlich in der Lage sein werden, sich mit vereinten Kräften ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts und des Auskommens der Familie zu erwirtschaften, entweder als unselbständige Arbeitnehmer oder einer ihnen offenstehenden Inanspruchnahme von Starthilfe des ERIN-Projektes durch den Aufbau eines eigenen Geschäfts. Ferner ist davon auszugehen, dass sie bei den dort aufhältigen Verwandten – den Geschwistern des BF1 und Eltern und Geschwistern von BF2 - Unterstützung durch Zurverfügungstellung von Wohnraum und Nahrung finden werden. Darüber hinaus ist es den BF jedenfalls zuzumuten, ihr Auskommen nach Inanspruchnahme der Starthilfe des ERIN-Projektes auch ohne familiäre Unterstützung durch eigene Erwerbstätigkeiten zu bestreiten. Sie werden jedenfalls auch sozialen Anschluss in Bagdad in Gestalt der dort lebenden Verwandten und deren Familie vorfinden. Zudem ist davon auszugehen, dass die BF auch noch über einen gewissen Bekanntenkreis dort verfügen. Wie beweiswürdigend näher dargelegt, konnten die im Verfahren getätigten Angaben – der Clan von BF1 habe diesen ausgeschlossen – nicht geglaubt werden.

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen nicht vor. Soweit in den Feststellungen zur Lage im Irak abschnittsweise auf eine prekäre Versorgungssituation hingewiesen wird, ergibt sich aus den diesbezüglichen Feststellungen klar, dass diese Unzulänglichkeiten die zuletzt umkämpften und vormals unter der Kontrolle des Islamischen Staates stehenden Gebiete vorwiegend betreffen und nicht die Hauptstadt Bagdad bzw. die südlichen Gouvernements des Irak. Dass die Versorgungssituation in Bagdad an sich unzureichend sei, wurde auch gar nicht vorgebracht. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird in diesem Zusammenhang auch auf die beweiswürdigenden Überlegungen unter 2.8. zur sozioökonomischen Lage in Bagdad verwiesen.

Im vorliegenden Fall ist daher insbesondere zu berücksichtigen, dass unter den BF minderjährige Kinder - somit Angehörige einer besonders vulnerablen und besonders schutzbedürftigen Personengruppe - sind. Daher ist eine konkrete Auseinandersetzung mit der Rückkehrsituation, die die minderjährigen BF bzw. die Familie mit minderjährigen Kindern im Heimatstaat tatsächlich vorfinden würden, erforderlich.

Im gegenständlichen Fall sind die Eltern und die Kinder irakische Staatsbürger; es sind alle im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen und teilen die Kinder somit das sozioökonomische Schicksal der Eltern. Wie beweiswürdigend näher ausgeführt, ist die Grundversorgung mit Nahrung und medizinische Versorgung im Irak gegeben und steht den schulpflichtigen Kindern auch ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schulsystem offen. Eine Verletzung des Kindeswohles ist daher nicht ersichtlich. Auch aufgrund der Sicherheitslage ist eine Verletzung des Kindeswohls nicht zu besorgen.

Aufgrund der getroffenen Ausführungen ist davon auszugehen, dass die beschwerdeführenden Parteien nicht vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) damit rechnen müssen, in ihrem Herkunftsstaat mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr im Sinne des § 8 AsylG ausgesetzt zu sein, weshalb die Gewährung von subsidiären Schutz ausscheidet.

3.2.6. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.

Weder droht ihnen im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen, sodass der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu Recht abgewiesen wurde.

3.3. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:

3.3.1. Die Einreise der BF in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Bisher stützte sich der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet alleine auf die Bestimmungen des AsylG für die Dauer seines nunmehr abgeschlossenen Verfahrens. Ein sonstiger Aufenthaltstitel ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt der BF im Bundesgebiet mehr vor und unterliegt dieser damit nicht dem Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.

Gemäß § 10 Absatz 1 Z 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).

Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).

Die BF brachten nicht vor, dass in Österreich Angehörige oder Verwandte leben, welche vom Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK erfasst wären. Lediglich zwei Cousins der BF2 leben in Österreich. Zu diesen besteht laut ihrer eigenen Aussage jedoch kein Kontakt. Angesichts dessen war im gegenständlichen Fall eine mögliche Verletzung des Rechts der BF auf ein Familienleben in Österreich mangels familiärer Bindungen zu verneinen. Sohin ist zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht der BF auf ein Privatleben in Österreich darstellt.

3.3.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).

Hinsichtlich der Abwägung der öffentlichen Interessen mit jenen des Berufungswerbers ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass Asylwerber und sonstige Fremde nicht schlechthin gleichzusetzen sind. Asylwerber hätten regelmäßig ohne Geltendmachung von Asylgründen keine rechtliche Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Soweit die Einreise nicht ohnehin unter Umgehung der Grenzkontrolle oder mit einem Touristenvisum stattgefunden hat, ist Asylwerbern der Aufenthalt bloß erlaubt, weil sie einen Asylantrag gestellt und Asylgründe geltend gemacht haben. Sie dürfen zwar bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung weder zurückgewiesen, zurückgeschoben noch abgeschoben werden, ein über diesen faktischen Abschiebeschutz hinausgehendes Aufenthaltsrecht erlangen Asylwerber jedoch lediglich bei Zulassung ihres Asylverfahrens sowie bis zum rechtskräftigen Abschluss oder bis zur Einstellung des Verfahrens. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehene Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Grund dieser Besonderheit Asylwerber und andere Fremde unterschiedlich behandelt (VfSlg. 17.516/2005).

3.3.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vgl. VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.

Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).

Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen (vgl. auch VfSlg. 19.357/2011).

Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).

Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es den BF bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn sie sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätten und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.

Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).

Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).

Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.

3.3.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung des Beschwerdeführers ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:

Die BF reisten im Oktober 2015 rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und stellten in der Folge ihre Anträge auf internationalen Schutz. Sie sind seither als Asylwerber in Österreich aufhältig. Das Gewicht des fünfjährigen faktischen Aufenthalts der BF in Österreich ist noch dadurch abgeschwächt, dass sie den Aufenthalt durch unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchten, sie konnten alleine durch die Stellung seines Antrags jedoch nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung ihres Aufenthalts ausgehen.

Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt ohne dem Dazutreten weiterer maßgeblicher Umstände nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2016/19/0031 mwN).

BF1und BF2 besuchten Deutschkurse und legten eine Prüfung zum Sprachniveau A1 ab. Sie haben auch einen Werte- und Orientierungskurs absolviert. BF3 hat ebenso die Integrationsprüfung A1 erfolgreich absolviert. Es war auch davon auszugehen, dass sich BF3-BF5 in der Schule und im Freundeskreis gut verständigen kann.

Die BF verfügen im Inland über normale soziale Kontakte. Sie sind für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und haben hier keine Verwandten.

Bis auf das Spielen des BF4 in der U15 des SC St. Pölten Inkasso Blum war ein vereinsmäßiges Engagement nicht feststellbar. Genausowenig betätigten sich die BF karitativ.

BF3-BF5 gehen zur Schule.

Keiner der BF geht im Inland einer Beschäftigung nach.

Seit ihrer Ankunft in Österreich beziehen die BF Leistungen aus der Grundversorgung.

Im Fall von BF1 und BF2 wurden weder Einstellungszusagen vorgelegt noch wurde über konkrete Pläne für die Aufnahme einer Berufstätigkeit berichtet.

Insgesamt konnte daher bei den BF nicht mit der gebotenen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie sich nachhaltig beruflich integrieren und so ein Einkommen erwirtschaften, mit dem sie sich selbst erhalten können.

Die BF verbrachten den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat, wurden dort sozialisiert und sprechen die Mehrheitssprache ihrer Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Ebenso war festzustellen, dass sie dort über Bezugspersonen in Form von Angehörigen verfügt. Es deutete daher nichts darauf hin, dass es den BF im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren. Aufgrund der Präsenz von nahen Angehörigen im Herkunftsstaat ist, wie beweiswürdigend dargelegt, auch gegenwärtig von starken Bindungen zu diesen auszugehen, wobei eine Existenzgrundlage der BF bereits vorstehend bejaht wurde (siehe dazu die Ausführungen unter Punkt 2.7, vgl. VwGH 31.08.2017, Ra 2016/21/0296, zur Maßgeblichkeit der Bindungen zum Herkunftsstaat vgl. auch VwGH 22.02.2011, Zl. 2010/18/0323).

Soweit die BF über private Bindungen in Österreich verfügt ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in den Irak gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die BF hierdurch gezwungen werden, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.) aufrecht zu erhalten.

Im Hinblick auf die minderjährigen BF ist bereits an dieser Stelle festzuhalten, dass es sich bei BF3 um einen mittlerweile jungen Mann handelt, der elf Jahre seines Lebens im Herkunftsland verbrachte. Auch BF4 verbrachte immerhin neun Jahre lang im Irak und begann dort mit der Schule. BF5 befindet sich in einem in einem anpassungsfähigen Alter (vgl. dazu statt aller VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0059), worauf in den Erwägungen zur Rechtlichen Beurteilung noch näher einzugehen sein wird. Alle minderjährigen BF hinterließen vor dem Bundesverwaltungsgericht auch einen lebhaften und aufgeschlossenen Eindruck.

Dass BF5 auf Deutsch antwortet, wie in der mündlichen Verhandlung zu sehen war, ist nachvollziehbar, zumal das Kind mit etwa dreieinhalb Jahren aus dem Herkunftsland ausreiste. Dennoch ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass auch BF5 im Herkunftsstaat geboren wurde und sie über ihre Eltern und die Geschwister die Kultur und Sprache des Herkunftslandes auch über den Zeitpunkt der Ausreise hinaus vermittelt bekam.

Da wie bereits zuvor dargelegt, anzuzweifeln war, dass die BF aus Angst vor den Milizen ihr Haus verlassen mussten, ist anzunehmen, dass sie dahin wieder zurückkehren können und auch Wiederaufnahme in ihren Familienverband finden werden. Es ist anzunehmen, dass die BF noch über einen gewissen Freundes- und Bekanntenkreis verfügen, da sie dort gelebt, gearbeitet und zur Schule gegangen sind. Die BF werden daher nicht völlig isoliert sein, sondern umgehend sozialen Anschluss im Fall einer Rückkehr nach Bagdad vorfinden, sodass Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung ausgeschlossen werden können.

In Anbetracht der gemeinsamen Rückkehr im Familienverband kann auch davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Anwesenheit sämtlicher Bezugspersonen keine das Kindeswohl beeinträchtigende Entwurzelung eintritt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162,). Im Detail wird hiezu auf die Erwägungen in der Rechtlichen Beurteilung verwiesen.

Es ist im Rahmen einer Gesamtschau zwar festzuhalten, dass eine raschere Erledigung des Asylverfahrens beim Vorhandensein entsprechender Ressourcen denkbar ist, dennoch ist im gegenständlichen Fall aufgrund des Vorbringens der BF, sowie ihrem Verhalten im Verfahren davon auszugehen, dass kein Sachverhalt vorliegt, welcher die zeitliche Komponente im Lichte der Erkenntnisse des VfGH B 950-954/10-08 bzw. B1565/10, in den Vordergrund treten ließe, dass aufgrund der Verfahrensdauer im Rahmen der Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK von einem Überwiegen der privaten Interessen der BF auszugehen wäre (in Bezug auf ein gewisses Behördenverschulden in Bezug auf die Verfahrensdauer vgl. auch bei Vorliegen weitaus engeren Bindungen im Sinne des Art. 8 EMRK und einem ca. zehnjährigen Aufenthalt im Staat der Antragstellung das Urteil des EGMR Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).

In Bezug auf die strafrechtliche Unbescholtenheit der BF ist anzumerken, dass der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält. Zu Lasten eines Fremden ins Gewicht fallen demnach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht (VwGH 27.02.2007, Zl. 2006/21/0164 mwN, wonach das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).

Zum Schulbesuch der BF3-BF5 ist festzuhalten, dass ein Besuch der Schule bis zum Abschluss der Pflichtschule die Erfüllung einer durchsetzbaren gesetzlichen Verpflichtung darstellt, welcher im Rahmen der Interessensabwägung nur sehr untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH v. 26.9.2007 2006/21/0288 mwN).

 

Die BF gaben an, dass sie viele Freunde in Österreich haben und weist dies darauf hin, dass sie sich im Rahmen ihres Aufenthaltes eine gewisse soziale Vernetzung im Bundesgebiet aufbauten, eine außergewöhnliche Integration ist hieraus jedoch nicht entnehmbar.

Die BF erlernten mit unterschiedlichem Engagement und Erfolg die Deutsche Sprache. BF1 bis BF3 besuchten Deutschkurse. BF1-BF3 haben die Prüfung für das ÖSD Zertifikat A1 bestanden. Dass sich die BF3-BF5 im Alltagsleben gut verständigen kann war aufgrund der Tatsche anzunehmen, dass er in Österreich die Schule besucht.

 

In diesem Zusammenhang sei jedoch auch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die – hier nicht vorhandenen – Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Der Rechtsposition der BF im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüber. Auch wenn die BF über soziale Kontakte und Sprachkenntnisse verfügen, stehen dem die unberechtigte Antragstellung, die unrechtmäßige Einreise, dass auch nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass die BF nach Erhalt eines Aufenthaltstitels ein Einkommen erzielen werden, mit dem ihr Auskommen bzw. das Auskommen der Familie gesichert ist sowie der erst relativ kurze Aufenthalt im Bundesgebiet (fünf Jahre), währenddessen sich die BF – insbesondere nach Erhalt der angefochtenen Bescheide – der Ungewissheit seines weiteren Verbleibes im Bundesgebiet bewusst gewesen sein musste, sowie die Vertretbarkeit des Eingriffs in die im Bundesgebiet vorhandenen Bindungen gegenüber.

Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes würde es ferner einen Wertungswiderspruch und eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung von Fremden, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, darstellen, zumal diese letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007; vgl. dazu auch VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde). Dem Beschwerdeführer steht es ferner – wie bereits angesprochen – frei, sich um einen weiteren rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu bemühen und die dafür gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltstitel zu beantragen.

Im Rahmen einer Abwägung dieser Fakten anhand des Art. 8 Abs. 2 EMRK sowie nach Maßgabe der im Sinne des § 9 BFA-VG angeführten Kriterien gelangt das Bundesverwaltungsgericht – wie bereits das belangte Bundesamt – zum Ergebnis, dass die individuellen Interessen der BF im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht so ausgeprägt sind, dass sie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der österreichischen aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen überwiegen.

3.3.5. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen. § 10 Abs. 1 AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn etwa – wie hier – der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen wird (Z. 3 leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird.

Im Ermittlungsverfahren sind keine Umstände zu Tage getreten, welche auf eine Verwirklichung der in § 57 Abs. 1 AsylG 2005 alternativ genannten Tatbestände hindeuten würden, insbesondere wurde von den BF selbst nichts dahingehend dargetan. Den BF ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen.

3.3.6. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 iVm § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.

3.3.7. Die belangte Behörde hat in ihrer Entscheidung im Übrigen richtig erkannt, dass eine Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zu unterbleiben hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 12.11.2015, Zl. Ra 2015/21/0101, dargelegt hat, bietet das Gesetz keine Grundlage dafür, in Fällen, in denen eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG erlassen wird, darüber hinaus noch von Amts wegen negativ über eine Titelerteilung nach § 55 AsylG 2005 abzusprechen.

4. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat die bB mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).

 

Gemäß § 50 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 EMRK oder Art 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (Abs 1), wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Abs 2) oder solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht (Abs 3).

 

Im gegenständlichen sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs. 9 iVm. § 50 FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in den Irak unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in gegenständlichen Beschwerden nicht schlüssig dargelegt und wurden bzw. werden hierzu bereits an entsprechend passenden Stellen des gegenständlichen Erkenntnisses Ausführungen getätigt, welche die in § 50 Abs. 1 und 2 FPG erforderlichen Subsumtionen bereits vorwegnehmen.

 

Es kamen keine Umstände hervor, die im Abschiebungsfall zu einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK führen würden und wird auf die Ausführungen im Rahmen des subsidiären Schutzes verwiesen. Es kamen auch keine Umstände hervor, welche insbesondere beim Ausspruch betreffend die Abschiebung zu berücksichtigen gewesen wären.

 

Eine im § 50 Abs. 3 FPG genannte Empfehlung des EGMR liegt ebenfalls nicht vor.

5. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die die Drittstaatsangehörigen bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch in der Beschwerdeschrift kein Vorbringen erstattet.

6. Der angefochtene Bescheid erweist sich ob der vorstehenden Ausführungen als rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen ist.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, vorstehend im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das zur Entscheidung berufene Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zum Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht.

Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.

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