European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00199.22D.0515.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG
Spruch:
I. Den Rekursen wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben, und es wird in der Sache dahin erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 12.757,50 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 6.104 EUR Pauschalgebühr) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
II. Die klagende Partei wird mit ihrem Revisionsrekurs auf die Entscheidung über ihren Rekurs verwiesen.
Der Antrag der beklagten Partei auf Zuspruch der Kosten für die Revisionsrekursbeantwortung wird abgewiesen.
Entscheidungsgründe:
[1] Ende 2019 trat in China eine bis dahin unbekannte Erkrankung auf, die durch das Coronavirus SARS-CoV‑2 verursacht wird und deshalb später die Kurzbezeichnung COVID-19 erhielt. Diese von Mensch zu Mensch übertragbare Krankheit breitete sich rasch weltweit aus.
[2] Am 25. 1. 2020 empfahl das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) allen Mitgliedstaaten der Union, sich auf eine Einschleppung des neuen Virus vorzubereiten. Am 26. 1. 2020 riet es ihnen darüber hinaus, ihre Testkapazitäten zu überprüfen und auszubauen, etwaige Verdachtsfälle über das Europäische Frühwarn- und Reaktionssystem EWRS zu melden und bei positiv Getesteten eine Kontaktpersonennachverfolgung („Contact Tracing“) vorzunehmen.
[3] Noch am selben Tag erließ der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz die Verordnung BGBl II 2020/15, mit der Verdachts-, Erkrankungs- und Todesfälle an COVID-19 (dort noch bezeichnet als „2019‑nCoV“) der Anzeigepflicht nach dem Epidemiegesetz 1959 (EpiG) unterworfen wurden. Mit der weiteren Verordnung BGBl II 2020/21 wurde „2019‑nCoV“ in die Verordnung betreffend die Absonderung Kranker, Krankheitsverdächtiger und Ansteckungsverdächtiger und die Bezeichnung von Häusern und Wohnungen aufgenommen und so die Möglichkeit geschaffen, Absonderungsmaßnahmen nach § 7 EpiG auch wegen SARS‑CoV‑19‑Infektionen zu verfügen.
[4] Am 30. 1. 2020 erklärte die WHO den Ausbruch des neuartigen Coronavirus zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite.
[5] Der erste dokumentierte Fall einer Erkrankung an COVID‑19 in Österreich betraf eine Person, die sich in Deutschland bei einer chinesischen Staatsangehörigen angesteckt und danach vom 24. bis 26. 1. 2020 in Kühtai (Tirol) aufgehalten hatte. Zwei weitere aus Italien „importierte“ Fälle wurden am 25. 2. 2020 in Innsbruck diagnostiziert. Am 27. 2. 2020 wurden die ersten drei Fälle in Wien entdeckt.
[6] Es folgt eine Chronologie der relevanten Ereignisse:
Dienstag, 3. 3. 2020: An diesem Tag langte im Gesundheitsministerium eine erste EWRS‑Meldung aus Island ein, wonach es dort insgesamt 16 COVID‑19‑Fälle gebe, die allesamt ihren Ursprung in (nicht näher bezeichneten) Skiregionen in Norditalien und Österreich hätten. Sieben von ihnen seien „in Österreich“ gewesen. Mangels näherer Ortsangaben leitete das Ministerium diese Meldung innerhalb Österreichs nicht weiter.
Donnerstag, 5. 3. 2020: Um 0:32 Uhr leitete das Gesundheitsministerium eine von Island im EWRS gesendete Meldung an den Leiter und eine Mitarbeiterin der Landessanitätsdirektion Tirol weiter, wonach acht Gäste aus Island, die ihren Urlaub in Ischgl verbracht hatten, nach ihrer Rückkehr positiv auf SARS‑CoV‑2 getestet worden waren. Um 8:02 Uhr antwortete die Mitarbeiterin der Landessanitätsdirektion darauf mit dem Ersuchen um mehr Informationen, und zwar vor allem, wann, wo und wie lange die Personen in Ischgl gewesen seien und mit wem sie dort Kontakt über 15 Minuten gehabt hätten. Um 9:53 Uhr ersuchte dieselbe Mitarbeiterin das Gesundheitsministerium um mehr Informationen, insbesondere auch zu den Flügen und den Zeitpunkten der Erkrankung der Betroffenen. Um 14:26 Uhr kam ein Antwortmail aus dem Ministerium, wonach die Anfrage in den zuständigen Stellen bearbeitet werde. Um 14:58 Uhr urgierte die Landessanitätsdirektion mit folgendem Mail: „Lässt sich die Sache irgendwie beschleunigen??“
In einer Stabssitzung der Landeseinsatzleitung um 10:00 Uhr war unter anderem auch die Meldung Islands im EWRS Thema. Besprochen wurde, dass noch auf Informationen aus dem Gesundheitsministerium gewartet werde. Seitens der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit wurde in der Sitzung geäußert, „betreffend die unklaren Fälle“ wie Ischgl „sollte eher angedacht werden, derzeit nichts zu kommunizieren, sondern erst, wenn man konkrete Anhaltspunkte und Fakten hat“.
Um 10:20 Uhr langte ein Mail eines Gastes beim Tourismusverband (TVB) Ischgl mit einem verlinkten Zeitungsbericht aus Island ein, demzufolge eine Urlaubergruppe von acht Personen nach vorherigem Aufenthalt in Ischgl positiv auf das Coronavirus getestet worden sei. Selbiges teilte am späten Vormittag das isländische Gesundheitsministerium dem TVB telefonisch mit. Der TVB informierte darüber die Polizeiinspektion Ischgl, die den Einsatzstab der LPD Tirol, den Bezirkspostenkommandanten von Landeck und den Bezirkshauptmann als Gesundheitsbehörde verständigte. Um 13:44 Uhr wurde seitens des Einsatzstabes der LPD Tirol mitgeteilt, dass acht positive Fälle mit Ischgl-Bezug über das Außenministerium bestätigt werden könnten.
Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol informierte um 14:25 Uhr unter anderem den Leiter des Amtes der Tiroler Landesregierung, die Landeswarnzentrale und die Landessanitätsdirektion von Berichten in isländischen Zeitungen über Verbindungen von Coronaerkrankungen isländischer Gäste zu Ischgl. Mit Mail von 14:38 Uhr schrieb die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol an die Tirol Werbung, es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, „bis das aufschlägt“. Sie bereite bereits eine erste Stellungnahme vor.
Der Bezirkshauptmann von Landeck informierte mit Mail von 14:39 Uhr den Leiter des Amtes der Tiroler Landesregierung, dass mit Touristikern, Bürgermeister und Polizei vereinbart worden sei, alle isländischen Urlauber in der Zeit vom 10. 2. bis 28. 2. 2020 mit Namen und Adresse (Telefonnummer), An- und Abreiseart sowie Dauer des Aufenthalts in Ischgl zu erheben.
Um 14:57 und 15:04 Uhr übermittelten zwei Hotels in Ischgl dem TVB Mails einer isländischen Reiseleiterin (vom 3. und 4.3.), wonach nach ihrer Rückkehr nach Island (erstmals) symptomatische und positiv getestete Isländer davon in Kenntnis gesetzt worden seien, dass sich bei ihrer Heimreise eine infizierte Person im Flugzeug befunden habe, die aus einem Skigebiet in Italien gekommen sei. Diese Mails übermittelte der TVB um 15:45 Uhr an den Bezirkshauptmann von Landeck. Der Bezirkshauptmann leitete das Mail um 15:51 Uhr an den Tiroler Landesamtsdirektor mit folgender Nachricht weiter:
„Lieber H*, nach Rücksprache mit HLH hier die beiden E-Mails von zwei infizierten Personen. Sie geben an im Flugzeug von München nach Island infiziert worden zu sein. Das wäre für eine allfällige Presseaussendung der Abt.Öff. wichtig. Damit hätten wir Ischgl vorerst aus dem Schussfeld. Die Liste der Gäste habe ich noch nicht. Vor einer Presseaussendung sollte ich darüber schauen können über Bitte des TVB Ischgl. […]“
Um 15:57 Uhr übermittelte eine Mitarbeiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol einen (zweiten) Entwurf einer Medienaussendung an den Büroleiter des Landeshauptmanns von Tirol und an den Leiter der Landessanitätsdirektion Tirol mit der Überschrift „Coronavirus: Isländische Gäste im Tiroler Oberland dürften sich bei Rückreise mit Coronavirus angesteckt haben“, nachdem ein erster Entwurf eine mögliche Ansteckung im Flugzeug auf der Heimreise noch nicht thematisiert hatte, weil die Mails der isländischen Reiseleiterin noch nicht vorgelegen hatten.
Um 15:58 Uhr ging bei der Landessanitätsdirektion folgendes Mail des Gesundheitsministeriums ein:
„hier die erste Info aus Island, etwas konfus aber Hotelnamen, Aufenthaltszeit, Symptombeginn:
Dear colleagues, we have a total of 14 cases with travel history to Ischgl via Munich:
Arrival 21.2. return 1.3. via München – two cases. 1 symptom onset 26.2. Hotel R, second 3.3.
Hotel Gr Arrival 22.2. 12 cases - all return via München, see dates of return below
3 Hotel GM - return to Iceland 29.2. 1 case onset 29.2., others 2.3. and 3.3.
7 Hotel N - return to Iceland 29.2. All symptom onset 2.- 3.3.
1 Hotel GV - return to Iceland 29.2. Symptom onset 3.3.
1 Hotel Gr - return to Iceland 1.3., symptom onset 3.3.
In some cases transmission between these individuals cannot be excluded, that is for persons travelling together, however, the contact tracing team reports that these individuals were not travelling as a group and there was no specific contact between the families while in Ischgl. We have additional positive samples today, but as yet we do not have the results of the contact tracing interviews. If any are related to travel to Austria we will let you know on this thread again.“
Die Landessanitätsdirektion leitete dieses Mail um 16:13 Uhr an die Bezirkshauptmannschaft Landeck, den Amtsarzt, den Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol und den Leiter des Amtes der Tiroler Landesregierung weiter.
Um 16:17 Uhr und um 16:32 Uhr übermittelte die Mitarbeiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol zwei weitere Entwürfe zu einer Medienaussendung an den Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol und an den Büroleiter des Landeshauptmanns von Tirol jeweils mit der Überschrift „Coronavirus: Isländische Gäste im Tiroler Oberland dürften bei Rückflug im Flugzeug mit Coronavirus angesteckt haben“ [sic]. In beiden Entwürfen war von acht Personen aus Island die Rede, die nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub im Tiroler Oberland als Teil einer 26-köpfigen Reisegruppe positiv auf das Coronavirus getestet worden seien. Der letzte Entwurf enthielt die Passage: „Nach ersten Erhebungen und Gesprächen mit den betroffenen Personen gibt es Grund zur Annahme, dass sich die acht Personen bei ihrer Rückreise im Flugzeug von München nach Reykjavik angesteckt haben.“
Der Büroleiter des Landeshauptmanns von Tirol schickte um 17:14 Uhr unter Bezugnahme auf das weitergeleitete Mail des Gesundheitsministeriums ein Mail an die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol und den Landesamtsdirektor mit dem Inhalt:
„Bitte anschauen:
Arrival 21.2. return 1.3. via München – two cases. 1 symptom onset 26.2. Hotel (…), second 3.3., Hotel (…).
Das würde doch ausschließen, dass sie sich im Flieger angesteckt haben wenn es die ersten Symptome am 26.2. gab?“
Um 17:44 Uhr verlautbarte das Amt der Tiroler Landesregierung folgende – vom Bezirkshauptmann von Landeck per Mail um 17:26 Uhr abgesegnete – amtliche Medienmitteilung:
„Coronavirus: Isländische Gäste im Tiroler Oberland dürften sich bei Rückflug im Flugzeug mit Coronavirus angesteckt haben
14 Personen aus Island, die bereits am Wochenende wieder abreisten, verbrachten vergangene Woche ihren Skiurlaub im Tiroler Oberland. Nach ihrer Rückkehr nach Island wurden mehrere Personen positiv auf das Coronavirus getestet. Nach ersten Erhebungen und infolge einer schriftlichen Information vonseiten eines Betroffenen an den Beherbergungsbetrieb dürfte sich die Ansteckung erst im Flugzeug bei der Rückreise von München nach Reykjavik ereignet haben. 'Unter dieser Annahme erscheint es aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist', so Landessanitätsdirektor F* K*. Konkret befand sich beim Rückflug ein aus dem Italienurlaub kommender und am Coronavirus erkrankter Fluggast an Bord – die Fluggäste wurden vonseiten der Fluglinie darüber informiert. Derzeit finden weitere behördliche Abklärungen statt.“
Um 17:41 Uhr informierte die Österreichische Botschaft Kopenhagen ua das Büro des Landeshauptmanns darüber, dass die isländische Gesundheitsbehörde Ischgl als Hochrisikogebiet eingestuft habe. Um 17:51 Uhr bestätigte die isländische Gesundheitsbehörde, dass einer der betroffenen Gäste noch in Ischgl erste Symptome gezeigt habe. Unterdessen erhob die Bezirkshauptmannschaft Landeck, dass von insgesamt 90 isländischen Gästen, die ab dem 10. 2. 2020 in Ischgl genächtigt hatten, nur zwei – und zwar nicht wegen COVID‑19‑Symptomen – den ortsansässigen Arzt aufgesucht hatten.
Abgesehen von den bereits abgereisten Isländern gab es im Bezirk Landeck an diesem Tag sieben Verdachtsfälle von COVID‑19, von denen keiner bestätigt war.
Freitag, 6. 3. 2020: Am frühen Nachmittag erhielt die Polizeiinspektion Ischgl erstmals eine Liste mit den Namen der mittlerweile 14 erkrankten isländischen Urlaubsgäste (samt Anreisedatum, jeweiliges Hotel und Datum der ersten Symptome) und begann sofort mit der Ermittlung von Kontaktpersonen in den jeweiligen Hotels anhand von Fragebögen. Gegen 17:10 Uhr lagen die ausgefüllten Fragebögen vor. Daraus ging hervor, dass lediglich eine als Zimmermädchen beschäftigte Frau leichte Beschwerden angegeben hatte. Der zuständige Amtsarzt ordnete ihre Isolierung und Testung an.
Am Abend (knapp vor 21:30 Uhr) erfuhr die Landessanitätsdirektion, dass drei positiv getestete norwegische Studenten, die sich in Tirol aufhielten, am 28. 2. 2020 in Ischgl Skifahren gewesen waren. Einer von ihnen hatte die ersten Symptome am 2. 3. 2020, die anderen ungefähr zur selben Zeit. Sie hatten sich davor in Italien, insbesondere in der Lombardei, aufgehalten.
Gleichzeitig erhielt die Polizeiinspektion Ischgl die Information, dass am 27. 2. 2020 eine Gruppe von zwölf isländischen Urlaubsgästen das Lokal „Ki*“ in Ischgl besucht habe und nun zehn Personen aus dieser Gruppe positiv auf Corona getestet worden seien. Eine erste ärztliche Abklärung ergab grippeähnliche Symptome bei einem im „Ki*“ beschäftigten Mitarbeiter. Dieser wurde sofort und noch einmal am nächsten Morgen getestet.
Samstag, 7. 3. 2020: Am Abend stand fest, dass der am Vortag getestete Mitarbeiter des „Ki*“ an COVID‑19 erkrankt war. Er war zu diesem Zeitpunkt die einzige positiv getestete Person, die sich im Bezirk Landeck aufhielt. Das daraufhin durchgeführte Contact Tracing ergab 19 Kontaktpersonen, von denen elf Symptome aufwiesen. Alle wurden angewiesen, sich zu isolieren.
Am späten Abend wurden die Medien über die positive Testung eines „Norwegers“ in Ischgl [damit war der Mitarbeiter des „Ki*“ gemeint] informiert. Der Betroffene sei umgehend isoliert und zur weiteren Behandlung in die Innsbrucker Klinik gebracht worden. Sein Krankheitsverlauf sei sehr mild. Seine engen Kontaktpersonen seien unter Quarantäne gestellt und für 14 Tage isoliert worden; die übrigen Kontaktpersonen seien über Hygiene- und Verhaltensmaßnahmen informiert und angehalten worden, ihren Gesundheitszustand zu beobachten. Damit seien in Tirol aktuell sechs Personen am Coronavirus erkrankt und zwei weitere bereits genesen.
Sonntag, 8. 3. 2020: In einer weiteren Medieninformation wurde nun erstmals das „Ki*“ als jene Bar genannt, in der der erkrankte „Norweger“ als „Barkeeper“ gearbeitet habe. Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar sei laut Aussage einer Mitarbeiterin der Landessanitätsdirektion Tirol „aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“. Dennoch wurden alle, die sich vom 15. 2. bis 7. 3. 2020 in der Bar aufgehalten hätten und aktuell grippeähnliche Symptome aufwiesen, aufgerufen, sich an die Gesundheitshotline 1450 zu wenden und ihren Gesundheitszustand abzuklären.
Das gesamte Personal des „Ki*“ wurde getestet und behördlich unter Quarantäne gestellt. Nachdem im Lokal selbst eine Flächendesinfektion durchgeführt worden war, durfte der Betreiber am Abend des 8. 3. 2020 mit anderem Personal den Betrieb vorerst wieder aufnehmen.
Montag 9. 3. 2020: Gegen 14:30 Uhr lagen die Testergebnisse aller Kontaktpersonen aus dem „Ki*“ vor; 16 davon waren positiv. Somit waren insgesamt 17 Personen im Bezirk Landeck positiv getestet worden; weiters gab es 43 Verdachtsfälle. Die Bezirkshauptmannschaft Landeck ordnete daraufhin mit Bescheid die sofortige Schließung des Lokals bis einschließlich 15. 3. 2020 an.
Dienstag, 10. 3. 2020: Mit Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Landeck wurde in Ischgl die zulässige Personenkapazität in öffentlichen Verkehrsmitteln einschließlich Kabinenseilbahnen auf die Hälfte reduziert und die unverzügliche Einstellung des Après‑Ski‑Betriebs in allen Lokalen angeordnet. Das Zuwiderhandeln wurde unter Strafe gestellt und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes mit der Überwachung dieser Beschränkungen beauftragt. Diese Verordnung trat am nächsten Tag in Kraft.
Mittwoch, 11. 3. 2020: Am 11. 3. 2020 erklärte die WHO den Ausbruch von SARS‑CoV‑2 zu einer Pandemie. In Österreich wurde mit einer weiteren, noch am selben Tag kundgemachten Verordnung gemäß § 15 EpiG die Durchführung von Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen in geschlossenen Räumen und mehr als 500 Personen außerhalb geschlossener Räume untersagt. Inzwischen waren die als positiv registrierten Fälle im Bezirk Landeck auf 25 angestiegen; es gab schon 79 Verdachtsfälle. In der Folge strömten die Menschen vor den geschlossenen Lokalen zusammen. Wegen des wetterbedingt starken Personenverkehrs und weil dadurch nur eine Verlagerung hätte erzielt werden können, nahm die Polizei davon Abstand, die Menschenansammlungen zu zerstreuen.
Der Landeshauptmann von Tirol hielt am 11. 3. 2020 eine Pressekonferenz ab, in der er darauf hinwies, dass die Infektionszahlen in Tirol gestiegen seien und ein Großteil der Neuinfektionen aus dem Umfeld von Ischgl stammten. Es werde daher der Skibetrieb in Ischgl ab 14. 3. 2020 untersagt. Diese Aussagen wiederholte er sinngemäß in einer Videobotschaft.
Donnerstag, 12. 3. 2020: Im Bezirk Landeck gab es nun 42 als positiv registrierte Fälle und 142 Verdachtsfälle. Mit Verordnung nach §§ 15, 24 EpiG, die am selben Tag in Kraft trat, verfügte die Bezirkshauptmannschaft Landeck für Ischgl ein Beförderungsverbot mit Skibussen und Seilbahnanlagen sowie ein Verbot des Besuchs sämtlicher „Gastgewerbebetriebe, die rein der Unterhaltung dienende Aktivitäten darbieten“, einschließlich der vorgelagerten Freiflächen.
Freitag, 13. 3. 2020: Die Zahl der positiv getesteten Fälle im Bezirk Landeck war auf 69 gestiegen, die der Verdachtsfälle auf 193. In ganz Tirol waren von 1.541 Verdachtsfällen 129 positiv. Am Vormittag verkündete der Landeshauptmann in einer weiteren Pressekonferenz das Ende der Wintersaison in ganz Tirol. Alle Seilbahnen würden mit Ablauf des 15. 3. 2020 geschlossen, alle Beherbergungsbetriebe mit Ablauf des darauffolgenden Tages, damit eine [richtig:] geordnete Abreise möglich sei.
Um 14:00 Uhr fand in Wien eine Pressekonferenz des Bundeskanzlers mit dem Innenminister und dem Gesundheitsminister statt. Der Bundeskanzler erklärte, dass das Paznauntal (in dem Ischgl gelegen ist) und die Gemeinde St. Anton am Arlberg (wo ebenfalls Erkrankungen nachgewiesen worden waren) ab sofort unter Quarantäne gestellt und isoliert würden. Der Innenminister ergänzte, dass ausländische Gäste zwar abreisen dürften, aber ohne anzuhalten zügig heimreisen und sich dort isolieren sollten; ihre Identität werde festgestellt und den Gesundheitsbehörden der Herkunftsländer gemeldet.
Entsprechend der Ankündigung des Landeshauptmanns vom Vormittag weitete die Bezirkshauptmannschaft Landeck die am Vortag für Ischgl verhängten Beschränkungen auf den gesamten Bezirk Landeck aus und ergänzte sie um die Schließung sämtlicher Fremdenverkehrsbetriebe; ausgenommen war lediglich die Verabreichung von Speisen zur Grundversorgung der Bevölkerung. Diese Verordnung wurde nach 15:42 Uhr in Ischgl kundgemacht.
Nach der Ankündigung des Bundeskanzlers erließ die Bezirkshauptmannschaft Landeck eine weitere Verordnung, mit der gemäß § 24 EpiG die Zu‑ und Abfahrt ins Paznauntal und nach St. Anton grundsätzlich verboten wurde. Nur ausländische Gäste sollten unter der Voraussetzung ausreisen dürfen, dass sie bei den eingerichteten Kontrollpunkten ein vorher ausgefülltes Formular mit ihren wesentlichen Kontaktdaten vorwiesen. Dieses Ausreiseblatt für ausländische Gäste wurde dem TVB um 16:29 Uhr mit dem Beisatz übermittelt, dass österreichische Gäste derzeit nicht abreisen dürften. Die Verordnung wurde nach 19:20 Uhr an der Amtstafel der Gemeinde Ischgl angeschlagen.
Bereits im Anschluss an die Pressekonferenz des Bundeskanzlers war es zur überstürzten und unkontrollierten Abreise sowohl ausländischer als auch österreichischer Gäste sowie von Tourismuspersonal gekommen.
[7] Der (in Deutschland wohnhafte) Kläger reiste am 7. 3. 2020 nach Ischgl an und nahm Unterkunft im Hotel „E*“. Er besuchte während seines Aufenthalts die Après‑Ski‑Lokale „Ki*“, „S*“, „T*“ und „Ku*“. Am 13. 3. 2020 erfuhr er während des Skifahrens von der geplanten Sperre des Paznauntals und reiste am späten Nachmittag mit zwei Freunden mit dem Auto nach Hause. Erste Symptome traten unmittelbar nach seiner Heimkehr am 13. 3. 2020 auf. Er wurde am 15. 3. 2020 positiv auf SARS‑CoV‑2 getestet, am 19. 3. 2020 stationär im Krankenhaus aufgenommen und bis 31. 3. 2020 dort behandelt. Er hatte erhebliche Schmerzen, hohes Fieber und massive, medizinisch relevante (Todes‑)Angstzustände.
[8] Der Kläger begehrt Schmerzengeld, Heilungs- und Pflegekosten sowie Verdienstentgang von insgesamt 63.853,78 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung des beklagten Bundes für alle weiteren Schäden, die ihm „direkt oder indirekt infolge von Fehlern und Versäumnissen der der Beklagten zuzurechnenden Organe im Zusammenhang mit dem Corona-Missmanagement Ende Februar/Anfang März 2020 in Tirol, insbesondere Ischgl, einschließlich der Fehler und Versäumnisse, die in diesem Zusammenhang auf Seiten von der Beklagten zurechenbaren Organen in Wien passiert“ seien, bisher entstanden, aber noch nicht bezifferbar bzw bekannt seien sowie künftig noch entstehen würden.
[9] Er habe sich „infolge des katastrophalen Missmanagements der zuständigen Behörden“ mit dem Coronavirus infiziert. Hätten die Behörden rechtmäßig und unverzüglich gehandelt, wäre er nicht erkrankt. Konkrete Versäumnisse fielen insbesondere dem Landeshauptmann von Tirol und der Bezirkshauptmannschaft Landeck zur Last, die im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung als Sanitätsbehörden für die Beklagte agiert hätten, aber auch den Polizeibehörden, dem Gesundheitsministerium, dem Innenministerium und dem Bundeskanzler.
[10] Den Behörden sei spätestens am 4. 3. 2020 bekannt gewesen, dass das SARS‑CoV‑2‑Virus auch in Ischgl „grassiere“. Sie hätten daher spätestens ab 5. 3. 2020 die gesetzlich gebotenen unabdingbaren Maßnahmen setzen müssen, um die Quelle der Infektionen zu identifizieren und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Insbesondere wären sie verpflichtet gewesen,
- spätestens am 5. 3. 2020 öffentlich bekannt zu geben, dass in Ischgl der Verdacht zahlreicher SARS‑CoV‑19‑Infektionen und augenscheinlich eine erhöhte Infektionsgefahr bestehe;
- ab 5. 3. 2020 gemäß § 5 EpiG sämtliche infizierten Personen ausfindig zu machen und nachzuvollziehen, woher deren Infektion stammte;
- ab 5. 3. 2020 sämtliche Veranstaltungen in und um Ischgl gemäß § 15 EpiG zu untersagen;
- spätestens ab 7. 3. 2020 sämtliche Seilbahnbetriebe, Skihütten und Gastronomiebetriebe gemäß § 20 EpiG zu schließen;
- ab 5. 3. 2020, spätestens jedoch ab 7. 3. 2020 jegliche Ein- und Ausreise nach bzw aus Ischgl bzw dem Paznauntal gemäß § 24 EpiG zu unterbinden bzw allenfalls für eine geordnete und kontrollierte Abreise zu sorgen;
- die verhängten Maßnahmen auch gemäß § 43 Abs 4 EpiG konsequent durchzusetzen.
Stattdessen hätten die Behörden
- bis 8. 3. 2020 die Öffentlichkeit „mutmaßlich bewusst falsch“ informiert und sonst nichts unternommen;
- erst am 9. 3. 2020 das „evidentermaßen kontaminierte“ Lokal „Ki*“ geschlossen;
- erst mit Wirkung vom 11. 3. 2020 den Après‑Ski‑Betrieb eingestellt, die zulässige Besetzung der Gondeln auf die Hälfte reduziert und Veranstaltungen in geschlossenen Räumen auf 100 Personen beschränkt;
- es verabsäumt, die wenigen gesetzten Maßnahmen tatsächlich durchzusetzen;
- durch die vorzeitige Verkündung der Isolation des Paznauntals ohne ordnungsgemäße Vorbereitung der Ausreisemaßnahmen eine unkoordinierte und chaotische Ausreise zahlreicher Urlauber am 13. und 14. 3. 2020 verursacht.
[11] Der Gesundheitsminister habe es außerdem unterlassen, durch Weisungen an den Landeshauptmann von Tirol eine effiziente Pandemiebekämpfung mit der Priorität der Gesundheit von Gästen, Personal und Einheimischen durchzusetzen.
[12] Die Organe der Beklagten hätten dadurch gegen ihre aus Art 2, Art 8 und teilweise Art 3 EMRK, aber auch aus unionsrechtlichen Vorschriften (Art 2, Art 3 GRC) abgeleitete Verpflichtung verstoßen, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit zu ergreifen und die Öffentlichkeit über lebensbedrohende Notfälle zu informieren. Auf die GRC könne sich der Kläger unter anderem deshalb berufen, weil ein Fall der (passiven) Dienstleistungsfreiheit vorliege.
[13] Die Organe der Beklagten hätten zudem gegen die Pflichten zu unverzüglichem Handeln nach §§ 5, 6 EpiG verstoßen, welche die staatlichen Schutz- und Gewährleistungspflichten in Pandemiesituationen konkretisierten. Dabei handle es sich um Schutzgesetze, die genau den Schaden verhindern wollten, den der Kläger erlitten habe. Weiters hätten sie dadurch die Straftatbestände der §§ 178, 179 StGB verwirklicht, bei denen es sich ebenso um Schutzgesetze handle.
[14] Da sich der Kläger dem ersten Anschein nach in Ischgl angesteckt habe, das ein „Umschlagplatz des SARS‑CoV‑2‑Virus“ gewesen sei, gelte der Kausalzusammenhang gemäß § 1311 ABGB als erwiesen. Die Beweislast für mangelndes Verschulden treffe die Beklagte. Ihn treffe kein Mitverschulden.
[15] Zwecks Präzisierung des Vorbringens zur inneren Tatseite stellte der Kläger gemäß § 184 ZPO eine Reihe von (in einem Schriftsatz aufgezählten) Fragen an die Beklagte. Er beantragte darüber hinaus, dieser gemäß §§ 303 ff ZPO die Vorlage von Mitschriften diverser Behördenvertreter von den Sitzungen des Staatlichen Krisen‑ und Katastrophenmanagements (SKKM) und „sämtlicher ihr zur Verfügung stehenden Urkunden“ über die Übertragung der Zuständigkeit für den Vollzug des EpiG von einem Tiroler Landesrat an den Landesamtsdirektor im März 2020 aufzutragen, falls sie diese nicht freiwillig vorlege.
[16] Die Beklagte wendet zusammengefasst ein, die Erkrankung des Klägers sei von ihren Organen keinesfalls „in Kauf genommen“ oder „mitverursacht“ worden oder sonst wie zu verantworten. Es fehle schon an einer Kausalität zwischen einem Organverhalten und der Erkrankung des Klägers. Insbesondere werde der Kläger nachzuweisen haben, dass er sich überhaupt in Ischgl angesteckt habe; ein Anscheinsbeweis dafür sei nicht erbracht. Die Gesundheitsbehörden hätten darüber hinaus zu jedem Zeitpunkt unverzüglich sämtliche dem Ermittlungsstand entsprechenden, erforderlichen und durch die bestehende Rechtslage zur Verfügung stehenden Maßnahmen gesetzt. Von einem rechtswidrigen und schuldhaften Handeln oder Unterlassen durch ihre Organe, die nicht zuletzt in einer besonderen, krisenhaften Situation rasche Entschlüsse hätten treffen müssen, könne keine Rede sein. Abgesehen von pauschalen und unspezifischen Vorwürfen stelle der Kläger ein solches auch nicht dar.
[17] Im Übrigen sei der Schadenersatzanspruch des Klägers nicht vom Schutzzweck des EpiG umfasst, dessen ausschließlicher Sinn und Zweck der Schutz der Allgemeinheit vor einer anzeigepflichtigen Krankheit sei und das schon seiner Bezeichnung nach nur die Verbreitung einer ansteckenden Krankheit in großem Ausmaß verhindern und nicht einzelne Betroffene schützen wolle.
[18] Aufgrund der Informationen aus Island hätten die Behörden unverzüglich Erhebungen und Untersuchungen nach § 5 Abs 1 EpiG eingeleitet. Die „Landesinformationen“ (Medieninformationen des Amtes der Tiroler Landesregierung) vom 5. 3. und 8. 3. 2020 hätten auf den Informationen beruht, die der Landessanitätsdirektion damals bekannt gewesen seien. Beide Landesinformationen seien jedenfalls vertretbar gewesen. Für die Verlautbarung von Reisewarnungen an die Allgemeinheit oder an Einzelpersonen biete das EpiG keine Rechtsgrundlage.
[19] Nach Bekanntwerden der Namen der betroffenen isländischen Gäste seien Kontaktpersonen in den Hotels erhoben worden, von denen aber nur ein Zimmermädchen grippeähnliche Symptome gehabt habe. Mit dem am 7. 3. 2020 positiv getesteten Kellner im „Ki*“ seien im gesamten Bezirk Landeck insgesamt nur zwei Krankheitsfälle bekannt gewesen und deutlich weniger Verdachtsfälle als in anderen Bezirken gemeldet worden. Im Hinblick auf § 20 EpiG sei eine Betriebsschließung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verhältnismäßig und daher nicht möglich gewesen, sondern erst nach Vorliegen der Testergebnisse der übrigen Mitarbeiter des „Ki*“ am 9. 3. 2020; an diesem Tag sei sie auch umgehend erfolgt. Die Verhinderung der Anreise neuer Gäste wäre im Ergebnis einer Schließung aller Betriebe gleichgekommen. Am 10. 3. 2020 seien dann verkehrsbeschränkende Maßnahmen festgelegt und im Hinblick auf die steigenden Fallzahlen täglich angepasst und verschärft worden, bis am 13. 3. 2020 der gesamte Ski- und Tourismusbetrieb im Bezirk Landeck untersagt, am 14. 3. 2020 das Paznauntal zur Sperrzone erklärt und am 15. 3. 2020 eine Ausgangssperre für den gesamten Bezirk verordnet worden sei. Die Einhaltung der Verordnungen sei auch entsprechend kontrolliert worden.
[20] Bezüglich des Ausreisemanagements seien die Medien bereits am 11. 3. 2020 informiert worden, dass der Skibetrieb in Ischgl ab Samstag, den 14. 3. 2020, für zwei Wochen untersagt werden solle. Am 12. 3. 2020 sei nach Abklärung mit medizinischen Fachexperten die Grundsatzentscheidung getroffen worden, am Wochenende die Wintersaison landesweit vorzeitig zu beenden; für die Abreise aller Gäste sollte das gesamte Wochenende zur Verfügung stehen. Am 13. 3. 2020 habe der Bundeskanzler den Landeshauptmann von Tirol telefonisch davon informiert, dass zusätzlich die Quarantäne für das Paznauntal und St. Anton am Arlberg verhängt werden solle, wobei die diesbezügliche Kommunikation ausschließlich durch den Bund zu erfolgen habe. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern eine inhaltlich zutreffende Vorabinformation der Öffentlichkeit über geplante legistische Maßnahmen rechtswidrig sein sollte. Auch bei einer nicht überraschenden Ankündigung der Quarantäne wäre bei den Gästen eine Panikreaktion eingetreten, die ebenfalls nicht zu vermeiden gewesen wäre. Im Übrigen sei die Beklagte hinsichtlich der Nichterstellung eines Plans für die geordnete Abreise nicht passiv legitimiert. Rechtsgrundlage der Evakuierungsmaßnahmen und Verkehrsbeschränkungen sei § 24 EpiG gewesen. Dessen Erfordernissen sei die Behörde zeitgerecht und ordnungsgemäß nachgekommen. Das Rückreisemanagement sei auch nicht kausal für die Infektion des Klägers gewesen.
[21] Überdies hätte dem Kläger aufgrund der Medienberichterstattung insbesondere im Zusammenhang mit den rasant steigenden Infektionszahlen und ersten Todesfällen in Italien und den am 26. 2. 2020 veröffentlichen Fällen in Tirol die mit SARS-CoV-2 verbundene epidemiologische Gefahr bekannt sein müssen. Dass er sich dennoch bewusst dafür entschieden habe, seine Reise anzutreten und sich der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen, aber auch, dass er sich nicht spätestens mit 10. 3. 2020, als alle Aprés‑Ski‑Lokale geschlossen worden seien, zur Heimreise entschlossen habe, sei ihm jedenfalls als Alleinverschulden anzurechnen.
[22] Das Erstgericht wies das Klagebegehren mit Urteil und unter einem die Anträge des Klägers auf Zulassung seiner Fragen an die Beklagte (§ 184 ZPO) und auf Erteilung eines Auftrags zur Urkundenvorlage (§ 303 ZPO) mit Beschluss ab.
[23] Die Klageabweisung begründete es im Wesentlichen damit, dass die Rechtsgrundlage für behördliches Handeln im vorliegenden Fall das EpiG in der damaligen Fassung gewesen sei. Dieses bezwecke den Schutz der Allgemeinheit vor der Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten, nicht jedoch die Verhütung der Ansteckung Einzelner, auch wenn das Handeln der Behörden die Ansteckungsgefahr insgesamt und damit – im Sinn einer Reflexwirkung – ebenso für das Individuum reduziere.
[24] Aus den Schutzpflichten des Art 2 bzw Art 8 EMRK ergebe sich zwar, dass der Staat beim Ausbruch einer Epidemie nicht tatenlos zusehen dürfe, sondern Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergreifen müsse, diese Schutzpflichten richteten sich aber an den Gesetzgeber. Daraus erwachse dem Einzelnen kein individuelles Recht. Auch aus Art 2 GRC, der inhaltlich so wie Art 2 EMRK zu verstehen sei, könne kein individueller Anspruch auf ein bestimmtes Pandemiemanagement in jedem beliebigen EU‑Staat abgeleitet werden. Ein unmittelbar auf eine Verletzung von Grundrechten, sei es Art 2 EMRK oder die europäische GRC, gestützter Anspruch scheide daher aus.
[25] Die Strafbestimmungen der §§ 178 f StGB schützten das Leben und die Gesundheit der Allgemeinheit und nicht bestimmte Personen. Mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs könne der Kläger daraus daher ebenfalls keine Ansprüche ableiten.
[26] Im Übrigen liege aber auch kein rechtswidriges oder schuldhaftes Verhalten der Organe der Beklagten vor, das kausal für die Erkrankung des Klägers gewesen wäre. Sobald gesicherte Daten und Fakten und nicht bloße Verdachtsmeldungen vorgelegen seien, hätten die Behörden entsprechend den rechtlichen Vorgaben und dem damaligen Wissensstand schnellstmöglich reagiert und die zu treffenden Maßnahmen aufgrund neuer Daten und Fakten schrittweise verschärft und angepasst. Eine Betriebsschließung der Bar „Ki*“ schon am 7. 3. 2020 wegen eines einzigen infizierten Mitarbeiters wäre aus der maßgeblichen Ex-ante-Sicht unverhältnismäßig gewesen. Eine Warnpflicht der Behörden vor einer Anreise nach Ischgl ergebe sich aus dem EpiG nicht.
[27] Eine Infektion des Klägers im sogenannten Abreisechaos sei „wohl“ auszuschließen, weil er ohnehin mit dem Auto – und nicht mit dem Bus – heimgereist sei und noch am selben Tag Symptome entwickelt habe. Ungeachtet dessen sei in der Ankündigung einer geplanten Maßnahme zur Eindämmung des Infektionsgeschehens kein rechtswidriges Verhalten zu erkennen. Nachteilige Folgen, die sich daraus ergeben würden, dass sich eine große Zahl von Menschen diesen Maßnahmen zu entziehen versuche, wären überdies nicht vom Rechtswidrigkeitszusammenhang gedeckt.
[28] Die vom Kläger nach § 184 ZPO an die Gegenseite gestellten Fragen zielten schon nach seinem Vorbringen darauf ab, die innere Tatseite und Motivlage der beteiligten Organe zu erforschen. Im Rahmen der Amtshaftung komme es aber nicht auf die innere Tatseite und Motivlage der Organe an, sondern darauf, ob deren Handeln und Unterlassen bei pflichtgemäßer Überlegung aller Umstände ex ante vertretbar gewesen sei. Außerdem handle es sich um Fragen, die nur im Rahmen der Vernehmung der betroffenen Organe als Zeugen beantwortet werden könnten. Aus diesem Grund sei auch der Antrag auf Urkundenvorlage abzuweisen. Die Zuständigkeitsübertragung für den Vollzug des EpiG von einem Landesrat auf den Landesamtsdirektor sei auch rechtlich irrelevant.
[29] Das Berufungsgericht hob dieses Urteil zur Erweiterung der Sachverhaltsgrundlage auf, verwies den Kläger mit seinem Rekurs gegen die Abweisung seiner Anträge nach §§ 184, 303 ZPO auf diese Entscheidung, weil es den Rekurs der Mängelrüge in der Berufung zuordnete und dort abhandelte, und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu.
[30] In rechtlicher Hinsicht ging es davon aus, dass der grundrechtlich geforderte gesetzliche Schutz des Lebens und der Gesundheit im Falle einer Epidemie oder Pandemie zum Zeitpunkt der Erkrankung des Klägers durch das EpiG sichergestellt worden sei, welches verfassungs- und damit grundrechtskonform im Sinne einer vernünftigen Gefahrenabwehr durch den Staat auszulegen gewesen sei. Dass die im EpiG damals vorgesehenen Maßnahmen nicht ausgereicht hätten und dadurch eine Grundrechtsverletzung wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen eingetreten wäre, behaupte der Kläger gar nicht; er kritisiere lediglich die mangelhafte Vollziehung des EpiG. Der im Ausland wohnhafte Kläger berufe sich auf die (passive) Dienstleistungsfreiheit, womit der Anwendungsbereich der GRC zwar grundsätzlich eröffnet sei. Die anwendbaren österreichischen Gesetzesbestimmungen (Art 2 und 8 EMRK, § 16 ABGB und die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs) gewährten im vorliegenden Fall aber den gleichen Schutz wie das Unionsrecht, sodass es keines Umweges über das Unionsrecht bedürfe, um eine mögliche Haftung des Staats für Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Pandemie zu begründen. Ob der vorgetragene Sachverhalt auch den §§ 178, 179 StGB zu unterstellen sei, sei im Amtshaftungsverfahren nicht zu prüfen, weil die Beurteilung ausschließlich nach den Kriterien des Amtshaftungsrechts zu erfolgen habe. Der Erfolg der Klage hänge daher nur davon ab, ob der Kläger beweisen könne, dass staatliche Organe seine COVID‑19‑Infektion durch unvertretbare Verletzung eines Schutzgesetzes, welches insbesondere ihn vor einer Ansteckung schützen sollte, verursacht hätten. Dabei sei nicht pauschal der Schutzzweck eines Gesetzes – hier des EpiG – in seiner Gesamtheit zu ermitteln, sondern der Zweck jeder konkreten Gesetzesbestimmung zu erfragen, deren Übertretung durch die Organe des Rechtsträgers zur Diskussion stehe.
[31] Für die vom Kläger geforderte „umfassende und wahrheitsgemäße Information der Bevölkerung einschließlich einer Reisewarnung“ habe das EpiG gar keine Rechtsgrundlage geboten. Diesbezüglich erübrigten sich Erwägungen zum Rechtswidrigkeitszusammenhang.
[32] Die in Frage kommenden Bestimmungen des EpiG, und zwar §§ 5, 20 und 24 EpiG, schützten nur die Allgemeinheit, nicht aber bestimmte Personen oder Personengruppen. Aus dem Umstand, dass eine Norm dem Schutz der Allgemeinheit diene, könne ein Einzelner keine Amtshaftungsansprüche ableiten. Keine dieser Bestimmungen stelle ausdrücklich auf den Schutz bestimmter Personen ab, die weder in den zu schließenden Betrieben beschäftigt seien noch in den von den Verkehrsbeschränkungen betroffenen Epidemiegebieten wohnten. Sie räumten auch niemandem ein – etwa in einer Verfahrensbeteiligung zum Ausdruck kommendes – subjektives öffentliches Recht auf bestimmte Maßnahmen ein. Zu einer rechtlichen Sonderverbindung zwischen dem Rechtsträger und dem Kläger könnte es bei der pflichtgemäßen Vollziehung der §§ 20, 24 EpiG daher nicht kommen.
[33] An diesem Ergebnis ändere auch die gebotene verfassungs- und damit grundrechtskonforme Interpretation des EpiG nichts. Gerade die Berücksichtigung der Grundrechte gebiete eine behutsame Handhabung der zur Verfügung stehenden Eingriffsmöglichkeiten. Dies könne im Einzelfall dazu führen, dass eine gesetzlich erlaubte und effektive Maßnahme zum Schutz eines Grundrechts zu unterbleiben habe oder durch ein gelinderes Mittel zu ersetzen sei, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Verhängung unverhältnismäßig und damit ihrerseits grundrechtswidrig wäre. So stellten allgemeine Betriebs- und Verkehrsbeschränkungen massive Einschränkungen der Grundrechte für die gesamte Bevölkerung dar, die mangels Verhältnismäßigkeit nicht schon beim ersten, noch unbestätigten Verdacht des Auftretens einer von § 1 EpiG erfassten Krankheit an einem bestimmten Ort – so die Situation am Abend des 5. 3. 2020 – verhängt werden dürften. Dass die Behörden ab 5. 3. 2020 zunächst versucht hätten, mögliche Ansteckungsquellen (in persönlicher und örtlicher Hinsicht) zu identifizieren und zu isolieren, dann ab 7. 3. 2020 vorerst gelindere Maßnahmen (Desinfektion des „Ki*“; dessen Schließung am 9. 3. 2020) getroffen und diese dann schrittweise gesteigert hätten (Personenbeschränkungen in Betrieben ab 10. und bei Veranstaltungen ab 11. 3. 2020; Betriebsschließungen ab 12. 3. 2020), ehe sie angesichts des Anstiegs der Neuinfektionen schließlich einen kompletten „Lockdown“ (13. 3. 2020) verhängt hätten, sei – unabhängig von der Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhangs – grundrechtlich nicht bedenklich und stelle keinen Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Klägers dar.
[34] Am 5. 3. 2020 habe weder eine einfachgesetzliche noch eine unmittelbar aus Art 2 EMRK abgeleitete Informationspflicht der Behörden bestanden, weil damals von einer „eindeutig erkennbaren natürlichen Gefahr“ für die Allgemeinheit keine Rede habe sein können. Eine solche Informationspflicht habe frühestens am Abend des 7. 3. 2020 eingesetzt, als der positive Test des Mitarbeiters im „Ki*“ vorgelegen sei. Diesen hätten die Behörden ohnehin zum Anlass für die Veröffentlichung der Medieninformation vom 8. 3. 2020 genommen. Ein Ersatzanspruch wegen des Unterbleibens von Informationen zu einem früheren Zeitpunkt könne daher mangels Rechtswidrigkeit nicht bestehen. Eine „Reisewarnung“ sei Sache der Heimatländer der ausländischen Urlaubsgäste. Die Pressekonferenz am 13. 3. 2020 habe der Information der Bevölkerung über die auf der Grundlage des § 24 EpiG ergriffenen Maßnahmen gedient und sei deshalb der Vollziehung dieser Bestimmung zuzuordnen. Der Kläger könne aber aus der Pressekonferenz oder dem dadurch verursachten „Ausreisechaos“ schon deshalb keine Ansprüche ableiten, weil er davon nicht unmittelbar betroffen gewesen sei und nicht erwiesen sei, dass seine Ansteckung gerade darauf zurückzuführen sei. Zudem sei nicht erkennbar, inwiefern die in der Pressekonferenz erfolgte – richtige und vollständige – Ankündigung der Sperre des Paznauntals rechtswidrig gewesen sein sollte.
[35] Allerdings folge aus dem Recht auf Leben (Art 2 EMRK) und auf körperliche Unversehrtheit (Art 8 EMRK) der Anspruch, dass staatliche Informationen über drohende Gefahren – auch wenn sie nicht verpflichtend seien – zum Schutz aller Empfänger richtig und vollständig zu sein hätten. Dies sei bei der „wider besseres Wissen“ veröffentlichten Medienmitteilung des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 5. 3. 2020 („Ansteckung im Flugzeug“) nicht der Fall.
[36] Die Medienmitteilung des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 8. 3. 2020 habe sich eindeutig erkennbar an jene Gäste des „Ki*“ gerichtet, die das Lokal im Zeitraum vom 15. 2. bis 7. 3. 2020 besucht hätten und nun wegen der positiven Testung eines Mitarbeiters beunruhigt gewesen seien. Eine Aussage über die Gefährdung künftiger Gäste sei damit nicht getroffen worden, zumal durch die Desinfizierung des Lokals und den Austausch des Personals zeitgleich mit der Veröffentlichung dieser Information eine veränderte Situation geschaffen worden sei. Diese Information könne daher für die Ansteckung des Klägers nicht kausal gewesen sein.
[37] Damit sei eine Haftung des Bundes grundsätzlich nur für die Folgen der irreführenden Information vom 5. 3. 2020 denkbar. Ob dem Kläger durch diese Information überhaupt ein Schaden zugefügt worden sei, hänge davon ab, ob er diese „Landesinformation“ gekannt und auch wegen dieser Information die Reise nach Ischgl angetreten habe. Wenn nicht, könnte sein Schaden nicht durch die Fehlinformation verursacht worden sein, was einen Schadenersatzanspruch ausschließen würde. Zu dieser Frage habe er bis jetzt keine ausreichenden Behauptungen aufgestellt, sodass das Erstgericht dazu auch keine Beweise habe aufnehmen können. Um dies nachzuholen, müsse das angefochtene Urteil aufgehoben und das Verfahren in erster Instanz ergänzt werden. Für den ersten Schritt der Kausalitätsprüfung – Infektion des Klägers während seines Aufenthalts in Ischgl – lägen allerdings die Voraussetzungen für die Anwendung des Anscheinsbeweises vor und sei dieser Beweis auch erbracht worden, weil sich der Kläger an einem „Hotspot“ des Infektionsgeschehens aufgehalten und innerhalb der üblichen Inkubationszeit COVID‑19‑Symptome entwickelt habe.
[38] Das Berufungsgericht erklärte den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig, weil Rechtsprechung zum Schutzzweck der §§ 5, 20, 24 EpiG, der behördlichen Medieninformationen und Pressekonferenzen und der aus Art 2, Art 8 EMRK abgeleiteten Verpflichtung, keine falschen oder irreführenden Informationen über drohende Gefahren zu verbreiten, fehle; weiters auch zu den Voraussetzungen einer „Reisewarnung“ oder zur rechtlichen Grundlage für die „Landesinformationen“ vom 5. und 8. 3. 2020.
Zu I.
Rechtliche Beurteilung
[39] Die gegen den Aufhebungsbeschluss erhobenen Rekurse beider Parteien sind zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie sind im Ergebnis beide – weil Entscheidungsreife vorliegt (RS0043853) und das Verbot der reformatio in peius beim Rekurs nach § 519 Abs 2 ZPO nicht gilt (RS0043939) – auch berechtigt.
A. Gegenstand des Rekursverfahrens und anwendbares Recht:
[40] 1. Der Kläger stützt seinen Anspruch im Wesentlichen auf zwei Sachverhaltskomplexe, und zwar einerseits auf unterbliebene oder unrichtige Informationen über das Infektionsgeschehen und andererseits auf unterbliebene Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr von Infektionen sowie auf die Vergrößerung dieser Gefahr durch Verursachung eines „Abreisechaos“. Beides habe sowohl gegen Bestimmungen des Epidemiegesetzes als auch gegen Schutzpflichten des Staats verstoßen, die sich unmittelbar aus Regelungen des Grundrechtsschutzes ergäben. Diese Verstöße begründeten die Haftung der für das Organhandeln funktional verantwortlichen Republik Österreich (Bund).
[41] 2. Das Berufungsgericht hielt in seiner ausführlich begründeten Entscheidung eine Haftung im Zusammenhang mit einer Medieninformation vom 5. 3. 2020 für möglich und hob das abweisende Urteil des Erstgerichts (nur) aus diesem Grund auf, weil Feststellungen zur Kausalität fehlten; im Übrigen verneinte es schon aufgrund rechtlicher, teils mehrfach abgesicherter Erwägungen jede Haftung. Kern seiner Argumentation ist einerseits die Auffassung, dass die Regelungen des Epidemiegesetzes nur den Zweck hätten, durch Verhinderung der Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten die Allgemeinheit, insbesondere auch das Funktionieren des Gesundheitssystems, zu schützen. Schäden Einzelner stünden daher nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit allfälligen Pflichtverletzungen von Organen der Vollziehung. Andererseits verneinte das Berufungsgericht für den konkreten Fall das Bestehen von Informationspflichten, die sich unmittelbar aus Normen des Grundrechtsschutzes ergeben könnten. Lediglich eine nach Ansicht des Berufungsgerichts schuldhafte Fehlinformation sei geeignet, eine Haftung zu begründen.
[42] 3. Die gegen diese Entscheidung erhobenen Rekurse und Rekursbeantwortungen beider Parteien beruhen auf den bereits in erster Instanz vertretenen Standpunkten. Während der Kläger weiterhin die Auffassung vertritt, schon der unstrittige Sachverhalt – und mehr noch jener, der sich aus unterbliebenen Beweisaufnahmen ergäbe – begründe aus mehreren Gründen die Haftung der Beklagten, bestreitet diese eine Einstandspflicht (auch) für die Medieninformation vom 5. 3. 2020.
[43] 4. Der Aufbau der vorliegenden Begründung folgt den behaupteten Rechtsgründen für eine Haftung der Beklagten: Zunächst ist zu prüfen, ob eine Amtshaftung aus den behaupteten Verstößen gegen (ausdrückliche oder allenfalls durch Auslegung ermittelte) Pflichten nach dem Epidemiegesetz abgeleitet werden kann. Dabei stellt sich die zentrale Frage nach dem Schutzzweck dieser Verpflichtungen (unten B.), da sich bei dessen Verneinung jede weitere Prüfung allfälliger Verstöße gegen dieses Gesetz erübrigt. Daran schließt sich die Beurteilung, ob anspruchsbegründende Pflichten der staatlichen Vollziehung aus Bestimmungen des Grundrechtsschutzes abgleitet werden können, wobei zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Grundrechtscharta der Europäischen Union (GRC) zu differenzieren ist (unten C. und D.), und ob allenfalls andere Grundlagen für den Anspruch bestehen könnten (unten E.). Den Abschluss bildet die Beurteilung der behaupteten Mängel des Verfahrens (unten F.).
[44] 5. Die Anwendung österreichischen Schadenersatzrechts ist zu Recht unstrittig: Die Rom II‑VO ist nach ihrem Art 1 Abs 1 Satz 2 auf die hier zu beurteilende „Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte ('acta iure imperii')“ nicht anwendbar. Damit ist das österreichische Internationale Privatrecht maßgebend, das auf das Recht jenes Staats verweist, dessen Organe den Schaden herbeigeführt haben sollen (1 Ob 33/19p mwN).
B. Zum Schutzzweck des Epidemiegesetzes:
1. Standpunkt des Klägers:
[45] Der Kläger argumentiert, die österreichischen Gesundheitsbehörden hätten tagelang, mehrfach und schwerwiegend gegen ihre auf dem EpiG beruhenden Handlungspflichten verstoßen. Konkret beruft er sich auf die Verletzung der §§ 5, 6, 15, 20 und 24 EpiG. Das EpiG schütze nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch einzelne Betroffene, insbesondere Personen, die sich im Epidemiegebiet aufhielten bzw beabsichtigten, sich dorthin zu begeben. Zwischen diesen Rechtsverstößen und den Schäden, die er erlitten habe, bestehe daher ein Rechtswidrigkeitszusammenhang.
2. Zum Erfordernis des Rechtswidrigkeitszusammenhangs im Amtshaftungsrecht:
[46] 2.1. Nach § 1 Abs 1 AHG haftet unter anderem der Bund für den Schaden am Vermögen oder an der Person, den die als seine Organe handelnden Personen in Vollziehung der Gesetze durch rechtswidriges Verhalten wem immer schuldhaft zugefügt haben, nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts. Auch eine Unterlassung kann Amtshaftung begründen, wenn sie rechtswidrig und schuldhaft erfolgt ist (RS0081378).
[47] 2.2. Gerade für das Amtshaftungsrecht gilt der allgemeine Grundsatz, dass die verletzte Vorschrift auch den Zweck haben muss, den Geschädigten vor den schließlich eingetretenen Nachteilen zu schützen (RS0050038 [T1]).
[48] 2.3. Der Schutzzweck der verletzten Normen (Rechtswidrigkeitszusammenhang) stellt ein selbständiges Abgrenzungskriterium der Schadenersatzhaftung neben der Rechtswidrigkeit und der Kausalität dar. Sowohl der Geschädigte als auch die Art des Schadens und die Form seiner Entstehung müssen vom Schutzzweck erfasst sein (RS0027553 [T18]). Selbst bei einer unvertretbaren Verletzung von Rechtsvorschriften sind daher nur jene Schäden zu ersetzen, deren Eintritt die übertretene Vorschrift gerade verhindern wollte oder deren Verhinderung zumindest mitbezweckt ist (RS0050038 [T21]; RS0031143 [T5, T13]).
[49] 2.4. Die Nichtberücksichtigung der eingrenzenden Wirkung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs hätte im Amtshaftungsrecht eine Uferlosigkeit der Haftpflicht der Rechtsträger zur Folge (vgl RS0031143 [T7]; RS0050038 [T29]). Eine solche uferlose und daher wirtschaftlich untragbare Ausweitung der Schadenersatzhaftung ist aber abzulehnen (RS0022638 [T1]; vgl auch Rebhahn, Amtshaftung für „Bankprüfer“ – Wohltat oder Irrweg? ÖBA 2004, 267 [277], wonach bei der teleologischen Beurteilung des Schutzzwecks einer Norm „institutionenökonomische Erwägungen“ anzustellen und dabei die mit der Haftung des Staats verbundenen Folgen – insbesondere die Kalkulierbakeit eines Haftungsrisikos – zu berücksichtigen sind). Auch im Amtshaftungsbereich muss daher – um eine uferlose Haftung auszuschließen – geprüft werden, ob Pflichten des Rechtsträgers nur im Interesse der Allgemeinheit oder auch im Interesse eines einzelnen Betroffenen normiert sind (vgl RS0050038 [T27]; RS0031143 [T4, T11]).
3. Zur Abgrenzung von Interessen der Allgemeinheit und dem (mitbezweckten) Individualschutz im Allgemeinen:
[50] 3.1. Der Begriff „Allgemeinheit“ beschreibt „eine große und unbestimmte Zahl von Personen“ (RS0049993). Betrifft die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben eine so große und unbestimmte Zahl von Personen, dass diese der Allgemeinheit gleichzusetzen sind, sind Amtshaftungsansprüche einzelner Personen ausgeschlossen (1 Ob 313/01p; 1 Ob 148/02z; 1 Ob 200/04z; 1 Ob 171/14z; 1 Ob 73/16s). Der Allgemeinheit steht begrifflich der Einzelne oder auch eine abgrenzbare bestimmte Gruppe von Personen gegenüber. Zur Klärung der Frage, ob Pflichten der Rechtsträger nur Interessen der Allgemeinheit oder auch einzelner Betroffener berühren, ist auf den Normzweck abzustellen. Nicht jeder Schutz, den die Verhaltensnorm tatsächlich bewirkt, ist auch von deren Schutzzweck erfasst (RS0027553 [T14]; RS0022813 [T10, T16]; RS0031143 [T7, T19, T22]). Welche Interessen erfasst sind, ergibt sich aus einer wertenden Beurteilung des Sinns einer Vorschrift. Wie weit der Normzweck reicht, ist daher eine Auslegungsfrage im Einzelfall (1 Ob 232/11s).
[51] 3.2. Allein die Tatsache, dass eine pflichtgemäße Amtshandlung, die dem öffentlichen Interesse dient, auch einem Dritten zu Gute kommt und ihm damit einen Vorteil verschafft, reicht nicht aus, um eine amtshaftungsrechtlich relevante Verpflichtung genau diesem gegenüber zu begründen (RS0041143 [T4, T12]; RS0050038 [T5]; RS0027710 [T12]). Soweit sich der Schutzzweck nur auf Interessen der Allgemeinheit erstreckt, können Einflüsse auf individuelle Interessenlagen nur als – die Amtshaftung des belangten Rechtsträgers nicht begründende – Reflexwirkung (dazu RS0031143 [T4, T12]) beurteilt werden.
[52] 3.3. Im Rahmen der Amtshaftung wird die Frage, ob eine Norm (auch) den Schutz des Geschädigten (mit‑)bezweckt, im Allgemeinen dann bejaht, wenn bereits eine rechtliche Sonderverbindung zwischen dem Rechtsträger und dem Betroffenen bestand (RS0049993). Das wird regelmäßig angenommen, wenn dem Betroffenenein subjektives öffentliches Recht eingeräumt ist, wenn ihm also etwa Parteistellung zukommt. Daher wird der Rechtswidrigkeitszusammenhang etwa bei Verstößen gegen das Betriebsanlagenrecht der GewO bejaht, weil dieses neben dem Schutz der Allgemeinheit auch den Schutz der Anrainer bezweckt (1 Ob 5/92; 1 Ob 107/97k). Auch die Verletzung von Bestimmungen der Raumordnungsgesetze kann Amtshaftungsansprüche der Liegenschaftseigentümer und deren Rechtsnachfolger begründen (1 Ob 35/82). Dasselbe gilt für den durch eine Baubewilligung geschaffenen Vertrauenszustand des Bauwerbers (1 Ob 178/06t). Diesen Fällen ist gemeinsam, dass sich der geschützte Personenkreis klar eingrenzen lässt. Steht der Vorwurf einer Unterlassung des pflichtgemäßen Handelns im Raum, ist primär danach zu fragen, zu welchen Personen eine rechtliche Sonderverbindung bestehen würde, wenn sich die Organe des Rechtsträgers pflichtgemäß verhalten hätten. Grundsätzlich muss eine gesetzliche Verpflichtung dem Geschädigten gegenüber bestehen, die das Organ zu positivem Handeln (gerade auch) diesem gegenüber verpflichtet (vgl 1 Ob 109/13f).
[53] 3.4. Das Bestehen eines subjektiven öffentlichen Rechts oder einer rechtlichen Sonderbeziehung ist aber nicht unbedingt Voraussetzung für die Bejahung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs.
[54] Maßgebend ist vielmehr der im Einzelfall zu ermittelnde Zweck der übertretenen Norm, der sich aus historischer oder objektiv-teleologischer Interpretation ergeben kann. Werden etwa Pflichten der Vollziehung zur Verhinderung von Schäden durch (konkret bezeichnete) gefährliche Sachen oder Menschen angeordnet, so ist anzunehmen, dass diese Pflichten jene Personen schützen sollen, die mit den jeweiligen Gefahrenquellen in Berührung kommen. Dieser Grundsatz betrifft so verschiedene Konstellationen wie die das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) treffenden Aufsichts-, Überwachungs- und Informationspflichten nach dem Medizinproduktegesetz (1 Ob 39/23a), die Überprüfung des Einhaltens von Auflagen nach Betriebsanlagenrecht (1 Ob 16/92), die Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach § 57a KFG (RS0022886) oder die Unterbringung einer Person wegen Fremdgefährlichkeit (1 Ob 247/98z).
[55] Entscheidend ist in diesen Fällen, dass kein anderer Normzweck erkennbar ist als gerade der Schutz jener Personen oder Sachen, die mit den jeweiligen Gefahrenquellen in Berührung kommen; dass also gerade kein darüber hinausgehender, tatsächlich eine unbestimmte Zahl von Personen erfassender Gesetzeszweck vorliegt.
4. Zum Schutzzweck des Epidemiegesetzes im Besonderen:
[56] 4.1. Pandemie bezeichnet die weltweite, starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen. Die Rechtsprechung hat die COVID‑19‑Pandemie im hier relevanten Zeitraum (März 2020) dem Katastrophenbegriff unterstellt (vgl 7 Ob 196/22g). Darunter versteht man ein Ereignis, „bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen, die Umwelt oder bedeutende Sachwerte in ungewöhnlichem Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden und die Abwehr oder Bekämpfung der Gefahr oder des Schadens einen koordinierten Einsatz der dafür notwendigen personellen oder materiellen Ressourcen erfordert“ (Bußjäger/Egger, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen staatlicher Krisenkommunikation, ÖJZ 2021, 63 [64] mwN). Die Abwehr der Gefahren in einer solchen Krisensituation erfolgt zum allgemeinen Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinn von Art 10 Abs 1 Z 12 B‑VG und ist damit in Gesetzgebung und Vollziehung Sache des Bundes (VfSlg 4609/1963; 5485/1967). Unter diesen Kompetenztatbestand fallen ganz allgemein die Angelegenheiten der Volksgesundheit, also die Obsorge für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung (Bußjäger/Egger, ÖJZ 2021, 65 mwN). Vor diesem Hintergrund ist das EpiG (in der hier maßgeblichen Fassung des BGBl I 2018/37) zu sehen, das (wie auch das COVID‑19‑MaßnahmenG) in mittelbarer Bundesverwaltung vollzogen wird (Art 102 B‑VG). Es beruht im Wesentlichen auf dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten RGBl 1913/67, das 1950 wiederverlautbart wurde (BGBl 1950/186).
[57] 4.2. Primäre Anhaltspunkte für die Erforschung des Zwecks eines Gesetzes bieten zunächst dessen Wortlaut und die Materialien.
[58] 4.2.1. In der Regierungsvorlage zur Urfassung des EpiG (22 BlgHH 21. Sess 19 ff) heißt es dazu allgemein, dass die staatliche Sanitätsverwaltung unentwegt daran festhalten müsse, dass eines der wichtigsten Erfordernisse der „öffentlichen Gesundheitspflege“, und hiermit der „Volkswohlfahrt“ überhaupt, in einem wirksamen Schutze vor dem Entstehen und der Verbreitung von Volkskrankheiten zu erblicken sei. Danach stehen primär das Interesse an der Nichtweiterverbreitung von ansteckenden Krankheiten in der Bevölkerung und damit ganz allgemein der Schutz einer völlig unbestimmten Anzahl von Individuen im Vordergrund.
[59] In diese Richtung weisen auch die Erläuterungen zu einzelnen Bestimmungen des EpiG; mehrfach ist dort vom öffentlichen Interesse an der Verhinderung der „Verbreitung“, „Verschleppung“ oder „Einschleppung“ von ansteckenden Krankheiten die Rede (zB aaO 24 [zu § 8], 25 [zu § 16, § 17], 26 [zu § 21]). Zu § 20 stellen die Materialien auf die „zum Schutze des Lebens und der Gesundheit von Staatsbürgern notwendigen Maßnahmen“ ab, die in Fällen dringender Gefahr ohne Verzug getroffen werden müssen (22 BlgHH 21. Sess 26), und haben damit die Gesamtheit der Angehörigen des Staats und nicht den einzelnen Betroffenen vor Augen. Dass damit gerade der einzelne Staatsbürger im Sinn einer bestimmten Person oder auch nur Personengruppe gemeint wäre, kann den Materialien nicht entnommen werden (so aber offensichtlichGeroldinger,Amtshaftung wegen Fehlern bei der Bekämpfung der COVID-19-Epidemie? JBl 2020, 523 [532]). Das EpiG zielt danach ganz allgemein auf den Schutz einer unbestimmten Zahl von Personen ab. Wenn es „die öffentliche Gesundheitspflege und somit die allgemeine Wohlfahrt“ erheische, sollen der Staatsgewalt alle verfügbaren Mittel zur „Bekämpfung von Volkskrankheiten und ihrer Wirkungen“ zur Verfügung stehen (22 BlgHH 21. Sess 21).
[60] 4.2.2. Für die Beurteilung des Schutzzwecks des EpiG ist dabei vor allem zu berücksichtigen, dass jene Personen, die sich allenfalls aufgrund eines behördlichen Fehlverhaltens (Unterbleiben einer Maßnahme nach dem EpiG) mit einem ansteckenden Krankheitserreger infizieren, typischerweise selbst wieder andere Person anstecken, die dann ihrerseits diese Krankheit weitergeben können. Eine pflichtwidrig unterlassene Maßnahme zur Infektionsausbreitung könnte so eine weltweite Pandemie herbeiführen. Dass die Haftung des Rechtsträgers der zum Vollzug des EpiG berufenen Organe in einem solchen Fall – würde man diesem den Schutz von Individualinteressen unterstellen – gänzlich unbegrenzt wäre, liegt auf der Hand.
[61] Dem kann auch nicht entgegen gehalten werden, dass sich der Schutzzweck des EpiG nur auf jene Personen erstrecke, deren Infektion unmittelbar durch das behördliche Fehlverhalten (eine pflichtwidrig unterlassene Maßnahme) verursacht wurde. Eine solche Grenzziehung (Beschränkung der Haftung auf den aufgrund eines Behördenfehlers ersten Infizierten in einer Infektionskette) erschiene zum einen völlig willkürlich und ließe sich zum andern bei einer – wie hier – weltweiten Pandemie, bei der Infektionsketten letztlich nicht mehr nachvollzogen werden können, auch praktisch nicht umsetzen.
[62] Der dem Gesetz zu unterstellende primäre Zweck der Verhinderung einer – potentiell weltweiten – Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten unterscheidet den vorliegenden Fall grundlegend von den oben (Punkt 3.4.) genannten Konstellationen, in denen der Gesetzeszweck ausschließlich auf die Verhinderung von Schäden gerichtet ist, die unmittelbar durch eine gefährliche Person oder Sache verursacht werden, und bei denen kein weitergehender Normzweck erkennbar ist. Hier erfasst der Schutzzweck demgegenüber in erster Linie die Allgemeinheit im denkbar weitesten Sinn, sodass sich der Schutz einzelner Personen vor einer Ansteckung als bloßer Reflex dieses generellen Gesetzeszwecks darstellt.
[63] 4.2.3. Ein anderer Schluss, was die allgemeine Zielrichtung des Gesetzes anlangt, lässt sich auch nicht daraus gewinnen, dass nach § 7 Abs 1a EpiG Absonderungsmaßnahmen oder andere Verkehrsbeschränkungen verfügt werden können, wenn nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen „eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht“.
[64] Zwar scheint diese Formulierung den Schutz konkreter Personen anzusprechen. Im gegebenen Zusammenhang ist sie jedoch anders zu verstehen. Sie folgt daraus, dass mit solchen Maßnahmen ein Eingriff in die Grundrechte (Art 8 Abs 1 EMRK) derjenigen verbunden ist, die davon unmittelbar betroffen sind. Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Zielen dient. Es muss sich daher um Maßnahmen handeln, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Ein Eingriff ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn er einem „zwingenden sozialen Bedürfnis“ entspricht und verhältnismäßig ist (Muzak,B-VG6 Art 8 EMRK Rz 18 mwN). Legitime Ziele sind daher in erster Linie öffentliche Interessen, wie insbesondere der Schutz der allgemeinen Gesundheit im Sinn von Art 10 Abs 1 Z 12 B‑VG.
[65] Auf dieser Grundlage erlaubt § 7 Abs 1a EpiG Eingriffe in die Rechte kranker, krankheitsverdächtiger oder ansteckungsverdächtiger Personen ausdrücklich nur dann, wenn eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit (anderer Personen) nicht durch gelindere Mittel abgewendet werden kann. Die Einschränkung, dass der Schutz der Gesundheit anderer durch gelindere Mittel nicht beseitigt werden kann, ist entgegen dem Verständnis von Geroldinger (JBl 2020, 532) daher nicht als Indiz dafür aufzufassen, dass eine Handlungspflicht des Staats zur Absonderung Kranker im Individualinteresse Einzelner oder bestimmter (konkret abgegrenzter) Gruppen bestünde, um gerade sie vor einer Ansteckung zu schützen. Gemeint ist vielmehr der Schutz der allgemeinen Gesundheit als Rechtfertigung dafür, dass in die Grundrechte Einzelner eingegriffen werden darf.
[66] 4.3. Der Schutzzweck ist allerdings durch normspezifische Erwägungen zu ermitteln. Von der Schutzrichtung eines Gesetzes kann nicht zwingend auf den Schutzzweck einer konkreten Norm geschlossen werden (vgl Rebhahn, Staatshaftung wegen mangelnder Gefahrenabwehr [1993] 248). Die grundsätzliche Zielsetzung des EpiG gibt damit noch keinen abschließenden Aufschluss über die Schutzrichtung seiner einzelnen Bestimmungen. Es sind daher die vom Kläger herangezogenen Normen des EpiG im Einzelnen dahin zu untersuchen, ob sie (mit‑)bezweckten, gerade ihn (allein oder als Angehörigen einer bestimmten, von der Allgemeinheit verschiedenen Personengruppe) vor der Ansteckung mit dem SARS-CoV-2 Virus zu schützen.
[67] 4.3.1. Die relevanten Bestimmungen der §§ 5, 6, 15, 20 und 24 EpiG, die in ihrem Kern auf die Urfassung des EpiG zurückgehen, haben folgenden Wortlaut:
§ 5 Abs 1 (idF vor der Novelle BGBl I 2022/89)
„Über jede Anzeige sowie über jeden Verdacht des Auftretens einer anzeigepflichtigen Krankheit haben die zuständigen Behörden nach Möglichkeit und Tunlichkeit durch die ihnen zur Verfügung stehenden Ärzte unverzüglich die zur Feststellung der Krankheit und der Infektionsquelle erforderlichen Erhebungen und Untersuchungen einzuleiten. Kranke, Krankheitsverdächtige und Ansteckungsverdächtige sind verpflichtet, den zuständigen Behörden die erforderlichen Auskünfte zu erteilen und sich den notwendigen ärztlichen Untersuchungen sowie der Entnahme von Untersuchungsmaterial zu unterziehen. Zum Zwecke der Feststellung von Krankheitskeimen sind hiebei nach Möglichkeit fachliche Untersuchungsanstalten in Anspruch zu nehmen.“
§ 6 Abs 1
„Über jeden Fall einer anzeigepflichtigen Krankheit sowie über jeden Verdachtsfall einer solchen Krankheit sind, neben den nach § 5 etwa erforderlichen Erhebungen, ohne Verzug die zur Verhütung der Weiterverbreitung der betreffenden Krankheit notwendigen Vorkehrungen im Sinne der folgenden Bestimmungen für die Dauer der Ansteckungsgefahr zu treffen.“
§ 15 Abs 1
„Sofern und solange dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung zum Schutz vor deren Weiterverbreitung unbedingt erforderlich ist, sind Veranstaltungen, die ein Zusammenströmen größerer Menschenmengen mit sich bringen, […].“
§ 20 Abs 1
„Beim Auftreten von [...] kann die Schließung von Betriebsstätten, in denen bestimmte Gewerbe ausgeübt werden, deren Betrieb eine besondere Gefahr für die Ausbreitung dieser Krankheit mit sich bringt, für bestimmt zu bezeichnende Gebiete angeordnet werden, wenn und insoweit nach den im Betriebe bestehenden Verhältnissen die Aufrechterhaltung desselben eine dringende und schwere Gefährdung der Betriebsangestellten selbst sowie der Öffentlichkeit überhaupt durch die Weiterverbreitung der Krankheit begründen würde“
§ 24 Abs 1
„Sofern dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung zum Schutz vor deren Weiterverbreitung unbedingt erforderlich ist, sind für die in Epidemiegebieten aufhältigen Personen Verkehrsbeschränkungen anzuordnen. Ebenso können Beschränkungen für das Betreten von Epidemiegebieten angeordnet werden.“
[68] 4.3.2. Nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage sollten die §§ 5 und 6 EpiG der „Sicherung der allgemeinen Volkshygiene“ dienen. Die Materialien sprechen in diesen Zusammenhang von einer „die Allgemeinheit gefährdenden Krankheit“ (22 BlgHH 21. Sess 23).
[69] 4.3.3. Den genannten Normen ist schon dem Wortlaut nach gemeinsam, dass sie die Behörden zu Untersuchungen, Erhebungen und Maßnahmen verpflichten, die darauf abzielen, die „Weiterverbreitung“ einer meldepflichtigen Krankheit möglichst zu verhindern (in § 5 Abs 1 EpiG wurde diese Formulierung erst mitder Novelle BGBl I 2022/89 aufgenommen). Der Gesetzgeber wollte den Behörden daher hinreichende Mittel in die Hand geben, um den Gefahren einer Epidemie wirksam zu begegnen und damit die Gesellschaft vor den Gefahren, die mit einer unkontrollierten Verbreitung einer solchen Krankheit einhergingen, möglichst zu schützen. Nach ihrem ursprünglichen Verständnis haben diese Normen damit unzweifelhaft Allgemeininteressen vor Augen.
[70] 4.4. Für die Beurteilung des Sinns einer Norm ist die Vorstellung des historischen Gesetzgebers nicht allein ausschlaggebend. Durch Auslegung ist vielmehr der nach heutigem Verständnis maßgebende Inhalt zu ermitteln (RS0008874). Dabei ist eine Gesamtwürdigung im Sinn eines „beweglichen Systems“ vorzunehmen und unter Heranziehung aller zur Verfügung stehenden Kriterien in wertender Entscheidung der Zweck der Regelung klarzustellen (RS0008877). Das führt entgegen Geroldinger (Amtshaftung wegen Fehlern bei der Bekämpfung der COVID-19-Epidemie? JBl 2020, 523 ff) aber zu keinem anderen Ergebnis.
[71] 4.4.1. § 5 EpiG verpflichtet die Behörden die zur Feststellung der Krankheit und der Infektionsquellen erforderlichen Erhebungen und Untersuchungen einzuleiten. Kranke, Krankheitsverdächtige und Ansteckungsverdächtige sind verpflichtet, den Behörden die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Solche Erhebungen dienen der Informationsbeschaffung durch die Behörden und damit erkennbar dem Zweck, die Grundlagen für die im II. Hauptstück des Gesetzes geregelten Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten zu schaffen. § 5 EpiG kann daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss in Verbindung mit den Bestimmungen des II. Hauptstücks gelesen werden. Aus § 5 EpiG allein kann kein bestimmter (selbständiger) Schutzzweck abgeleitet werden. Soweit der Kläger aus einer möglichen medialen Berichterstattung über Ergebnisse von Erhebungen eine für ihn günstigere Situation ableitet, weil er dann gar nicht erst angereist wäre und sich folglich auch nicht infiziert hätte, spricht er ausschließlich mögliche Reflexwirkungen aus den nach seiner Sicht gebotenen Erhebungen an. Anhaltspunkte für die von ihm ins Treffen geführten Informationspflichten bietet diese Bestimmung nicht.
[72] 4.4.2. Vergleichbares gilt für § 6 EpiG. Dessen Abs 1 hält fest, dass neben den erforderlichen Erhebungen nach § 5 EpiG ohne Verzug die zur Verhütung der Weiterverbreitung notwendigen Vorkehrungen im Sinn der nachfolgenden Bestimmungen zu treffen sind. Damit ist diese Bestimmung im Sinn einer Präambel zu verstehen, ohne dass ihr eine selbständige Verpflichtung oder ein selbständiger Schutzzweck entnommen werden könnte. Eine – wie vom Kläger gefordert – Informationspflicht bestimmten Personen oder Personengruppen gegenüber oder eine Verpflichtung zu Reisewarnungen, die ihn davon abgehalten hätte, anzureisen, kann daraus nicht abgeleitet werden. Eine solche Auswirkung auf sein Verhalten wegen einer allfälligen medialen Berichterstattung müsste als bloße Reflexwirkung unbeachtlich bleiben.
[73] 4.4.3. Nach § 15 EpiG hat die Bezirksverwaltungsbehörde Veranstaltungen zu untersagen, sofern und solange dies zum Schutz vor der Weiterverbreitung einer meldepflichtigen Krankheit unbedingt erforderlich ist. Ziel der Bestimmung ist also ebenfalls, die Weiterverbreitung einer Krankheit zu verhindern. Damit zielt auch diese Regelung auf die Wahrung der allgemeinen Gesundheit ab. All jene, die im Zeitpunkt, zu dem eine solche Maßnahme ergriffen wird oder bei pflichtgemäßem Behördenhandeln zu ergreifen gewesen wäre, noch nicht infiziert waren, sollen vor einer Ansteckung bewahrt werden, damit sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet. Erfasst sind in einer Pandemie, in der die Infektionskrankheit nicht örtlich begrenzt auftritt, wiederum eine gänzlich unbestimmte Zahl von Personen. Damit mag es zwar zutreffen, wie der Kläger geltend macht, dass er sich vielleicht nicht angesteckt hätte, wenn bereits am 7. 3. 2020 alle Veranstaltungen im fraglichen Gebiet untersagt worden wären. Das wäre aber nur eine mögliche Folge daraus, dass sich die Schutzwirkungen einer solchen Maßnahme auch auf ihn als Teil der unbestimmten Größe „Allgemeinheit“ erstreckt hätten.
[74] 4.4.4. § 20 Abs 1 EpiG dient seinem Wortlaut nach zunächst ebenfalls dem Schutz der Allgemeinheit. Danach kann eine Betriebsstätte geschlossen werden, wenn deren Betrieb eine besondere Gefahr für die Ausbreitung einer Krankheit mit sich bringt und sonst eine dringende und schwere Gefährdung der Öffentlichkeit überhaupt durch die Weiterverbreitung der Krankheit begründen würde.
[75] Neben der Öffentlichkeit nennt das Gesetz aber ausdrücklich auch die Angestellten der Betriebsstätte, die durch Weiterbetrieb nicht gefährdet werden sollen. Damit erfasst diese Norm neben den Interessen der Allgemeinheit auch die (gesondert genannten) Interessen einer konkret umschriebenen Personengruppe. Der Umstand, dass diese Norm ausdrücklich auch den Schutz einer klar definierten Personengruppe bezweckt, spricht dabei klar gegen die Annahme, dass auch darüber hinaus Individualinteressen von Personen miterfasst wären, die nicht dieser Gruppe angehören (so jedoch Geroldinger, JBl 2020, 533). Allgemeine Zielrichtung ist auch hier nur, die Krankheit angesichts eines epidemischen oder pandemischen Infektionsgeschehens möglichst zu beherrschen und damit das Interesse der in § 20 Abs 1 EpiG ausdrücklich genannten „Öffentlichkeit“ an der Aufrechterhaltung der allgemeinen Gesundheit. Schon die Schließung des Betriebs im Allgemeininteresse erfasst als Folgewirkung auch den Schutz der dort tätigen Personen.
[76] Deren ausdrückliche Nennung in § 20 Abs 1 EpiG kann daher nur so verstanden werden, dass schon im Fall ihrer Gefährdung (ohne dass eine weitergehende Gefährdung anderer Personen bestünde) eine Maßnahme im Sinn dieser Bestimmung angeordnet werden kann. Ist das der Fall, sind Interessen des Klägers schon deshalb nicht erfasst, weil er nicht Teil der Gruppe der „Betriebsangestellten“ ist. Wäre daher, wie er releviert, ein bestimmtes Lokal bereits am Abend des 7. 3. 2020 geschlossen worden, zeigte sich der Umstand, dass er das Lokal nicht besucht und sich dabei allenfalls nicht angesteckt hätte, als bloße Reflexwirkung einer zugunsten der dort tätigen Personen ergriffenen Maßnahme. Gleiches gilt, wenn die von ihm als Folge eines pflichtgemäße Behördenhandelns reklamierte Schließung des Lokals zum Schutz der Öffentlichkeit vorgenommen worden wäre. Eine solche Maßnahme wäre ihm lediglich als Teil der unbestimmten Größe „Allgemeinheit“ zu Gute gekommen.
[77] 4.4.5. Verkehrsbeschränkungen nach § 24 EpiG greifen ebenfalls in nach Art 8 Abs 1 EMRK geschützte Grundrechte ein. Daher darf die Behörde für Bewohner von Epidemiegebieten Verkehrsbeschränkungen nur verfügen, sofern dies im Hinblick auf eine meldepflichtige Krankheit zum Schutz vor deren Weiterverbreitung unbedingt erforderlich ist. Auch ein solcher Eingriff ist daher nur innerhalb der Schranken des Art 8 Abs 2 EMRK zulässig. Das ist der Fall, wenn er in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Legitime Ziele sind daher in erster Linie öffentliche Interessen, wie insbesondere der Schutz der allgemeinen Gesundheit im Sinn von Art 10 Abs 1 Z 12 B‑VG.
[78] Zielrichtung des § 24 EpiG ist schon nach dessen Wortlaut der Schutz vor der Weiterverbreitung einer Krankheit. Die danach möglichen Anordnungen (Isolierung von größeren Gebieten) zielen damit auf die Erhaltung der allgemeinen Gesundheit ab. All jene sollen vor einer Infektion geschützt werden, die sich nicht in den davon betroffenen Gebieten befinden. Das sind bezogen auf das ganze Bundesgebiet jedenfalls der gesamte übrige Teil der Bewohner und alle, die sich außerhalb der betroffenen Gebiete in Österreich aufhalten; darüber hinaus aber auch – was gerade in einem Tourismusgebiet besonders ins Gewicht fällt – alle im (weltweiten) Ausland aufhältigen Personen, die sich bei einer Einreise in das Epidemiegebiet anstecken könnten, und alle, die – wo auch immer – von solchen Personen angesteckt werden könnten. Die Vollziehung dieser Norm dient damit dem Schutz eines völlig unbestimmten Personenkreises und damit den Interessen der Allgemeinheit.
[79] Anhaltspunkte dafür, dass mit der Anordnung einer solchen Maßnahme auch das Interesse Einzelner, sich nicht zu infizieren, bezweckt wäre, finden sich in dieser Bestimmung nicht. Es mag daher zutreffen, wie der Kläger geltend macht, dass er – wäre über das fragliche Gebiet vor seiner Anreise eine Verkehrsbeschränkung verhängt worden – seinen Urlaub nicht angetreten hätte; damit beruft er sich aber wieder auf eine bloße Reflexwirkung des seines Erachtens pflichtgemäßen Behördenhandelns.
5. Zusammengefasst folgt:
[80] Sowohl die Materialien zur Stammfassung des EpiG als auch eine Analyse der vom Kläger in seinem Rechtsmittel herangezogenen Bestimmungen zeigen, dass die der Behörde im II. Hauptstück des Epidemiegesetzes (§§ 6 ff EpiG) auferlegten Handlungspflichten den Schutz der Allgemeinheit bezwecken. Der Einzelne ist von den Wirkungen und damit dem Schutz solcher Maßnahmen nur indirekt in Form einer Reflexwirkung betroffen. Allein der Umstand, dass die hier strittigen Maßnahmen nach dem EpiG, wären sie – allenfalls früher – ergriffen worden, möglicherweise auch dem Kläger zu Gute gekommen wären, weil er dann etwa nicht angereist oder ein bestimmtes Lokal nicht besucht hätte, kann den für eine Haftung erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang nicht begründen. Damit kann aus der behaupteten Unterlassung des nach Sicht des Klägers gebotenen Behördenverhaltens keine Amtshaftung abgeleitet werden. Eine weitere Prüfung, ob überhaupt eine schuldhafte Pflichtverletzung vorlag, hat daher zu unterbleiben.
C. Zur Haftung wegen behaupteter Verstöße gegen Schutzpflichten nach Art 2 und Art 8 EMRK:
1. Standpunkt des Klägers:
[81] Der Kläger leitet Amtshaftungsansprüche auch (unmittelbar) aus Art 2 und Art 8 EMRK ab. Er behauptet, aus diesen Bestimmungen ergebe sich die rechtliche Verpflichtung der Behörden zur raschen, vollständigen und wahrheitsgemäßen Information der Bevölkerung über akut drohende Gesundheitsgefahren. Von den zuständigen Organen wäre ein aktueller, vollständiger und wahrheitsgemäßer Überblick über die Infektionslage und die behördlichen Gegenmaßnahmen zu veröffentlichen gewesen. Die Veröffentlichung hätte in der Form einer „staatlichen Reisewarnung“ ab 5. 3. 2020 an alle, die einen Aufenthalt im Paznauntal planten, gerichtet werden müssen. Die Medieninformationen vom 5. 3. und vom 8. 3. 2020 des Amtes der Tiroler Landesregierung seien unvollständig und unrichtig gewesen und hätten gegen grundrechtliche (Informations‑)Pflichten verstoßen. Am 9. 3. 2020 hätte über weitere positive Testergebnisse informiert werden müssen. Von der Beklagten wären „grundrechtlich gebotene Maßnahmen“ sowie „deutliche Schritte“ zum Schutz der im Paznauntal aufhältigen Personen und zu seinem Schutz zu setzen gewesen, sei er doch kurz davor gestanden, ins Paznauntal zu reisen.
[82] Die Beklagte wendete ein, eine Warnung vor einer Einreise nach Österreich bzw in ein bestimmtes österreichisches Gebiet sei grundrechtlich nicht geboten gewesen. Die Landesinformationen vom 5. 3. und vom 8. 3. 2020 seien nicht hoheitlich erfolgt, sondern im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung. Art 2 EMRK könne nicht als gesetzliche Grundlage für die Erstattung von Landesinformationen herangezogen werden.
2. Informationspflichten des Staats auf der Grundlage von Art 2 und Art 8 EMRK:
[83] 2.1. Nach Art 2 Abs 1 Satz 1 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Nach Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat‑ und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
[84] 2.2. Sowohl Art 2 als auch Art 8 EMRK begründen nach der Rechtsprechung des EGMR positive Verpflichtungen der (Vertrags‑)Staaten.
[85] Nach Art 2 EMRK sind die Staaten verpflichtet, angemessene Schritte zum Schutz des Lebens der seiner Jurisdiktion unterworfenen Personen zu setzen (EGMR Bsw 15339/02 ua, Budayeva ua gegen Russland;weitere Nachweise in RS0126701). Nach Art 8 EMRK besteht aufgrund des Gebots wirksamer Achtung des Privat‑ und Familienlebens die positive Verpflichtung des Staats, das Recht seiner Bürger auf Achtung der psychischen und physischen Integrität zu gewährleisten, woraus sich positive Verpflichtungen ergeben können (EGMR Bsw 5410/03, Tysiac gegen Polen; weitere Nachweise in RS0126416; ebenso EGMR Bsw 14967/89, Guerra ua gegen Italien;weitere Nachweise in RS0125035).
[86] Insbesondere leitet der EGMR aus diesen Bestimmungen unter gewissen Voraussetzungen Informationspflichten der Vertragsstaaten ab. Solche Pflichtenbejahte er etwa
- gegenüber Testpersonen, die im Rahmen ihrer Tätigkeit bei der Armee an Experimenten mit Senf- und Nervengas teilnahmen (EGMR Bsw 32555/96, Roche gegen Vereinigtes Königreich),
- gegenüber Einwohnern einer betroffenen Stadt nach einer Ökokatastrophe überderen Folgen und in die Wege geleitete Maßnahmen (EGMR Bsw 67021/01, Tatar gegen Rumänien = RS0127283),
- gegenüber der Bevölkerung über das erhöhte Risiko von Unfällen im Falle eines Erdrutsches (Überflutung von Teilen einer Stadt infolge einer Geröll‑ und Schlammlawine, wobei bereits zuvor ein absichernder Damm schwer beschädigt worden war; EGMR Bsw 15339/02 ua, Budayeva ua gegen Russland), und
- gegenüber Tiefseetauchern über die von Ölfirmen verwendeten Dekompressionstabellen, die für die Beurteilung der Gefahr und der Gesundheit bei deren Tauchoperationen maßgeblich gewesen wären (EGMR Bsw 52806/09 ua, Vilnes ua gegen Norwegen).
[87] 2.3. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung könnten sich aus Art 2 EMRK und Art 8 EMRK auch Informationspflichten des Staats über drohende Gesundheitsgefahren ergeben, wozu auch eine mit der COVID‑19‑Pandemie verbundene Gefahr für die Gesundheit zählen kann. Ob die Behörden im gegenständlichen Fall allfälligen grundrechtlich gebotenen Informationspflichten ausreichend nachgekommen sind und ob sie allenfalls solche Pflichten verletzt haben könnten, braucht aber im Zusammenhang mit dem behaupteten Verstoß gegen Art 2 und Art 8 EMRK aus den nachstehenden Gründen nicht geprüft werden.
3. Aus Art 2 und Art 8 EMRK folgen keine konkreten Handlungspflichten für die staatliche Vollziehung:
[88] 3.1. Gemäß Art 18 Abs 1 B‑VG darf die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. Nach Art 17 B‑VG wird durch die Bestimmungen der Art 10 bis 15 über die Zuständigkeit in Gesetzgebung und Vollziehung die Stellung des Bundes und der Länder als Träger von Privatrechten in keiner Weise berührt (Privatwirtschaftsverwaltung).
[89] 3.2. Adressat der Schutzpflichten aus Art 2 und Art 8 EMRK ist – völkerrechtlich betrachtet – der Vertragsstaat der EMRK.
[90] In dessen Verantwortung fällt die Gewährung effektiven Schutzes des Gesundheits‑ und Lebensrechts (Kopetzki in Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/ Zellenberg, Österreichisches Bundesverfassungsrecht Art 2 EMRK [5. Lfg August 2002] Rz 68; Kneihs, Art 2 EMRK, in Kneihs/Lienbacher, Rill‑Schäffer‑Kommentar Bundesver-fassungsrecht [4. Lfg 2006] Rz 16). Innerstaatlich ist Adressat der aus Art 2 und Art 8 EMRK abgeleiteten Pflicht des Staats zum Schutz seiner Bürger vor Gefährdungen ihres Lebens und ihrer Gesundheit im Rahmen einer auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung und im Besonderen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art 18 B‑VG) beruhenden Staatsorganisation primär der Gesetzgeber. Im österreichischen Verfassungssystem hat der Gesetzgeber die konkrete Pflicht der Verwaltungsorgane zur Information der Bevölkerung näher auszugestalten (Öhlinger, Sind staatliche Organe überhaupt – und wenn ja: In welchem Umfang – zur Information der Bevölkerung über Unfallgefahren verpflichtet?, ZVR 1995, 282 [284 f]; Kneihs, Das Recht auf Leben in Österreich, JBl 1999, 76 [82 f]; Kneihs, Art 2 MRK, in Kneihs/Lienbacher aaO Rz 20; Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten [1997] 282; Kopetzki aaO Art 2 EMRK Rz 68, 72; Berka, Vorbemerkungen zum StGG, in Kneihs/Lienbacher, Rill‑Schäffer‑Kommentar Bundesverfassungsrecht [1. Lfg 2001] Rz 26, 28).
[91] Die gesetzlichen Schutzvorschriften müssen die Vollziehung in die Lage versetzen, ihren sogenannten sekundären/administrativen Schutzpflichten angemessen nachzukommen. In einem System, in dem das Legalitätsprinzip jegliches Vollziehungshandeln auf das Gesetz verweist, bedeutet das, dass der Gesetzgeber entsprechende Befugnisse für eine effiziente Gefahrenabwehr auch durch die Vollziehung bereitstellen muss (Kneihs, Art 2 EMRK, in Kneihs/Lienbacher, Rill‑Schäffer‑Kommentar Bundesverfassungsrecht [4. Lfg 2006] Rz 20; Kopetzki in Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg,Österreichisches Bundesverfassungsrecht Art 2 EMRK [5. Lfg August 2002] Rz 68).
[92] Eine rechtliche Verpflichtung von Verwaltungsorganen zur Informationserteilung kann demnach nicht unmittelbar aus der Verfassung (Art 2 und Art 8 EMRK) abgeleitet werden. Vielmehr bedürfte eine solche Verpflichtung von Verwaltungsbehörden zur Information über (Unfall‑)Gefahren einer einfachgesetzlichen Grundlage. Eine Ableitung von Informationspflichten von Verwaltungsorganen (in Form von Warnungen, Empfehlungen und Hinweisen) unmittelbar aus der grundrechtlich begründeten staatlichen Schutzpflicht (einschließlich einer „Staatshaftung“ für mangelhafte oder unterlassene Informationen), lässt sich beim derartigen Stand der österreichischen Verfassungsdogmatik sicherlich nicht in konsensfähiger Weise begründen (Öhlinger, ZVR 1995,285; Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten [1997] 282 f; Bußjäger/Egger, ÖJZ 2021, 67 FN 61). Ebenso wie sich unmittelbar aus den Grundrechten der EMRK keine Handlungspflichten für die staatliche Vollziehung ableiten lassen, so lässt sich unmittelbar aus grundrechtlichen Schutzpflichten nach der EMRK auch kein subjektiver, im Gerichts- oder Verwaltungsweg direkt durchsetzbarer Anspruch des Einzelnen ableiten. Auch dieser ist auf „gesetzliche Vermittlung“ angewiesen (Holoubek aaO 283).
[93] 3.3. Anders als die völlig einheitliche herrschende Lehre meint der (im Auftrag des Vereins zum Schutz von Verbraucherinteressen tätige) Rechtsgutachter Fister (Öffentlich‑rechtliche Betrachtungen zum Fall Ischgl, AnwBl 2022, 21 [26]), dass die Bezirkshauptmannschaft Landeck auch ohne besondere gesetzliche Grundlage, sondern bereits „in unmittelbarer Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten“ am 5. 3. 2020 eine Reisewarnung zu veröffentlichen gehabt hätte. Fister nennt dafür aber weder eine Belegstelle noch eine Rechtsgrundlage, und er übergeht damit das Legalitätsprinzip (Art 18 Abs 1 B‑VG). Eine unmittelbare „grundrechtliche“ Handlungspflicht würde auch das demokratische Prinzip betreffen, würde es doch dann den Gesetzgeber nicht benötigen, wenn die Vollziehung – nach deren eigenständiger Beurteilung – unmittelbar aufgrund von Art 2 und Art 8 EMRK konkrete rechtliche Verpflichtungen treffen könnten. Die (vereinzelt gebliebene) Ansicht von Fister ist daher abzulehnen.
4. Zusammengefasst folgt:
[94] Mangels unmittelbarer Wirkung für die Verwaltung und damit für das konkrete behördliche Handeln können aus dem vom Kläger behaupteten Verstoß gegen Schutzpflichten nach Art 2 und Art 8 EMRK durch unzureichende Informationen keine Amtshaftungsansprüche abgeleitet werden.
D. Zur Haftung aufgrund Unionsrechts:
1. Standpunkt des Klägers:
[95] 1.1. Der Kläger behauptet zunächst Verstöße von Organen der Beklagten gegen Verpflichtungen aus der Europäischen Grundrechtecharta. Danach hätten die österreichischen Gesundheitsbehörden angemessene Maßnahmen zum Schutz seiner Gesundheit nach der GRC ergreifen müssen.
[96] 1.1.1. Der Kläger stützt sich dabei auf Art 2 (Recht auf Leben), Art 3 (Recht auf Unversehrtheit) und Art 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) GRC. Diese Bestimmungen entsprechen im Kern den oben (Punkt C.) erörterten Regelungen der EMRK. Sie würden den nationalen Behörden unmittelbare Handlungspflichten auferlegen. Die GRC sei von nationalen Behörden unmittelbar anzuwenden und räume dem Einzelnen individuelle Rechte – auch auf aktiven Schutz durch den Mitgliedstaat – ein. Ihr Anwendungsbereich ergebe sich daraus, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art 51 Abs 1 GRC „bei der Durchführung des Rechts der Union“ an diese gebunden seien. Dies sei dann der Fall, wenn die Behörde eines Mitgliedstaats Unionsrecht anwende bzw anzuwenden gehabt hätte. Nach der Rechtsprechung des EuGH reiche es für die Anwendbarkeit der GRC aus, dass eine Regelung des Unionsrechts bestehe, die „für einen bestimmten Bereich spezifisch sei oder ihn beeinflussen könne“. Auch unterlassene nationale Maßnahmen seien darauf zu prüfen, ob deren Vornahme die Durchführung des Rechts der Union iSd Art 51 Abs 1 Satz 1 GRC betroffen hätte.
[97] 1.1.2. Im Einzelnen leitet der Kläger den Anwendungsbereich der GRC aus folgenden Erwägungen ab:
[98] (a) Als deutscher Staatsbürger habe er aufgrund seines Urlaubs in Österreich und der dort konsumierten Dienstleistungen die passive Dienstleistungsfreiheit (Art 56, 57 AEUV) in Anspruch genommen. Bereits dies eröffne den Anwendungsbereich der GRC.
[99] (b) Da er durch seine Einreise nach Österreich die unionsrechtliche Personenfreizügigkeit nach Art 21 AEUV in Anspruch genommen habe, sei auch aus diesem Grund der Anwendungsbereich der GRC eröffnet.
[100] (c) Die Anwendbarkeit der GRC ergebe sich auch aus dem Beschluss des europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 10. 2013, 1082/2013/EU , zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhebung der Entscheidung Nr 2119/98/EG , weil die österreichischen Gesundheitsbehörden ihren dort normierten Informations-, Warn- und Unterrichtungspflichten nicht nachgekommen seien.
[101] (d) Letztlich folge die Anwendbarkeit der GRC auch aus Art 168 AEUV(Gesundheitswesen als Politik der Union).
[102] 1.2. Daneben behauptet der Kläger Verstöße gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht.
[103] (a) Handlungspflichten zum Schutz seiner Gesundheit hätten sich zunächst unmittelbar aus der unionsrechtlichen Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) ergeben. Den Mitgliedstaaten sei es untersagt, deren Ausübung zu behindern oder „weniger attraktiv“ zu machen. Die den Organen der Beklagten vorgeworfenen Informations- und Warnpflichtverletzungen seien als „Verstoß gegen die passive Dienstleistungsfreiheit“ des Klägers anzusehen, weil sie deren Inanspruchnahme „weniger attraktiv“ gemacht hätten. Die österreichischen Gesundheitsbehörden hätten nicht einfach zusehen dürfen, wie sich Unionsbürger bei der Ausübung ihrer Grundfreiheiten in gesundheitliche Gefahr bringen. Ihre Grundfreiheiten hätten vielmehr – zu deren Schutz – (etwa durch Einreisebeschränkungen oder ein Einreiseverbot) beschränkt werden müssen.
[104] (b) Aus der unionsrechtlich gewährleisteten Freizügigkeit (Art 21 AEUV) habe sich eine Verpflichtung der österreichischen Gesundheitsbehörden ergeben, den Kläger vor konkreten Gesundheitsgefahren zu schützen. Dies hätte insbesondere durch (frühere) Ein- und Ausreisebeschränkungen in das vom Kläger besuchte Urlaubsgebiet erfolgen müssen.
[105] (c) Aus dem Beschluss des europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 10. 2013, 1082/2013/EU , leitet der Kläger Handlungspflichten der österreichischen Behörden ab, weil dieser auch den Schutz der Gesundheit des Einzelnen bezwecke. Die Organe der Beklagten hätten gegen die den Mitgliedstaaten in diesem Beschluss auferlegten Informationspflichten verstoßen.
[106] (d) Schließlich bestehe der Anspruch auch unmittelbar aufgrund von Art 168 AEUV.
2. Zur Haftung aufgrund von angeblichen Verstößen gegen die Grundrechtecharta:
[107] 2.1. Eine Haftung aufgrund von Verstößen gegen die GRC setzte voraus, dass sie im konkreten Fall anwendbar wäre.
[108] 2.1.1. Dabei ist von folgenden allgemeinen Grundsätzen auszugehen.
[109] (a) Gemäß Art 51 Abs 1 GRC gilt die am 1. 12. 2009 in Kraft getretene GRC für Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden. Nach Abs 2 leg cit dehnt die GRC den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
[110] (b) Art 51 Abs 1 GRC zielt darauf ab, den Kreis der durch die GRC Verpflichteten und damit deren Reichweite festzulegen. Ihr Anwendungsbereich umfasst primär die Union, unter bestimmten Umständen aber auch die Mitgliedstaaten, wobei historisch eine möglichst umfassende Bindung der Union, hingegen eine „Zurückhaltung“ bei der Bindung der Mitgliedstaaten angestrebt war (Holoubek/ Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC‑Kommentar2 Art 51 Rz 1 f mwN; Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 [2019] Art 51 Rz 27). Die Bindung „der Mitgliedstaaten“ bezieht sich auf alle ihre Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen (Holoubek/Oswald aaO Rz 15 mwN; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 [2021] Art 51 Rz 19).
[111] (c) Da die Mitgliedstaaten nach Art 51 Abs 1 GRC „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ an die GRC gebunden sind, bedarf es eines konkreten unionsrechtlichen Anknüpfungspunktes, der eine bestimmte Fallgestaltung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit auch in den Anwendungsbereich der GRC bringt (Holoubek/Oswald aaO Rz 17). Die europäischen Grundrechte selbst begründen einen solchen nicht (Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 Art 51 Rz 19 mwN).
[112] 2.1.2. Die Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der GRC kann wie folgt zusammengefasst werden:
[113] (a) Der EuGH entwickelte zur Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC zwei Rechtsprechungslinien:
[114] (aa) Ausgehend von der (noch vor der GRC ergangenen) Leitentscheidung vom 13. 7. 1989, C‑5/88 , Wachauf (insb Rn 19 ff), nimmt er eine Bindung der Mitgliedstaaten an europäische Grundrechte an, wenn sie Unionsrecht unmittelbar vollziehen. Diese Fallkonstellation wird in der Literatur als „Agency-Situation“ beschrieben (Bilz, Margin of Appreciation der EU-Mitgliedstaaten [2020] 10; Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 Art 51 Rz 39). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mitgliedstaat unmittelbar „im Dienst“ des Unionsrechts handelt (Schorkopf in Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz² [2022] 239). Erfasst sind insbesondere die Anwendung von Verordnungen und von vom nationalen Gesetzgeber umgesetzten (oder auch nicht umgesetzten, aber ausnahmsweise unmittelbar anwendbaren) Richtlinien (Schorkopf aaO; Bilz aaO 11).
[115] (bb) In einer zweiten Rechtsprechungslinie, die der EuGH mit seiner Entscheidung vom 18. 6. 1991, C‑260/89 , ERT, begründete, nimmt er eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsrechtsgrundrechte auch dann an, wenn sie in ihrem eigenen Kompetenzbereich eine Grundfreiheit durch eine nationale Maßnahme beschränken (Schorkopf in Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz² 240). Der EuGH prüft dann, ob eine solche Beschränkung mit den Grundrechten vereinbar ist („Schranken-Schranke“; vgl dazu etwa Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 Art 51 Rz 39 und Rz 48; Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte² [2020] 227). Diese erstmals in der Rechtssache ERT vertretene Rechtsansicht wurde vom EuGH in mehreren Entscheidungen bekräftigt (etwa EuGH 26. 6. 1997, C‑368/95 , Familiapress, Rn 24; 11. 7. 2002, C‑60/00 , Carpenter, Rn 28 ff; nach Inkrafttreten der GRC etwa EuGH 30. 4. 2014, C-390/12 , Pfleger, Rn 30 ff; 18. 6. 2020, C‑78/18 , Kommission/Ungarn, Rn 101; 6. 10. 2020, C‑66/18 , Kommission/Ungarn, Rn 212 ff). Demnach sind in Grundfreiheiten eingreifende nationale Rechtsakte sowohl dann am Maßstab der GRC zu prüfen, wenn sich der Mitgliedstaat zu deren Rechtfertigung auf primärrechtlich normierte Ausnahmetatbestände von den Grundfreiheiten beruft (EuGH C‑260/89 , ERT, Rn 42), als auch dann, wenn er sich auf vom EuGH entwickelte Schranken bezieht (Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte [2005] 22 mwN).
[116] In seiner weiteren Rechtsprechung erhielt diese (auf die Einschränkung von Grundfreiheiten bezogene) ERT-Rechtsprechung eine weitere Dimension, weil der EuGH auch prüfte, ob eine nationale Beschränkung von Grundfreiheiten durch die Unionsgrundrechte als eigenem (unionsrechtlich nicht besonders geregelten; vgl Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 Art 51 Rz 48) Rechtfertigungsgrund berechtigt sein kann (EuGH 12. 6. 2003, C‑112/00 , Schmidberger, zur Beschränkung des freien Warenverkehrs durch eine Blockade der Brennerautobahn; vgl auch EuGH 11. 12. 2007, C‑438/05 , Viking; 18. 12. 2007, C‑341/05 , Laval). Demnach stellt sich die Grundrechtsprüfung nicht nur als Begrenzung von (unionsrechtlich normierten) Ausnahmen der Grundfreiheiten („Schranken-Schranke“) dar, sondern bietet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, in diese allein aus grundrechtlichen Erwägungen einzugreifen (Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten, 27).
[117] (b) Nach seiner jüngeren Rechtsprechung stehen die beiden Judikaturlinien Wachauf und ERT nicht isoliert nebeneinander, vielmehr sieht der EuGH den Anwendungsbereich des Unionsrechts als entscheidend für die Frage der Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten an (Schorkopf in Grabenwarter, Grundrechtsschutz² 245). In seinem Urteil vom 26. 2. 2013, C‑617/10 , Åkerberg Fransson (Rn 21), nahm er den Anwendungsbereich der GRC als gegeben an, „wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“. Die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte fänden demnach in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, nicht aber außerhalb derselben Anwendung (Rn 19). Unzuständig sei der Gerichtshof – und der Anwendungsbereich der GRC daher nicht gegeben – nur dann, wenn eine „rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst sei“ (Rn 22; vgl auch EuGH 8. 5. 2014, C‑483/12 , Pelckmans Turnhout, Rn 20).
[118] (c) Die weite Formulierung der Entscheidung Åkerberg Fransson stieß weitgehend auf Ablehnung. Nach der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. 4. 2013, 1 BvR 1215/07 (NJW 2013, 1499 = BVerfGE 133, 277, Antiterrordateigesetz) darf sie nicht dahin verstanden werden, dass für eine Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreichten (Rn 91). Auch im Schrifttum wurde die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson und dessen (sprachlich) weites Verständnis des Anwendungsbereichs der GRC kritisiert (Nachweise bei Bilz, Margin 18 FN 42).
[119] (d) Wohl als Reaktion auf diese Kritik (Schorkopf in Grabenwarter, Grundrechtsschutz² 247; Bilz, Margin 19) konkretisierte der EuGH den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte in seiner Entscheidung vom 6. 3. 2014, C‑206/13 , Siragusa, und rückte von seinem zuvor vertretenen weiten Verständnis ab.
[120] Diesem Urteil lag der Fall zugrunde, dass Herrn Siragusa die Beseitigung eines nach einer italienischen Bestimmung zum Schutz von Kultur- und Landschaftsgütern unerlaubt errichteten Bauwerks aufgetragen wurde. Der Anwendungsbereich der GRC wurde vom vorlegenden Gericht in diesem Fall daraus abgeleitet, dass insoweit ein Zusammenhang mit dem Unionsrecht bestehe, als das nationale Gesetz den Landschaftsschutz bezwecke und dieser Teil des Umweltschutzes sei, der von verschiedenen Bestimmungen des Unionsrechts adressiert werde.
[121] Der EuGH hob in der genannten Entscheidung zunächst hervor, dass Art 51 Abs 2 der GRC (sowie Art 6 Abs 1 EUV) klarstelle, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der GRC in keiner Weise erweitert werden dürften (Rn 20). In weiterer Folge nahm er zwar auf seine Rechtsprechung Bezug, wonach es für den Anwendungsbereich der GRC darauf ankomme, ob eine (auf ihre Grundrechtskonformität zu prüfende) Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle (Rn 21; vgl auch C‑198/13 , Hernández, Rn 33). Der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ iSv Art 51 GRC verlange jedoch einen „hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad, der darüber hinausgehe, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“ (C‑206/13 , Siragusa, Rn 24; vgl auch EuGH 10. 7. 2014, C‑198/13 , Hernández, Rn 34; jüngst etwa 20. 10. 2022, C‑301/21 , Curtea de Apel Alba Iulia, Rn 73).
[122] Um festzustellen, ob eine nationale Regelung die Durchführung des Rechts der Union betreffe, sei ua zu prüfen, ob mit ihr die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt werde, welchen Charakter diese Regelung habe und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt würden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen könne, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gebe, die für diesen Bereich spezifisch sei oder ihn beeinflussen könne (C‑206/13 , Siragusa, Rn 25; so auch bereits EuGH 18. 12. 1997, C‑40/11 , Iida, Rn 79; ebenso 8. 5. 2013, C‑87/12 , Ymeraga, Rn 41; 10. 7. 2014, C‑198/13 , Hernández, Rn 37; 22. 1. 2020, C‑177/18 , Almudena, Rn 59). Die Grundrechte der Union seien im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schüfen (C‑206/13 , Siragusa, Rn 26; ebenso etwa EuGH 10. 7. 2014, C‑198/13 , Hernández, Rn 35; 7. 9. 2017, C‑177/17 , Demarchi Gino Sas, Rn 21; 24. 9. 2019, C‑467/19 , QR, Rn 41; diese Voraussetzung für die Anwendung der GRC betonte auch der VfGH in seinem zu B 533/2013 ergangenen Erkenntnis vom 5. 3. 2015 [4.2.1]). Da dem Mitgliedstaat im Fall Siragusa weder durch den AEUV noch durch Sekundärrecht bestimmte Verpflichtungen im Hinblick auf den Landschaftsschutz auferlegt worden seien und die nationalen Bestimmungen (über den Landschaftsschutz) keine Durchführung des Rechts der Union darstellten, sei der Anwendungsbereich der GRC nicht eröffnet (Rs Siragusa, insb Rn 30).
[123] Im Übrigen hob der EuGH auch hervor, dass das Ziel des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes darin bestehe, sicherzustellen, dass die Grundrechte im Tätigkeitsbereich der Union nicht verletzt würden, sei es infolge deren Handlungen oder bei Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten (aaO Rn 31).
[124] (e) In seiner Entscheidung vom 10. 7. 2014 (C‑198/13 , Hernández) stellte der EuGH darüber hinaus klar, dass allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich falle, in dem die Union über Zuständigkeiten verfüge, diese Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringe und somit zur Anwendbarkeit der GRC führen könne (Rn 36). Dies bestätigte er unter anderem in seinem Urteil vom 19. 11. 2019 zu C‑609/17 , C‑610/17 , TSN und AKT (dort in Rn 46). Dass ein bestimmter (Sach-)Bereich unionsrechtlich geregelt werden könnte bzw sich ein Sachverhalt in einem Bereich „abspielt“, der „von Unionskompetenzen erfasst wird“, reiche für die Anwendung der GRC nicht aus (EuGH 19. 11. 2019, C‑609/17 , C‑610/17 , TSN und AKT, Rn 46 mwN; siehe auch Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 Art 51 Rz 24; Ladenburger in Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta [2006] Art 51 Rz 28 mwN). Unionsrecht werde auch nicht schon dann iSd Art 51 Abs 1 Satz 1 GRC „durchgeführt“, wenn Ziele und Aufgaben der Union betroffen seien (EuGH 26. 2. 2013, C‑117/14 , Nisttahuz Poclava, insb Rn 40). Auch ein bloß hypothetischer Bezug zum Unionsrecht genüge dafür nicht (EuGH 14. 11. 2018, C‑215/17 , Nova Kreditna, Rn 44 f); ebensowenig der Umstand, dass eine nationale Maßnahme das Funktionieren unionsrechtlich geregelter Bereiche mittelbar beeinflussen könne (EuGH 18. 12. 1997, C‑309/96 , Annibaldi, Rn 22; siehe auch VfGH 5. 3. 2015, B 533/2013 [4.2.1]).
[125] 2.1.3. Die Lehre ist bei der Beurteilung der Anwendung der GRC auf das (Organ‑)Handeln einzelner Mitgliedstaaten tendenziell zurückhaltend.
[126] So spricht sich etwa Schwerdtfeger (in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 Art 51 Rz 36) für eine restriktive Auslegung des Art 51 Abs 1 Satz 1 GRC aus (vgl auch die dort in FN 91 genannten Autoren). Ladenburger/Vondung (in Stern/Sachs, Europäische Grundrechte-Charta [2016] Art 51 Rz 32 f) gehen davon aus, dass Unionsgrundrechte nicht schon aufgrund einer „wie immer gearteten Nähe zu Recht, Kompetenzen oder Politiken der Union“ Anwendung finden sollen (ebenso Ladenburger in Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar Art 51 Rz 25 und 29). Ehlers (in Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten4 [2014] § 14 Rz 68) vertritt, dass das Unionsrecht (nur) dann iSd Art 51 Abs 1 Satz 1 GRC „durchgeführt“ wird, wenn es angewendet wird oder angewendet werden muss (hätte müssen). Eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte nimmt dieser Autor dabei nur in dem Ausmaß an, „in dem das Unionsrecht für das Tun, Dulden oder Unterlassen der Mitgliedstaaten Bindungswirkung entfaltet“, wobei die Bindung eine „hinreichend spezifische Verknüpfung zu mitgliedstaatlichem Handeln aufweisen muss“.
[127] 2.2. Auf dieser Grundlage ist eine auf die passive Dienstleistungsfreiheit gestützte Anwendbarkeit der GRC zu verneinen:
[128] 2.2.1. Dienstleistungen, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Dienstleister ohne Ortswechsel gegenüber einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Empfänger erbringt, stellen eine grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von (nunmehr) Art 56 AEUV (ex Art 49 EGV) dar (EuGH 15. 6. 2010, C‑211/08 , Kommission/Königreich Spanien, Rn 48). Die Dienstleistungsfreiheit gilt sowohl zugunsten des Dienstleisters als auch des Dienstleistungsempfängers (EuGH 8. 9. 2009, C‑42/07 , Liga Portuguesa de Futebol Profissional, Rn 51 mwN; 4 Ob 219/21s). Dadurch, dass der Kläger nach Österreich reiste, um hier touristische Dienstleistungen zu konsumieren, nahm er die passive Dienstleistungsfreiheit in Anspruch (vgl auch Budischowsky in Jaeger/Stöger, EUV/AEUV [2018] Art 57 AEUV Rz 12).
[129] 2.2.2. Legt man der Beurteilung des vorliegenden Falls die Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der europäischen Grundrechte zugrunde, vermag allein der Umstand, dass der Kläger als deutscher Staatsbürger nach Österreich reiste, um hier auch touristische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, diesen aber nicht zu begründen:
[130] (a) Die „Rechtsprechungslinie Wachauf“ (EuGH 13. 7. 1989, C‑5/88 ua) ist hier schon deshalb nicht anzuwenden, weil die Beklagte mit der ihr vorgeworfenen Untätigkeit zweifellos kein Unionsrecht vollzog und solches mit den vom Kläger geforderten Maßnahmen (Informationen über konkrete Ansteckungsgefahren; Beschränkung des Zutritts zum Urlaubsgebiet des Klägers; Beschränkungen des touristischen Angebots) auch nicht zu vollziehen gehabt hätte.
[131] (b) Auch die „Rechtsprechungslinie ERT“ (EuGH 18. 6. 1991, C‑260/89 ua) führt zu keiner Anwendbarkeit der GRC, weil die Beklagte gerade nicht in die passive Dienstleistungsfreiheit des Klägers eingriff oder diese beschränkte und dieser durch die den Organen der Beklagten vorgeworfenen Unterlassungen daher nicht in der Ausübung seiner Grundfreiheit tangiert wurde.
[132] (c) Auch nach jenen Entscheidungen des EuGH, wonach die Grundrechte der Union dann anzuwenden wären, wenn unionsrechtliche Vorschriften in einem bestimmten Sachbereich „eine Verpflichtung des Mitgliedstaats im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen“ (vgl oben D.2.1.2.d), ergibt sich aus dem bloßen Umstand, dass der Kläger in Österreich die passive Dienstleistungsfreiheit in Anspruch nahm, keine Anwendbarkeit der GRC. Der EuGH prüft nationale Regelungen bzw nationale „Maßnahmen“ zwar jeweils darauf, ob ihnen unionsrechtliche Verpflichtungen entgegenstehen, was auch für das Unterlassen bestimmter (nach Ansicht des Klägers gebotener) mitgliedstaatlicher Maßnahmen gelten könnte. Insoweit wäre aber zu fragen, ob diesen Unterlassungen eine unionsrechtliche Handlungspflicht gegenüberstand. Eine Verpflichtung der Beklagten, den Kläger durch Warnungen vor bestimmten Gesundheitsgefahren – oder sogar durch Einreisebeschränkungen – von der Ausübung seiner passiven Dienstleistungsfreiheit (also seiner Einreise nach Österreich) abzuhalten, kann Art 56 AEUV aber nicht entnommen werden (vgl auch unten D.3.1.). Die Inanspruchnahme der passiven Dienstleistungsfreiheit durch den Kläger steht daher in keinem „hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad“ mit den von ihm geforderten Maßnahmen (Warnung vor Gesundheitsgefahren; Beschränkungen bei der Anreise), der diese (wären diese Maßnahmen vorgenommen worden) als Durchführung des Rechts der Union iSd § 51 Abs 1 Satz 1 GRC (betreffend Art 56 AEUV) erscheinen ließe. Weder hätten die vom Kläger geforderten Maßnahmen eine „Durchführung“ dieser Grundfreiheit bezweckt, noch ist die Dienstleistungsfreiheit in irgend einer Art und Weise „spezifisch“ für den Gesundheitsschutz des Klägers.
[133] (d) Werden aus den Grundrechten der GRC positive Handlungspflichten („positive obligations“) des Mitgliedstaats abgeleitet (diesem also das Unterlassen bestimmter Maßnahmen vorgeworfen), bedarf es für die Begründung eines „hinreichenden Zusammenhangs von einem gewissen Grad“ zwischen der behaupteten Handlungspflicht des Mitgliedstaats und dem Unionsrecht auch einer besonderen Verbindung, um dessen Geltungsbereich nicht entgegen Art 51 Abs 2 GRC über die Zuständigkeiten der Union hinaus auszudehnen. Im vorliegenden Fall müssten sich jene Handlungspflichten der österreichischen Gesundheitsbehörden, aus deren Unterlassung der Kläger Haftungsansprüche ableitet, als unmittelbare Durchführung der Bestimmungen über die unionsrechtliche Dienstleistungsfreiheit darstellen, damit die unterbliebenen Schutzmaßnahmen als „Durchführung des Rechts der Union“ iSd § 51 Abs 1 Satz 1 GRC angesehen und ihr Unterbleiben an grundrechtlichen Handlungspflichten gemessen werden könnte. Aus der Dienstleistungsfreiheit ergibt sich aber keine Verpflichtung der Organe der Beklagten zu dem vom Kläger geforderten positiven Verhalten (vgl auch unten D.3.1.). Die in der GRC angeführten Grundrechte selbst kommen als „Recht der Union“, das ihren eigenen Anwendungsbereich begründen könnte, aber nicht in Betracht (EuGH 26. 2. 2013, C‑617/10 , Åkerberg Fransson, Rn 23; 1. 12. 2016, C‑395/15 , Daouidi, Rn 63 f).
[134] 2.2.3. Auch nach der rechtswissenschaftlichen Literatur ist die Rechtsprechung des EuGH so zu verstehen, dass es für die Anwendung der GRC nicht ausreicht, dass der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten „eröffnet“ ist. Vielmehr muss eine konkrete Beeinträchtigung erfolgt sein (Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4, Art 51 Rz 32 mwN). Erst der „Einbruch“ eines Mitgliedstaats in den durch die Grundfreiheiten gewährleisteten Freiheitsraum löse dessen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte aus, die entweder als Grenze einer von einem Mitgliedstaat herangezogenen Schranke der Grundfreiheiten in Erscheinung trete („Schranken-Schranke“) oder selbst einen Rechtfertigungsgrund für deren Beschränkung liefere (Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten 23 ff). Eine solche Beschränkung seiner Dienstleistungsfreiheit behauptet der Kläger aber nicht. Allein der Umstand, dass er am österreichischen Urlaubsort Dienstleistungen österreichischer Unternehmer in Anspruch nahm, reicht nicht aus, um die behaupteten pflichtwidrigen Unterlassungen der Organe der Beklagten am Maßstab der GRC zu messen.
[135] 2.3. Aus der Personenfreizügigkeit lässt sich die Anwendbarkeit der GRC ebenfalls nicht ableiten:
[136] 2.3.1. Der Kläger leitet den Anwendungsbereich der GRC auch aus seiner Stellung als Unionsbürger und der ihm daher zustehenden, durch seine Anreise nach Österreich in Anspruch genommenen Personenfreizügigkeit nach Art 21 AEUV ab. Demnach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen) frei zu bewegen und aufzuhalten. Warum allein der Umstand, dass der Kläger durch seine Anreise aus einem anderen Mitgliedstaat die Freizügigkeit nach der genannten Bestimmung in Anspruch nahm, den Anwendungsbereich der GRC für die Beurteilung eines mit Art 21 AEUV in keinem Zusammenhang stehenden Sachverhalts (nämlich dem Schutz seiner Gesundheit am Urlaubsort) eröffnen soll, ist aber nicht ersichtlich und ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH.
[137] 2.3.2. In dessen Entscheidung vom 22. 12. 2010, C‑208/09 , Sayn-Wittgenstein, war eine Beeinträchtigung der Personenfreizügigkeit einer in Deutschland ansässigen Unionsbürgerin mit österreichischer Staatsbürgerschaft durch das österreichische Adelsaufhebungsgesetz zu beurteilen. Dieses hätte sie in Österreich zum Unterlassen des Führens ihres in Deutschland durch Adoption erworbenen Adelstitels verpflichtet. Der EuGH ging zwar davon aus, dass die GRC in diesem Fall anzuwenden sei (vgl Rn 52 und Rn 89), was in der rechtswissenschaftlichen Literatur insoweit als Erweiterung der „ERT-Rechtsprechung“ interpretiert wurde, als die (nicht-wirtschaftliche) Personenfreizügigkeit zur fünften Grundfreiheit geworden sei (Schorkopf in Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz² 243 mwN). Erkennbare Voraussetzung für die Anwendung der GRC war aber auch in dieser Entscheidung eine Beschränkung der in Art 21 AEUV gewährten Freizügigkeit durch nationales Recht. Insoweit schloss diese Entscheidung an die in der Rechtssache ERT begründete Rechtsprechung zur Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC bei einer Einschränkung der Grundfreiheiten durch nationale Maßnahmen an.
[138] 2.3.3. Dass der Anwendungsbereich der GRC im Zusammenhang mit der unionsrechtlichen Freizügigkeit nur dann eröffnet sei (und von einer „Durchführung des Rechts der Union“ iSd Art 51 Abs 1 GRC gesprochen werden könne), wenn diese durch einen Mitgliedstaat beschränkt wird, bestätigte der EuGH auch in nachfolgenden Entscheidungen:
[139] In der Rechtssache zu C‑256/11 , Dereci, war vom EuGH das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat, in dem er mit einem familienangehörigen Unionsbürger zusammenleben wollte, zu beurteilen. Der Gerichtshof legte dazu (Rn 74) dar, dass die Anwendbarkeit der GRC davon abhänge, ob die Verweigerung des Aufenthaltsrechts dazu führe, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehrt werde. Dies zu prüfen sei Sache des nationalen Gerichts. In seiner zu einem vergleichbaren Fall ergangenen Entscheidung vom 8. 5. 2013, C‑87/12 , Ymeraga, legte der EuGH (unter Zugrundelegung der in der ERT-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten entwickelten Kriterien) dar, dass eine mitgliedstaatliche Regelung, die nicht zur Folge habe, den tatsächlichen Genuss des Kernbestands jener Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, zu verwehren, nicht in Durchführung des Rechts der Union iSv Art 51 GRC erfolgt sei (Rz 42 f; vgl auch VfGH 5. 3. 2015, B 533/2013 [4.2.1]). Auch in seiner Entscheidung vom 6. 9. 2016, C‑182/15 , Petruhhin, in der die Zulässigkeit der Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat durch einen anderen Mitgliedstaat als den seiner Staatsangehörigkeit zu beurteilen war, ergab sich der auf Art 21 AEUV gestützte Anwendungsbereich der GRC aus einer Beeinträchtigung der Personenfreizügigkeit; ebenso in den Entscheidungen des EuGH vom 6. 9. 2017, C‑473/15 , Schotthöfer, sowie vom 8. 5. 2018, C‑82/16 , K.A. (der Anwendungsbereich der GRC wurde in dieser Entscheidung ohne nähere Erörterung als gegeben angenommen; vgl insb Rn 71, Rn 90 und Rn 98).
[140] 2.3.4. Vorstößen einzelner Generalanwälte, die für einen extensiven Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte und deren Entkoppelung vom Eingriff eines Mitgliedstaats in die Grundfreiheiten oder die Personenfreizügigkeit eintraten, folgte der EuGH nicht. So forderte etwa Generalanwalt F. G. Jacobs in der Rechtssache Konstantinidis, dass jeder Gemeinschaftsbürger davon ausgehen dürfe, stets im Einklang mit der gemeinsamen Ordnung von Grundwerten behandelt zu werden. Die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte folge aus dem Status als Gemeinschaftsbürger (Schlussanträge zu C‑168/91 , Konstantinidis, Rn 46; idS auch dessen Schlussanträge zu C‑274/96 , Bickel und Franz, Rn 23). Der EuGH schloss sich dem aber nicht an (vgl die Ausführungen bei Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten 33 f; Ladenburger/Vondung in Stern/Sachs, Europäische Grundrechte-Charta, Art 51 Rz 47 mwN in FN 111).
[141] 2.3.5. Dass die Unionsbürgerschaft per se noch nicht zur Anwendung der GRC führt, weil dies deren praktisch unbegrenzte Geltung herbeiführen würde, entspricht ebenfalls der herrschenden Ansicht in der Literatur (für viele etwa Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4, Art 51 Rz 32). Allein die Tatsache, dass sich ein Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, begründe noch keinen Anspruch darauf, dort in jeder Hinsicht „charta-konform“ behandelt zu werden (Ladenburger/Vondung in Stern/Sachs, Europäische Grundrechte-Charta, Art 51 Rz 47; Ladenburger in Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar Art 51 Rz 37). Nach Schorkopf (in Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz² 243) muss sich ein Mitgliedstaat bei seinem Handeln zwar am Maßstab des Unionsrechts (und daher auch an der GRC) messen lassen, wenn „ein Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts von Unionsbürgern fällt“. Dies trifft nach der Rechtsprechung des EuGH aber eben nur dann zu, wenn zwischen dem zu beurteilenden Sachverhalt und der Freizügigkeit des Art 21 AEUV insoweit ein konkreter Zusammenhang besteht, als eine nationale Maßnahme diese Freiheit beeinträchtigt.
[142] 2.3.6. Beurteilt man den vorliegenden Fall anhand der dargelegten Erwägungen (insbesondere der dargestellten Rechtsprechung des EuGH), ergibt sich zweifellos (RS0082949), dass das Recht des Klägers auf Freizügigkeit nach Art 21 AEUV bei seiner Einreise nach Österreich gewahrt wurde. Eine Beschränkung seiner Reisefreiheit aufgrund einer am österreichischen Urlaubsort bestehenden Gesundheitsgefahr erfolgte nicht, reiste er doch noch vor der geplanten Sperre des Paznauntals nach Hause. Der Kläger wirft der Beklagten vielmehr vor, keine (früheren) Ein- und Ausreisebeschränkungen zum Schutz seiner Gesundheit verhängt zu haben. Damit vermag er die Anwendbarkeit der GRC aber nicht zu begründen.
[143] 2.4. Auch der Beschluss vom 22. 10. 2013, 1082/2013/EU , eröffnet nicht den Anwendungsbereich der GRC.
[144] 2.4.1. Der Kläger leitet die Anwendung der GRC auch aus dem Beschluss 1082/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 10. 2013 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 2119/98/EG ab. Dieser richtet sich an die Mitgliedstaaten und beruht auf Art 168 Abs 5 AEUV. Demnach kann die Union ua Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit und insbesondere zur Bekämpfung von weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten sowie Maßnahmen zur Beobachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren erlassen.
[145] 2.4.2. Nach der Entscheidung des EuGH vom 6. 10. 2015, C‑650/13 , Delvigne, können grundsätzlich auch Beschlüsse von Organen der Europäischen Union den Anwendungsbereich der GRC eröffnen (vgl auch Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 Art 51 Rz 20 mwN; Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 Art 51 Rz 49; nach Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte² [2020] 223, allerdings nur, wenn ein solcher Beschluss zwingende Vorgaben macht und den Mitgliedstaaten insoweit kein Spielraum bleibt). Dieser Entscheidung lag zugrunde, dass ein Unionsbürger von der Behörde eines Mitgliedstaats aus dem Wählerverzeichnis gestrichen wurde, so dass er auch sein Wahlrecht zum Europäischen Parlament verlor. Der Ausschluss vom Wahlrecht sei nach Ansicht des EuGH „im Rahmen der Erfüllung der Verpflichtung der Mitgliedstaaten“ nach dem Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Anhang des Beschlusses des Rats der vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten 76/787/EG KS, EWG, Euratom, vom 20. 9. 1976, erfolgt (insb Rn 33). Der EuGH bejahte zwar den Anwendungsbereich der GRC, hob aber hervor, dass dieser ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts eröffnet sei (Rn 25) und nur für unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen gelte (Rn 26; vgl auch EuGH 7. 11. 2019, C‑80/18 ua, UNESA ua, Rn 37 f). Werde eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ergebe sich keine Geltung der GRC (Rn 27; vgl etwa auch EuGH 20. 10. 2022, C‑301/21 , Curtea de Apel Alba Iulia, Rn 75: „Wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Bereich einen bestimmten Aspekt nicht regeln und den Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt keine bestimmten Verpflichtungen auferlegen, fällt die nationale Regelung eines solchen Aspekts durch einen Mitgliedstaat nicht in den Anwendungsbereich der Charta“; ebenso 19. 11. 2019, C‑609/17 , C‑610/17 , TSN und AKT, Rn 53).
[146] 2.4.3. Der Kläger argumentiert, dass die Beklagte entgegen der Vorgabe des Beschlusses vom 22. 10. 2013 in dessen Art 11 die Öffentlichkeit nicht ausreichend über die am österreichischen Urlaubsort bestehende Infektionsgefahr informiert und vor dieser gewarnt habe. Sie habe daher gegen die sich aus diesem Beschluss ergebende mitgliedstaatliche Informationspflicht verstoßen, was den Anwendungsbereich der GRC eröffne.
[147] 2.4.4. Art 11 Abs 1 des Beschlusses vom 22. 10. 2013 sieht aber nur vor, dass die Mitgliedstaaten einander in bestimmten Fällen (nach im Beschluss näher beschriebenen „Warnmeldungen“) auf Antrag der Kommission oder eines Mitgliedstaats und „im Benehmen“ mit der Kommission zum Zweck der Koordinierung bestimmter Angelegenheiten zu konsultieren haben. Die demnach zu koordinierenden Angelegenheiten betreffen gemäß lit b leg cit zwar auch die Risiko- und Krisenkommunikation, konkrete Informationspflichten der Mitgliedstaaten sieht der Beschluss vom 22. 10. 2013 aber nicht vor. Vielmehr ist die zwischen den Mitgliedstaaten zu koordinierende Kommunikation nach der genannten Bestimmung an die nationalen Bedürfnisse und Gegebenheiten anzupassen. Damit werden den Mitgliedstaaten insofern gerade keine inhaltlichen Vorgaben gemacht. Der normative Gehalt des Art 11 des Beschlusses vom 22. 10. 2013 erschöpft sich daher – soweit hier relevant – darin, die Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Konsultation und Koordination hinsichtlich von ihnen durchzuführender Gesundheitsmaßnahmen zu verpflichten. Die Behauptung des Klägers, die Organe der Beklagten wären ihren Konsultations- und Koordinationspflichten nicht nachgekommen (diese beziehen sich eben auch auf eine Abstimmung ihrer Risiko- und Krisenkommunikation), wird nicht näher konkretisiert.
[148] 2.4.5. Auf Basis der dargelegten Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der GRC kann kein hinreichender Zusammenhang zwischen jenen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, deren Unterlassung der Kläger der Beklagten vorwirft, und den ihr aufgrund des Beschlusses vom 22. 10. 2013 obliegenden Konsultations- und Koordinationspflichten angenommen werden. Die Vorgaben an die Mitgliedstaaten betreffen nur die Abstimmung (Koordination) ihrer Risiko- und Krisenkommunikation untereinander bei grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren (der Beschluss spricht an mehreren Stellen auch von einer Pandemie). In diesem Sinn soll zwar auch eine widersprüchliche oder „verwirrende“ Kommunikation mit der Öffentlichkeit (ErwG 22) vermieden werden. Auch dies betrifft aber – wie sich klar aus der allgemeinen Zielrichtung des Beschlusses ergibt – nur das Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten (vgl etwa die Erwägungsgründe 1, 3, 6, 12, 19 und 21, in denen jeweils auf dieses Verhältnis abgestellt wird; siehe auch Art 1 Abs 2 des Beschlusses, wonach mit diesem die Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten unterstützt werden soll) und nicht etwa jenes zwischen verschiedenen Behörden eines solchen oder innerhalb einer Behörde. Jene rein nationalen Maßnahmen, deren Unterlassung der Kläger der Beklagten vorwirft, wären daher nicht „in Durchführung des Rechts der Union“ erfolgt.
[149] 2.5. Art 168 AEUV führt ebenfalls nicht zur Anwendbarkeit der GRC:
[150] 2.5.1. Das Gesundheitswesen wurde mit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht als eigener Politikbereich etabliert (Schneider in Mayer/Stöger, EUV/AEUV Art 168 AEUV Rz 2). Art 168 AEUV spricht in seinem Abs 1 die Unionspolitiken und -maßnahmen im Gesundheitsbereich an, welche die Politik der Mitgliedstaaten ergänzen. Nach Abs 2 leg cit fördert die Union dazu deren Zusammenarbeit und unterstützt erforderlichenfalls ihre Tätigkeit. Konkrete Informationspflichten der Mitgliedstaaten ergeben sich aus Art 168 AEUV nicht.
[151] 2.5.2. Wie dargelegt wird Unionsrecht aber nicht bereits dann iSd Art 51 Abs 1 Satz 1 GRC „durchgeführt“, wenn von einer (hier nach Ansicht des Klägers gebotenen, aber unterbliebenen) mitgliedstaatlichen Maßnahme bloß Ziele und Aufgaben der Union betroffen wären. Auch der Umstand, dass nationale Maßnahmen zu einem Bereich gehören, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, führt noch nicht dazu, dass damit die GRC anwendbar wäre; ebensowenig bloße Koordinierungsbefugnisse der Union (Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 Art 51 Rz 24 mwN in FN 107; Schwerdtfeger in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union5 Art 51 Rz 46 mwN in FN 134).
[152] 2.5.3. Da Art 168 AEUV keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den hier fraglichen Sachverhalt enthält, sondern primär die Organe der Union selbst adressiert und hinsichtlich der Mitgliedstaaten (in Abs 2) nur ganz allgemein deren Koordination anspricht, vermag auch diese Bestimmung den Anwendungsbereich der GRC nicht zu eröffnen.
[153] 2.6. Mangels Anwendbarkeit der GRC erübrigt sich eine Prüfung, ob und gegebenenfalls welche Handlungspflichten sich aus deren Bestimmungen (unmittelbar) für die Vollziehung ergeben könnten.
3. Zur Haftung aufgrund behaupteter Verstöße gegen sonstiges Unionsrecht:
[154] 3.1. Ein Verstoß gegen Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit liegt nicht vor:
[155] 3.1.1. Der Schutz der Gesundheit stellt gemäß Art 36, 45 Abs 3 und Art 52 Abs 1 AEUV zwar einen Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Grundfreiheiten dar, was zweifellos auch für die Dienstleistungsfreiheit gilt. Hier ist aber kein Eingriff durch Organe der Beklagten in eine dem Kläger zustehende Grundfreiheit auf ihre Rechtfertigung zu beurteilen, sondern vielmehr die Frage zu beantworten, ob sich aus der von ihm in Anspruch genommenen passiven Dienstleistungsfreiheit Handlungspflichten der Beklagten ergeben hätten, deren Unterlassen den Kläger zum Ersatz des dadurch verursachten Schadens berechtigt.
[156] 3.1.2. Dazu ist zunächst anzumerken, dass der EuGH das ursprüngliche Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot der europäischen Grundfreiheiten zu einer Handlungspflicht weiterentwickelt hat (EuGH 9. 12. 1997, C‑265/95 , Kommission/Frankreich, Rn 30 ff und 66; vgl auch 12. 6. 2003, C‑112/00 , Schmidberger, Rn 62 ff; 1. 7. 2014, C‑573/12 , Ålands Vindkraft, Rn 74). Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht besteht aber nur zum Schutz von durch diese Grundfreiheiten gewährten Rechten. Der Kläger leitet die von ihm behauptete Handlungspflicht der Beklagten demgegenüber daraus ab, dass diese seine passive Dienstleistungsfreiheit (zu seinem eigenen Schutz) einschränken hätte müssen. Art 56 AEUV kann aber keine solche Verpflichtung zur Einschränkung dieser Grundfreiheit entnommen werden. Die Revision begründet eine solche auch nicht plausibel.
[157] 3.1.3. Es ist auch dem Standpunkt des Klägers entgegenzutreten, wonach die Vernachlässigung von Informations- und Warnpflichten im Fall schwerwiegender Gesundheitsgefahren für von ihrer passiven Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machende Touristen aus anderen EU‑Mitgliedstaaten geeignet wäre, die Inanspruchnahme der Grundfreiheit „weniger attraktiv“ zu machen. Der Kläger nimmt dazu auf die Entscheidung des EuGH vom 30. 11. 1995, C‑55/94 , Gebhard, Bezug, wonach nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig seien (Rn 37). Das Unterlassen der vom Kläger geforderten Handlungen führte aber nicht dazu, die Inanspruchnahme seiner passiven Dienstleistungsfreiheit im Sinn dieser Rechtsprechung „weniger attraktiv“ zu machen, vielmehr hätten ihn diese Maßnahmen – wie er selbst behauptet – von seiner Einreise nach Österreich und damit von der Ausübung seiner Dienstleistungsfreiheit abgehalten.
[158] 3.2. Auch ein Verstoß gegen die Regelungen über die Personenfreizügigkeit liegt nicht vor:
[159] 3.2.1. Aus Art 21 AEUV ergibt sich neben einem Diskriminierungsverbot zwar auch ein (auf die Personenfreizügigkeit bezogenes) Beschränkungsverbot, aber keine „Beschränkungspflicht“ zum grundrechtlichen Schutz bestimmter Rechtsgüter von Unionsbürgern. Insoweit ist auf die Ausführungen zur Dienstleistungsfreiheit zu verweisen.
[160] 3.2.2. Auch aus Art 29 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG , 68/360/EWG , 72/194/EWG , 73/148/EWG , 75/34/EWG , 75/35/EWG , 90/364/EWG , 90/365/EWG und 93/96/EWG (Unionsbürgerrichtlinie) kann keine solche „Beschränkungspflicht“ abgeleitet werden. Diese Bestimmung sieht nur vor, dass die Freizügigkeit der Unionsbürger wegen bestimmter Krankheiten eingeschränkt werden kann. Eine Verpflichtung der Organe der Beklagten zu den vom Kläger geforderten (Schutz-)Maßnahmen kann auch dieser Norm nicht entnommen werden.
[161] 3.3. Auch derBeschluss vom 22. 10. 2013, 1082/2013/EU , kann die Haftung der Beklagten nicht begründen.
[162] 3.3.1. Dieser Beschluss richtet sich – wie dargelegt – nur an die Mitgliedstaaten, welche die darin für sie angeordneten Koordinations- und Konsultationspflichten zu erfüllen haben. Individuelle Rechte Einzelner auf bestimmte staatliche Handlungen werden darin nicht normiert. Es kann auch deshalb nicht angenommen werden, dass dieser Beschluss einen Individualschutz bezweckt, weil er auf Grundlage des Art 168 Abs 5 AEUV erging, wonach die Union Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit treffen kann. Auch diese Bestimmung bezweckt jedoch keinen Schutz des Einzelnen (vgl unten D.3.4.).
[163] 3.3.2. Im Übrigen bezieht sich der Kläger, soweit er seine Ansprüche aus einem Verstoß der Organe der Beklagten gegen den Beschluss vom 22. 10. 2013 ableitet, primär darauf, dass spätestens am 5. 3. 2020 eine Information über die am Urlaubsort erfolgten Ansteckungen mit dem Coronavirus erfolgen hätte müssen, weil diesen Organen zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt gewesen sei, dass manche der positiv getesteten Urlauber während ihres Aufenthalts in diesem Gebiet erste (typische) Symptome hatten. Damit spricht er die Medienmitteilung des Amtes der Tiroler Landesregierung von diesem Tag an. Diese begründet aber nach Ansicht des Senats schon mangels eines dadurch begründeten Vertrauenstabestands keine Haftung (unten E.2.).
[164] 3.4. Art 168 AEUV kann ebensowenig eine Haftung begründen:
[165] 3.4.1. Nach herrschender Ansicht ist Art 168 AEUV nur auf den Schutz der Allgemeinheit und nicht auch jenen einzelner Individuen ausgerichtet. Art 168 AEUV stellt insbesondere kein Unionsgrundrecht dar. Mit „Gesundheitswesen“ ist die öffentliche Gesundheit im Sinn von „Public Health“ gemeint (Fischer in Lenz/Borchardt, EU‑Verträge Kommentar6 [2012] Art 168 AEUV Rz 4; Kingreen in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV6 [2022] Art 168 AEUV Rz 12; Lurger in Streinz, Kommentar zum EUV/AEUV3 [2018] Art 168 AEUV Rz 17; Schmidt am Busch in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union [2016] Art 168 AEUV Rz 9 ua). Art 168 AEUV adressiert die Union und ihre Organe sowie die Mitgliedstaaten und normiert keinen Maßstab, anhand dessen die Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen (und damit auch – allenfalls unterbliebener – nationaler Maßnahmen) mit dem Unionsrecht geprüft werden kann (EuGH 1. 7. 2010, C‑393/08 , Sbarigia, Rn 37, noch zu Art 152 EG und 153 EG). Es ist nach der Rechtsprechung des EuGH auch Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll (EuGH 19. 5. 2009, C‑531/06 , Kommission/Italien, Rn 36). Art 168 AEUV belässt die Hauptverantwortung für die Gesundheitspolitik somit bei den Mitgliedstaaten. Die Kompetenz der Union ist in erster Linie auf die Ergänzung, Förderung und Koordinierung der Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten beschränkt (Abs 7 leg cit; vgl auch Schneider in Mayer/Stöger, EUV/AEUV Art 168 AEUV Rz 6 mwN).
[166] 3.4.2. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich unzweifelhaft (RS0082949), dass auch Art 168 AEUV nicht bezweckt, dem Einzelnen bestimmte Rechte zu verleihen, was aber Voraussetzung für den vom Kläger geltend gemachten Staatshaftungsanspruch wäre (vgl RS0113922).
4. Zusammengefasst folgt:
[167] Die GRC bietet mangels Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall keine Grundlage für jene Handlungspflichten der Organe der Beklagten, aus deren Verletzung der Kläger Ansprüche ableitet. Auch andere von ihm ins Treffen geführte unionsrechtliche Bestimmungen vermögen eine Haftung nicht zu begründen. Diese Rechtslage ist aufgrund der zitierten Entscheidungen des EuGH so eindeutig, dass ein Vorabentscheidungsersuchen unterbleiben kann.
E. Zur Haftung aufgrund anderer Anspruchsgrundlagen:
1. Zu einer auf Bestimmungen des StGB gestützten Haftung:
[168] 1.1. Der Kläger meint, dass (namentlich genannten) Organen der Beklagten ein nach §§ 178, 179 StGB und §§ 80, 88 StGB strafbares Verhalten zum Vorwurf zu machen sei, einerseits wegen der vermeintlich wissentlich wahrheitswidrigen Herausgabe der Medienmitteilung vom 5. 3. 2020 (siehe dazu insbesondere auch unten E.2.), anderseits wegen Unterlassung diverser nach dem EpiG gebotener Maßnahmen (Unterlassung der Einstellung des Après-Ski- bzw des Seilbahnbetriebs, Nichtschließung der Bar „Ki*“, Nichtbeschränkung von größeren Veranstaltungen bis 11. 3. 2020, ganz allgemein „Nichtstun“ vom 5. 3. bis zum 8. 3. 2020). Er beruft sich auf den vermeintlichen Schutzgesetzcharakter dieser strafgesetzlichen Bestimmungen und die damit einhergehenden Beweiserleichterungen.
[169] 1.2. Schutzgesetze iSd § 1311 ABGB sind abstrakte Gefährdungsverbote, die dazu bestimmt sind, die Mitglieder eines Personenkreises gegen die Verletzung von Rechtsgütern zu schützen (RS0027710). Strafgesetzliche Normen sind im Allgemeinen (mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Kridadelikten [RS0023866; RS0027521], siehe im Detail Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht II3 [2018] A/3/§ 1311 ABGB Rz 13 und Rz 55) aus zivilrechtlicher Sicht keine abstrakten Gefährdungsverbote. Vielmehr stellen sie auf die konkrete Gefährdung eines Gutes und nicht auf eine abstrakte Gefahrensteuerung ab. Sie sind ausschließlich nach § 1295 Abs 1 ABGB zu beurteilen und verlangen ein Verschulden bezüglich des Schadenseintritts. Soweit strafgesetzliche Normen, wie etwa § 159 StGB (vgl auch RS0065125, RS0027441, RS0027475), als Schutzgesetze iSd § 1311 ABGB zugunsten Einzelner verstanden werden, erklärt sich das daraus, dass darin konkrete Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden. Damit verbietet der Gesetzgeber ein Verhalten schon wegen seiner abstrakten Gefährlichkeit (vgl Koziol aaO Rz 13). Das unterscheidet diese Delikte etwa von den §§ 80, 88 StGB, denen eine konkrete Verhaltensanleitung nicht entnommen werden kann.
[170] Aber auch die §§ 178, 179 StGB können, obwohl sie abstrakte Gefährdungsdelikte sind, nicht als Schutzgesetze zugunsten des Einzelnen begriffen werden, weil diese Bestimmungen nach überwiegender Ansicht in der strafrechtlichen Literatur die Allgemeinheit schützen und daher auch von einer echten Konkurrenz mit den §§ 80 und 88 StGB auszugehen ist (Murschetz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 179 Rz 9 mwN; Flora in SbgK § 178 StGB Rz 5; aA Schwaighofer in Birklbauer ua, StGB § 178 StGB Rz 8). Geschützt wird daher die Allgemeinheit, nicht das konkrete Individium, was aus den bereits im Zusammenhang mit dem Epidemiegesetz genannten Gründen (oben B.) eine Amtshaftung ausschließt.
[171] 1.3. Der Kläger vermag aber auch darüber hinaus keine Gründe für die Ableitung von Amtshaftungsansprüchen aus strafrechtlichen Bestimmungen aufzuzeigen.
[172] Den gegen Organe der Beklagten erhobenen Vorwürfen liegen (die angeblich unrichtige Medienmitteilung ausgenommen, dazu näher unter E.2.) allesamt reine Unterlassungen zugrunde: Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassung setzt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 StGB voraus (das gilt auch – bei Begehen durch Unterlassung – für §§ 178, 179 StGB; vgl Fabrizy/Michel-Kwapinski/ Oshidari, StGB14 § 178 Rz 2). Wesentlich ist daher, dass der Täter die Erfolgsabwendung unterlässt, obwohl er zufolge einer ihn durch die Rechtsordnung im Besonderen treffenden Verpflichtung – also einer persönlichen Pflicht zur Erfolgsabwendung – dazu verhalten ist (Lehmkuhl in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 2 Rz 68 ff mwN). Eine solche Rechtspflicht kann sich aus einer Rechtsvorschrift, aus einer freiwilligen Pflichtenübernahme oder aus einem gefahrenbegründenden Verhalten ergeben.
[173] Zu einer Garantenstellung der Organe der Beklagten führt der Kläger nichts aus. Eine solche kann jedenfalls dort nicht bestehen, wo schon die Behörde keine Verpflichtungen trifft. Das ist bei den behaupteten Informationspflichtverletzungen der Fall, die der Kläger aus grund- und unionsrechtlichen Regelungen ableitet (dazu oben C. und D.). Insofern können daher strafrechtliche Erwägungen von vornherein nicht zu einem Amtshaftungsanspruch führen. Ob Pflichten nach dem Epidemiegesetz eine Garantenstellung von zu deren Umsetzung berufenen Organwaltern begründen könnten, kann offen bleiben. Denn aus amtshaftungsrechtlicher Sicht ist auch hier entscheidend, ob die (angeblich) verletzten Pflichten den Zweck hatten, (auch) Individualinteresssen zu schützen. Das trifft aus den in Punkt B. genannten Gründen nicht zu. Auf die Frage der Strafbarkeit eines Organhandelns kommt es daher (auch) in diesem Zusammenhang nicht an.
[174] 1.4. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass die vom Kläger genannten strafrechtlichen Bestimmungen jedenfalls nicht als Schutzgesetze iSv § 1311 ABGB anzusehen sind. Auch sonst lässt sich aus strafrechtlichen Bestimmungen keine zivilrechtliche Haftung für Unterlassungen ableiten: Im Zusammenhang mit angeblichen Informationspflichtverletzungen fehlte schon eine Handlungspflicht der Vollziehung (oben C. und D.), sodass es umso weniger Handlungspflichten von Organwaltern geben konnte. Pflichten nach dem Epidemiegesetz haben keinen individualschützenden Charakter (oben B.), weswegen eine allfällige Verletzung unabhängig von strafrechtlichen Erwägungen keine Amtshaftung begründen kann.
2. Zur Haftung für die Medieninformationen des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 5. 3. und 8. 3. 2020:
[175] 2.1. Vorab ist ganz allgemein zu klären, unter welchen Voraussetzungen bei behördlicher Fehlinformation ein Amtshaftungsanspruch geltend gemacht werden kann:
[176] 2.1.1. Nach der Rechtsprechung bezwecken Behördenauskünfte den Dispositionsschutz. Danach sollen Auskünfte wirtschaftliche Dispositionen erleichtern oder überhaupt erst sinnvoll ermöglichen und deren beabsichtigte Verwirklichung sichern. Das ist nur erreichbar, wenn die nach dem Auskunftsbegehren erteilte Information richtig ist. Der Auskunftsanspruch bezieht sich auf eine der Sache nach richtige Information. Der allfällige Ausgleich eines reinen Vermögensschadens infolge des durch eine Fehlinformation vereitelten Dispositionsschutzes ist durch die Gewährung von Schadenersatz realisierbar. Ein solcher Ersatz ist nach dem Amtshaftungsgesetz zu leisten, wenn eine falsche oder unzureichende, schadensursächliche Auskunft als fehlerhafter Hoheitsakt zu qualifizieren ist (vgl RS0113363).
[177] In der ersten dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Entscheidung 1 Ob 14/00s wurden behördliche Auskünfte als „Wissenserklärungen über Tatsachen oder über die Rechtsfolgen eines bestimmten Sachverhalts“ definiert, die dem Gemeinwohl dienten. Dort wurde betont, dass ein Realakt – in Fortschreibung der bisherigen ständigen Rechtsprechung – eines hinreichend engen inneren und äußeren Zusammenhangs mit einer ihrem Wesen nach hoheitlich zu vollziehenden Materie bedürfe, um selbst als Maßnahme hoheitlicher Vollziehung zu gelten (s auch RS0049897). Sowohl diese als auch die Folgeentscheidungen 1 Ob 290/03h, 1 Ob 173/03b und 1 Ob 247/15b stützten sich jeweils auf ein subjektives Recht des Einschreiters auf Auskunft (bspw nach § 2 Abs 1 Kärntner AuskunftspflichtG, LGBl 1988/29). Zu 1 Ob 290/03h hielt der Oberste Gerichtshof zum einen die Frage für entscheidend, welches Auskunftsbegehren die Klägerin an die Verwaltungsorgane gerichtet habe, und zum anderen die Frage nach dem Umfang der Auskunftspflicht. Mit der Pflicht der Behörden zur Auskunftserteilung korrespondiere das subjektive öffentliche Recht der Klägerin. Zu 1 Ob 154/08s führte der Oberste Gerichtshof aus, dass mit der Pflicht der Behörden zur Auskunftserteilung, die gemäß Art 20 Abs 4 B‑VG jedenfalls dann bestehe, wenn präzise, ohne Beeinträchtigung der übrigen Verwaltungsabläufe beantwortbare Fragen gestellt würden, ein subjektives öffentliches Recht des Einschreiters korrespondiere; die Behörde habe eine dem Begehren entsprechende und inhaltlich richtige Auskunft zu geben.
[178] All diesen Entscheidungen ist ein Verlangen des späteren Amtshaftungsklägers auf Auskunft gemein, das im vorliegenden Fall fehlt. Dennoch enthalten die Entscheidungen allgemein gültige Ausführungen, wie etwa zur Definition von Behördenauskünften und zur Einordnung dieser „Informationsrealakte“ als Hoheitsakte, die auch für „staatliche Krisenkommunikation“ (zu dem Begriff Bußjäger/Egger, ÖJZ 2021, 63) fruchtbar gemacht werden können.
[179] 2.1.2. Schon die Entscheidung 1 Ob 54/06g zeigt, dass Amtshaftungsansprüche auch desjenigen denkbar sind, der zwar nicht Auskunftswerber ist, der aber durch die Verbreitung fehlerhafter Information geschädigt wurde. Der Entscheidung lag eine nach Beschwerden von Konsumenten herausgegebene „Verbraucherinformation“ über eine Finanzgruppe zugrunde, welcher auch die dortigen Klägerinnen angehörten. Der Oberste Gerichtshof führte aus, dass eine Determinierung solcher (potenziell) in die Rechtsposition des davon betroffenen Unternehmens eingreifender „Informationsrealakte“ schon infolge der Grundrechtsgebundenheit jedes hoheitlichen Akts der Vollziehung bestehe. Bei Gefahr, dass durch die Information einzelner Verbraucher oder auch der Öffentlichkeit in den „good will“ des betroffenen Unternehmens eingegriffen werde, dürfe diese nur veranlasst werden, wenn – deren Richtigkeit vorausgesetzt – die Information auch einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit standhalten könne.
[180] 2.1.3. In den amtshaftungsrechtlichen Entscheidungen 1 Ob 12/80 und 1 Ob 33/84 zog der Oberste Gerichtshof die Bestimmung des § 1300 ABGB – Verschulden des Organs vorausgesetzt – als Haftungsgrundlage für eine unrichtige Rechtsbelehrung heran. Das entspricht der Ansicht, dass § 1300 iVm § 1299 ABGB nicht nur bei Haftung unter Privaten, sondern kraft Verweises in § 1 Abs 1 AHG auch im Amtshaftungsrecht Anwendung findet (Karner, Amtshaftungsansprüche des Kreditgebers bei unrichtiger Baulandbestätigung, ÖBA 2001, 235 [236]). Nach Mader (in Schwimann/Kodek, Praxiskommentar5 [2021] § 1 AHG Rz 77) ist das in § 1300 ABGB geforderte Verpflichtungsverhältnis auch anzunehmen, wenn ein Rat/eine Auskunft durch ein Organ im Rahmen hoheitlichen Handelns erteilt werde (idS auch Schragel, AHG3 § 1 Rz 160, der neben einem Rat/Auskunft bei hoheitlichem Handeln auch noch eine der Behörde oder dem Gericht obliegende gesetzliche Fürsorgepflicht als solches Verpflichtungsverhältnis nennt). Das gelte nach „hA“ nicht nur bei Auskünften aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen, sondern auch bei „freiwilligen“ Behördenauskünften. Der Rechtsträger hafte auch dann, wenn dem Organ nur leichte Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei. Mader verweist in dem Zusammenhang darauf, dass die Grundsätze der „vertretbaren Rechtsauffassung“ heranzuziehen seien. Damit stehen die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs zu 1 Ob 12/80 in Einklang, wonach eine vertretbare Auffassung auch kein leichtes Verschulden darstellt.
[181] 2.1.4. Da Behördenauskünfte den Dispositionsschutz bezwecken, kommt der expliziten Schaffung eines Vertrauenstatbestands maßgebliche Bedeutung zu (so auch Karner, Amtshaftungsansprüche des Kreditgebers bei unrichtiger Baulandbestätigung, ÖBA 2001, 235). Das bestätigt auch ein Blick auf § 1300 Satz 1 ABGB: C. Völkl (§ 1300 Satz 1 ABGB als Grundlage einer allgemeinen zivilrechtlichen Informationshaftung, ÖJZ 2006, 97) betont, dass nach dieser Bestimmung nur für solche Folgen gehaftet werde, die aus Entscheidungen herrührten, die typischerweise gerade auf Grundlage der abgegebenen Information(en) getroffen würden. Jedenfalls ausgeschlossen sei eine Haftung dann, wenn die Information den Schaden nicht adäquat verursachen konnte, weil nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht damit gerechnet werden konnte, dass der Empfänger aufgrund der Information in der schadensbegründenden Weise disponieren werde, und der Erklärende auch keinen besonderen Willen gerade auf die Herbeiführung dieses Schädigungsverlaufs gerichtet hatte. Diese Beurteilung müsse sich sehr stark an Gestalt und Inhalt der Auskunft orientieren, denn eine erhöhte Haftung könne nur in jenen Fällen vernünftigerweise angenommen werden, in denen der Empfänger auch redlicherweise mit einer richtigen – und damit nicht einmal leicht fahrlässig unrichtigen – Auskunft rechnen durfte.
[182] 2.2. Ausgehend von dieser Rechtslage setzt eine Amtshaftung der Beklagten für die „staatliche Krisenkommunikation“ jedenfalls voraus, dass (a) die Medienmitteilung vom 5. 3. oder vom 8. 3. 2020 im Rahmen eines dem Bund zuzurechnenden hoheitlichen Organhandelns erfolgte, (b) diese Medienmitteilungen nicht nur falsch, sondern auch geeignet waren, die Adressaten zu fehlerhaften Dispositionen (konkret zu einem Aufenthalt an einem Ort, an dem es letztlich zu einer Infektion mit SARS‑CoV‑2 gekommen sein soll) zu verleiten und (c) das Handeln der Organe nicht vertretbar war.
[183] Der Rekurs der Beklagten wirft dem Berufungsgericht in all diesen Punkten eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung vor, weil (a) die „Landesinformation“ der Privatwirtschaftsverwaltung oder – wenn von einer Hoheitsverwaltung auszugehen sei – dem Land Tirol zuzurechnen sei, (b) der Mitteilung keinesfalls entnommen werden könne, dass die Ansteckungsursachen feststünden und in Tirol, dem Paznauntal oder Ischgl keine Infektionen mit SARS-CoV-2 erfolgt seien oder erfolgen könnten, und (c) die Information rechtmäßig, jedenfalls aber vertretbar gewesen sei. Damit befindet sich die Beklagte teilweise im Recht.
2.3. Dazu war im Einzelnen zu erwägen:
[184] 2.3.1. Die Zuordnung der Informationen zur Hoheitsverwaltung des Bundes liegt nahe.
[185] Die (von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landes Tirol vorbereiteten) Medienmitteilungen des Amtes der Tiroler Landesregierung standen insofern in einem engen Zusammenhang mit hoheitlichen Aufgaben, als sie dem Zweck dienten, hoheitliches Handeln in einer Krisensituation – der anhebenden COVID-19-Pandemie – der interessierten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen (vgl 1 Ob 208/10k). Gegenstand war einerseits (Mitteilung vom 5. 3. 2020) die Information über laufende Erhebungen und eine vorläufige Einschätzung der ersten Ergebnisse betreffend eines SARS‑CoV‑2‑Infektionsgeschehens mit Bezug zum „Tiroler Oberland“, andererseits (Mitteilung vom 8. 3. 2020) die Information über einen (gesicherten) Infektionsfall mit Bezug auf ein populäres Aprés-Ski-Lokal. Es lag also eine Form der „staatlichen Krisenkommunikation“ vor.
[186] Bußjäger/Egger (ÖJZ 2021, 64) halten zutreffend fest, dass der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung (Art 10 bis 15 B‑VG) im gegebenen Kontext grundlegende Relevanz zukommt. Je nachdem, ob aufgrund der Kompetenzverteilung der Bund oder die Länder zur Vollziehung zuständig seien, habe die „staatliche Krisenkommunikation“ primär durch (funktionelle) Organe des Bundes oder der Länder zu erfolgen. Die Abwehr von Epidemien und Seuchen (wie der COVID-19-Pandemie) gehöre zum allgemeinen Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art 10 Abs 1 Z 12 B‑VG und sei damit in Gesetzgebung und Vollziehung Sache des Bundes, auch wenn grundsätzlich die Bekämpfung von Katastrophen schwerpunktmäßig bei den Ländern situiert sei.
[187] Auch das Berufungsgericht sah einen engen Zusammenhang mit dem von der Beklagten und dem Landeshauptmann von Tirol in mittelbarer Bundesverwaltung zu vollziehenden Gesundheitswesen (Art 10 Abs 1 Z 12 B‑VG). Die Beklagte hält dem insbesondere die Bestimmung des Art 60a der Tiroler Landesordnung 1989, nach der die Landesregierung die Bevölkerung des Landes über Angelegenheiten, die für das Land Tirol von besonderer politischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Bedeutung sind, in geeigneter Weise zu informieren hat, und das Gesetz über das Krisen- und Katastrophenmanagement in Tirol, LGBl 33/2006, entgegen. Damit weckt sie aber keine Bedenken gegen eine Zurechnung der Medienmitteilungen (zumindest auch) an den beklagten Bund:
[188] Bußjäger/Egger (ÖJZ 2021, 69) meinen, es bedürfe „angesichts der gravierenden Auswirkungen und der als Reaktion darauf getroffenen Maßnahmen“ keiner weiteren Ausführungen, dass die Corona‑Krise in Tirol trotz des Umstands, dass eine Pandemie kompetenzrechtlich eine Bundesangelegenheit (Art 10 Abs 1 Z 12) darstelle, als „Art 60a-Angelegenheit“ zu qualifizieren sei. Insofern komme dieser Bestimmung in Krisensituationen auf Landesebene besondere Relevanz zu.
[189] Das legt nahe, dass das Amt der Tiroler Landesregierung mit der Medienmitteilung auch die Informationspflicht nach Art 60a Tiroler Landesordnung 1989 vollzogen hat, löst aber den engen Zusammenhang mit dem Vollzug von Gesundheitsagenden im weitesten Sinn nicht auf (vgl RS0050069). Einer abschließenden Klärung der Zurechnung der Informationsrealakte an den Bund und/oder das Land Tirol bedarf es indes nicht, weil die beiden Medienmitteilungen aus den nachstehend genannten Gründen so oder so keinen Amtshaftungsanspruch begründen können.
[190] 2.3.2. Ein relevanter Vertrauenstatbestand wurde nicht gesetzt.
[191] (a) Die Medienmitteilung vom 5. 3. 2020 war insofern nicht richtig, als den Behörden zum Zeitpunkt ihrer Verlautbarung aufgrund des E-Mails des Gesundheitsministeriums von 15:58 Uhr bereits ein Anhaltspunkt dafür vorlag, dass (jedenfalls) bei einem der isländischen Gäste bereits vor dem Heimflug Symptome aufgetreten waren („return 1.3. via München – two cases. 1 symptom onset 26.2.“).
[192] Damit ist zu klären, ob und welchen Vertrauenstatbestand die Medienmitteilung vom 5. 3. 2020 geschaffen hat. Eine Aussage über das tatsächliche Ansteckungsrisiko in Ischgl traf die Mitteilung nicht. Ihr konnte nur entnommen werden, dass mehrere isländische Urlauber, die nach ihrer Rückkehr aus dem „Tiroler Oberland“ positiv auf das Coronavirus getestet worden waren, sich erst beim Rückflug im Flugzeug angesteckt haben dürften. Die Einschätzung des Landessanitätsdirektors, es erscheine aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen sei, steht explizit „unter dieser Annahme“. Insgesamt ist die im Konjunktiv gehaltene Mitteilung vorsichtig und vage formuliert. Weder wird die Zahl der tatsächlich infizierten Personen („mehrere“) genannt noch der Ort Ischgl konkret erwähnt. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die geäußerte Vermutung auf ersten Erhebungen und einer schriftlichen Information durch einen Betroffenen beruhe und dass derzeit weitere behördliche Abklärungen stattfänden.
[193] Auch wenn die Behörde offenbar versucht hat, die Tourismusorte im Tiroler Oberland (darunter auch Ischgl) vorerst „aus dem Schussfeld“ zu nehmen und die Infektionen der isländischen Touristen mit einer außerhalb eines Aufenthalts im Tiroler Oberland liegenden Infektionsquelle zu erklären, konnte und durfte die interessierte Öffentlichkeit daraus nicht den Schluss ziehen, dass es sich bei der Information um mehr als eine vorläufige – im Fluss befindliche – Einschätzung einer volatilen Situation handelte. Nach dem Inhalt der Mitteilung war weder auszuschließen, dass ein Teil der Ansteckungen mit SARS-CoV-2 nicht doch schon während des Aufenthalts der isländischen Touristen im Tiroler Oberland erfolgt war, noch ließ sich daraus ableiten, dass es bei einem Aufenthalt in Ischgl derzeit oder in näherer Zukunft zu keinen Ansteckungen kommen könnte. Die interessierte Öffentlichkeit durfte daher nicht darauf vertrauen, dass sich die Isländer keinesfalls im Tiroler Oberland infiziert hätten und/oder dass (daher) ein Aufenthalt in Ischgl mit keiner (besonderen) Infektionsgefahr verbunden wäre. Umgekehrt hätte die richtige und vollständige Mitteilung, nämlich dass einer der isländischen Gäste offenbar bereits vor der Abreise Symptome hatte, auch nicht den Eindruck hinterlassen, dass im Tiroler Oberland eine besondere (also eine gegenüber der allgemeinen, damals schon bekannten, erhöhte) Ansteckungsgefahr bestehe.
[194] (b) Für die Medienmitteilung vom 8. 3. 2020 hat das Berufungsgericht eine Haftung zu Recht schon deshalb verneint, weil diese gar keine Aussage über eine Gefährdung künftiger Gäste getroffen hat. Die Einschätzung, dass eine Übertragung des Coronavirus vom infizierten „Barkeeper“ auf Gäste der Bar „aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“ sei, bezog sich auf in der Vergangenheit (vor dem 8. 3. 2020) liegende Vorgänge und adressierte ausschließlich jene Gäste, die sich allenfalls infiziert haben konnten. Die Mitteilung ließ keine Schlüsse auf zukünftige Gefährdungen zu. Sie konnte daher keinen Vertrauenstatbestand für den Kläger und andere (potentielle) Gäste des Lokals ab dem 8. 3. 2020 erzeugen. Eine weitere Prüfung dieser Medienmitteilung hat daher zu unterbleiben.
[195] 2.3.3. Da bereits ein haftungsbegründender Vertrauenstatbestand fehlt, kommt es auf die Frage, ob der Abfassung der Medienmitteilungen ein Organverschulden zugrunde lag, nicht an. Eine Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Ausführungen im Rekurs der Beklagten ist daher nicht erforderlich.
[196] 2.4. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass eine unrichtige Information nach allgemeinen amtshaftungsrechtlichen Grundsätzen nur dann zur Haftung führen kann, wenn dadurch ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Das war bei den Medienmitteilungen vom 5. 3. und 8. 3. 3020 nicht der Fall. Da die Haftung daher (auch) insofern schon dem Grunde nach zu verneinen ist, erübrigt sich eine Aufhebung zur Prüfung der Kausalität.
3. Zur Haftung der Beklagten für das „Abreisechaos“:
[197] 3.1. Der Kläger wirft der Beklagten vor, dass insbesondere der damalige Bundeskanzler während einer Pressekonferenz am 13. 3. 2020 durch ein „Vorpreschen“ bei Verlautbarung der Quarantäne, die dann von der zuständigen Bezirkshauptmannschaft nicht ordnungsgemäß bzw nicht zeitgerecht durchgesetzt worden sei, ein „gefährliches Abreisechaos“ ausgelöst habe. Damit seien die Urlauber nämlich verleitet worden, noch schnell vor Inkrafttreten der Quarantäne das Paznauntal zu verlassen. Der Bundeskanzler habe damit seine Koordinationspflicht nach Teil 2, Punkt A.6., der Anlage zu § 2 BMG verletzt.
[198] 3.2. Der Kläger reiste nach den Feststellungen am späteren Nachmittag des 13. 3. 2020 mit dem Auto nach Hause. Erste Symptome seiner Erkrankung hatte er unmittelbar nach seiner Heimkehr.
[199] Bereits die Vorinstanzen haben ihm entgegen gehalten, dass nicht nachvollziehbar ist, inwiefern er bei diesem Sachverhalt durch eine unorganisierte und chaotische Ausreise zahlreicher Urlauber geschädigt worden sein soll, sei eine Infektion durch das Gedränge bei der Gondel oder im Hotel angesichts einer zumindest zweitägigen Inkubationszeit wohl auszuschließen. Dem hält er im Rechtsmittel nur die Feststellungen entgegen, dass er beim Skifahren von der geplanten Sperre des Paznauntals erfuhr und zunächst mit der Gondel abfuhr, „wo die Skifahrer zusammenströmten“. Das habe das Risiko einer Ansteckung noch zusätzlich erhöht.
[200] Abgesehen davon, dass sich der Kläger nicht mit der Frage der Inkubationszeit auseinandersetzt, ist im konkreten Fall nicht ersichtlich, warum er überhaupt mit der Gondel und nicht mit den Skiern abgefahren ist, wenn es schon bei der Einstiegsstelle der Gondel zu größeren – angeblich durch die Ankündigungen der Bundesregierung verursachten – Menschenansammlungen kam und es auch noch technische Probleme bei der Gondel gegeben haben soll.
[201] Jedenfalls ist aber – über die vorliegende Fallgestaltung hinaus – nicht erkennbar, wie eine auf eine korrekte Ankündigung (Verhängung der Quarantäne über das Paznauntal, wobei aber darauf hingewiesen wurde, dass ausländische Gäste sehr wohl abreisen dürften) zurückgehende, offenbar durch Gerüchte befeuerte Panikreaktion der Skifahrer auf der Piste hintangehalten hätte werden können. Auch der Kläger verschweigt, welche Maßnahmen die Organe der Beklagten hier seiner Meinung nach ganz konkret auf den Pisten hätten setzen müssen. Das Unterlassen von Maßnahmen, die bei rückblickender Betrachtung allenfalls möglich gewesen wären (etwa eines massiven Polizeieinsatzes), kann bei der gebotenen Ex-ante-Beurteilung kein Verschulden begründen.
[202] 3.3. Zudem liegt schon von vornherein kein Fall einer fehlerhaften Behördeninformation vor.
[203] Die (richtige) Ankündigung einer bevorstehenden Quarantäne wurde nicht dadurch rechtswidrig, dass sie zu einem teils unvernünftigen Zusammenströmen von Urlaubern und einer überhasteten Abreise führte, obwohl für ausländische Gäste – was der damalige Innenminister bei der Pressekonferenz ebenfalls kommuniziert hatte – weiterhin eine Ausreisemöglichkeit bestanden hätte. Die panikartige Ausreise der Gäste (und eine damit allenfalls in Zusammenhang stehende Infektion) wäre als deren freie Willensentscheidung auch einer allfälligen Verletzung einer dem Bundeskanzler obliegenden Koordinationspflicht nicht mehr zuzurechnen (vgl RS0022912). Abgesehen davon kann in der dieser Pflicht zugrunde liegenden – ganz allgemein den Wirkungsbereich der Bundesministerien festlegenden – Anlage zum BMG ohnehin keine potentiell amtshaftungsbegründende Regelung erblickt werden, weil sie keine Handlungspflicht gerade (auch) dem Einzelnen gegenüber anordnet. Auch hier fehlte es daher im Fall einer Pflichtverletzung am Rechtswidrigkeitszusammenhang.
[204] Soweit der Kläger rügt, die Bezirkshauptmannschaft Landeck sei ihrer aus § 24 EpiG erwachsenden Verpflichtung zur Durchsetzung der Verordnung und der Landeshauptmann von Tirol seiner Kontrollpflicht nach § 43 Abs 5 EpiG nicht nachgekommen, ist er auf die Ausführungen zum Schutzzweck des Epidemiegesetzes (oben B.) zu verweisen.
[205] 3.4. Als weiteres Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass ein allfälliges Fehlverhalten des Bundeskanzlers im Rahmen seiner nach dem BMG bestehenden Koordinationspflicht nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit den hier geltend gemachten Schäden stünde. Auch sonst lässt sich bei der gebotenen Ex-ante-Betrachtung aus dem Vorbringen des Klägers zum „Abreisechaos“ kein Amtshaftungsanspruch ableiten.
F. Zu den angeblichen Verfahrensmängeln:
1. Zur Nichtzulassung von Fragen und zu unterbliebenen Aufträgen zur Urkundenvorlage durch das Erstgericht:
[206] 1.1. Der Kläger rügt als Verfahrensmangel die Nichtzulassung von nach § 184 ZPO gestellten Fragen und das Unterbleiben von Aufträgen nach den §§ 303 ff ZPO durch das Erstgericht. Dies war bereits Gegenstand der Verfahrensrüge seiner Berufung als auch eines insofern aus „anwaltlicher Vorsicht“ erhobenen Rekurses. Das Berufungsgericht hat (auch) insofern einen Mangel des Verfahrens verneint und den Kläger mit seinem Rekurs auf die über die Berufung ergangene Entscheidung verwiesen. Im Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof bekämpft der Kläger dies ebenfalls „aus anwaltlicher Vorsicht“ auch mit Revisionsrekurs.
[207] 1.2. Die Frage, ob das Gericht zweiter Instanz über Beschlüsse des Erstgerichts, die nach § 462 ZPO im Rahmen der Berufung bekämpft werden, als Berufungs- oder Rekursgericht entscheidet, wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet (Nachweise bei Musger in Fasching/Konecny 3§ 519 ZPO Rz 13 ff). Von ihrer Beantwortung hängt ab, ob die Entscheidung des zweitinstanzlichen Gerichts mit dem Rechtsmittel in der Sache (hier also mit dem Rekurs) oder mit Revisionsrekurs zu bekämpfen ist.
[208] Jedenfalls bei erstinstanzlichen Beschlüssen, die im Zusammenhang mit der Stoffsammlung stehen, spricht mehr dafür, die Bekämpfung der Mängelrüge der Berufung zuzuordnen (so ein Teil der Rsp: 9 ObA 289/01t; 10 Ob 308/99p; offen gelassen in 4 Ob 50/06s; in diesem Sinn auch A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 462 Rz 5; Obermaier in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 462 Rz 4; wohl auch Rassi in Fasching/Konecny 3 § 186 ZPO Rz 14). Damit wird einerseits eine komplexe Rechtslage vermieden, die dann eintreten kann, wenn in einem Aufhebungsbeschlusses der Rekurs (anders als hier) nicht zugelassen wurde, der Revisionsrekurs aber zulässig wäre (näher Musger in Fasching/Konecny 3§ 519 ZPO Rz 16 mwN). Andererseits stehen Beschlüsse, die im Zusammenhang mit der Stoffsammlung ergehen, in einem engen Zusammenhang mit der Hauptsache, da sie nur dann Einfluss auf die Entscheidung haben, wenn der Gegenstand der Stoffsammlung rechtlich überhaupt relevant ist. Damit liegt es näher, sie nur im Rahmen der Mängelrüge und damit nur bei Relevanz für den Ausgang des Verfahrens zu überprüfen.
[209] Die Verneinung des Verfahrensmangels durch das Berufungsgericht ist daher als Teil der Entscheidung in der Sache und nicht als impliziter – und nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO jedenfalls unanfechtbarer – Beschluss anzusehen.
[210] 1.3. Damit ist dem Kläger aber nicht geholfen:
[211] Der Kläger geht im Rekurs selbst davon aus, dass nach der Rechtsprechung Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die vom Berufungsgericht verneint wurden, im Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof nicht mehr geltend gemacht werden können (RS0043111; RS0042963). Daran hat der Oberste Gerichtshof auch nach der zuletzt im Schrifttum geäußerten Kritik (Lovrek in Fasching/Konecny 3 § 503 ZPO Rz 103 ff; Neumayr in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 502 Rz 19; mit anderer Begründung Trenker, Der vom Berufungsgericht verneinte Verfahrensmangel erster Instanz als tauglicher Revisionsgrund, JBl 2020, 757 [Teil 1], 825 [Teil 2]; für den Standpunkt der Rsp demgegenüber G. Kodek, Zugang zum OGH bei Verfahrensmängeln: Versuch einer Klarstellung, Zak 2020, 29; Rassi, Der vom Berufungsgericht verneinte Verfahrensmangel erster Instanz als tauglicher Revisionsgrund – eine Replik, JBl 2021, 157) ausdrücklich festgehalten (10 ObS 59/21f mwN zu Entscheidungen aller Zivilsenate in Rz 4). Auch der erkennende Senat sieht keinen Grund, davon abzugehen. Die Verneinung eines erstinstanzlichen Verfahrensmangels ist dabei – mangels erkennbaren Grundes für eine unterschiedliche Behandlung– in einem Aufhebungsbeschluss nicht anders zu beurteilen als in einer Sachentscheidung (4 Ob 544/90; RS0042963 [T32]).
[212] 2. Dem im Rekurs des Klägers gerügten Verstoß des Berufungsgerichts gegen die Pflicht zur Selbstergänzung fehlt die Relevanz, weil eine Ergänzung des Verfahrens zu Fragen der Kausalität aus rechtlichen Gründen nicht erforderlich ist (oben E.2.). Relevante Feststellungsmängel (und damit allenfalls verbundene sekundäre Verfahrensmängel) liegen nicht vor, weil eine Haftung aus den dargestellten Gründen ohnehin schon aufgrund des (Sach‑)Vorbringens des Kläger zu verneinen ist.
G. Ergebnis und Kosten
[213] 1. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist eine Haftung der Beklagten schon dem Grunde nach zu verneinen. Dies führt infolge der Rekurse beider Parteien – das Verbot der reformatio in peius gilt im Anwendungsbereich des § 519 Abs 1 Z 2 ZPO nicht (RS0043939) – zur Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils.
[214] 2. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 50, 41 ZPO.
Zu II.
[215] Mit seinem Revisionsrekurs ist der Kläger aus den oben (Punkt I.F.1.1.) genannten Gründen auf die das Ersturteil wiederherstellende Rekursentscheidung zu verweisen. Die im Revisionsrekurs angeführten Gründe wurden dort behandelt. Kosten für die Revisionsrekursbeantwortung sind nicht gesondert zuzusprechen (Obermaier,Kostenhandbuch3 [2018] Rz 1.258).
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